Ökonomisches - Der Dampfhammer ruinierte unzählige Schmiede
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Die Vorstellung, im Revisionismusstreit gehe es um den Marxismus, wird gänzlich ad absurdum geführt, wenn man die Debatte über die Marx'sche Wert- und Mehrwertlehre betrachtet. Sie sind der Kern der marxistischen Politischen Ökonomie. Mit ihnen habe sich der Sozialismus von einer Weltanschauung in eine Wissenschaft verwandelt, schrieb Engels.
Bernstein erklärte nun, der von Engels herausgegebene dritte Band des <Kapitals> habe ihn »ernüchtert«. Die Lektüre habe ihn veranlasst, die gesamte Arbeitswertlehre anzuzweifeln, also Marx' These, dass der Wert einer Ware der in ihr enthaltenen gesellschaftlich notwendigen Arbeit entspreche, dem Wert der für ihre Produktion erforderlichen Arbeitszeit, gemessen an der durchschnittlichen Arbeitsproduktivität der Gesellschaft. Es offenbarte sich einmal mehr, dass Bernstein nicht begriff, was er kritisierte.
»Der Charakter 1. des Produkts als Ware, und 2. der Ware als Produkt des Kapitals, schließt schon die sämtlichen Zirkulationsverhältnisse ein, d.h. einen bestimmten gesellschaftlichen Prozess, den die Produkte durchmachen müssen und worin sie bestimmte gesellschaftliche Charaktere annehmen; er schließt ein ebenso bestimmte Verhältnisse der Produktionsagenten, von denen die Verwertung ihres Produkts und seine Rückverwandlung, sei es in Lebensmittel, sei es in Produktionsmittel, bestimmt ist. Aber auch abgesehn hiervon, ergibt sich aus den beiden obigen Charakteren des Produkts als Ware, oder Ware als kapitalistisch produzierter Ware, die ganze Wertbestimmung und die Regelung der Gesamtproduktion durch den Wert. In dieser ganz spezifischen Form des Werts gilt die Arbeit einerseits nur als gesellschaftliche Arbeit; andrerseits ist die Verteilung dieser gesellschaftlichen Arbeit und die wechselseitige Ergänzung, der Stoffwechsel ihrer Produkte, die Unterordnung unter und Einschiebung in das gesellschaftliche Triebwerk, dem zufälligen, sich wechselseitig aufhebenden Treiben der einzelnen kapitalistischen Produzenten überlassen. Da diese sich nur als Warenbesitzer gegenübertreten und jeder seine Ware so hoch als möglich zu verkaufen sucht (auch scheinbar in der Regulierung der Produktion selbst nur durch seine Willkür geleitet ist), setzt sich das innere Gesetz nur durch vermittelst ihrer Konkurrenz, ihres wechselseitigen Drucks aufeinander, wodurch sich die Abweichungen gegenseitig aufheben. Nur als inneres Gesetz, den einzelnen Agenten gegenüber als blindes Naturgesetz, wirkt hier das Gesetz des Werts und setzt das gesellschaftliche Gleichgewicht der Produktion inmitten ihrer zufälligen Fluktuationen durch.«
Karl Marx, Das Kapital, Band 3, 1894
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Bernstein hatte nach der Lektüre des dritten Bands des <Kapitals> die Werttheorie folgendermaßen verstanden: In der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft würden die Waren nicht gemäß ihres individuellen Wertes (wie es im ersten Band des Kapitals dargestellt werde), sondern zu ihrem Produktionspreis, das heißt dem wirklichen Kostpreis, plus einer durchschnittlichen proportionalen Profitrate veräußert. Deren Höhe werde bestimmt vom Verhältnis des Gesamtwerts der gesellschaftlichen Produktion zum Gesamtlohn der in der Produktion, Austausch usw. verwandten menschlichen Arbeitskraft. Dabei werde die Grundrente von jenem Gesamtwert abgezogen, und außerdem müsse die Verteilung des Kapitals in industrielles, Kaufmanns- und Bankkapital berücksichtigt werden. Aus dieser Komplikation der Verhältnisse zog Bernstein den Schluss: »Auf diese Weise verliert der Wert, soweit die einzelne Ware oder Warenkategorie in Betracht kommt, jeden konkreten Gehalt und wird zur rein gedanklichen Konstruktion.«
Das war nun ein groteskes Missverständnis. Denn die Funktion der Marx'schen Werttheorie bestand nicht darin, den Wert der einzelnen Ware oder Warenkategorie zu ermitteln. Ihr ging es um die Entschlüsselung der Bewegungsgesetze der kapitalistischen Produktionsweise. Marx schrieb schon im ersten Band des Kapitals über die Rolle der einzelnen Ware in seiner Untersuchung: »Es ist also nur das Quantum gesellschaftlich notwendiger Arbeit oder die zur Herstellung eines Gebrauchswerts gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, welche seine Wertgröße bestimmt. Die einzelne Ware gilt hier überhaupt als Durchschnittsexemplar ihrer Art.«
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Aufgebaut auf Abstraktionen
Kautsky hatte die Werttheorie besser verstanden: »Der Wert ist aber das Fundament der Warenproduktion. Es ist unmöglich, vollständige Klarheit über die aus ihm sich entwickelnden gesellschaftlichen Verhältnisse und Funktionen zu erlangen, solange man nicht über ihn völlige Klarheit geschaffen. Ohne Werttheorie bleibt jede ökonomische Theorie unsicheres empirisches Tasten auf der Oberfläche der Erscheinungen.« Ohne Werttheorie keine Mehrwerttheorie. Ohne Mehrwerttheorie keine Kapitalismusanalyse.
