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1. Eduard Bernsteins Grundlegung 

des demokratischen Sozialismus 

 wikipedia  Eduard_Bernstein 

 

I. Grundsätzliches

 So was sagt man nicht, so was tut man  

 

 

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Ich weiß nicht, wie viele Genossinnen und Genossen meines ehemaligen Ortsvereins Lübeck-Altstadt etwas anfangen können mit dem Namen Bernstein. Vielleicht verbinden sie ihn nur mit den alten Harzklumpen, die man hier an der Ostsee finden kann und die an jeder Ecke den Touristen zum Kauf angeboten werden. Das wäre kein Wunder, denn Eduard Bernsteins Bruch mit Marx geschah vor einem Jahrhundert. Bernstein löste die erste große Debatte über die Identität der SPD aus, und seine Theorien, die sich in der Kritik an Marx entwickelt hatten, prägen das Denken vieler Sozialdemokraten bis heute.

16. September 1999. Gestern Abend saß ich mit einigen Genossen, die mit Schröders Kurs unzufriedenen sind, in Lübeck zusammen. Wir fragten uns, was man als Sozialdemokrat noch zu suchen habe in der SPD. Genosse H. erzählte zu meiner Überraschung, er habe gerade Bernstein im Original gelesen. Das sei ein interessanter Mann. Genossin G. pflichtet H. bei, sie habe im lange zurückliegenden Studium über den Revisionismus gearbeitet. Sie findet Bernstein richtig gut, obwohl sie auch verstehen kann, dass die Genossen damals sauer auf Bernstein gewesen seien. 

Das ist interessant: In dieser für viele Sozialdemokraten verzweifelten Lage, in der mancher dicht daran ist, sein Parteibuch zurückzugeben, kommen einige doch wieder auf Bernstein. Aber sie meinen nicht dessen Kritik an Marx, sondern seine Begründung einer an Arbeiterinteressen orientierten Reformpolitik.

Ich hatte am Morgen dieses Tages gerade geschrieben, dass ich nicht weiß, wie viele Genossinnen und Genossen mit dem Namen Bernstein noch etwas anfangen können.

Ich bin überrascht, einige kennen offenbar nicht nur den Namen, sondern auch seine Thesen. Auf der Suche nach der verlorenen sozialdemokratischen Identität finden einige wenige — Bernstein.

Auch wenn er in der SPD-nahen Publizistik heute kaum mehr auftaucht: Nicht zuletzt auf Bernstein geht die Politik des sozialen Ausgleichs zurück, die, mehr als alles andere, die SPD seit einem Jahrhundert charakterisiert. Viele Sozialdemokraten sind »Bernsteinianer«, ohne es zu wissen. Wenn wir heute über die Identität der SPD diskutieren, dann schwingt da immer Eduard Bernstein mit.

So auch bei unseren Debatten über die deftigen SPD-Wahlniederlagen in Brandenburg und im Saarland (5. September 1999), die nicht minder deutlichen Pleiten in Thüringen, wo die SPD nun nur noch dritte Kraft hinter CDU und PDS ist, und bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen (12. September). (Die Talfahrt sollte sich noch fortsetzen. Nach unserer Aussprache erfuhr die Partei in Sachsen, am 19. September, eine vernichtende Niederlage: Sie verlor ein Drittel ihrer ohnehin schon wenigen Stimmen und landete weit abgeschlagen hinter der PDS.) Dazu wurde eine nichtöffentliche Ortsvereinssitzung veranstaltet. Schnell entwickelte sich eine allgemeine Aussprache, und es wurde »Dampf abgelassen« über die SPD-geführte Bundesregierung und die Partei. Im Kern ging es um die Identität der Sozialdemokratie. 

Keine Genossin und kein Genosse konnte sich mit Schröders wirtschaftsfreundlichem Kurs anfreunden. Es ist auch nicht einleuchtend, warum Konzerne wie DaimlerChrysler, Thyssen oder VEBA, die ihren Aktionären jahraus jahrein Rekordgewinne melden, noch höhere Profite machen sollen, während Rentner, Sozialhilfeempfänger und allein erziehende Mütter für die Staatsschulden bluten. Es fand keine sozialdemokratische Finanzpolitik mehr statt, davon waren meine ehemaligen Genossinnen und Genossen überzeugt. Sie verstehen die SPD als Partei der sozialen Gerechtigkeit. 

Das hat nichts mit Nostalgie oder »Traditionalismus« zu tun, denn soziale Gerechtigkeit erscheint nur denen nicht zeitgemäß, die ihrer nicht bedürfen oder die ihren Sinn als Kitt jeder wirklich modernen Gesellschaft nicht begreifen. In der Welt der Reichen und Schönen, zu der es auch manchen Sozialdemokraten hinzieht, gelten Sozialhilfeempfänger als Schmuddelmenschen. Man gibt ihnen ein paar Mark, in der Fußgängerzone oder auf dem Sozialamt, und guckt dann ganz schnell weg.

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 Entscheidende Umbrüche  

Die Sozialdemokratie aber kommt aus der Welt der Armen, der Arbeiter und Handwerksgesellen. Viele der ersten Sozial­demokraten waren Arbeiter oder Handwerker. Zu ihnen gesellten sich manche Intellektuelle, die den Mief der wilhelminischen Großartigkeit und den preußischen Militarismus hassten. Die Sozialdemokratie hatte in den Augen ihrer Begründer — Ferdinand Lassalle, August Bebel und Wilhelm Liebknecht — nur eine Aufgabe: für die sozialen und politischen Interessen der entrechteten Arbeiter zu kämpfen. Der Sozialismus war ihnen das Reich der Freiheit, im »Volksstaat« sollte endlich die Mehrheit regieren. Und das waren die kleinen Leute.

Im Erfurter SPD-Programm von 1891, das immerhin den Ersten Weltkrieg überlebte, wurde die Vergesellschaftung der Produktionsmittel gefordert. Marx und Engels waren die großen Lehrer. Vor allem die popularisierte Darstellung des Marxismus durch Friedrich Engels im Antidühring überzeugte zahlreiche Sozialdemokraten, darunter Karl Kautsky und Eduard Bernstein.

In seiner berühmten, bis zum heutigen Tag mit Vergnügen zu lesenden Polemik zerpflückte Engels die schrulligen Thesen Eugen Dührings, des auch von manchem Sozialdemokraten bewunderten Berliner Modephilosophen, seinerzeit eine echte Koryphäe des so genannten Kathedersozialismus.

Heute fordert kein Sozialdemokrat mehr die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Der Sozialismus, mit dem vorangestellten Adjektiv »demokratisch«, wird im nächsten Parteiprogramm wohl ganz abgeschafft, nachdem er schon längst kein Synonym mehr ist für eine neue Gesellschaft, sondern eine Tagesaufgabe geworden ist. Was immer das heißen mag. Der »Volksstaat«, oder gar die »politische Herrschaft der Arbeiterklasse«, sind längst in der Mottenkiste abgelegt.

Das sind keine Verluste, sondern Gewinne. Sie markieren entscheidende Umbrüche auf dem Weg der SPD zu der Partei, die sie heute ist.

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Umbrüche sind immer gleichbedeutend mit Identitätseinbußen, sie versprechen aber auch neue Einsichten und neue Bestätigungen des Daseinszwecks der Partei, also Identitätsgewinn. Begrenzte Identitätsverluste können befreien vom Ballast falscher Gewissheiten und dem Korsett veralteter Glaubenssätze. An deren Stelle treten neue Überzeugungen. Aber alle Wandlungen brauchen eine Grundlage, wenn sie nicht zerstören sollen. Wenn neue Einsichten in einer Partei wie der SPD greifen sollen, müssen sie sich einbauen lassen in das geistige Grundgerüst. Dieses hat alle Umbrüche bis vor kurzem ungefährdet überstanden. Es macht das aus, was die SPD ist.

Die Forderung nach Sozialismus, nach der Herrschaft der Arbeiter, rührte her aus der Unterdrückung der Arbeiter — in den Fabriken wie im Staat. Sie war ein Reflex auf die Diktatur einer unter dem Schutz kaiserlicher Herrlichkeit stehenden Melange aus Kapitalisten und Großgrundbesitzern, deren hauptsächliches innenpolitisches Ziel darin bestand, die aufkommende Arbeiterbewegung niederzuhalten und ihr die Gleichberechtigung zu verwehren, notfalls mit Säbeln und Kanonen. Es war nur natürlich, dass sich die Sozialdemokratie einen Ausgleich mit den herrschenden Klassen nicht vorstellen konnte und wollte. Sozialer Ausgleich erfordert Demokratie. 

