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1.II.  Philosophisches  

Bloß Denkgesetze  

 

 

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Marx' Lehre war in Deutschland — und anderswo — meist nur in Secondhandvarianten bekannt. Von seinen philosophischen Anschauungen aber wussten seine Anhänger fast nichts. Was sie wussten, stammte selten von Marx und Engels selbst. Und dies, obwohl Engels sich im <Antidühring> bemüht hatte, Materialismus und Dialektik allgemein verständlich darzustellen.

 

»Was ist also die Negation der Negation? Ein äußerst allgemeines und eben deswegen äußerst weitwirkendes und wichtiges Entwicklungsgesetz der Natur, der Geschichte und des Denkens; ein Gesetz, das, wie wir gesehn, in der Tier- und Pflanzenwelt, in der Geologie, in der Mathematik, in der Geschichte, in der Philosophie zur Geltung kommt und dem selbst Herr Dühring trotz allen Sperrens und Zerrens, ohne es zu wissen, in seiner Weise nachkommen muss. Es versteht sich von selbst, dass ich über den besondern Entwicklungsprozess, den z.B. das Gerstenkorn von der Keimung bis zum Absterben der fruchttragenden Pflanze durchmacht, gar nichts sage, wenn ich sage, es ist Negation der Negation. (...) Wenn ich von all diesen Prozessen sage, sie sind Negation der Negation, so fasse ich sie allesamt unter dies eine Bewegungsgesetz zusammen, und lasse eben deswegen die Besonderheiten jedes einzelnen Spezialprozesses unbeachtet. Die Dialektik ist aber weiter nichts als die Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft und des Denkens.«

Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (»Antidühring«), 1878

 

Neben dem Gesetz der Negation der Negation beschreibt Engels im Antidühring ein zweites Gesetz der Dialektik, das des Umschlags von Quantität in Qualität. Damit meint er im Sinne Hegels, dass Entwicklungen nicht einfach quantitativer Natur sind, sondern qualitativ umschlagen, also diskontinuierlich verlaufen können. In seiner erst 1925 veröffentlichten Arbeit Dialektik der Natur erwähnt Engels außerdem das »Gesetz von der Durchdringung der Gegensätze«, wonach dialektische Widersprüche die Triebkraft jeder Entwicklung sind. Das alles ist Hegel pur. Was ist daran marxistisch? Engels beschreibt den Unterschied von materialistischer und idealistischer Dialektik prägnant anhand der von ihm herausdestillierten »Gesetze der Dialektik« — des Umschlagens von Quantität in Qualität, der Durchdringung der Gegensätze und der Negation der Negation:

»Alle drei sind von Hegel in seiner idealistischen Weise als bloße Denkgesetze entwickelt: das erste im ersten Teil der >Logik<, in der Lehre vom Sein; das zweite füllt den ganzen zweiten und weitaus bedeutendsten Teil seiner >Logik< aus, die Lehre vom Wesen; das dritte endlich figuriert als Grundgesetz für den Aufbau des ganzen Systems. Der Fehler liegt darin, dass diese Gesetze als Denkgesetze der Natur und Geschichte aufoktroyiert, nicht aus ihnen abgeleitet werden. Daraus entsteht dann die ganze gezwungene und oft haarsträubende Konstruktion: Die Welt, sie mag wollen oder nicht, soll sich nach einem Gedankensystem einrichten, das selbst wieder nur das Produkt einer bestimmten Entwicklungsstufe des menschlichen Denkens ist. Kehren wir die Sache um, so wird alles einfach und die in der idealistischen Philosophie äußerst geheimnisvoll aussehenden dialektischen Gesetze werden sofort einfach und sonnenklar.«

Auch die Geschichte folgt nach Marx und Engels den dialektischen Bewegungsgesetzen. So, wie die bürgerliche Gesellschaft den Feudalismus abgelöst hat und dieser die Sklaverei, so'wird der Sozialismus die bürgerliche Gesellschaft negieren. Dabei wird eine evolutionäre — quantitative — Entwicklung des Kapitalismus in eine revolutionäre — qualitative — Entwicklung umschlagen. Vorangetrieben wird diese Entwicklung durch die im Kapitalismus angelegten, sich gegenseitig durchdringenden Widersprüche: dem zwischen den auf stete Vergesellschaftung drängenden Produktivkräften und den sie hemmenden privatkapitalistischen Produktions- oder Eigentumsverhältnissen, dem zwischen der Arbeit und dem sie ausbeutenden Kapital usw.

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Hegels Denkmodell wird so überführt in eine materialistische Dialektik, die nicht zuletzt »beweist«, dass der Kapitalismus notwendig vom Sozialismus abgelöst wird. Die Anwendung der materialistischen Dialektik auf die Geschichte nennt man in der marxistischen Begrifflichkeit »historischen Materialismus«.

In der populären Fassung wurde aus den dialektischen Gesetzmäßigkeiten in der Folge der Gesellschaftsformationen — asiatische Despotie, antike Sklavenhaltergesellschaft, Feudalsystem, Kapitalismus, Sozialismus/Kommunismus — die Vorstellung, der Sozialismus komme von selbst. In der christlichen Vorstellung bestimmt Gott den Lauf der Welt, im Vulgärmarxismus tritt an die Stelle Gottes das »historische Gesetz«. Karl Marx hielt den Sozialismus/ Kommunismus für unausweichlich, er setzte aber das bewusste Handeln der Arbeiterklasse, des »Totengräbers des Kapitalismus«, voraus. Die Sozialdemokraten dagegen glaubten nicht an die Revolution, sondern daran, dass sie zu dem Zeitpunkt, an dem die Geschichte den Sozialismus auf die Tagesordnung setzte, bereit und stark sein müssten, um den zusammenbrechenden Kapitalismus zu beerben.

 

»Zerbröckelnde Eklektik«

Vor Bernstein gab es bereits Sozialisten, die weniger Vertrauen hatten in den Lauf der Geschichte und deren Triebkräfte. Sie betrachteten den Sozialismus als Gebot der Moral. Sie stützten sich weniger auf Marx denn auf Kant. Der große Königsberger Philosoph lieferte ihnen die Grundlagen für den so genannten neukantianischen Sozialismus. Und im Gegensatz zu Bernstein hatten die Neukantianer ihren Kant gelesen. Einer von ihnen warf dem Revisionisten prompt vor, dieser operiere »in völlig eklektischer und unmethodischer Weise« mit Begriffen und Kategorien, »ohne sich über diese Grundbegriffe Rechenschaft gegeben zu haben. Von Kant hat er Anregungen empfangen, aber er hat ihn nicht bewältigt.« Mit den Kategorien der Marx'schen Philosophie kam Bernstein allerdings ebenso wenig zurecht. Der sozialdemokratische Historiker Christian Gneuss urteilte 1977:

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»Nicht fertig geworden ist Bernstein mit dem Problem der Dialektik. Was er im zweiten Kapitel der >Voraussetzungen< darüber sagt, mutet geradezu grotesk an und beweist, dass Bernstein das Problem überhaupt nicht begriffen hat.«

Auch Karl Kautsky mokierte sich über die Unzulänglichkeit der B ernstein'sehen Philosophiekritik. Dieser ziehe »gegen die alte Methode zu Felde«, habe eine neue Methode jedoch nicht entwickelt und wende »unbewusst« sogar die alte Methode weiter an. In der Tat ist es verwunderlich, dass Bernstein beispielsweise die »Zusammenbruchstheorie« des Vulgärmarxismus mit Verweis auf das mangelnde Entwicklungsniveau der Produktivkräfte verwarf. Er benutzte hier unabsichtlich den authentischen Marx gegen einen Pseudo-Marx, um Marx zu widerlegen. Bernsteins Replik an seine Kritiker war eher dünn. Was diese »<zerbröckelnde Eklektik>, andere zweifelsüchtiges Mäkeln nennen, ist die Abrechnung mit Dogmen, die faktisch schon überlebt sind«, schreibt er in der Neuen Zeit.

Kautsky war zu Recht unzufrieden mit der philosophischen Debatte. Die Diskussion sei »recht unfruchtbar geblieben«, bilanzierte er, man wisse immer weniger, was Bernstein eigentlich wolle. Der Einwand war richtig, aber er deutete auch eine grundlegende Schwäche der antirevisionistischen Kritik an, die sich vor allem in Fragen der Philosophie zeigte: Der führende sozialdemokratische Theoretiker, Karl Kautsky, verwarf zwar die revisionistischen Auffassungen, verstand es dabei aber nicht, sie aus marxistischer Sicht richtig zu stellen.