Wenn die Waren zu ihrem Produktionspreis veräußert würden, folgerte Bernstein, verwandle sich der Wert der individuellen Warenart in etwas ganz Sekundäres. Der Mehrwert sei demnach der Wert der Gesamtproduktion der Gesellschaft abzüglich der Gesamtsumme der Löhne der Arbeiterklasse, »sozialer Mehrwert« daher, also das, was die Gesamtheit der Arbeiter über den ihnen zufallenden Anteil hinaus produziere. Das Mehrprodukt werde allerdings nur in dem Maß realisiert, wie die Gesamtproduktion dem Markt entspreche. Diese sich an der Oberfläche darstellende zweiseitige Beziehung - Bestimmung des Werts nach der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit und nach der Aufnahmefähigkeit des Marktes -, verleitete Bernstein, die Kategorien Wert und Preis bei Marx zu verwechseln.
Bei Marx verwirklicht sich das Abstraktum »Wert« über den Preis. Ist eine Ware unverkäuflich, realisiert sich also ihr Wert nicht, dann ist die in der Ware steckende Arbeit vergeudet. Bernstein zog aus seinem Missverständnis einen falschen Schluss, als er den Warenwert als rein gedankliche Tatsache abqualifizierte. Das Wertgesetz, das bei Marx »aufgebaut auf Abstraktionen« sei, gelte nur für bestimmte Zwecke der Beweisführung, und die mit seiner Hilfe gewonnenen Ergebnisse hätten Geltung nur innerhalb bestimmter Grenzen.
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Auf dieser Grundlage war es für Bernstein folgerichtig, nun auch die Richtigkeit der marxistischen Mehrwerttheorie zu bestreiten. Für die Mehrarbeit des produktiven Teils der Bevölkerung, die eine empirische Tatsache sei, bedürfe es keines deduktiven Beweises, da von der ganzen in der Produktion geleisteten Arbeit eine bedeutend größere Zahl Menschen lebe, als darin tätig mitwirkten. »Ob die Marx'sche Werttheorie richtig ist oder nicht, ist für den Nachweis der Mehrarbeit ganz und gar gleichgültig. Sie ist in dieser Hinsicht keine Beweisthese, sondern nur Mittel der Analyse und der Veranschaulichung.«
Vor allem irreführend an der Werttheorie sei, dass sie als Maßstab für die Ausbeutung des Arbeiters durch den Kapitalisten erscheine, wozu die Bezeichnung der Mehrwertrate als Ausbeutungsrate verleite. »Die Wertlehre gibt so wenig eine Norm für die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit der Verteilung des Arbeitsprodukts wie die Atomlehre eine solche für die Schönheit oder Verwerflichkeit eines Bildwerks.« Mit der Tatsache allein, dass der Lohnarbeiter nicht den vollen Wert seines Produkts erhalte, sei eine wissenschaftliche Begründung des Sozialismus nicht durchführbar.