Durch die Erstickung aller demokratischen Keime im wilhelminischen Deutschland aber verwandelte sich die Idee sozialer Gerechtigkeit in eine Utopie. Es brauchte die Revolution nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und die Abdankung des Hohenzollernkaisers, damit parlamentarische Demokratie und sozialpolitische Grundrechte für ein Jahrzehnt in Deutschland wirksam werden konnten, jederzeit gefährdet und am Ende ruiniert durch Hindenburgs Notstandsdiktatur und schließlich die Machtübertragung an Hitler.

Hinter den jeweiligen Zielen der SPD — Sozialismus, Vergesellschaftung und so weiter — stand die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit. Sie ist die Urforderung der Sozialdemokratie. Ganz in Platos Sinn als Harmonie der unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen. Anders gesagt: Hätte das wilhelminische Deutschland die Arbeiter nicht politisch unterdrückt und sozial benachteiligt, dann hätte es die revolutionären Forderungen der SPD nicht gegeben, möglicherweise am linken Rand, aber nicht im Parteiprogramm.

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Das zeigte sich in jenen Monaten, in denen die Sozialdemokratie allein in Deutschland herrschte und alles hätte verwirklichen können, was in ihrem Programm stand. Sie begnügte sich damit, die krassesten Ungerechtigkeiten zu beseitigen, führte die parlamentarische Demokratie, das Frauenwahlrecht und den Achtstundentag ein, zerschlug den Aufstand Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs und stellte sich zur Wahl. Um bald darauf in der Opposition zu landen.

Es war im Sinn von Eduard Bernstein, dass die SPD sich in eine parlamentarische Partei verwandelte und quasi die Hüterin der Weimarer Demokratie wurde. Damit war immerhin ein wichtiges Ziel der Partei erreicht, das allgemeine Wahlrecht und die parlamentarische Verantwortung der Regierung, kurz und gut: die demokratische Republik. Das war auch für Bernstein der Zweck der »deutschen Revolution von 1918/19«, nachzulesen in seinem leider fast vergessenen gleichnamigen Werk. Aber sonst ließ die Sozialdemokratie den Staat, wie er war. Das sollte furchtbare Folgen haben, nicht zuletzt für die SPD.

 

»Unbedingt das beste Blatt«

Aber es war ein weiter Weg dorthin. Für den in Berlin geborenen Bernstein begann er 1872, als er der Sozial­demokratischen Arbeiterpartei beitrat. Diese schloss sich 1875 mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein in Gotha zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) zusammen. Als Bismarck 1878 die Sozialdemokratie wegen angeblicher »gemeingefährlicher Bestrebungen« verbot und die Arbeiter gleichzeitig durch seine fortschrittliche Sozialgesetzgebung mit dem kaiserlichen Staat versöhnen wollte, wurde Bernstein bald zum Chefredakteur der illegalen Parteizeitung Sozialdemokrat ernannt. 

Er erledigte diese Aufgabe erst vom Zürcher, dann vom Londoner Exil aus mit Bravour und oft genug zum Ärger des reformistischen Flügels der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion. Bernstein führte eine scharfe Feder. Auch auf den Sozialdemokrat ist es zurückzuführen, dass die SAP trotz Verbots bei allen Wahlen dazugewann und das Sozialistengesetz ad absurdum führte. Friedrich Engels lobte das Blatt in höchsten Tönen: »Es war unbedingt das beste Blatt, das die Partei je besessen. (...) Die Grundsätze der Partei wurden mit seltener Klarheit und Bestimmtheit dargelegt und festgehalten, und die Taktik der Redaktion war fast ausnahmslos die richtige.«

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Dabei war sich Bismarck, der »Eiserne Kanzler«, so sicher gewesen, dass er die »Umstürzler« um August Bebel und Wilhelm Liebknecht kleinkriegen würde. Und sein Rezept war so dumm nicht. Den Arbeitern bot er — eine revolutionäre Neuerung! — Sozialversicherungen, und die Arbeiterpartei wollte er gesetzlich vernichten. Nach mehreren gescheiterten Versuchen, ein Sozialistengesetz im Reichstag zu verabschieden, nutzte Bismarck ein Attentat auf den Kaiser, das mit der Sozialdemokratie nichts zu tun hatte. 

Im Oktober 1878, nach sechswöchigen parlamentarischen Beratungen, stimmte der Reichstag mit 221 gegen 149 Stimmen für das »Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie«. Es verbot praktisch alle sozialdemokratische Aktivität, ausgenommen die Kandidatur bei Wahlen und die Auftritte sozialdemokratischer Abgeordneter in Parlamenten. Das Gesetz wurde viermal mit Reichstagsmehrheit verlängert, 1880, 1884, 1886 und 1888. 

Zwischen 1878 und 1888 wurden 1299 Druckschriften, 95 Gewerkschaften, 23 Unterstützungsvereine sowie 106 politische und 108 so genannte Vergnügungsvereine verboten.

Die Sozialdemokraten waren aber außerordentlich findig, wo es darum ging, das Sozialistengesetz auszutricksen. Umso energischer verfolgte die Justiz unzählige Vereine mit harmlosen Namen wie etwa den »Gesangverein Liederlust« in Berlin, den »Leseverein I« in Mildenau, den »Dilettantenverein« in Herford oder den »Verein Arbeiter-Harmonie« in Waldenburg.

Die Funktionäre der Arbeiterpartei traf es hart. Knapp 900 wurden zwischen 1878 und 1889 aus ihrer Heimat ausgewiesen. Zu den Opfern zählten auch die Kinder der ausgewiesenen Sozialdemokraten, insgesamt fast tausend. Manchen Genossen traf die Ausweisung mehrfach. Der Berliner Sozialdemokrat Jens L. Christensen zum Beispiel musste am 3. Juli 1886 Berlin verlassen, am 1. November wurde er aus Zwickau ausgewiesen, am 3. Juni 1887 aus dem Kreis Bromberg, am 10. Juni aus Coburg, am 25. Juni aus dem 1. Weimar'schen Verwaltungsbezirk und am 28. Juni aus Gotha. Christensen blieb am Ende, wie anderen SAP-Mitgliedern auch, nur die Emigration ins Ausland. Viele Existenzen wurden vernichtet, und die Partei mühte sich, die schlimmsten Auswirkungen für die Opfer von Bismarcks Gesetz zu mildern.

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Obwohl das Gesetz für zahlreiche Sozialdemokraten eine Heimsuchung war, erreichte es sein politisches Ziel nicht. Ganz im Gegenteil: Die Partei gewann 1890, als das Sozialistengesetz nicht mehr verlängert wurde, fast dreimal so viele Stimmen wie 1877! Bebel resümierte 1890 lapidar: »Fragt man nach den Maßregeln, die die Regierungen [Reichs- und Landesregierungen; C. D.] und ihre Organe erließen, um den Feind zu vernichten, so ist ihre Zahl Legion, aber ihre Wirkung war schließlich gegen Null.« 

Und doch prägte die Angst vor einem neuen Gesetz die Mentalität der Genossen. Je mächtiger die Partei wurde, je mehr Sozialdemokraten als hauptamtliche Funktionäre von der Partei lebten, je mehr Zeitungen und Verlage die Partei besaß, desto größer war die Angst vor Verlusten. Für Sozialdemokraten war das Sozialisten­gesetz die größte vorstellbare Bedrohung. Noch 1933, als die Macht in Deutschland an Hitler übertragen wurde, konnte sich kein Sozialdemokrat vorstellen, dass es schlimmer kommen könnte als in den Jahren 1878 bis 1890.

 

Der große Kladderadatsch

Als im Jahr 1890 Bismarck und mit ihm sein Gesetz gegen die Sozialisten stürzte, konstituierte sich die Sozialdemokratie als SPD neu und verabschiedete im Jahr darauf im thüringischen Erfurt ein neues Programm. Der aus Österreich zur deutschen Sozialdemokratie gestoßene Intellektuelle Karl Kautsky, Leiter des theoretischen Organs Neue Zeit, verfasste zusammen mit Eduard Bernstein unter Anleitung von Friedrich Engels das Erfurter Programm. Kautsky war zuständig für den allgemeinen Teil, in dem die eherne Notwendigkeit des Sozialismus begründet wurde. Bernstein schrieb den reformpolitischen Teil, in dem zusammengefasst wurde, was die Sozialdemokratie tun wollte, um den Sozialismus zu erkämpfen. Die wichtigste Forderung war die nach dem allgemeinen Wahlrecht. Das Erfurter Programm war durch und durch marxistisch, und das unterschied es von seinem Vorläufer, dem Gothaer Programm, an dem Marx kaum ein gutes Haar gelassen hatte. Diesmal wäre der 1883 im Londoner Exil gestorbene Lehrmeister zufrieden gewesen mit seinen Schülern.