Ähnliches kann man über Rosa Luxemburg sagen. Sie hielt eine philosophische Auseinandersetzung für unwichtig und erklärte lapidar, dass der Marxismus einer ethisch-idealistischen Ergänzung nicht bedürfe, das sei bürgerliche Philosophie.

In der deutschen Sozialdemokratie überragte Franz Mehring seine Mitstreiter an philosophischer Bildung bei weitem, er begriff die Bedeutung, die Marx und Engels theoretischen Fragen beimaßen, am besten. Er lieferte den wichtigsten Beitrag in der philosophischen Auseinandersetzung mit Bernstein. Aber zuerst wollen wir dessen Ausführungen folgen, in ihnen steckt das evolutionäre Moment des demokratischen Sozialismus.

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In den Voraussetzungen gibt es die erste zusammenhängende Darstellung der Bernstein'schen Haltung zur materialistischen Dialektik, die er später in einer Antwort auf Kautskys Entgegnungsschrift (Bernstein und das sozialdemokratische Programm. Eine Antikritik, 1899) präzisieren wird. Bernstein schreibt: Sobald man den »Boden der erfahrungsmäßig feststellbaren Tatsachen« verlasse, gerate man in die Welt der abgeleiteten Begriffe, »und wenn wir dann den Gesetzen der Dialektik folgen (...), so befinden wir uns (...) doch wieder in den Schlingen der > Selbstentwicklung des Begriffs<. Hier liegt die große wissenschaftliche Gefahr der Hegel'sehen Widerspruchslogik.«

Diese Gefahr entsteht laut Bernstein, wenn Entwicklungen von dialektischen Gesetzen — Umschlag von Quantität in Qualität usw. — abgeleitet werden. Und die Gefahr sei umso größer, je komplexer der Gegenstand sei, um dessen Entwicklung es sich handle. Es drehe sich hier um einen Punkt, »der meines Dafürhaltens der Marx-Engels'schen Lehre am verhängnisvollsten geworden ist«. Sollte das ursprünglich hegelianisch konstruierte Entwicklungsschema bestehen bleiben, »so müsste entweder die Wirklichkeit umgedeutet oder bei der Ausmessung der Bahn zum erstrebten Ziel alle reale Proportion ignoriert werden«. Die Revision des Marxismus müsse daher mit der »Hegeldialektik abrechnen«. »Sie ist das Verräterische in der Marxischen Doktrin, der Fallstrick, der aller folgerichtigen Betrachtung der Dinge im Wege liegt.« 

Und noch schlimmer: Wegen der Dialektik seien Marx und Engels zu einer dem Blanquismus verwandten Lehre gekommen: zu Putschismus und Verschwörung, wie sie der französische Sozialist Louis Blanqui lehrte. Bernsteins Kritik an den revolutionären Konsequenzen der Marx'sehen Dialektik mündete in dem anschaulichen Satz: »Jedes Mal, wo wir die Lehre, die von der Ökonomie als Grundlage der gesellschaftlichen Entwicklung ausgeht, vor der Theorie, die den Kultus der Gewalt auf den Gipfel treibt, kapitulieren sehen, werden wir auf einen Hegel'schen Satz stoßen.«

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Bernsteins philosophische Pirouette 

 

Die politisch-praktische Implikation der materialistischen Dialektik nahm Bernstein zielsicher aufs Korn. Sie stand seinem evolutionären Gesellschafts­verständnis im Weg, weil sie den revolutionären Übergang zum Sozialismus philosophisch begründete. Aber dann drehte der Vater des Revisionismus eine schier abenteuerliche Pirouette. Weil die Autorität von Marx und Engels noch zu stark auf ihm lastete und er sich nicht als ihr Gegner, sondern als einer ihrer Nachfolger sah, bestritt er den Stellenwert der Dialektik als analytische Methode in deren Werk. Was Marx und Engels Großes geleistet hätten, »haben sie nicht vermöge der Hegel'schen Dialektik, sondern trotz ihr geleistet«.

Kein Mensch »mit gesunden Sinnen« verwerfe »das dialektische Denken schlechthin«. Vernünftiges Denken oder Forschen sei aber unmöglich, ohne dass »die Dinge sowohl in ihrer Vereinzelung oder Besonderheit, als auch in ihrem Zusammenhang, ihren Beziehungen betrachtet werden, wozu ihr Werden, ihre Entwicklung gehört. Es handelt sich nicht um Zulässigkeit oder Verwerflichkeit der dialektischen Betrachtungsweise, sondern um den relativen Wert der von Hegel für sie aufgestellten Formeln und die Grenzen ihrer Anwendbarkeit.«

Bernstein ging es nicht darum, Hegel herabzusetzen, »sondern um die Kennzeichnung der Gefahren seiner Dialektik«. »Der Fallstrick der dialektischen Betrachtungsweise« bestehe darin, dass die dialektischen Formeln dazu verleiteten, von den spezifischen Besonderheiten der Dinge zu abstrahieren, wo dies wegen der Natur des Gegenstandes oder des Forschungszweckes höchstens in Grenzen zulässig sei. So habe Marx im Kapital ökonomische Tatsachen »einseitig zugespitzt«, um sie in das »dialektisch konstruierte Schema« einzupassen.

Bernsteins philosophische Pirouette ist von akrobatischer Güte: Es war Marx, der die Dialektik in die Wissenschaft hineingetragen hat und damit die Tendenz. Nach Bernstein ist Wissenschaft per se evolutionär, gewissermaßen reformistisch, die unwissenschaftliche Tendenz dagegen zeigt sich in der dialektisch konstruierten, über die gegebene Wirklichkeit hinausweisenden revolutionären Phrase. Die Dialektik war daher Hemmschuh einer aktiven Reformpolitik, entweder Reform oder Revolution, aber keine dem revolutionären Ziel unterworfene Reformarbeit. Aus Marx' dialektischer Einheit von Reform und Revolution wird bei Bernstein der Gegensatz Reform oder Revolution (dazu später mehr). Wer für eine Revolution eintrat, verließ das Terrain der Wissenschaftlichkeit.

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Durch den Feuerbach geschwommen

 

Wissenschaftliche Aussagen über künftige gesellschaftliche Verhältnisse waren in Bernsteins Augen Wunderglaube, keine Wissenschaft. Bernstein akzeptierte den Marxismus folgerichtig nur noch so weit, wie dieser aufhörte, revolutionär zu sein. Und so endete die Kritik der Dialektik in dem Versuch, den Marxismus als Anleitung zur Reformpolitik misszuverstehen. 

Man muss kein Leninist sein und auch nicht Anhänger der stalinistischen Marx-Verstümmelung, um zu begreifen, dass Bernsteins Marx-Kritik nichts anderes bedeutet als die Abschaffung des Marxismus in seinem Namen. Denn dieser hatte in den Augen seiner Schöpfer vor allem einen Sinn: die Notwendigkeit des revolutionären Übergangs zum Sozialismus zu beweisen. Nun brauchten Revolutionen nicht gewalttätig zu sein, sie wurden es in Marx' Verständnis vor allem dann, wenn die Herrschenden sich nicht an die von ihnen selbst festgelegten Spielregeln hielten. 

Eine Revolution war für Marx und Engels kein knallendes und rauchendes Spektakel, sondern ein, mit Hegel gesagt, qualitativer Umschlag in der historisch-politischen Entwicklung. Lenins Oktoberrevolution dagegen war ein Putsch. Dafür sprechen nicht zuletzt die beachtlichen Mühen, die Lenin und seine Apologeten aufwandten, um die historische Notwendigkeit des Oktoberaufstands zu beweisen.

 

»Allerdings muss sich die Darstellungsweise formell von der Forschungsweise unterscheiden. Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren innres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es aussehn, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun.

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Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegel'schen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozess, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der De-miurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.