Das Mehrwertgesetz aber war für Marx keine ethische Kategorie, und der Terminus »Ausbeutung« hatte nichts zu tun mit Verurteilung, sondern lediglich mit dem Verhältnis zwischen Mehrwert und Arbeitslohn. Genauso wenig diente dieses Gesetz dazu, die Tatsache wissenschaftlich zu begründen, dass in der materiellen Produktion mehr Werte geschaffen werden, als sich in den Lohntüten (oder dem Bankkonto) der Arbeiter niederschlägt. Mit diesem Gesetz beantwortete Marx auf seine Weise die Fragen, welche Triebkraft hinter der revolutionären Entwicklung des Kapitalismus stand, in welche Richtung der Kapitalismus sich bewegte und wie sich Eigentums- und Ausbeutungsverhältnisse fortentwickelten. Konkretisiert hatte er seine Antwort in der Theorie der kapitalistischen Akkumulation: Mehrwert (oder Profit) wird privatkapitalistisch angeeignet und reinvestiert, um noch mehr Mehrwert zu erzeugen.
Bernstein setzte dem von ihm kritisierten Bewegungsgesetz keinen Ersatz entgegen. Er beantwortete die Frage nicht, was die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise prägt. Das aber wäre entscheidend gewesen für die politische Strategie. Dieses Manko wird noch deutlicher werden, wenn wir uns der Akkumulation des Kapitals zuwenden.
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Werttheorie und Endziel
Kautskys Entgegnungen auf Bernsteins ökonomische Ketzereien waren nur defensiv. Im Grunde referierte er lediglich mehr oder weniger adäquat die Positionen des Marxismus.
Zunächst bestritt Kautsky, dass Bernstein überhaupt eigene werttheoretische Vorstellungen habe. Etwas später, in seiner Antikritik, aber wirft er Bernstein vor, dass dessen Theorie als Erweiterung der Marx'schen auftrete. Mit dieser hänge aber »auf das Innigste die ganze Auffassung der modernen Produktionsweise zusammen, die Marx entwickelt hat. Diese ganze Auffassung wird in ihrer bisherigen Form hinfällig und bedarf der Korrektur, wenn die Marx'sche Werttheorie eine Abänderung erfährt.« Dieser Einwand ist richtig, aber er führt zu nichts. Er verzichtet darauf, die eigentliche Frage zu beantworten, nämlich ob Marx' Arbeitswertlehre richtig ist oder falsch oder vielleicht, wie Bernstein annahm, ergänzungsbedürftig. Dass ein Gedankengebäude auf mehreren Säulen ruhen könnte, wollte Kautsky gar nicht einleuchten. Er betrachtete Bernsteins Erörterungen von ihrem möglichen Ergebnis her. Daher endete Kautsky, salopp gesprochen, bei der Einsicht, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. So konnte er den Revisionismus bestenfalls des Sakrilegs überführen, mit Marx gebrochen zu haben. Genau das hatte Bernstein getan, er nannte es nur Erweiterung.
Rosa Luxemburg ging viel energischer zur Sache. Sie traf einen schwachen Punkt, als sie Bernsteins Empirismus aufspießte:
»Also die Marx'sche gesellschaftliche Arbeit und die Menger'sche* abstrakte Nützlichkeit, das ist ihm gehüpft wie gesprungen: alles bloß Abstraktion. Bernstein hat somit ganz vergessen, dass die Marx'sche Abstraktion nicht eine Erfindung, sondern eine Entdeckung ist, dass sie nicht in Marxens Kopfe, sondern in der Warenwirtschaft existiert. (...) Die von Marx entdeckte abstraktmenschliche Arbeit ist nämlich in ihrer entfalteten Form nichts anderes als - das Geld.«
* Carl Menger gehört zu den Begründern der Grenznutzentheorie, die mit der Marx'schen Politischen Ökonomie konkurrierte.
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Wer aber das Wesen der Waren und ihres Austausches nicht versteht, so fährt Luxemburg fort, dem bleibt die kapitalistische Gesellschaft ein Geheimnis. Tatsächlich war Luxemburg ihren Genossen in der Beherrschung der Marx'schen Politischen Ökonomie weit voraus, und sie erfasste die Konsequenz des revisionistischen Angriffs: »Das Geheimnis der Marx'schen Wertlehre, seiner Geldanalyse, seiner Kapitaltheorie und somit des ganzen ökonomischen Systems ist - die Vergänglichkeit der kapitalistischen Wirtschaft, ihr Zusammenbruch, also — dies nur die andere Seite — das sozialistische Endziel.«
Die Akkumulation des Kapitals
Auch wenn Rosa Luxemburg zu gänzlich anderen Schlussfolgerungen kam als ihr Kontrahent, so hatten ihre Äußerungen über die Theorie, im Gegensatz zu Kautsky, immer den Bezug zur politischen Praxis im Auge. Luxemburg wie Bernstein gelangten über eine zunächst fast rein akademisch anmutende Diskussion über die Werttheorie zu praktisch-politischen Schlussfolgerungen, auch wenn diese sich konträr darstellten. Rosa Luxemburg verteidigte mit der Arbeitswertlehre und ihren Attacken auf den Revisionismus die wissenschaftliche Begründung einer revolutionären Politik der Sozialdemokratie. Bernstein dagegen bestritt, dass es überhaupt eine alle Situationen erfassende Werttheorie gibt. Damit beraubte er den Marxismus seines Kerns. Denn eine Abkehr von Wert- und Mehrwerttheorie war auch eine Abkehr von der Theorie der kapitalistischen Akkumulation. Sie aber ist die eigentliche ökonomische Begründung des Sozialismus in der marxistischen Theorie.