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»Die ökonomische Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft führt mit Naturnotwendigkeit zum Untergang des Kleinbetriebes, dessen Grundlage das Privateigentum des Arbeiters an seinen Produktionsmitteln bildet. Sie trennt den Arbeiter von seinen Produktionsmitteln und verwandelt ihn in einen besitzlosen Proletarier, indes die Produktionsmittel das Monopol einer verhältnismäßig kleinen Zahl von Kapitalisten und Großgrundbesitzern werden.

Hand in Hand mit dieser Monopolisierung der Produktionsmittel geht die Verdrängung der zersplitterten Kleinbetriebe durch kolossale Großbetriebe, geht die Entwicklung des Werkzeugs zur Maschine, geht ein riesenhaftes Wachstum der Produktivität der menschlichen Arbeit. Aber alle Vorteile dieser Umwandlung werden von den Kapitalisten und Großgrundbesitzern monopolisiert. Für das Proletariat und die versinkenden Mittelschichten - Kleinbürger, Bauern - bedeutet sie wachsende Zunahme der Unsicherheit ihrer Existenz, des Elends, des Drucks, der Knechtung, der Erniedrigung, der Ausbeutung,

Immer größer wird die Zahl der Proletarier, immer massenhafter die Armee der überschüssigen Arbeiter, immer schroffer der Gegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, immer erbitterter der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, der die moderne Gesellschaft in zwei feindliche Heerlager trennt und das gemeinsame Merkmal aller Industrieländer ist.

Der Abgrund zwischen Besitzenden und Besitzlosen wird noch erweitert durch die im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise begründeten Krisen, die immer umfangreicher und verheerender werden, die allgemeine Unsicherheit zum Normalzustand der Gesellschaft erheben und den Beweis liefern, dass die Produktivkräfte der heutigen Gesellschaft über den Kopf gewachsen sind, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln unvereinbar geworden ist mit deren zweckentsprechender Anwendung und voller Entwicklung.

Das Privateigentum an Produktionsmitteln, welches ehedem das Mittel war, dem Produzenten das Eigentum an seinem Produkt zu sichern, ist heute zum Mittel geworden, Bauern, Handwerker und Kleinhändler zu expropriieren und die Nichtarbeiter - Kapitalisten. Großgrundbesitzer - in den Besitz des Produkts der Arbeiter zu setzen.

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Nur die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln - Grund und Boden, Gruben und Bergwerke, Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen, Verkehrsmittel - in gesellschaftliches Eigentum und die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion kann es bewirken, dass der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaftlichen Arbeit für die bisher ausgebeuteten Klassen aus einer Quelle des Elends und der Unterdrückung zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger, harmonischer Vervollkommnung werde.

Diese gesellschaftliche Umwandlung bedeutet die Befreiung nicht bloß des Proletariats, sondern des gesamten Menschen­geschlechts, das unter den heutigen Zuständen leidet. Aber sie kann nur das Werk der Arbeiterklasse sein, weil alle anderen Klassen, trotz der Interessenstreitigkeiten unter sich, auf dem Boden des Privateigentums an Produktionsmitteln stehen und die Erhaltung der Grundlagen der heutigen Gesellschaft zum gemeinsamen Ziel haben.

Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung ist notwendigerweise ein politischer Kampf. Die Arbeiterklasse kann ihre ökonomischen Kämpfe nicht führen und ihre ökonomische Organisation nicht entwickeln ohne politische Rechte. Sie kann den Übergang der Produktionsmittel in den Besitz der Gesamtheit nicht bewirken, ohne in den Besitz der politischen Macht gekommen zu sein.

Diesen Kampf der Arbeiterklasse zu einem bewussten und einheitlichen zu gestalten und ihm sein naturnotwendiges Ziel zu weisen — das ist die Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei.«  

Aus dem Erfurter Programm der SPD, 1891

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Bernstein lebte bis 1901 im Exil, weil ihm die deutsche Justiz seine illegale Arbeit zu Zeiten des Sozialisten­gesetzes übel nahm. Vielleicht lag es an der Entfernung zu Deutschland, dass er etwas freier nachdenken konnte über die geistigen Grundlagen des Kampfes, den seine Genossen gegen Wilhelms Deutschland führten.

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Hat man den Feind nicht direkt vor Augen, können die Gedanken freier schweifen. Es war, wie man heute sagen würde, ein »starker Auftritt«, als ausgerechnet der Mann, der Engels' Freund und Testaments­vollstrecker war und als bedeutender Marx-Exeget galt, zu aller Überraschung öffentlich an den Lehren des Meisters zweifelte.

Nun hatte es in der Partei immer wieder Kritik gegeben an dem, was die Parteiführung unter Marxismus verstand, und das glich oft genug eher einer Karikatur dessen, was der Schöpfer des weithin unbekannten Kapitals geschrieben hatte. Bebel etwa verkündete, von allen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Tatsachen unerschüttert, seinen Glauben an den »großen Kladderadatsch«, in dem die Gesetze der Wirtschaft und der Geschichte dem Kapitalismus den Garaus machen würden.

In den Köpfen vieler Sozialdemokraten herrschte weniger Marx als Newton. Kein Wunder, lebten sie doch im Zeitalter der Maschinen. Sie stellten sich die Welt vor wie ein feinmechanisches Wunderwerk mit vielen Zahnrädchen. So wie eines exakt in das andere griff, so unausweichlich war der Sieg des Sozialismus. War die Sozialdemokratie nicht trotz aller Unterdrückung durch das Sozialistengesetz die stärkste deutsche Partei geworden? Sie musste nur weiter wachsen, dann würde ihr schließlich der Staat beim großen Zusammenbruch des Kapitalismus fast von selbst in die Hände fallen. Bis dahin musste die SPD ihre Organisation erhalten und stärken, die Reihen schließen und soziale und politische Rechte für die Arbeiter erkämpfen.

Die SPD war offiziell eine marxistische Partei, und ihre Führer priesen in ihren Reden den Sozialismus, der über kurz oder lang die Arbeiter befreien würde von der Ausbeutung durch das Kapital. Aber jenseits der Sonntagsreden betrieben die Sozialdemokraten Reformpolitik. Sie kämpften für das allgemeine Wahlrecht, die Verkürzung der Arbeitszeit, die Rechte der Gewerkschaften und schufen sich quasi nebenbei eine eigene Lebenswelt: Vereine, die sich den unterschiedlichsten Aufgaben widmeten — von der Maifeier bis zur Beerdigung. Eigene Zeitungen, eigene Bildungseinrichtungen, eigene Konsumgenossenschaften. Und da die Arbeiter ohnehin in eigenen Siedlungen oder Vierteln lebten, waren sie auch räumlich gut abgeschirmt vom bösen Rest der Welt. Man brauchte als Sozialdemokrat Feindesgebiet meist nur betreten, wenn man arbeiten ging.

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Der Rest des Lebens spielte sich ab im eigenen Milieu. Eigene Welten aber brauchen eigene Götter. Die Götter in den Arbeitervierteln, in den Vereinen und auf den Parteiversammlungen waren die Gesetze der Geschichte, die die Arbeiter aus ihrer Unterdrückung befreien würden. Und die Propheten hießen Marx und Engels, vertreten durch Bebel, Bernstein und Kautsky. Wie bei anderen Religionen auch, so war die Verehrung der Heiligen nicht unbedingt gleichbedeutend mit der Treue zu ihren Lehren. Und da ja an die Einführung des Sozialismus so schnell offenbar doch nicht zu denken war, wie es sich »Arbeiterkaiser« Bebel erhoffte, konnte man sich irdischen Nöten und Sorgen widmen: der Höhe des Lohns, der Länge der Arbeitszeit, der Reform des Wahlrechts, den Gewerkschaften und den Vereinen.