Die mystifizierende Seite der Hegel'schen Dialektik habe ich vor beinah 30 Jahren, zu einer Zeit kritisiert, wo sie noch Tagesmode war. Aber grade als ich den ersten Band des >Ka-pital< ausarbeitete, gefiel sich das verdrießliche, anmaßliche und mittelmäßige Epigonentum, welches jetzt im gebildeten Deutschland das große Wort führt, darin, Hegel zu behandeln, wie der brave Moses Mendelssohn zu Lessings Zeit den Spinoza behandelt hat, nämlich als >toten Hund<. Ich bekannte mich daher offen als Schüler jenes großen Denkers und kokettierte sogar hier und da im Kapitel über die Werttheorie mit der ihm eigentümlichen Ausdrucksweise. Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, dass er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewusster Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muss sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken.

In ihrer mystifizierten Form ward die Dialektik deutsche Mode, weil sie das Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Grauet, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffasst, sich durch nichts imponieren lässt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist.

Die widerspruchsvolle Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft macht sich dem praktischen Bourgeois am schlagendsten fühlbar in den Wechselfällen des periodischen Zyklus. den die moderne Industrie durchläuft, und deren Gipfelpunkt - die allgemeine Krise. Sie ist wieder im Anmarsch, obgleich noch begriffen in den Vorstadien, und wird durch die Allseitigkeit ihres Schauplatzes, wie die Intensität ihrer Wirkung, > selbst den Glückspilzen des neuen heiligen, preußisch-deut- ' sehen Reichs Dialektik einpauken.«

Karl Marx, Das Kapital, Band 1, Nachwart zur zweiten Auflage, 1873

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Marx und Engels hatten ihre »Karriere« als Philosophen bei Hegel begonnen, als »linke Hegelianer«. Die wichtigste Zwischenstation zur materialistischen Dialektik war der religionskritische Philosoph Ludwig Feuerbach, nach dem alles politische und soziale Denken auf materiellen Bedürfnissen beruht: Der Mensch ist, was er isst. Marx und Engels waren durch den »Feuerbach geschwommen« (Marx), hatten sich für den Materialismus des späteren SPD-Mitglieds Feuerbach begeistert als Kontrastprogramm zu Hegels Idealismus, um schließlich Hegel »vom Kopf auf die Füße« zu stellen. 

So entstand die materialistische, die marxistische Dialektik. Sie nutzten sie als Methode in ihren historischen, politischen und wirtschaftstheoretischen Arbeiten, sahen in den dialektischen Gesetzen den geistigen Widerschein der Wirklichkeit: Geist und Materie folgen den gleichen Gesetzen, und sie tun dies, weil der Geist den Gesetzen der unabhängig von ihm existierenden objektiven Realität gehorcht.

Bernsteins Versuch, die Dialektik vom Materialismus zu trennen, bedeutete, den revolutionären Gehalt des Marxismus zu eliminieren und diesen dadurch zu zerstören. Und dennoch entstand aus dieser manchmal geradezu erstaunlich schwächlichen Marx-Kritik ein nicht minder erstaunlich lebenskräftiges Alternativ­konzept. Bernsteins Polemik gegen die Dialektik entpuppte sich als Plädoyer gegen Revolutionserwartung und Revolutionsglauben und für einen nichtdialektischen, also evolutionären, Weg zum Sozialismus. Bernstein machte sich über das »Endziel des Sozialismus« lustig, was interessierten ihn märchenhafte Finalzustände? »Man spekuliert nicht mehr über die Verteilung des Bärenfells nach vollendetem allgemeinen Kladderadatsch, man beschäftigt sich überhaupt nicht viel mit diesem interessanten Ereignis, sondern studiert die Einzelheiten der Probleme des Tages und sucht nach Hebeln und Ansatzpunkten, auf dem Boden dieser die Entwicklung der Gesellschaft im Sinne des Sozialismus vorwärts zu treiben.« 

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Bernstein empfahl den Abschied vom Wunderglauben, dass nach dem großen Zusammenbruch bald das sozialistische Paradies beginne. Aber er empfahl keinen Abschied vom Sozialismus. Der komme nicht in fernen Zeiten, sondern Schritt für Schritt durch den Kampf der Arbeiterklasse für Demokratie, Genossenschaften und die Sozialisierung der Produktionsmittel. In diesem evolutionären Politikverständnis gab es keinen Platz für Hegels Dialektik, selbst wenn sie auf die Füße gestellt worden war.

 

     Die Dialektik gerät zwischen die Zahnräder    

 

Als Marx Rechtswissenschaften, Philosophie und Geschichte studierte, war Hegel »in«. Der große Denker war Preußens Staatsphilosoph, und das blieb er auch nach seinem Tod im Jahr 1831. Als Marx zehn Jahre später promovierte, stand er wie viele andere Zeitgenossen noch ganz in Hegels Bann. Allerdings zerfielen seine Anhänger in zwei Lager. Auf der einen Seite gab es die »Rechtshegelianer«, die das Werk des Meisters heranzogen, um die Macht des Bestehenden, die Herrschaft von Monarchie, Staat und Kirche, zu rechtfertigen. Und auf der anderen Seite gab es die »Linkshegelianer«, die die Sprengkraft von Hegels Dialektik begriffen hatten.

 

Es ist übrigens nicht schwer zu sehen, dass unsere Zeit eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist. Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseins und Vorstellens gebrochen und steht im Begriffe, es in die Vergangenheit hinab zu versenken, und in der Arbeit seiner Umgestaltung. Zwar ist er nie in Ruhe, sondern in immer fortschreitender Bewegung begriffen. Aber wie beim Kinde nach langer stiller Ernährung der erste Atemzug jene Allmählichkeit des nur vermehrenden Fortgangs abbricht - ein qualitativer Sprung - und jetzt das Kind geboren ist, so reift der sich bildende Geist langsam und stille der neuen Gestalt entgegen, löst ein Teilchen des Baues seiner vorhergehenden Welt nach dem ändern auf. ihr Wanken wird nur durch einzelne Symptome angedeutet; der Leichtsinn wie die Langeweile, die im Bestehenden einreißen, die unbestimmte Ahnung eines Unbekannten sind Vorboten, dass etwas anderes im Anzuge ist. Dies allmähliche Zerbröckeln, das die Physiognomie des Ganzen nicht veränderte, wird durch den Aufgang unterbrochen, der, ein Blitz, in einem Male das Gebilde der neuen Welt hinstellt. 

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, 1807

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Zu den Linkshegelianern zählte neben Marx und Engels nicht zuletzt auch Ludwig Feuerbach, der sich später ganz von Hegel verabschiedete und der Materie den Vorrang vor dem Geist gab. Marx und Engels hingegen wurden zwar auch Materialisten, aber sie warfen Hegels Werk nicht auf den Müllhaufen, sondern »hoben« die Dialektik ganz in Hegel'scher Weise dialektisch »auf«, schnitten sie aus ihrem idealistischen Umfeld heraus und verbanden sie mit dem Materialismus.

 

Als Bernstein Hegels Dialektik kritisierte, war Hegel längst »out«. Angesagt waren Newton, Darwin und dessen deutscher Interpret Ernst Heinrich Haeckel, dem wir die Erklärung dafür verdanken, warum der Pfau so schön ist (sexuelle Selektion: Auswahl von Männchen durch Weibchen). Die Zeit war wissenschaftsgläubig, und keine Partei war wissenschaftsgläubiger als die Sozialdemokratie. Blättert man in Kautskys Neuer Zeit, der theoretischen Zeitschrift der Sozialdemokratie (auch wenn sie der Partei nicht gehörte), dann entdeckt man unzählige Beiträge zu naturwissenschaflichen Themen. 

Eine atheistische Grundeinstellung verbreitete sich, weil der Religion Rätsel um Rätsel entrissen wurde. Darwin erzählte eine andere Schöpfungsgeschichte als die Kirche, und er konnte sie gut belegen. Fabriken wurden aus dem Boden gestampft, hochkomplexe Maschinen verrichteten ungeheure Leistungen. Das waren Beweise für die unwiderstehliche Kraft der Naturwissenschaften und der Mechanik. Marx und Engels wurden nun ebenfalls »naturwissenschaftlich« interpretiert. Wo Marx geschrieben hatte, dass der Sozialismus mit »Naturnotwendigkeit« komme, interpretierten seine Epigonen diese Metapher als naturwissenschaftliche Gewissheit. 