Die Theorie von der Akkumulation des Kapitals befasst sich mit der Reproduktion des Kapitalverhältnisses auf erweiterter Stufenleiter. Sie begründet die Voraussage, dass sich alle gesellschaftlichen Widersprüche verschärfen, bis die Entwicklung schließlich in eine revolutionäre Umgestaltung mündet. Der Drang nach Mehr-
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wert zwingt die Kapitaleigner unter den Bedingungen der Konkurrenz, Mehrwertteile zu reinvestieren bzw. zu rekapitalisieren, um die Arbeitsproduktivität und damit die Wettbewerbsbedingungen zu verbessern. Damit erzeugen sie den Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital immer wieder aufs Neue und jeweils auf höherer Ebene.
»Es sind zwei Charakterzüge, welche die kapitalistische Produktionsweise von vornherein auszeichnen.
Erstens. Sie produziert ihre Produkte als Waren. Waren zu produzieren, unterscheidet sie nicht von ändern Produktionsweisen; wohl aber dies, dass Ware zu sein, der beherrschende und bestimmende Charakter ihres Produkts ist. Es schließt dies zunächst ein, dass der Arbeiter selbst nur als Warenverkäufer und daher als freier Lohnarbeiter, die Arbeit also überhaupt als Lohnarbeit auftritt. (...)
Das zweite, was die kapitalistische Produktionsweise speziell auszeichnet, ist die Produktion des Mehrwerts als direkter Zweck und bestimmendes Motiv der Produktion. Das Kapital produziert wesentlich Kapital, und es tut dies nur, soweit es Mehrwert produziert. (...) Die Produktion für den Wert und den Mehrwert schließt (...) die stets wirkende Tendenz ein, die zur Produktion einer Ware nötige Arbeitszeit, d. h. ihren Wert, unter den jedes Mal bestehenden gesellschaftlichen Durchschnitt zu reduzieren. Der Drang zur Reduktion des Kostpreises auf sein Minimum wird der stärkste Hebel der Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit, die aber hier nur als beständige Steigerung der Produktivkraft des Kapitals erscheint.«
Karl Marx. Das Kapital, Band 3, 1894
Je höher die Arbeitsproduktivität, umso größer fällt der Anteil des Einzelkapitalisten am gesamtgesellschaftlichen Profit aus. Kapitalisten mit geringer Arbeitsproduktivität, also höheren Produktionskosten, können einen Teil des in ihrem Unternehmen erarbeiteten Mehrwerts nicht als Profit realisieren. Sie können weniger Mehrwert rekapitalisieren. Der stete Zwang, einen Teil des Mehrwerts in neues Kapital zu verwandeln, lässt die Produktionseinheiten der in der Konkurrenz siegreichen Kapitalisten wachsen.
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Das Kapital konzentriert und zentralisiert sich in immer weniger Händen. Die Zahl der von diesem Prozess profitierenden Kapitalisten sinkt, die Zahl der Arbeiter aber wächst mit der Ausdehnung der Produktion. So vollzieht sich eine fortlaufende Vergesellschaftung der Produktion bei unverändert privater Aneignung des Profits (also des in der Konkurrenz erzielten Mehrwerts). Daraus zog Marx vier für seine Theorie wesentlichen Schlussfolgerungen:
1. Mit der Vergesellschaftung der Produktion verschärft sich der Konkurrenzkampf zwischen den an Größe zunehmenden Betrieben, und dies steigert die Anarchie der kapitalistischen Produktion.
2. Die Kleinproduzenten verlieren im Konkurrenzkampf gegen die großen, sie werden enteignet und vergrößern die Zahl des Proletariats.