Die SPD war längst »reformistisch«, als Eduard Bernstein gegen Marx antrat. Und schon vor ihm hatten Genossen die reine Lehre in Zweifel gezogen und sich nicht darum gekümmert, ob die Partei sie rügen würde. Viele kümmerten sich gar nicht mehr um die Säulenheiligen Marx und Engels, sondern vertraten die ganz diesseitigen Interessen der Arbeiter in Parlamenten und Gewerkschaften. Vor allem in Süddeutschland, in Baden und Bayern, hatten Reformisten längst das Übergewicht gewonnen, aber dies eher klammheimlich, ohne die Parteidoktrin und das Programm offen anzugreifen. Mitten im Zentrum der Partei regierte der mächtige Sekretär Ignaz Auer, der von Marx gar nichts mehr hielt, aber auch nichts von Bernsteins Revisionismus. Denn Bernstein vermasselte den Reformisten das politische Geschäft. Friedrich Engels' Freund deckte auf, was viele dachten, und zwang die Reformisten in eine Auseinandersetzung mit den Gralshütern der Partei, die sie so lange vermieden hatten. Auer sagte daher auf dem Hannoveraner Parteitag der SPD im Oktober 1898 auch ungeschminkt, was er von Bernsteins Vorstoß hielt: 

»Und wissen Sie, was ich meinem Freunde Bernstein geschrieben habe, als er mit diesen seinen praktischen Vorschlägen herauskam? Da habe ich ihm geschrieben: <Lieber Ede, Du bist ein Esel, denn so was sagt man nicht, so was tut man!>«

Vor dem Parteitag hatte Auer dem österreichischen Sozialisten Victor Adler quasi als Einladung geschrieben: 

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»Es hätte nicht so kommen brauchen, aber wo Dogmen sind, gibt es Pfaffen & Ketzer. Dass gerade Ede unter die Letzteren fiel, ist der Humor von der Geschichte. Er frisst jetzt seine eigenen Kinder. Wenn Kautsky die andere Hälfte auffräße, dann wären wir die Wechselbälge der beiden Kirchenväter los und brauchten uns nur über <Taktik> zu streiten. Auch ein recht heiteres Thema, allein genügend, alle fünf Jahre einen Parteitag auszufüllen. Also noch einmal: Auf Wiedersehen in Hannover (zum Parteitag)! wohin Du hoffentlich eine gehörige Portion südlichen Humors mitbringst, um die tagelangen Salbadereien über Taktik, granitene Grundlagen des Marxismus, Opportunismus, revolutionäre Energie, Endziele usw. usw. ohne Schaden ertragen zu können.«

 

Kautskys Landsmann, der spätere Chefredakteur der Parteizeitung Vorwärts, Friedrich Stampfer, der sich in der deutschen Sozialdemokratie auf dem rechten Flügel einsortierte, erfuhr kurz nach seiner Übersiedlung Sonderbares: 

»In Preußen aber war man nicht gemütlich, da pfiff ein scharfer Wind. Straßenumzüge ohne polizeiliche Erlaubnis waren seit 1848 nicht mehr vorgekommen. Nur wenn ein berühmter Sozialdemokrat starb, wie z. B. der alte Wilhelm Liebknecht, durften hunderttausend Männer und Frauen hinter dem Sarg hergehen. Wenn aber am 18. März die Berliner Arbeiter zum Friedhof der Märzgefallenen in Friedrichshain wallfahrteten und Kränze niederlegten, stand schon der Polizeileutnant am Friedhofstor und schnitt alle Kranzschleifen ab, die ihm nicht passten. Undenkbar, dass dagegen ein Widerspruch gewagt worden wäre!

Ja, in Preußen waren auch die Rötesten der Roten polizeifromm. Der Schreck des Sozialistengesetzes saß noch allen in den Knochen. Während die Arbeiter in Belgien und Österreich >Nieder mit der Regierung!< riefen, galt in Preußen-Deutschland die Parole: >Genossen, lasst euch nicht provozieren! Die Reaktion will schießen!<

Einer der besten Aktivisten und mutigsten Männer war Kurt Eisner. Aber als ich ihm auf einem Spaziergang zum ersten Mal den Gedanken einer Straßendemonstration in Berlin auseinander setzte, blieb er stehen und sah mich mit einem Blick an, als ob er an meinem gesunden Verstand zweifelte.

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>Wissen Sie, was dann geschieht?< sagte er. >Dann gibt es ein ungeheures Blutbad, und es folgt ein neues Sozialistengesetz. demgegenüber das alte ein Kinderspiel war.< Eisner war einer der zuerst Bekehrten. Aber schwer war es mit Paul Singer, dem einflussreichsten Mann der Berliner Parteiorganisation. Er hörte mich gelassen an, stieß gewaltige Rauchwolken aus seiner Zigarre und sagte: >Wissen Sie, Genösse Stampfer, wenn ich glauben würde, dass die Zeit reif sei zur sozialen Revolution, ich wäre der erste, das Signal zu geben.< Das war die Auffassung, der ich bei der alten Generation immer wieder begegnete. Die soziale Revolution oder - wie Bebel zu sagen liebte - >der große Kladderadatsch< musste eines Tages kommen mit eiserner Naturnotwendigkeit. Ein siegreicher Ausgang war ebenso gewiss, und es gab nur eine Gefahr, durch die er in Frage gestellt werden konnte: ein zu frühes Losschlagen.

In einer sehr langen Unterhaltung setzte ich dem wohlwollenden, aber dickköpfigen Mann auseinander, dass ein solches Abschnurren des revolutionären Mechanismus, wie er es sich vorstellte, durchaus unwahrscheinlich und das Risiko keineswegs so groß sei, wie er es sich vorstellte. >Na<, sagte er zum Schluss gutmütig und halb bekehrt, >wenn ihr Revisionisten nichts anderes wollt - darüber lässt sich vielleicht mal reden.<«

Friedrich Stampfer, Erfahrungen und Erkenntnisse. Aufzeichnungen aus meinem Leben, 1957

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    Parteireligion und politische Praxis    

 

Bernstein hatte den Revisionismus nicht erfunden. In allen Parteien der Sozialistischen Internationale hatte es mehr oder minder laute Zweifel an den ewigen Wahrheiten der Lehre des Karl Marx gegeben. Bernstein fasste zusammen, was andere erdacht hatten, und spitzte es oft in handfesten Thesen zu. Aber er kam zur rechten Zeit. Mittlerweile hatte die reformistische Strömung in der Sozialdemokratie Fuß gefasst und gab die Grundlage ab für die allmähliche Durchsetzung der revisionistischen Thesen. Bernstein war eine herausragende Gestalt der führenden Partei der Internationale, die bis dahin als gänzlich Marx-treu galt, und er war der Erste, der seine Zweifel in einem theoretischen System zusammenführte.

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So, wie Marx die Geschichtsnotwendigkeit der sozialistischen Revolution nachweisen wollte, so wollte Bernstein zeigen, wie wichtig es sei, durch beharrliche Reformarbeit die Lage der Arbeiter zu verbessern. Das sozialistische Endziel mochte irgendwann einmal erreicht werden, gesetzmäßig aber werde der Kapitalismus nicht zusammenbrechen. »Ich gestehe es offen, ich habe für das, was man gemeinhin unter <Endziel des Sozialismus> versteht, außerordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles. Und unter Bewegung verstehe ich sowohl die allgemeine Bewegung der Gesellschaft, d.h. den sozialen Fortschritt, wie die politische und wirtschaftliche Agitation und Organisation zur Bewirkung dieses Fortschritts.« 

Statt zusammenzubrechen, entwickle sich der Kapitalismus weiter, und in dieser Fortentwicklung erblickte Bernstein neue Chancen für die Arbeiter. Der Sozialismus komme nicht auf einen Schlag nach einer Revolution, sondern werde durch Reformpolitik Schritt für Schritt durchgesetzt. Mehr Demokratie bedeute zugleich mehr Sozialismus und die Herausbildung von Genossenschaften und Aktiengesellschaften mehr Vergesellschaftung, also ebenfalls mehr Sozialismus. Das Wort vom »Sozialismus als Tagesaufgabe«, das bis heute das SPD-Programm schmückt, stammt von Bernstein. Es ist allerdings fraglich, ob viele Sozialdemokraten es auf den Begründer des demokratischen Sozialismus zurückführen, sofern sie ihn überhaupt kennen. Aber Bernstein war der Erste, der die SPD als »demokratisch-sozialistische Reformpartei« bezeichnete - und natürlich wütenden Protest erntete.