Die Geschichte und ihren Verlauf begriffen diese »Marxisten« als ein Riesenwerk aus Zahnrädern, die mit unübertrefflicher Exaktheit ineinander griffen. Als Erlösungsglaube wurde der Marxismus zur Ersatzreligion, die das Himmelreich auf Erden versprach. Man musste nur warten und die Kräfte zusammenhalten, dann würde der Sozialismus eines Tages aus der Asche des zusammenbrechenden Kapitalismus entstehen. So geriet die Dialektik zwischen die Zahnräder.

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Kein Wunder also, dass Bernsteins Polemik gegen die Dialektik seinen Kritikern arge Schwierigkeiten bereitete. Clara Zetkin etwa betrachtete die Sache vom unerwünschten Ergebnis her und bemängelte, dass der Revisionist die dialektische Methode »vom Zentrum des Marxismus an dessen Peripherie« drängen und »stattdessen den <Evolutionismus> als Herzstück des Marxismus« einsetzen wolle. 

Und »Ideologiepapst« Kautsky offenbarte einen verblüffenden Mangel an Bildung in Sachen Dialektik. Zwar hatte er Recht, wenn er Bernstein vorwarf, einen Popanz zu schlachten, weil er Marx' Dialektik nicht begriffen habe. Die entscheidende Frage aber stellte Kautsky nicht: Ist die Dialektik eine der objektiven Realität adäquate Methode, drücken also die dialektischen Sätze objektive Zusammenhänge aus? Und Bernsteins Dualismus — hie Wissenschaft, hie Tendenz — hielt Kautsky einer Erörterung nicht für würdig. Die Virulenz dieser wissenschaftstheoretischen Frage schien er nicht zu begreifen.

Stattdessen warf Kautsky Bernstein vor, die Dialektik für gefährlich zu erklären, weil sie falsch angewandt werden könne. Der »revolutionäre Geist« des Marxismus sei es, der die Dialektik für den Revisionismus so verräterisch und verderblich mache. »Aber was kann nach diesem Exorzismus vom Marxismus noch übrig bleiben? Gibt er mit dem revolutionären Geiste nicht auch seinen Geist auf?« In Wirklichkeit gehe es ja gar nicht um den »Fallstrick der Hegel'schen Dialektik«, sondern um die Tendenz, die sich der Dialektik bediene. Diese sei aber nichts anderes als der Sozialismus. Diese Aufteilung des Marxismus in Dialektik und Tendenz mochte einem Marx-Kritiker anstehen, aber gewiss nicht seinem führenden Vertreter auf Erden.

Auch der philosophisch wohl beschlagendste Kopf der deutschen Sozialdemokraten, Franz Mehring, konzentrierte sich fast ausschließlich darauf, Missinterpretationen und Widersprüche der gegnerischen Position zu beanstanden. Vielleicht war es ja zu leicht, Bernsteins Unverständnis bloßzulegen, sodass Mehring, ebenso wie Rosa Luxemburg, glaubte, es dabei belassen zu können. Ein verhängnisvoller Irrtum, denn Bernsteins Ahnungslosigkeit in Sachen Philosophie hinderte diesen nicht daran, über die Phantomkritik hinaus ein schlüssiges evolutionäres Konzept für Demokratie und Sozialismus zu entwickeln (dazu später mehr).

Rosa Luxemburg, die die dialektische Methode meisterhaft beherrschte, beließ es dabei festzustellen: Wenn Bernstein sich von der Dialektik verabschiede, »verfällt er ganz folgerichtig in die historisch bedingte Denkweise der Bourgeoisie«.

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  Historische Gesetze  

Dem Angriff auf die Dialektik folgte die Attacke auf Marx' Geschichtstheorie. Das ist nur folgerichtig, denn diese ist nichts anderes als die Anwendung der materialistischen Dialektik auf die Geschichte. »Marx und ich waren wohl ziemlich die einzigen, die aus der deutschen idealistischen Philosophie die bewusste Dialektik in die materialistische Auffassung der Natur und Geschichte hinübergerettet hatten«, erinnerte sich Engels an jahrelange gemeinsame Studien über Hegel, Feuerbach und andere Denker. 

Da die Gesetze der Dialektik — Negation der Negation, Quantität und Qualität, Durchdringung der Gegensätze — universell gelten, stoßen wir auf sie auch in Marx' Geschichtsphilosophie. Im historischen Materialismus, wie diese auch genannt wird, verbinden sich Hegels Dialektik und Feuerbachs Materialismus in ihrer Anwendung auf die Geschichte. Was aber sind die Triebkräfte der Geschichte? Ist sie eine »Geschichte von Klassenkämpfen«, wie das Manifest der Kommunistischen Partei von 1847/48 es sagt? Ja auch, aber sie ist mehr.

 

Anfang August 1999 nahm ich teil an einer Sitzung des »Arbeitskreises Friedens- und Sicherheitspolitik« der Lübecker SPD. Es ging um den Jugoslawienkrieg der NATO. Was waren die wahren Kriegsziele der Allianz? Menschenrechte? Nein, das darf in den Augen mancher ganz besonders Linker nicht sein. Das würde den Pappkameraden Bundesregierung in ein komplexes Wesen verwandeln, das vielleicht sogar aus guten Gründen Schlechtes tut. Also fand der eine oder andere ökonomische Ursachen.

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Auf einer anderen Veranstaltung in Lübeck, einem Zusammenschluss linker Initiativen, hörte ich einen der letzten Vertreter des Marxismus-Leninismus erleichtert aufstöhnen, als er darüber unterrichtet wurde, dass es bei Baku am Kaspischen Meer große Erdölvorkommen gebe. Nun endlich wusste der Marxist-Leninist, warum die NATO Belgrad bombardiert hatte: wegen des Öls bei Baku. Allerdings ergibt eine einfache Messung im Atlas, dass zwischen Belgrad und Baku 1500 Kilometer liegen. Die Schwerkraft ökonomischer Gründe überwindet also sämtliche Grenzen. Darauf wäre Marx nie gekommen.

Der Leser möge mir diese Bemerkung nachsehen: Wohl wäre auch Marx gegen den Krieg der NATO gewesen (und auch gegen den Krieg Serbiens gegen die eigene Bevölkerung). Aber aus politischen und moralischen Gründen. Wie der Begründer des historischen Materialismus seine Methode auf politische Ereignisse angewendet hat, lässt sich nachlesen, so etwa in den Klassenkämpfen in Frankreich, dem Bürgerkrieg in Frankreich oder der wunderbaren Schrift Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Meine Empfehlung also an Linke und die Vertreter des wahren Marxismus-Leninismus: Marx lesen!

Die Geschichte ist bei Marx und Engels ein Prozess, der vor allem von der Produktivkraftentwicklung - den Arbeitsmitteln und Arbeitskräften - vorangetrieben wird. Über den Produktivkräften entstehen Produktionsverhältnisse: das sind die Klassen- und Eigentumsstrukturen. Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse sind die Basis jeder Gesellschaftsform, sie prägen das wirtschaftliche, politische und kulturelle Leben, den Überbau. Im Lauf der Entwicklung stoßen die Produktivkräfte zwangsläufig an die von den Produktionsverhältnissen, vor allem den Eigentumsverhältnissen, gesetzten Grenzen. Die Gesellschaftsklasse(n), die mit den modernen Produktivkräften verbunden sind, erheben sich gegen die herrschende(n) Klasse(n), die sich aufgrund ihres Eigentums an den Produktionsmitteln den Großteil des gesellschaftlichen Reichtums aneignen. Der Klassenkampf mündet in die Revolution, deren Zweck es ist, den Produktivkräften angemessene Produktionsverhältnisse zu schaffen und damit einen neuen Überbau. --

 

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Dieses schematische Bild entwarfen Marx und Engels in Auseinandersetzung mit dem philosophischen Idealismus, der die Geschichte als Bewegung des Geistes interpretiert. Und wenn man nicht das ideengeschichtliche Umfeld im Hinterkopf hat, begreift man nicht, warum Marx immer wieder die ökonomischen Triebkräfte der historischen und politischen Entwicklung herausgestellt hat. Ein klassischer Fall der Abgrenzung, in dem das betont oder überbetont wird, was den Unterschied zur konkurrierenden Auffassung ausmacht.