3. Die Polarisierung zwischen den beiden gesellschaftlichen Hauptklassen - Kapitalisten und Proletarier — verschärft sich. Der zahlenmäßig wachsenden Arbeiterklasse steht die zunehmende Macht des sich in immer weniger Händen befindenden Kapitals gegenüber.
4. Bei Erreichen einer bestimmten Entwicklungsstufe werden die Produktionsverhältnisse zu Fesseln der herangereiften Produktivkräfte in einer bereits weitgehend vergesellschafteten Produktion. Die soziale Kraft, die diesen Konflikt lösen muss, die Arbeiterklasse, entwickelt sich mit und durch den Kapitalismus. Zunehmend in der Großproduktion konzentriert, diszipliniert und organisiert, ist das Proletariat die einzige Klasse, die in der Lage ist, die kapitalistische durch die sozialistische Produktionsweise zu ersetzen, damit die Gesellschaft sich die Ergebnisse gesellschaftlicher Produktion aneignen kann.
Langer Rede kurzer Sinn: Es geht hier um die objektiven - Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise - und die subjektiven Voraussetzungen - das Proletariat - des Sozialismus. Wenn die Theorie der Akkumulation des Kapitals die Wirklichkeit richtig beschrieb, lagen die revolutionären Schlussfolgerungen auf der Hand. Dann war die Siegesgewissheit der Sozialdemokratie wissenschaftlich begründet.
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Beschrieb sie die Wirklichkeit aber unzureichend, dann verwandelte sich der Sozialismus aus einer historischen Notwendigkeit in eine Frage des Wollens. Der Sozialismus, was immer man im Einzelnen darunter verstand, musste in diesem Fall politisch erkämpft werden, und es war möglich, dass er nie verwirklicht werden konnte. Aus diesem Grund stieß Bernsteins Kritik an Marx' Wirtschaftstheorie auf erbitterten Widerstand.
In den Voraussetzungen fasste Bernstein seine Kritik an der Theorie der kapitalistischen Akkumulation zusammen: In der Sozialdemokratie herrsche gemäß den Ausführungen des Kapitals die Vorstellung vor, dass die Konzentration der Vermögen zur Konzentration der industriellen Unternehmungen parallel laufe. Dies aber sei keineswegs der Fall: »Die Form der Aktiengesellschaft wirkt der Tendenz: Zentralisation der Vermögen durch Zentralisation der Betriebe in sehr bedeutendem Umfang entgegen.« Sie erlaube die weitgehende Spaltung schon konzentrierter Kapitale und mache die Aneignung des Kapitals durch einzelne Magnaten zum Zwecke der Konzentrierung gewerblicher Unternehmen überflüssig. Die Aktie sei nicht nur Kapital in vollendeter Form,
»sie ist die von aller grobsinnlichen Berührung mit den Niedrigkeiten der Gewerbstätigkeit befreite Anweisung auf einen Anteil am Mehrprodukt der nationalen oder Weltwirtschaft. (...) Und wenn sie samt und sonders nur als nichtstuende Rentiers leben, so würden die wachsenden Scharen der Aktionäre - man kann heute sagen, die Aktionärsbataillone - schon durch ihre bloße Existenz, Art ihres Konsums und die Zahl ihrer sozialen Gefolgschaft eine das Wirtschaftsleben der Gesellschaft stark beeinflussende Potenz darstellen. Die Aktie stellt in der sozialen Stufenleiter die Zwischenglieder wieder her, die aus der Industrie durch die Konzentration der Betriebe als Produktionschefs ausgeschaltet wurden.«
Ganz im Gegensatz zu Marx diagnostizierte Bernstein, dass der Siegeszug der Aktie die Polarisierung der Gesellschaft hemmen werde. Dazu verwies er auf englische Einkommensstatistiken: Die gegenwärtige Entwicklung weise keine Verminderung der Zahl der Besitzenden auf. Den Vorwurf, er wolle den Sieg des Sozialismus auf den Sankt-Nimmerleinstag verschieben, konterte er mit dem Argument, dass sich die Sozialdemokratie in der Tat »schlafen legen« könne, wenn die Aussichten der Sozialdemokratie von der Verminderung der Zahl der Besitzenden abhängig wäre. Für Bernstein waren die Aussichten des Sozialismus abhängig von der Zunahme des gesellschaftlichen Reichtums und nicht von dessen Rückgang. Aber einen solchen Rückgang hatte Marx nie prophezeit.