 

»Bei Freund und Feind galt ich als der Mann, der die Sozialdemokratie aus der Bahn, die sie bisher gegangen, herausleiten wollte, der die Revision des Sozialismus radikal in Angriff genommen und verschiedene von dessen Fundamentalsätzen zertrümmert hatte. Man sprach von mir nicht als einem beliebigen, sondern als dem <Erz-Revisionisten>.  

Revisionist, gewiss, was ich befürwortet hatte, war Revision. Aber nicht ich hatte das Wort in die Debatte geworfen, nicht ich mich als Revisionist aufgespielt. Weniger ehrgeizige Absichten hatten mich beseelt, als ich die Reihe der Artikel <Probleme des Sozialismus> abfasste. 

Eine Diskussion unter Sozialisten hatte ich einleiten wollen, bestimmt, die Sozialdemokratie im Fortschreiten auf dem Weg, den sie schon eingeschlagen hatte, zu bestärken. Gegen meinen Wunsch war es ein Kampf in der Partei um ihr Wesen geworden und ich in seinen Mittelpunkt gedrängt. Das war mir unter diesen Umständen doppelt peinlich, denn darüber war ich mir klar, ich konnte von dem, was ich gesagt hatte, in keinem Punkte von Bedeutung etwas zurücknehmen.«  

Eduard Bernstein, Entwicklungsgang eines Sozialisten, 1930

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Hatten die Reformisten in der SPD bis zu Bernsteins Artikelserie die Parteireligion in Worten anerkannt, um sich in der Praxis nicht um sie zu scheren, und hatte der Parteivorstand in Berlin oft beide Augen zugedrückt, weil ihm die Einheit der Partei über alles ging, so forderte Bernstein endlich öffentlich anzuerkennen, dass die SPD längst zur Reformpartei geworden war. Wie sein Widersacher Kautsky schrieb, war Bernstein »zu ehrlich, seinen Revisionismus zu verbergen«. In der Tat, Bernstein war kein Taktiker. Ihm war aufgefallen, dass die wirtschaftliche und politische Realität immer weniger mit Marx' Thesen zu erklären war, und sagte es dann auch. Die Augen wurden ihm bei einem Vortrag in der Londoner Fabian Society, einer reformsozialistischen Vereinigung, geöffnet. Er versuchte seinen Marxismus zu verteidigen gegen Einwände der Zuhörer, aber er hatte dabei das Gefühl, nur Schablonen hervorzubringen und fühlte in sich einer großen Leere.

Als er 1896 seine Zweifel in einer Artikelserie für die Neue Zeit unter dem Titel »Probleme des Sozialismus« aufschrieb, brauchten Bebel und Kautsky einige Zeit, bis sie bemerkten, dass Bernstein vom rechten Glauben abgefallen war. Noch im April 1898 schrieb Kautsky seinem alten Kampfgenossen: »Dein Artikel über die Zusammenbruchstheorie schockierte mich anfangs auch bedeutend. Ich musste ihn zwei Mal lesen, bis ich fand, dass alles, was Du sagtest, mit Fug und Recht gesagt werden darf.«

Damals beabsichtigte Kautsky, seinem Freund die Redaktion der streng marxistischen Neuen Zeit für ein halbes Jahr zu übergeben, weil er sich anderen Dingen widmen wollte. Obwohl Bernstein ihm lange zuvor geschrieben hatte, dass er die Resultate der Marx'schen Methode nur noch teilweise anerkenne.

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Und im Februar 1898 entwickelte er in einem Brief an Kautsky seine Abkehr von der Marx'schen Revolutions­auffassung: Eine gut organisierte Arbeiter­demokratie erscheine ihm viel Erfolg versprechender als die revolutionäre Diktatur des Proletariats, die nur Anarchie in der schlimmsten Form erzeuge. Erst im Sommer 1898 scheint Kautsky ein Licht aufgegangen zu sein. Im August schrieb er Adler, dass er sich eine weitere Zusammenarbeit mit Bernstein kaum mehr vorstellen könne. Und wenige Wochen später berichtete er Bebel von einem Besuch in London bei Bernstein, dass »sich sachte ein Bruch zu vollziehen« scheine. »Nachdem ich hier mit Ede geredet und gehört habe, wie er denkt, war es mir klar, dass es dazu kommen würde.«

 

  Warum so spät?  

 

Weil auch Kautsky die Notwendigkeit erkannt hatte, den Marxismus an neue Entwicklungen anzupassen. Er war offen für Kritik an ideologischen Grundsätzen, sofern diese Kritik nicht bedeutete, sich vom Marxismus insgesamt abzuwenden. Kautsky wollte unbedingt festhalten am historischen Materialismus, der geschichts-philosophischen Grundlage des Marx'schen Systems, und genau hier lag für ihn die Grenze. 

Bernstein aber überschritt die Grenze. Seine Kritik begann an einzelnen Punkten und endete darin, den Marxismus insgesamt in Frage zu stellen — im Namen des Marxismus! Denn die Autorität von Marx und Engels war zu stark, als dass selbst ein Kritiker vom Format Bernsteins es gewagt hätte, die Heiligen von den Säulen zu kippen. Es genügte ihm, ihre Thesen abzulehnen. Oder das, was er dafür hielt.

Von Marx' Hauptwerk, dem Kapital, hatte kaum ein Sozialdemokrat den ersten Band gelesen. Der dritte Band war gerade erst, 1894, in Engels' Bearbeitung erschienen. Die 1857/58 verfassten Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, in denen Marx zum ersten Mal seine zentralen wirtschaftstheoretischen Thesen darlegt, erschienen 1939 in Moskau! 

Wer überhaupt Marx und Engels gelesen hatte, der kannte neben dem Antidühring das Kommunistische Manifest, vielleicht noch die Randglossen zur Kritik des Gothaer Programms, die erst 1890 in Deutschland veröffentlicht wurden, eineinhalb Jahrzehnte nachdem Marx sie verfasst hatte, sowie einige historische und journalistische Arbeiten. Die Verbreitung marxistischen Gedankenguts war in der Zeit des Sozialistengesetzes stark behindert.

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Was viele Sozialdemokraten bis in die Parteiführung hinein als Marxismus erfuhren, stammte von Kautsky und anderen Marx-Auslegern oder, im ungünstigeren Fall, Vereinfachern.

Bebels Glaube an den Zusammenbruch lässt sich aus dem Kapital nicht ableiten. Engels scheiterte in seinen Bemühungen, die deutschen »Marxisten« vom blinden Glauben an das unerschütterliche Wirken ökonomischer und historischer Gesetze abzubringen. Er und Marx hatten in der Auseinandersetzung mit Hegel und anderen philosophischen Idealisten das Gewicht des Materiellen derart stark betont, dass ihre Auffassungen bis in unsere Tage häufig mit deren klotzmaterialistischer Karikatur verwechselt werden.

 

  Als Marx-Kritiker nicht originell  

 

Gemessen am Vulgär-Marxismus war Engels der erste Revisionist. Aber auch Marx hatte ja schon im Hinblick auf Simplifizierungen seiner Theorie durch französische Sozialisten den vielfach falsch zitierten und falsch interpretierten Satz gesagt, er sei kein Marxist. Engels bemühte sich, seinen Genossen die Vorstellung nahe zu legen, dass moderne Revolutionen nicht mit Knall und Peng im Bürgerkrieg ausgefochten werden müssen und — angesichts der Fortschritte der Waffentechnik — auch nicht ausgefochten werden dürfen. 

Der »General«, wie Engels wegen seiner Vorliebe für Militärwissenschaftliches auch genannt wurde, riet ab, Krieg zu führen gegen andere Nationen oder Klassen. Er plädierte für die Demokratie, die die Arbeiterbewegung brauche wie die Luft zum Atmen. Die demokratische Republik war ihm der beste Boden für den Klassenkampf, der sich zu einem Kampf für den Sozialismus ausweiten müsse.

»Die Zeit der Überrumpelungen, der von kleinen, bewussten Minoritäten an der Spitze bewusstloser Massen durchgeführten Revolutionen, ist vorbei. Wo es sich um eine vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Organisation handelt, da müssen die Massen selbst mit dabei sein, selbst schon begriffen haben, worum es sich handelt, für was sie mit Leib und Leben eintreten. Das hat uns die Geschichte der letzten fünfzig Jahre gelehrt. Damit aber die Massen verstehen, was zu tun ist, dazu bedarf es langer, ausdauernder Arbeit, und diese Arbeit ist es gerade, die wir jetzt betreiben, und das mit einem Erfolg, der die Gegner zur Verzweiflung bringt. (...)