Tatsache aber ist, dass Marx und Engels dem so genannten Überbau - Politik, Kultur usw. - eine erhebliche Autonomie zugeschrieben haben. Gewiss, die ökonomische Basis bestimmt den Überbau, aber dies nur im Blick auf den langen historischen Prozess - »in letzter Instanz«, wie Engels eifernde Materialisten zurechtwies. Die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber sie tun dies unter vorgefundenen Bedingungen. Und diese sind keineswegs identisch mit der ökonomischen Basis, sondern umfassen genauso Traditionen, Mentalitäten, Rivalitäten, kulturelle Vorprägungen, politische Eigenheiten. Der Überbau der Gesellschaft führt ein eigenes Leben in den weiten Grenzen, die ihm die Basis einräumt. Wenn man sieht, welche vielfältigen und manchmal extremen politischen und kulturellen Ausprägungen der Kapitalismus gefunden hat - zwischen der Volksfront in Frankreich und dem Nationalsozialismus in Deutschland -, dann begreift man die Beschränktheit des »Klotzmaterialismus«, wie Ernst Bloch diese Ausgeburt der Freunde des billigen Schemas nannte.

Die Menschen machen ihre Geschichte selbst. Aber diese Einsicht hatten Engels' Schüler in Deutschland offenbar nicht verstanden. Denn sie behaupteten mit Kautsky, die SPD sei eine revolutionäre, aber keine Revolution machende Partei. Gewiss war der historische Materialismus in der Lage, Klassenkämpfer optimistisch zu stimmen (die Marxisten-Leninisten der DDR erfanden später den »historischen Optimismus«). Aber das, was die historischen Gesetze erforderten, mussten die Menschen schon selbst zustande bringen.

Im Gegensatz zu seinen Genossen in Deutschland hatte Bernstein die Dialektik zwischen objektiver Entwicklung und subjektivem Handeln wenigstens im Ansatz verstanden. Statt den Determinismus der Geschichte walten zu lassen, forderte er ein Konzept für die Reformpolitik der Partei. Er verdammte den Glauben an den Automatismus der Geschichte als bloße Utopie und die sich daraus ableitende Geringschätzung der praktischen Politik als »Flickerei«; in der Sozialdemokratie sei von systematischer Reformarbeit in der kapitalistischen Gesellschaft nicht die Rede. Er warf ihr vor, von der Hand in den Mund zu leben und sich von den Ereignissen treiben zu lassen. Als Ursache dieses Missstands erkannte er »die Berufung auf den sehr einseitig gedachten Klassenkampf und die ökonomische Entwicklung«:

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»So wenig nun die fundamentale Wichtigkeit dieser beiden geschichtlichen Triebkräfte geleugnet werden soll, so ist doch klar, dass mit der ausschließlichen und unqualifizierten Verweisung sehr viel unbestimmt gelassen wird, was gerade der Sozialismus, wenn anders er wirklich Wissenschaft sein soll, zu erklären oder zu ermitteln hat. Die Einsicht in die Triebkräfte und den bisherigen Gang der gesellschaftlichen Entwicklung ist von sehr mäßigem Wert, wenn sie mit ihren Folgerungen da abbricht, wo eben das bewusste und planmäßige Handeln einzusetzen hat.«

Das Hinausschieben aller Lösungen auf den Tag des »<endgültigen Sieges des Sozialismus> wie die gangbare Phrase lautet«, werde nicht seines utopistischen Charakters entkleidet, wenn man es mit Schlagworten aus dem Arsenal der Schriften von Marx und Engels verbräme. Auch wenn Bernstein sich als Marx-Kritiker begriff, hier marschierte er ganz in den Spuren des Meisters. Seine Kritik der ökonomistischen Fehlinterpretation der Marx'schen Lehre durch dessen Jünger geriet eher unabsichtlich zur Verteidigung der materialistischen Geschichtstheorie gegen ihre Vereinfacher. Bernstein wandte sich gegen die fatalistische Unterschätzung des »subjektiven Faktors«, des Proletariats, er plädierte für eine durchdachte, planmäßig angelegte Politik gegenüber der unsystematischen Reformarbeit der Sozialdemokratie. Die Geschichte kenne keine Entwicklung nach der Schablone, »sie kennt nur Tendenzen der Entwicklung, die deren Richtung bestimmen, ohne sich jedoch in voller Reinheit durchzusetzen«.

 

Stets nur bedingte Materialisten

 

Bernsteins Haltung aber sollte sich - auch unter dem Druck der massiven Kritik - zu einer Abkehr nicht nur vom vulgarisierten, sondern vom Marxismus überhaupt fortentwickeln. Bernstein schärfte seine Argumente in der Auseinandersetzung weiter.

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Hatte er zunächst vor allem öffentlich gezweifelt, so wurde er bald Monat für Monat deutlicher. Als er auf Aufforderung Kautskys seine Ketzereien in dem berühmt gewordenen Buch über die Voraussetzungen des Sozialismus zusammenfasste und zuspitzte, ging er in einigen Punkten über seine Aufsätze über die »Probleme des Sozialismus« hinaus.

In den Voraussetzungen umriss er zunächst den Stellenwert, den er der materialistischen Geschichtsauffassung im theoretischen System des Marxismus beimaß: »So wird von niemandem bestritten werden, dass das wichtigste Glied im Fundament des Marxismus, sozusagen das Grundgesetz, das das ganze System durchdringt, seine spezifische Geschichtstheorie ist. (...) Mit ihr steht und fällt es im Prinzip (...).« Die Frage nach der Richtigkeit der materialistischen Geschichtsauffassung sei die Frage nach dem Grad der geschichtlichen Notwendigkeit. »Materialist sein heißt zunächst die Notwendigkeit alles Geschehens behaupten.« Die Bewegung der Materie bestimme die Gestaltung der Ideen und Willensrichtungen. So seien diese und alles Geschehen in der Menschheit notwendig. Bernsteins folgerte: »So ist der Materialist ein Calvinist ohne Gott«, da er glauben müsse, »dass von jedem beliebigen Zeitpunkt an alles weitere Geschehen durch die Gesamtheit der gegebenen Materie und die Kraftbeziehungen ihrer Teile im voraus bestimmt ist«.

In einer Entgegnung auf Kautsky wurde er noch deutlicher: »Denn der ganze Streit ist ein Streit um die Interpretation eines Wortes: Determinismus. Wie ich es gebrauche, steht es für materiell bestimmte Notwendigkeit und würde, auf die Geschichte angewendet, Fatalismus heißen.« Wenn Engels von letzten Ursachen aller gesellschaftlichen Veränderungen, die in der Produktions- und Austauschweise zu suchen seien, spreche, so schließe dies ja andere, mitwirkende Ursachen ein. Also müsse die bestimmende Kraft letzter Ursachen mit der wachsenden Zahl solcher mitwirkenden Paktoren abnehmen.

Bernstein erklärte, die marxistische Geschichtsauffassung habe sich von einer zunächst monokausalen zu einer Theorie entwickelt, die zunehmend nichtökonomischen Faktoren Einfluss zuschreibe. Wenn man die marxistische Geschichtsauffassung anwenden wolle, dann in ihrer ausgebildetsten Form und nicht in ihrer ursprünglichen.