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Es war einmal mehr ein Pappkamerad, auf den Bernstein einschlug. Aus der Unschärfe der Begriffe erfolgte das Missverständnis Marx'scher Positionen. Die Polemik traf allenfalls in der Sozialdemokratie geläufige Mutationen, aber noch nicht einmal den Erzwidersacher Kautsky. Es geht bei Marx nicht um den Rückgang des gesellschaftlichen Reichtums. Er unterstellt im Gegenteil dessen Wachstum. Auch findet man bei Marx keine Äußerungen über eine Zu- oder Abnahme der »Besitzenden«. Marx untersuchte die Bewegungsrichtung des Kapitalverhältnisses, und im Hinblick auf Konzentration und Zentralisation hat er bis heute Recht. Die Aktie hat sich vor allem als ideales Instrument großer Konzerne erwiesen, Kapital zu akkumulieren.
Marx' großtechnischer Irrglaube
Bernstein plädierte für eine gerechte Verteilung der gesellschaftlichen Reichtümer. Das war für ihn der entscheidende Grund für den Sozialismus. Gerechte Verteilung aber hing nach Bernstein nicht ab von der Frage, wie viele Menschen sich das gesellschaftliche Mehrprodukt aneigneten. Damit hatte er Recht, aber das war kein Argument gegen Marx. Dieser leitete den Sozialismus nämlich nicht ab aus der Verteilungsungerechtigkeit, sondern aus der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise. Totengräber des Kapitalismus wird das Proletariat in Marx' Augen nicht wegen der Verteilungsungerechtigkeit, sondern als Träger der wichtigsten Produktivkraft, der Arbeitskraft.
In einem anderen wichtigen Punkt aber hatte Bernstein Recht gegen Marx. Die Gliederung der Gesellschaft hatte sich nicht vereinfacht, wie Marx es prognostiziert hatte. Die Gesellschaft bestand nicht zunehmend nur noch aus Kapitalisten und Arbeitern. Letztere verwandelten sich auch keineswegs in eine uniforme Masse. Stattdessen variierten Einkommenshöhe und Tätigkeiten, und es erwiesen sich zahlreiche soziale Gruppen als lebensfähig, denen laut Marx nur ein kurzes Dasein vor der Proletarisierung beschieden war.
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Bis heute stellen die Mittelschichten eine unentbehrliche Gliederung der Sozialstruktur des Kapitalismus dar. Sie gehen nicht unter, sondern differenzieren sich, erobern neue Tätigkeitsfelder, treiben moderne Techniken und Arbeitsverfahren voran und erfüllen mit Dienstleistungen Aufgaben, welche die Großindustrie immer wieder neu stellt.
Marx' großtechnischer Irrglaube ist ein Kind seiner Zeit. Immer größer wurden die Maschinen und Fabriken, und sie saugten immer mehr menschliche Arbeitskraft auf. Tatsächlich verwandelten sich in der »ursprünglichen Akkumulation«, der Industrialisierung, Bauern in Arbeiter. Besonders mit dem Aufkommen der Textilindustrie mit ihren Web- und Spinnmaschinen wurden handwerkliche Berufszweige ausgelöscht. Der Dampfhammer ruinierte unzählige Schmiede. Marx beobachtete, wie der traditionelle Mittelstand unter die Eisenräder der industriellen Revolution geriet. Lief nicht alles darauf hinaus, dass am Ende fast nur noch Proletarier und Kapitalisten übrig blieben? So sah es aus, bis der Kapitalismus eigene Mittelschichten entstehen ließ, die sich als unentbehrliche Rädchen im großen Räderwerk erwiesen haben.
Verblüffenderweise hingen die Machthaber des realen Sozialismus trotz der mittlerweile in aller Welt gewonnenen Erfahrungen und Einsichten ebenfalls der Idee an, man könne auf Mittelständler verzichten. Sie wurden verdächtigt, immer wieder »bürgerliches« oder »kleinbürgerliches Bewusstsein« hervorzubringen. Das hatte bereits Lenin erklärt, und hier hatte Lenin Recht. Aber genauso wie Handwerker und andere Dienstleistungsberufe im Kapitalismus unverzichtbar sind, waren sie es im realen Sozialismus. Der fast schicksalhafte Hang zur Großtechnik bescherte der »sozialistischen Menschengemeinschaft« der DDR und anderen realsozialistischen Ländern Versorgungsmängel und Unmut.