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Was aber auch in anderen Ländern geschehen möge, die deutsche Sozialdemokratie hat eine besondere Stellung und damit wenigstens zunächst auch eine besondere Aufgabe. (...) Ihr Wachstum geht so spontan, so stetig, so unaufhaltsam und gleichzeitig so ruhig vor sich wie ein Naturprozess. Alle Regierungseingriffe haben sich ohnmächtig dagegen erwiesen. Auf 2? Millionen Wähler können wir schon heute rechnen. Geht das so voran, so erobern wir bis Ende des Jahrhunderts den größten Teil der Mittelschichten der Gesellschaft, Kleinbürger wie Kleinbauern, und wachsen aus zu der entscheidenden Macht im Lande, vor der alle anderen Mächte sich beugen müssen, ob sie wollen oder nicht. Dies Wachstum ununterbrochen in Gang zu halten, bis es dem herrschenden Regierungssystem von selbst über den Kopf wächst, diesen sich täglich verstärkenden Gewalthaufen nicht in Vorhutkämpfen aufreiben, sondern intakt zu erhalten bis zum Tag der Entscheidung, das ist unsere Hauptaufgabe. Und da ist nur ein Mittel, wodurch das stetige Anschwellen der sozialistischen Streitkräfte in Deutschland momentan aufgehalten und selbst für einige Zeit zurückgeworfen werden könnte: ein Zusammenstoß, auf großem Maßstab, mit dem Militär, ein Aderlass wie 1871 in Paris. (...)

Die Ironie der Weltgeschichte stellt alles auf den Kopf. Wir, die >Revolutionäre<, die >Umstürzler<, wir gedeihen weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz, Die Ordnungsparteien, wie sie sich nennen, gehen zugrunde an dem von ihnen selbst geschaffenen gesetzlichen Zustand. Sie rufen verzweifelt mit Odilon Barrot: la le-galite nous tue, die Gesetzlichkeit ist unser Tod, während wir bei dieser Gesetzlichkeit pralle Muskeln und rote Backen bekommen und aussehen wie das ewige Leben. Und wenn wir nicht so wahnsinnig sind, ihnen zu Gefallen uns in den Straßenkampf treiben zu lassen, dann bleibt ihnen zuletzt nichts anderes, als selbst diese fatale Gesetzlichkeit zu durchbrechen.«

Friedrich Engels, Einleitung zu Marx' »Klassenkämpfe in Frankreich«, 1895

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War Bernstein also doch der bessere Marxist? Das wird hin und wieder behauptet. Es ist aber falsch, wie sich im Lauf der weiteren Erörterung zeigen wird. Vorab sei darauf hingewiesen, dass Bernstein sich selbst zu den »Nachfolgern« von Marx und Engels rechnete. Es muss für ihn schwer gewesen sein, sich von einer Weltanschauung abzuwenden, deren Propagandist er lange war. Und schließlich war er mit Engels befreundet gewesen. Bernstein war sich bewusst, dass er in »verschiedenen wichtigen Punkten« von den Anschauungen abwich, »wie sie in der Theorie von Karl Marx und Friedrich Engels vertreten wurden«. Und doch hätten diese auf sein sozialistisches Denken den »größten Einfluss ausgeübt«.

Als Marx-Kritiker war Bernstein nicht sonderlich originell. Das hat er selbst eingestanden in der seine Thesen zusammenfassenden Studie über die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, die 1899 erschien, nicht zuletzt auf Betreiben Kautskys, der ihn aufgefordert hatte, seine Ideen im Zusammenhang darzustellen. Bernstein ging es nicht um neue Einsichten, sondern er sah den Sinn seiner berühmten Schrift darin, »dass sie schon Entdecktes anerkennt«

Zum ersten Mal trug ein führender sozialdemokratischer Theoretiker den Widerspruch gegen Marx' Thesen — oder was dafür gehalten wurde —, auf den bürgerliche Ökonomen, Philosophen und Historiker längst hingewiesen hatten, in die SPD hinein. Es war die Geburt des demokratischen Sozialismus. Aber diese Geburt war langwierig und schmerzhaft. 

Bernsteins Kritik vollzog sich in vier Varianten:

1. Er griff zentrale Thesen der Marx'schen Theorie an, bemühte sich aber nicht darum, sie zu widerlegen. Er stellte sie gewissermaßen zur Disposition und ergänzte sie durch bürgerliche Theorieelemente. So verfuhr er zum Beispiel mit der Wert- und Mehrwerttheorie, den Schlüsselkategorien der Marx'schen Ökonomie.

2. Er bemühte sich, Auffassungen zu revidieren, die er nicht oder nicht vollständig erfasst hatte, so etwa die Dialektik.

3. Er kritisierte nicht den authentischen Marx, sondern das, was seine Epigonen vereinfacht als dessen Ideen darstellten. Das gilt zum Beispiel für die Zusammenbruchs- und die Verelendungstheorie.

4. Er verwechselte Marx mit dem, was er, Bernstein, als marxistisch interpretierte. Dies zeigte sich besonders bei der so genannten Basis-Überbau-Dialektik.

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Eine direkte Auseinandersetzung mit Arbeiten von Marx und Engels aber führte Bernstein kaum. Stattdessen bemühte er sich sogar, die Autorität der »Klassiker« für sich ins Feld zu führen, so Engels' Einleitung zu Marx' Schrift über die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-50 und einige Privatbriefe des verstorbenen Freundes, »worin Engels auf Fragen scholastischer Tiftler geantwortet« habe, wie der große Historiker der Vorkriegssozialdemokratie und Bernstein-Gegner Franz Mehring giftete.

 

Bernsteins Revisionismus, »Produkt eines jahrelangen inneren Kampfes«, ging es um die »Bekämpfung der Reste utopischer Denkweise« in der Sozialdemokratie, um die gleichmäßige Stärkung des realistischen wie des idealistischen Elements der Bewegung. Er setzte an einer behaupteten Widersprüchlichkeit des Marxismus an. Diese sei zurückzuführen auf die unterschiedlichen Entwicklungsetappen, die Marx und Engels durchgemacht hätten. Beide hätten sich darauf beschränkt, die Rückwirkungen einer sich verändernden Wirklichkeit auf die Theorie anzudeuten oder sie im Hinblick auf einzelne Punkte anzuerkennen. 

Aber auch hier fehle es nicht an Widersprüchen. Marx und Engels hätten es ihren Nachfolgern überlassen, wieder Einheit in die Theorie zu bringen und die Theorie mit der Wirklichkeit zu versöhnen. Diese Nachfolger aber hätten »sogar die Korrekturen ignoriert, die Marx und Engels selbst ihren früheren Schriften haben angedeihen lassen«, erklärte Bernstein in einem Aufsatz für die Neue Zeit. Er verstand seine Aufgabe in der »Abrechnung mit Dogmen, die faktisch schon überlebt sind und sich nur noch durch die Macht der Überlieferung fortschleppen«. Es sei nur Einbildung, dass die sozialistische Bewegung von diesen Dogmen abhänge, sie ruhe auf viel soliderem Fundament. An Adler schrieb er: »Die Doktrin, so genial sie ist, ist mit den Schäden der Zeit ihrer Entstehung behaftet und sie nicht los geworden. Die wirkliche Bewegung aber ist groß geworden in wiederholten Verstößen gegen die Punkte der Doktrin, gegen die ich rebelliere.«

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  Enthüllungen in Stuttgart  

 

Obwohl Bernstein seit 1896 rebellierte, schwieg die Parteiführung standhaft weiter. Während Vertreter des linken Flügels — Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Parvus — den Braten längst rochen, den Bernstein in den Ofen geschoben hatte, hofften Bebel und Wilhelm Liebknecht, dass sich der Streit aussitzen lassen würde. Bebel ahnte zwar, dass der Bruch mit Bernstein sich nicht ewig würde hinausschieben lassen, aber er wollte nichts tun, um ihn herbeizuführen. Denn so folgerichtig, wie die Reformisten sich um eine theoretische Rechtfertigung ihres Tuns herumdrückten, so sehr fürchtete Bebel um die Einheit der Partei. Nicht ohne Grund, wie die Zukunft zeigen sollte.