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Kautskys Angriffen auf diese Darstellung der Haltung von Marx und Engels entgegnete er: »Wenn ich also wirklich gesagt hätte, dass Marx und Engels anfangs qua Materialisten Deterministen gewesen wären, später aber den Determinismus eingeschränkt hätten, so wäre ich damit weit entfernt gewesen, von ihnen der Sache nach zu sagen, sie seien erst konsequente und später inkonsequente Denker gewesen. Die Sache ist vielmehr die, dass Marx und Engels stets nur bedingte Materialisten waren.«

»Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichts sagende, abstrakte, absurde Phrase. Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus - politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate - Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt usw. - Rechtsformen, und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form. Es ist eine Wechselwirkung aller dieser Momente, worin schließlich durch alle die unendliche Menge von Zufälligkeiten (d.h. von Dingen und Ereignissen, deren innerer Zusammenhang untereinander so entfernt oder so unnachweisbar ist, dass wir ihn als nicht vorhanden betrachten, vernachlässigen können) als Notwendiges die ökonomische Bewegung sich durchsetzt. Sonst wäre die Anwendung der Theorie auf eine beliebige Geschichtsperiode ja leichter als die Lösung einer einfachen Gleichung ersten Grades.«

Friedrich Engels, Brief an Joseph Bloch, 1890

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An die Stelle der materialistischen Dialektik setzte Bernstein eine eklektische Betrachtung der Geschichte. Wie in einem Nullsummenspiel jonglierte er mit den Kräften, die auf die Geschichte wirken. Wurde eine stärker, dann zu Lasten anderer. Die Quellen aber, die er anführte, um seine Thesen zu stützen, waren dazu ungeeignet. Engels hat niemals erklärt, die Wirkung des ökonomischen Moments in der Geschichte relativiert zu haben. Er und Marx hätten in der Auseinandersetzung mit ihren Gegnern zwar nicht häufig die Gelegenheit gehabt,

»die übrigen an der Wechselwirkung beteiligten Momente zu ihrem Recht kommen zu lassen. Aber sowie es zur Darstellung eines historischen Abschnitts, also zur praktischen Anwendung kam, änderte sich die Sache, und da war kein Irrtum möglich. Es ist aber leider nur zu häufig, dass man glaubt, eine neue Theorie vollkommen verstanden zu haben und ohne weiteres handhaben zu können, sobald man die Hauptsätze sich angeeignet hat, und das auch nicht immer richtig. Und diesen Vorwurf kann ich manchem der neueren >Marxisten< nicht ersparen, und es ist da dann auch wunderbares Zeug geleistet worden.«

»Wunderbares Zeug« war auch Bernsteins Darstellung des historischen Materialismus. Der späte Engels ist in der Frage der Basis-Überbau-Dialektik keinen Deut von seiner monistischen Grundposition abgewichen, hat sich also nie auf einen Dualismus von Materialismus und Idealismus eingelassen. Wer die historischen Arbeiten von Marx und Engels analysiert, kommt an der Einsicht nicht vorbei, dass sich an ihrer Bewertung der ökonomischen Triebkräfte des historischen Prozesses im Lauf der Zeit grundsätzlich nichts änderte. Der seinem Helden wohlwollend gegenüberstehende Bernstein-Biograf Peter Gay sieht diesen in seiner Kritik am historischen Determinismus denn auch »in einen philosophischen Morast« geführt, »aus dem er sich niemals mehr ganz heraushalten konnte«.

Auch wenn viele heutige Linke davon nicht ablassen wollen oder können: Nach marxistischer Theorie reicht es nicht aus, die Welt ohne weitere Untersuchung der unterschiedlichsten Zusammenhänge und Ereignisse in ein abstraktes Basis-Überbau-Schema zu zwängen. Es ist aber auch nicht marxistisch, den Pluralismus historischer Triebkräfte zu beschwören, schon gar nicht unter Berufung auf Engels. Mit der Aufgabe des monistischen Charakters der Marx'sehen Geschichtsauffassung verließ Bernstein auch den Boden des Marxismus.

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Aber das war Bernstein nicht bewusst, und er betrieb die Ketzerei in diesem Fall in der Überzeugung, der einzige Rechtgläubige zu sein. Den Eklektizismusvorwurf wies Bernstein nicht zurück. Eklektizismus betrachtete er als natürliche Reaktion auf den »doktrinären Drang«, alles aus einem herzuleiten. Bernstein aber beharrte auf der Vielheit der verursachenden Faktoren und der Auffassung, dass es keineswegs leicht sei, die zwischen ihnen bestimmenden Kräfte so genau bloßzulegen, dass sich mit Sicherheit sagen ließe, wo im gegebenen Fall die jeweils stärkste Triebkraft zu suchen sei. Die rein ökonomischen Ursachen schüfen nur die Anlage zur Aufnahme bestimmter Ideen. Wie aber diese dann aufkämen und sich ausbreiteten, welche Form sie annähmen, hinge von der Mitwirkung einer Reihe verschiedener Einflüsse ab.

Den Begriff »materialistische Geschichtsauffassung« lehnte Bernstein schließlich ganz ab und schlug vor, sie »ökonomische Geschichtsauffassung« zu nennen. Die Ökonomie sei die immer wieder entscheidende Kraft, die den Angelpunkt der großen Bewegungen bilde. Dem Wort »materialistische Geschichtsauffassung« aber würden von vornherein alle Missverständnisse anhaften, die sich überhaupt an den Begriff »Materialismus« knüpften. »Der philosophische oder naturwissenschaftliche Materialismus ist deterministisch, die marxistische Geschichtsauffassung ist es nicht, sie misst der ökonomischen Grundlage des Völkerlebens keinen bedingungslos bestimmenden Einfluss auf dessen Gestaltungen zu.« Den Determinismus der Marx'schen Geschichtstheorie missinterpretierte Bernstein als »unbedingte physische Notwendigkeit« allen Geschehens, und dies sei letztlich eine »nichtssagende Hypothese«.

In Bernsteins philosophischem Nullsummenspiel gewannen folgerichtig nichtökonomische Faktoren an Bedeutung. »Der <Geschichte ehernes Muss> erhält auf diese Weise eine Einschränkung', die für die Praxis der Sozialdemokratie (...) keine Minderung, sondern eine Steigerung und Qualifizierung der sozialpolitischen Aufgaben bedeutet.« 

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Die Gesellschaft, die den ökonomischen Triebkräften theoretisch immer freier gegenüberstehe, werde nur noch durch die Widersprüche zwischen ihren Mitgliedern daran gehindert, in den vollen Genuss der Freiheit zu kommen. Aber auch hier sah Bernstein Hoffnung: Das Allgemeininteresse gewinne in wachsendem Maß an Macht gegenüber dem Privatinteresse, »und in dem Grade, wo dies der Fall, und auf allen Gebieten, wo dies der Fall, hört das elementarische Walten der ökonomischen Kräfte auf«.

 

Das fatalistische Korsett des Determinismus

Einmal mehr also hat Bernstein in Sachen Marxismus Unrecht. Er verfehlt den wunden Punkt: die quasi durch Naturgesetz bestimmte Abfolge der Gesellschaftsformationen in der Geschichte, wie sie Marx und Engels behaupteten und woraus sie die Gewissheit ableiteten, dass so oder so, früher oder später, der Sozialismus siegen werde. 

Marx und Engels hatten Recht, als sie die revolutionierende Wirkung der Produktivkräfte beschrieben, und sie erkannten die bis heute ungebrochen anhaltende Tendenz zur Vergesellschaftung im Kapitalismus. Aber ihre Überzeugung, dass die Vergesellschaftung mit den privatkapitalistischen Eigentumsverhältnissen kollidieren müsse, ist ein Wunderglaube. Denn die Eigentumsverhältnisse werden ebenfalls vergesellschaftet. Engels hatte das Aufkommen von Aktiengesellschaften als Eingeständnis des Kapitalismus in die Notwendigkeit der Vergesellschaftung interpretiert, eine vom gewünschten »Endziel« Sozialismus her gedachte Fehleinschätzung. 

Ein Blick auf den Finanzmarkt genügt, um zu erkennen, dass die Eigentumsschranken des Manchesterkapitalismus längst auf kapitalistische Weise durchbrochen worden sind. Wobei die Eigentumsunterschiede viel krasser geworden sind als zu Marx' Zeit. Und dort, wo Not herrscht, erzeugt sie Depression, nicht Aufruhr. Der Kapitalismus revolutioniert seine Produktionsweise im Jahresrhythmus. Er hat seinen weltpolitischen Gegner bis auf einige traurige Reste in Asien vernichtet. Die Autoren des Kommunistischen Manifests hatten Recht, als sie das revolutionäre Potential der kapitalistischen Produktionsweise auf so eindrucksvolle Weise schilderten. Aber sie irrten sich in der zeitlichen Dimension und noch mehr in den Konsequenzen. Nicht Sozialismus ist angesagt, sondern Turbokapitalismus.

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Das ahnte natürlich auch Bernstein nicht, obwohl er (wie wir später sehen werden) die Tendenz zur Vergesellschaftung ganz anders interpretierte als Engels. In dieser Frage sollte er Recht behalten. In Sachen historischer Materialismus aber lag er falsch und zog doch richtige Schlüsse. Wir werden es im Fall Bernstein noch öfter erleben, dass eine falsche Analyse wirklichkeitsgetreue Schlussfolgerungen hervorbringt. Das gilt auf jeden Fall für seine Betrachtungen über die Rolle der Politik.