Bernstein sah, dass die Großbetriebe überproportional schnell wuchsen, aber er erkannte auch, dass der Kapitalismus nach Ab-schluss der ursprünglichen Akkumulation ohne Mittelschichten nicht lebensfähig war. Dies widersprach dem Bild, dass sich am Ende Proletariat und das in höchstem Maß zentralisierte und konzentrierte Kapital gewissermaßen in Reinform gegenüberstehen und die Entscheidungsschlacht ausfechten würden. Dazu wird es nicht kommen, erklärte Bernstein, und stürzte mit seinen Begründungen seine Kontrahenten in arge Nöte.
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So würden die kleinen und mittleren Betriebe »nur in ihrem Verhältnis zur Großindustrie schrittweise zurück [treten]«. Es gebe zwar immer mehr Großbetriebe, aber nicht zu Lasten der kleineren. Bernstein erkannte, im Gegensatz zu seinen innerparteilichen Gegnern, dass der Kapitalismus viel anpassungsfähiger und beweglicher war, als das Kapital und seine Interpreten es unterstellt hatten.
Und Bernstein setzte noch eins obendrauf. Er konstatierte, dass der gesellschaftliche Reichtum immens wuchs. Und er fragte: Wo bleibt das Mehrprodukt, das die Kapitalisten und ihre Dienerschaft allein nicht verbrauchen können? Seine Antwort: »Entweder steigende relative Abnahme der Zahl der Kapitalisten und steigender Wohlstand des Proletariats oder eine zahlreiche Mittelklasse, das ist die einzige Alternative, die uns die fortgesetzte Steigerung der Produktion lässt.« Beide Alternativen widersprachen Marx, dies aber in marxistischer Diktion. Bernsteins Schlussfolgerung: Sollte die Arbeiterklasse auf den Tag warten, bis das Kapital die Mittelklassen aus der Welt geschaffen hat, würde sie auf den Sankt-Nimmerleins-Tag warten.
Was Marx betrifft, irrte Bernstein wieder. Der Meister hatte ja mit seiner Akkumulationstheorie erklärt, wohin große Teile des Mehrprodukts flössen: Sie verwandelten sich wieder in Kapital, um neuen Mehrwert zu »hecken«. Und doch bleibt eine wesentliche Einsicht, dass nämlich die Sozialstruktur des modernen Kapitalismus nicht einfacher wird, sondern vielfältiger, und dass sich auch die nicht der Kapitalistenklasse angehörigen Klassen und Schichten einen gewichtigen Teil des gesellschaftlichen Reichtums aneignen können. Dass sie es tun, wissen wir heute. Damals, zu Bernsteins Zeiten, angesichts vergleichsweise archaischer sozialer Verhältnisse, bedurfte es einigen Weitblicks, dies zu verstehen. Aber Bernstein genoss den Vorzug, den Kapitalismus in seinem am weitesten entwickelten Stadium studieren zu können, in England. Diesen Vorteil hatte auch Marx gehabt, aber eben drei Jahrzehnte zuvor (gerechnet vom Erscheinungsjahr des ersten Bandes des Kapitals, 1867). Beide haben den Vorsprung gegenüber den Genossen in Deutschland genutzt, aber mit unterschiedlichen Ergebnissen. Aber natürlich überschattete Marx' Genie auch im Irrtum die Schulmeistere! seiner Schüler, der gehorsamen genauso wie der aufmüpfigen.
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Sozialismus, wenn auch nicht in patentierter Form
Wie sah Bernstein die weitere Entwicklung der Klassen im Kapitalismus? Wiederum unterlief ihm eine derbe Missinterpretation, als er schrieb, Marx habe den charakteristischen Unterschied zwischen den Klassen aus den Einkommensquellen abgeleitet. Daher geht auch seine Kritik an Marx fehl, dass dies über die wirkliche Gliederung der Gesellschaft wenig sage. Marx hatte bei seiner Klassende-finition keineswegs Einkommensquellen im Auge, sondern die Stellung der Menschen in der Produktion und zum Eigentum.
Recht hatte Bernstein, als er erklärte, die Wirklichkeit sei gekennzeichnet durch eine unendliche Zersplitterung der Interessen und Stellungen, wobei die unterschiedliche Form der Arbeit Grundeigentümer, Kapitalisten und Arbeiter spalte. >»Das Proletariat als Einheit der modernen lohnarbeitenden Klassen war seinerzeit eine rein begriffliche Konstruktion«, schrieb er mit Blick auf das Kommunistische Manifest. Hier jedoch spielte ihm einmal mehr ein falscher Abstraktionsbegriff einen Streich. Denn in der Abstraktion zeigt sich das Gemeinsame im Verschiedenen, und dies ist natürlich keine Fiktion. Den Klassenkampf bestritt Bernstein nicht, allerdings »die Richtigkeit der schablonenmäßigen Auffassung dieses Kampfes«. Er müsse sich keineswegs in dem Maß zuspitzen, »dass die bezeichneten großen Klassen eines Tages unvermittelt einander gegenüberstehen«.