Bebel hatte sich zusammen mit der SPD-Führung für den Parteitag in Stuttgart (3. bis 8. Oktober 1898) eine ganz andere Tagesordnung ausgedacht. Sie wollten vor allem über die gerade abgehaltenen Reichstagswahlen (Juni 1898) debattieren. Diese hatten zwar wieder Stimmengewinne gebracht, aber die Partei hatte sich mehr erhofft. 2,1 Millionen Deutsche hatten die Sozialdemokraten gewählt, das waren 27,2 Prozent der gültigen Stimmen, aber nur 14 Prozent der Reichstagsmandate aufgrund des Mehrheitswahlrechts und einer Wahlkreiseinteilung, die Städte krass benachteiligte gegenüber dem von den Gutsbesitzern und Kirchen beherrschten Land. 

(Im Jahr 1912 umfasste der größte Wahlkreis, Potsdam 10 - Teltow, 339.000 Wahlberechtigte. Im kleinsten Wahlkreis, Schaumburg-Lippe, lebten gerade mal knapp 11.000 Wahlberechtigte. Obwohl also der Wahlkreis Potsdam 10 - Teltow dreißigmal so viele Wahlberechtigte aufwies wie Schaumburg-Lippe, schickten beide Wahlkreise nur jeweils einen Abgeordneten in den Reichstag nach Berlin. Das günstigste Verhältnis zwischen Wählerstimmen und Reichstagsmandaten erreichte die Vorkriegssozialdemokratie im Januar 1912, als sie mit 34,7 Prozent der Stimmen 27,7 Prozent der Mandate errang. Besonders krass war das Missverhältnis fünf Jahre zuvor ausgefallen, als 28,9 Prozent der Wählerstimmen nur 10,8 Prozent der Reichstagsmandate bedeuteten.)

Außer den Wahlen standen das Koalitionsrecht, der Bergarbeiterschutz sowie die Zoll- und Handelspolitik auf der Tagesordnung des Parteitags. Aber immerhin hatte der schlaue Taktiker Bebel einen Entwurf für eine Resolution gegen den Revisionismus vorbereitet, und auch Bernstein hatte aus London eine Erklärung geschickt. Für den Fall des Falles.
    Der Fall trat ein.

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Es begann ganz harmlos. Und zwar mit einer Debatte über die Frage, ob es tatsächlich so sei, dass die Partei in jenen Wahlkreisen besonders gut abgeschnitten habe, in denen sie das »sozialistische Endziel« herausgestellt hatte. Eine Minderheit von Delegierten stritt ab, dass es einen Zusammenhang gab zwischen Endziel und Wahlerfolg. Der SPD-Reichstagsabgeordnete Peus etwa erklärte unumwunden: »Der ganze Begriff Endziel ist mir zuwider, denn es gibt gar keine Endziele. (...) Das Hauptgewicht lege ich darauf, dass wir noch positiver, noch praktischer in der Gegenwart arbeiten. Das Endziel kommt, denke ich, von selber. Wir können es gar nicht aus den Augen verlieren.«

 

»Allein auf sich gestellt, ringsum von Feinden umgeben, kämpft die sozialdemokratische Fraktion gegen die kapitalistische Ausbeutung und den Klassenstaat, fest unser Endziel im Auge haltend: die Ersetzung der kapitalistischen Gesellschaft durch eine sozialistische, die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum, und die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion.«

Aus dem Bericht der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion an den Stuttgarter Parteitag der SPD, 1898 (Hervorhebung im Original)

*

Der Weg von Peus' Endzieläußerungen zur Debatte über den Revisionismus war nur kurz, hatte doch Bernstein klargestellt, dass ihm das sozialistische Endziel gleichgültig sei. Und doch bedurfte es einer kräftigen Intervention zweier Frauen, um die Debatte anzuschieben. Die Erste, die die Brücke von der Endzieldiskussion zu Bernstein schlug, war Clara Zetkin, die berühmte Frauenrechtlerin aus Stuttgart, die ziemlich genau zwanzig Jahre später zu den Mitbegründerinnen der KPD zählen und gegen Ende der Weimarer Republik alt und krank aus der Sowjetunion nach Deutschland zurückkehren sollte, um als Alterspräsidentin im Reichstag eine fulminante Rede gegen die nazistische Gefahr zu halten. 

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Clara Zetkin hatte kurz vor dem Parteitag in einem Artikel für die sozialdemokratische Frauenzeitschrift Die Gleichheit die Schuld am enttäuschenden Wahlergebnis Bernstein und den Reformisten in der Reichstagsfraktion gegeben:

»Sie haben mittelbar und unmittelbar dazu beigetragen, unter unseren in den vordersten Reihen kämpfenden Parteigenossen vielfach jenen Pessimismus und Skeptizismus zu erzeugen, welche bewirkten, dass hier und da an Stelle der siegesgewissen Kampfesfreude lediglich ein müdes, kühles Pflichtgefühl trat; an Stelle des Kampfes für ein hohes, unverrückbares Endziel das Streben nach schätzbaren, aber kleinen Tageserfolgen, die Neigung, für ein Quäntchen <positiver Errungenschaften> ein Pfund grundlegender Forderungen preiszugeben.«

 

   Auf dem linken Flügel  

 

Rosa Luxemburgs rhetorisch brillanter Auftritt machte eine Generalaussprache über den Revisionismus schließlich unumgänglich, entgegen der Planung der Parteiführung. Rosa Luxemburg war gerade erst nach Deutschland gekommen, zuvor hatte sie sich vor allem mit der wirtschaftlichen und politischen Lage Polens beschäftigt. Aber nachdem sie sich mit zwei Wortmeldungen zur sozialdemokratischen Taktik und Strategie zum ersten Mal auf einem SPD-Parteitag geäußert hatte, war der sozialdemokratischen Prominenz schlagartig klar, dass hier jemand angetreten war, die Partei zu erneuern. 

Ihr war es egal, ob irgendetwas schon immer gemacht oder gesagt worden war, und sie hatte nicht den geringsten Respekt vor den Autoritäten, den Helden des Kampfes gegen das Sozialistengesetz. Dem führenden bayerischen Revisionisten Georg von Vollmar, der sich wenige Jahre zuvor im Münchener Lokal »Eldorado« in viel beachteten Reden vom Linksradikaten zum Reformisten gewandelt hatte, hielt sie unter großem Gelächter des Auditoriums entgegen:

»Dass ich mir meine Epauletten in der deutschen Bewegung erst holen muss, weiß ich; ich will es aber auf dem linken Flügel tun, wo man mit dem Feinde kämpfen, und nicht auf dem rechten, wo man mit dem Feinde kompromisseln will. Wenn aber Vollmar gegen meine sachlichen Ausführungen das Argument ins Feld führt: Du Gelbschnabel, ich könnte ja dein Großvater sein, so ist das für mich ein Beweis, dass er mit seinen logischen Gründen auf dem letzten Loche pfeift.«

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Anschließend nahm sich Rosa Luxemburg Bernsteins Satz über Bewegung und Endziel an. Ihm hielt sie — den älteren Cato modifizierend — entgegen: »Im übrigen bin ich der Meinung, dass dieser Staat zerstört werden muss.« Sie beklagte, dass der Zusammenhang zwischen Endziel und alltäglichem Kampf verdunkelt werde. Man behandle das Endziel als »hübsche Stelle im Programm«, als »Doktorfrage«. »Ich behaupte demgegenüber, dass für uns als revolutionäre, als proletarische Partei keine praktischere Frage existiert als die vom Endziel.« Denn was mache die Sozialdemokratie zu einer sozialistischen Partei? »Es ist nur die Beziehung dieser drei Formen des praktischen Kampfes [gewerkschaftlicher Kampf, Sozialreform und Demokratisierung des Staates; C.D.] zum Endziel. 

Nur das Endziel ist es, welches den Geist und den Inhalt unseres sozialistischen Kampfes ausmacht, ihn zum Klassenkampf macht.« Für eine Doktorfrage hielt sie auch die Erörterung, ob die Produktion bereits reif zur Vergesellschaftung sei. Eine sozialistische Partei müsse sich der Lage immer gewachsen zeigen, nie dürfe sie vor ihren Aufgaben zurückschrecken.

Bebel blieb nun keine Wahl mehr. Er musste Bernsteins Brief an den Parteitag vorlesen. In diesem Brief formulierte Bernstein seine wichtigsten Thesen:

1. Die Sozialdemokratie solle ihre Taktik nicht von der Aussicht auf den bevorstehenden Zusammenbruch abhängig machen.

2. Die gesellschaftlichen Widersprüche hätten sich nicht so verschärft, wie das Kommunistische Manifest es vorhergesagt habe. Die Zahl der Besitzenden sei gewachsen, der gesellschaftliche Reichtum habe sich vermehrt. Es gebe nicht weniger Kapitalisten, die immer mehr Reichtum anhäuften, sondern immer mehr Kapitaleigner.