Wenn, wie Bernstein schrieb, der ökonomische Faktor an Gewicht verliert, sobald das Allgemeininteresse die unzähligen Einzelinteressen verdrängt, dann gewinnt Politik einen enormen Stellenwert. Sie begleitet dann nicht mehr bloß die Selbstentwicklung historischer und ökonomischer Gesetze, sondern ist der Schlüssel zur Veränderung der Gesellschaft. Folgerichtig hielt er Rosa Luxemburg - deren Artikel »ja in Bezug auf die Methode zum Besten gehören, was gegen mich geschrieben wurde« - entgegen, er mache im Gegensatz zu ihr den Sieg des Sozialismus nicht abhängig von dessen ökonomischer Notwendigkeit. Er halte es noch nicht einmal für möglich noch gar nötig, ihm eine rein materialistische Begründung zu geben.

»Alle Methode, wenn sie zu richtigen Resultaten kommen will, muss sich nach dem behandelten Stoffe richten. Nun gibt es keinen vielseitigeren Stoff als die moderne Gesellschaft. (...) Sie aus einem Punkte heraus beurteilen, und sei er so bedeutsam wie die Entwicklung der Produktivkräfte und der Produktions­einrichtungen, würde notwendig ein falsches Bild darbieten, zu falschen Folgerungen führen. Wir haben vielmehr eine Vielheit anderer Faktoren mit in Betracht zu ziehen, und da die mathematische Formel für das Kraftverhältnis der verschiedenen hierher gehörigen Faktoren zueinander noch nicht gefunden ist, müssen wir es nach unserer besten Einsicht empirisch zu ermitteln suchen. So werden wir notgedrungen dem eklektischen oder synkretischen Verfahren zugedrängt (...)«. "~

Eduard Bernstein: Klassenkampf-Dogma und Klassenkampf-Wirklichkeit, 1899

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Hat also Bernstein doch den neukantianisch geprägten ethischen Sozialismus geschaffen, wie dies bis in unsere Tage immer wieder behauptet wird?

Wir können diese Frage schon beantworten, bevor wir uns sein reformpolitisches Konzept betrachten. Gegen diese These spricht erstens, dass Bernstein nichtökonomischen Faktoren genauso wenig entscheidende Bedeutung zumaß wie ökonomischen Faktoren. Ein ethischer Sozialismus aber geht nicht von der wechselnden Bedingtheit verschiedener, materieller und geistiger Ursachen aus, sondern gibt den ideellen Momenten den Vorrang. Außerdem kann man nicht jede nichtmaterialistische Lehre eine ethische Lehre nennen. Zweitens war Bernstein allein schon deshalb kein Neukantianer, weil er weder Kants Philosophie begriffen hatte noch die der Neukantianer, welcher Schule auch immer. Er bemühte sich nicht einmal darum, so, wie er überhaupt, nicht nur im Hinblick auf Marx, eine fast theoriefeindliche Attitüde an den Tag legte. Die bereits angeführte neukantianische Kritik an Bernsteins Wissenschaftsbegriff unterstreicht diese These.

Aber wurde Kants Ethik lediglich zufällig zu dem Zeitpunkt von der politischen Linken wieder entdeckt, zu dem Bernstein seine Thesen verkündete? Zu beweisen ist ein Zusammenhang nicht. Aber Bernsteins Revisionismus und die Kant-Renaissance haben ihre Ursache wahrscheinlich auch im Bedürfnis von Teilen der Arbeiterbewegung und der mit ihnen verbundenen Intellektuellen, sich vom fatalistischen Korsett des Determinismus zu befreien. Bernsteins Kritik des historischen Materialismus zielte zwar zu oft am Gegenstand vorbei, aber ihre Bedeutung steckt weniger in ihrem theoretischen Gehalt als vielmehr in ihrer Konsequenz: Wer auf den »Kladderadatsch« setzt, kann Reformpolitik nur begrenzt verfolgen. Sie kann zwar die Lage der Arbeiter verbessern, festigt aber auch das kapitalistische System, indem sie Widersprüche mildert. Daher verachteten viele »Marxisten« in der SPD das Engagement für Reformen, betrachteten es eher als Spielwiese und Übung, um die Reihen der Partei im Kampf zu festigen.

Mit Entschiedenheit forderte die SPD in all den Jahren vor allem das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht, Gewerkschaftsfreiheit, den Achtstundentag und direkte progressive Steuern zu Lasten der Reichen. Besonders von einer Wahlrechtsreform erhoffte sich die Partei über kurz oder lang eine parlamentarische Mehrheit.

Aber wie hätte sie dann ihre Mehrheit verwenden können in dem autokratischen politischen System des Deutschen Reichs, in dem es nur Reichskanzler von Kaisers Gnaden gab, die den Staatsstreich gegen parlamentarische Mehrheiten nicht fürchteten, wie Bismarck es im preußischen Verfassungsstreit vorgemacht hatte?

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Revolutionäre Parolen, politische Unbeweglichkeit 

Kautsky widmete sich vor allem der Aufgabe, Bernsteins Marxismusverständnis oder -missverständnis zu kritisieren. Er attackierte Bernsteins These, dass das Gewicht ökonomischer Faktoren sinke: Was würde gegen die marxistische Geschichtsauffassung bewiesen durch die revisionistische These, die Gesellschaft stehe ihren ökonomischen Triebkräften theoretisch freier gegenüber?

Kautsky erkannte nicht, um was es Bernstein im Kern ging. Natürlich missverstand dieser den angeblichen Determinismus des Marxismus. Aber Bernstein wollte die Arbeiterbewegung aus dem Zustand befreien, den manche Historiker »Immobilismus« genannt haben: die Kombination aus »wissenschaftlich begründeter« Siegeszuversicht und dem Warten auf den Sozialismus, aus revolutionären Parolen und politischer Unbeweglichkeit.

Dabei verfolgte die Partei vielerorts schon reformpolitische Ziele. Immer wieder wurde mit Bebels Maxime »Diesem System keinen Mann und keinen Pfennig« gebrochen. In Süddeutschland stimmten Sozialdemokraten Haushalten von Länderregierungen zu, 1894 schon in Bayern und trotz vorausgehender Proteststürme und Parteitagsresolutionen 1901 in Baden und 1904 in Württemberg. Und keineswegs erst im August 1914, sondern schon im Juni 1913 stimmte die sozialdemokratische Fraktion im Reichstag einem Wehretat zu und auch einer Vermögenszuwachssteuer, die dazu diente, eine von der SPD zuvor abgelehnte Heeresvorlage zu finanzieren. 

Für die Mehrheit der Reichstagsfraktion konkurrierten zwei Prinzipen miteinander: die traditionelle Ablehnung des Verteidigungshaushalts der kaiserlichen Regierung und die traditionelle Forderung nach Einführung direkter progressiver Steuern. Der längst der »Vaterlandsverteidigung« verpflichteten Fraktionsmehrheit fiel diese Entscheidung nicht schwer, und die Minderheit hatte sich der Fraktionsdisziplin zu fügen.

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Bernstein hatte Recht: Die SPD war längst eine reformistische Partei mit einem revolutionären Flügel. Aber vor Krieg und Revolution traute sie sich nicht, dies auch offiziell einzugestehen. Erst als Bolschewismus und Spartakusaufstand sie dazu zwangen, wurde offenbar, dass die Sozialdemokraten keine Konzepte hatten, die über die demokratische bürgerliche Republik hinauswiesen. Das hinderte sie aber nicht daran, das marxistische Vokabular weiter zu nutzen. In ihrem Heidelberger Programm von 1925 forderte die Partei gar die politische Herrschaft des Proletariats.

 

 Beschwörung einer Heilslehre  

Aber zurück zum Streit über die Gesetze der Geschichte. In Marx' oder Engels' Schriften fallen dem Leser noch heute die lebendige, farbige Darstellung auf, die Vielfalt der stilistischen Möglichkeiten und vor allem der enge Bezug zur konkreten Wirklichkeit. Die historischen oder wirtschaftstheoretischen Abhandlungen sind außerordentlich detailreich und voller Verweise auf zeitgenössische und ältere Literatur. Wie blutleer dagegen die Debatte in Deutschland. Schulmeister stand gegen Schulmeister. Rabulistik wurde verwechselt mit Genauigkeit. Engels hatte zu den Vorzügen des Sozialistengesetzes gezählt, dass die Partei von »der Zudringlichkeit des sozialistisch angehauchten Studiosus« befreit wurde. 

Den jungen Literaten warf der Altmeister vor, dass sie sich kaum die Mühe gäben, »Geschichte des Handels, der Industrie, des Ackerbaus, der Gesellschafts­formationen zu treiben«. Engels hatte übersehen, dass auch die älteren Literaten mit der Wirklichkeit wenig am Hut hatten. Kautsky vor allem, der es besser hätte wissen können, verfiel in seiner selbst gewählten Rolle als Ideologiepapst und Verteidiger in theoretischen Starrsinn. Und dennoch hatte er Recht, als er Bernstein vorwarf: »In dem ganzen Kapitel über die materialistische Geschichtsauffassung wird nicht auf eine einzige historische Tatsache Bezug genommen! Dieses Verfahren erlaube ich mir Scholastik zu nennen.«

Aber was setzte der »offizielle Marxismus« der SPD dem entgegen? Scholastik! Denn auch der zeitgenössische Sozialdemokrat fand in Kautskys Erörterungen über den historischen Materialismus kaum historisches Material. Stattdessen bemühte sich Kautsky, die Bernstein'sche Haltung zu diskreditieren. Zum Teil mit Erfolg.

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Aber dabei übersah er, dass mit der multikausalen, pluralistischen Erklärungsmethode, die Bernstein entwickelte, zwar keine neue Geschichtstheorie, aber doch ein wesentlicher Ansatz dafür geschaffen war. Kautsky kannte nur den Gegensatz zwischen idealistischem und materialistischem Monismus. Er erkannte nicht, dass der entscheidende Punkt in der Geschichtsdebatte nicht darin bestand, Marx besser zu verstehen, sondern darin, sich zwischen monokausaler oder pluralistischer, multikausaler Geschichtsinterpretation zu entscheiden. 

Kautsky kritisierte, dass sich Bernstein damit begnüge, gegen die alte Methode zu Felde zu ziehen: »Er hält es nicht für nötig, eine neue an ihre Stelle zu setzen. Er kommt auch ohne bestimmte Methode zurecht.« Ohne klare Geschichtstheorie gebe es aber auch keine klare Methode der Forschung. Was sich dagegen glänzend bewährt habe, sei die Methode von Marx und Engels. Auf diese Bewährung komme es an, nicht auf die Resultate. Mit derart platten Vorhaltungen war Bernstein nicht zu treffen.

 

 

Totengräber

Schwächlich waren aber auch die Einwendungen jener Gruppe, die sich allmählich als linker Flügel in der SPD herauskristallisierte. Die Linken begnügten sich einmal mehr damit, Bernstein im Hinblick auf seine Schlussfolgerungen zu kritisieren. Bernstein lasse die Gründe für die Verwirklichung des Sozialismus als einer wirtschaftlichen Notwendigkeit fallen und suche das Proletariat mit dem Glauben zu trösten, der Sozialismus sei eine sittliche, kulturelle Notwendigkeit, beanstandete etwa Clara Zetkin. 

Und Rosa Luxemburg kritisierte, der Revisionismus hebe das sozialistische Programm vom materiellen Boden auf und versetze es auf eine idealistische Basis. Der Sozialismus solle »kraft der Gerechtigkeitsidee verwirklicht werden«. Sie verteidigten den wahren Glauben, indem sie den Ketzer ziehen, vom wahren Glauben abzuweichen. Dass man damit einen Ketzer nicht beeindrucken kann, liegt auf der Hand.

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Auch Franz Mehring bemühte sich weitgehend erfolglos, Bernstein zu widerlegen. Der These, Materialist sein heiße, zunächst die Notwendigkeit alles Geschehens zu behaupten, hielt er entgegen: »Das ist, wenn man einen Augenblick auf diese Art Argumentation eingehen will, nicht einmal in Bernsteins Sinne richtig. >Zunächst< (...) ist der Materialismus nicht Determinismus, sondern Monismus.« Nicht um die Notwendigkeit alles Geschehens gehe der Streit in der Philosophiegeschichte, »sondern darum, ob diese Notwendigkeit aus der absoluten Zweckbestimmung eines Gottes oder aus der absoluten Kausalität der bewegten Materie herzuleiten sei«. Im Übrigen lehnte es Mehring ab, in der von Bernstein »beliebten Allgemeinheit« zu diskutieren. Stattdessen fragte er, ob Bernstein von irgendeiner Geschichtsperiode nachweisen könne, »dass in ihr nicht die ökonomische Produktionsweise der im letzten Grunde bewegende Hebel der historischen Entwicklung gewesen sei«. Wenn ja, dann gehöre die marxistische Geschichtsauffassung in den Papierkorb.

Genau an dieser Stelle, wo es interessant wurde, brach die Debatte ab. Statt die historische, soziale, ökonomische und politische Realität zu analysieren, um so zu prüfen, ob die Theorie noch tauglich war, versandete die intellektuelle Anstrengung der Protagonisten der Revisionismusdebatte im Zweifel oder in der Beschwörung einer Heilslehre, die nicht einmal ihre Schöpfer als solche betrachtet hatten. Gegen diese wirklichkeitsleere Form von »Marxismus« hatte Bernstein vielfach Recht. Das gilt vor allem in Hinblick auf die Konsequenzen seiner philosophischen Kritik.

Der Abschied von der auf das schicksalhafte Walten historischer Gesetze gegründeten Siegesgewissheit eröffnete der praktischen Politik einen enormen Spielraum. Mit der Annahme, dass die geschichtliche Entwicklung offen ist, verbindet sich die Herausforderung, die Wirklichkeit zu gestalten. Erst unter dieser Voraussetzung wird der Sozialismus als tägliche Aufgabe möglich und sinnvoll. Bernsteins Dialektikverriss ist, vom Standpunkt der Philosophie­geschichte aus betrachtet, eher kläglich. In seinen praktischen Konsequenzen aber macht er den Weg frei zu einer evolutionären Politik des demokratischen Sozialismus. Bernsteins Kritik am zeitgenössischen Determinismus schließlich, die ebenfalls in ihrem Gehalt banal ist, will den politischen Akteuren die Freiheit des Handelns zurückgeben. Insofern zieht Bernstein den Anforderungen der Realität angemessene Schlüsse aus einer Kritik des Marxismus, die ihren Gegenstand meist verfehlt.

Bei der Geburt des demokratischen Sozialismus ging, philosophisch gesehen, einiges schief. Durch Kaiserschnitt wurde eine Frühgeburt ins Leben befördert, die sich dann aber trotz aller Unkenrufe als erstaunlich widerstandsfähig erweisen sollte. Aber das ist ja in der Politik oft so, wo es weniger um richtig oder falsch geht als vielmehr um angemessen oder wirklichkeitsfremd. Der umgekehrte Glaube, dass richtige Einsicht notwendig in richtige Politik mündet, ist nicht weniger untauglich.

Viele Zeitgenossen Bernsteins aber taten das, was der Revisionismus begründete - waren Reformisten und verurteilten die Revisionisten. Sie produzierten eine einzigartige Mischung aus Pragmatismus und Heilsglauben. Sie hörten sich auf Parteitagen die revolutionären Reden August Bebels oder Wilhelm Liebknechts an, beschlossen hochtönende Resolutionen und widmeten sich danach wieder emsig der Reformpolitik. 

Die theoretischen Erörterungen Bernsteins, Kautskys oder Luxemburgs interessierten sie nur insoweit, als sie den Nebel durchstießen, der über der merkwürdigen Melange aus revolutionärem Pathos und reformistischer Politik lag.

 

Gehen wir zum nächsten Thema des Streits. Die historischen Gesetze fanden laut Marx ihre konkrete Äußerungs­form in den jeweiligen Gesellschafts­formationen. Im Kapitalismus fesselten die privat­kapital­istischen Produktionsverhältnisse die Produktivkräfte des Maschinenzeitalters. Die moderne Industrie formte die Arbeitermassen, das Proletariat, das zum Totengräber des Kapitalismus werden sollte. Folgerichtig konzentrierte sich die Debatte über den Revisionismus auf die Ökonomie.

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