3. Die Konzentration der Produktion habe sich nicht durchgängig mit gleicher Kraft und Geschwindigkeit entwickelt, wie es Marx prognostiziert habe.

4. Die Privilegien der Bourgeoisie wichen Schritt für Schritt demokratischen Einrichtungen. Je mehr die staatlichen Institutionen demokratisiert würden, desto unwahrscheinlicher würden große politische Katastrophen. Deshalb lege er auf den Kampf um die politischen Rechte der Arbeiter sowie auf die wirtschaftlichen Organisationen der Arbeiter den allergrößten Wert. So sei auch der Satz über Endziel und Bewegung zu verstehen, »und so unterschreibe ich ihn noch heute«.

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Bebel war immer noch bestrebt, den Streit zu dämpfen. Er verzichtete darauf, die vorbereitete Resolution zu präsentieren, in der Bernsteins Revisionismus verurteilt wurde. Bebel beschränkte sich darauf, nach der Lesung von Bernsteins Brief zu erklären, dass er dessen Standpunkt nicht teile. Bernstein habe sich bei seinen Ausführungen in Widersprüche verwickelt. »Aber darüber kann der Parteitag nicht sprechen, denn hier handelt es sich nicht um Fragen der Taktik, sondern unserer gesamten Grundanschauung, und die lassen sich nicht auf einem Parteitag entscheiden; die müssen sehr gründlich pro und contra in der Presse erörtert werden.«

Kautsky dagegen sah sich in seiner Rolle als Gralshüter der reinen Lehre und hielt sich keineswegs zurück. Nicht gerade bescheiden behauptete er nach dem Parteitag, dass seine Rede die Debatte entschieden habe. Vielleicht war ihm das überschwängliche Lob, das Wilhelm Liebknecht ihm zollte, zu Kopfe gestiegen. Aber Liebknechts Befähigung als Theoretiker wurde in der Parteiführung taktvollerweise nicht mehr erörtert, und Kautskys Befähigung als Redner wurde von ihm selbst heftig angezweifelt - es spricht einiges dafür, dass diese Skepsis berechtigt war.

In seiner Parteitagsrede legte Kautsky eine seltsame Logik an den Tag. Nach der Würdigung der Verdienste des »alten Kampfgefährten« bemühte sich Kautsky nämlich, die Konsequenzen von Bernsteins Einwendungen gegen Marx auszumalen. Wenn, wie Bernstein behauptet, die Zahl der Kapitalisten zunimmt, sei das sozialistische Ziel unerreichbar. Er hätte auch sagen können: Weil das Ziel unverrückbar ist, darf die Zahl der Kapitalisten nicht wachsen. Er fuhr fort: Richtig sei immer noch das Wort von Marx, dass eine Zunahme des Kapitals auch eine Zunahme des Proletariats bedeute. Im Gegensatz zu England, für das Marx den friedlichen Übergang zum Sozialismus für möglich gehalten habe, sei in Deutschland nur das Proletariat eine demokratische Macht. »Wenn Bernstein meint, dass wir erst die Demokratie haben müssen, um dann Schritt für Schritt das Proletariat zum Sieg zu führen, so sage ich, die Sache

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steht bei uns umgekehrt, der Sieg der Demokratie bei uns wird bedingt durch den Sieg des Proletariats. (...) Glaubt aber einer, dass dieser Sieg möglich ist ohne Katastrophe? Ich wünsche es, aber ich glaube es nicht.« Vom Ende her argumentierte auch Liebknecht: »Wären Bernsteins Ausführungen richtig, dann könnten wir unser Programm und unsere ganze Vergangenheit, die ganze Sozialdemokratie begraben lassen.«

 

Hätte Bernstein sich der Diskussion stellen können, dann hätte er wohl leichtes Spiel gehabt. Denn wenn das Endziel der Partei davon abhing, dass sich die Wirklichkeit nicht ändern durfte, dann war jede politisch-ökonomische Analyse überflüssig. Dann konnte die Partei auch nicht mehr behaupten, einer wissenschaftlich begründeten Weltanschauung anzuhängen. Kautsky, der sich neuen Einsichten sonst keineswegs verschloss, manövrierte sich als Verteidiger des Marxismus in eine elende Lage. Denn er glaubte seiner Verantwortung als »Cheftheoretiker« dadurch gerecht zu werden, dass er Bernsteins Thesen zurückwies und Marx quasi buchstabengetreu — wenn auch oft genug auf zu dünnem Boden — verteidigte.

 

 Dramatische zwölf Monate  

 

Genauso wie Bebel hielten sich die Reformpolitiker auf dem Parteitag zurück. Sie versuchten, die Gegensätze herunterzuspielen. Sie fürchteten die Debatte, an deren Ende nur die Bestätigung des Programms und des sozialistischen Endziels stehen konnte. Das hätte ihren Spielraum eingeschränkt und noch deutlicher gemacht, dass sie gegen die Grundsätze der Partei verstießen. Typisch waren etwa die Äußerungen Vollmars:

»Ich sage mir einfach, dass es eben Leute gibt, die mehr zum Dogmatiker und Doktrinär, zum Sekten- und Mahdistentum* veranlagt sind als zum Politiker, der es mit dem lebendigen Leben zu tun hat und dem eine Hand voll praktischer Emanzipationsarbeit stets ein ganzes Schock Theoreme überwiegen muss

* Madhisten nannten sich die Anhänger des sudanesischen Derwischs Muhammad Ahmad, der sich 1881 zum Mahdi, einer Erlöserfigur in der islamischen Eschatologie, erklärt und dazu aufgerufen hatte, die britisch-ägyptische Fremdherrschaft zu brechen.

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Sonst hörte man von der Parteirechten nicht viel. Und doch waren die Konturen der ganzen Debatte längst vorgezeichnet. Bereits in Stuttgart offenbarte Kautsky seine Schwäche und Rosa Luxemburg ihre Stärke.

Manche Historiker und Publizisten verlegen die grundlegende Auseinandersetzung über den Revisionismus auf den Dresdener Parteitag im Jahr 1903. Das ist falsch. Wohl hat es in Dresden eine erbitterte Debatte über Bernstein und eine deftige Resolution gegen seine Auffassungen gegeben, aber die Fronten und Gegenstände des Streits prägten sich bereits vier Jahre zuvor aus, und zwar auf dem Parteitag in Hannover 1899. Zwischen den Parteitagen von Stuttgart und Hannover wurde alles gesagt und geschrieben, was über den Revisionismus gesagt und geschrieben werden musste. Was danach kam, hatte keinen Neuigkeitswert mehr.

In diesen dramatischen zwölf Monaten zwischen dem Oktober 1898 und dem Oktober 1899, zwischen den Parteitagen in Stuttgart und Hannover, wurde nicht nur der demokratische Sozialismus unter heftigen Wehen geboren. Es bildeten sich auch die Keime der Spaltung der Arbeiterbewegung heraus. Die Linke um Rosa Luxemburg, Clara Zetkin und Franz Mehring formierte sich in der Auseinandersetzung um Bernsteins Marx-Kritik. 

Das Parteizentrum um Bebel und Kautsky verlor in der Verteidigung der »ehernen Grundsätze der Partei« den Blick für neue wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen. Allein Rosa Luxemburg verstand es, die Verteidigung des Marxismus mit neuen theoretischen Überlegungen zu verbinden. Sie sah, wie Bernstein, dass der Kapitalismus sich stets erneuert und dass die Theorien seiner Gegner den Bezug zur Wirklichkeit verloren, wenn sie das Kapital in eine Bibel verwandelten und sich selbst zu Stellvertretern Marx' auf Erden erklärten. 

Rosa Luxemburgs Weg endete mit einer gewissen Folgerichtigkeit in der Tragödie des Spartakusaufstands. Dazu später mehr.

Zuvor verfolgen wir die Debatte zwischen den Parteitagen von Stuttgart und Hannover, um herauszufinden, worin die inhaltlichen Differenzen der Kontrahenten bestanden. Es lohnt sich, an dieser Stelle tiefer zu graben, denn wir werden entdecken, was den Kern des demokratischen Sozialismus ausmacht, den die heutige SPD-Führung gerne in den wohlklingenden Präambeln ihrer neoliberalen Konzepte versteckt.

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