Wie bei seiner Dialektikkritik und seinen Ausführungen über den Determinismus in der Geschichte zielte Bernstein in seinen wirtschaftstheoretischen Äußerungen auf die Gewissheit der sozialdemokratischen Zeitgenossen, dass die soziale Revolution unvermeidlich heranreife.
Bei Marx handelt es sich gewissermaßen um Stufen der Konkretisierung: Sie beginnen bei der Dialektik, wo Quantität in Qualität umschlägt und die Negation negiert wird. Diese Gesetze des Denkens und der objektiven Realität, von Geist und Materie, verdichten sich im historischen Materialismus. Dieser zeigt, wie die mit eherner Notwendigkeit sich durchsetzenden historischen Gesetze die Geschichte steuern. Der Umschlag von Quantität in Qualität entlädt sich in der Kollision zwischen Produktivkräften und den sie hemmenden Produktionsverhältnissen. In der ökonomischen Analyse des Kapitalismus finden die Gesetze des Denkens, der Materie und der Geschichte ihre aktuelle Anwendung und politische Perspektive: der Revolution der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Gesellschaft.
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Aber obwohl immer weniger Menschen immer reicher werden, vereinfacht sich die Klassenstruktur im Kapitalismus nicht. Den Fabrikanten und den Kaufmann hielt Bernstein für ebenso wichtige Glieder der Gesellschaft wie den Gelehrten, Künstler und Arbeiter, solange Staat und Gemeinden die für den Sozialismus notwendigen Organe noch nicht ausgebildet hätten und das Genossenschaftswesen noch nicht genügend entwickelt sei. »Mit der begrifflichen Überflüssigkeit des kapitalistischen Unternehmertums kommen wir ebenso wenig einen Schritt weiter wie Aristoteles mit seiner begrifflichen Entbehrlichkeit der Sklaverei.«
Im Gegensatz zum revolutionären Postulat der Aufhebung der Klassen erschien es Bernstein »nicht unrichtig, von einem Hineinwachsen der Gesellschaft in den Sozialismus zu sprechen«. Die Zahl und Bedeutung staatlicher Unternehmen wachse. Dieser Pro-zess sei »entschieden antikapitalistisch, gegen die Aneignung von Produktionsmitteln und Produktionsüberschüssen durch Kapitalisten gerichtet, die gerade die charakteristische und wesentliche Seite des kapitalistischen Wirtschaftssystems« sei. Der Begriff »Kapitalismus« könne hier zwar nur auf die Form der Verteilung des Betriebs- und Produktionsertrags angewendet werden, aber »in der Form der Verteilung sieht der Marxismus nicht das entscheidende Kriterium«, sondern in der Produktionsweise und den Produktionsbedingungen. Marxistisch gesehen, hat er Recht. Aber er widerspricht der eigenen Klassentheorie, in der Einkommensquellen das die Definition von Klassen entscheidende Kriterium darstellen.
Bernstein sah den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus im Wandel des Staats von einem der Gesellschaft übergeordneten zu einem ihr untergeordneten Organ, also in einer in hohem Maß demokratisierten Gesellschaft. Das war ein Reflex auf die preußisch-deutsche Staatsverehrung, wie sie sich in der Vergötterung von Kaiser und Militär offenbarte. Als zwanzig Jahre später der wilhelminische Staat der demokratischen Republik weichen musste - in einer Revolution! -, entstand in der Sozialdemokratie große Hilflosigkeit. Ihr erbittertster Feind war besiegt, man hatte den »Volksstaat« erkämpft, aber mit dem Feind auch die Orientierung verloren. Und wo war nun der Sozialismus?
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Aber zurück zur wirtschaftstheoretischen Grundlegung des demokratischen Sozialismus. Laut Bernstein erwiesen sich die Aktiengesellschaften »als Durchgangsstadium zum öffentlichen Betrieb«. Sie hätten die meisten Chancen, wo gleichförmige Produktion möglich sei. Dadurch würde die Maschine zu einem mächtigen »Faktor der Entwicklung zum Kollektivismus«. Die künftige Entwicklung sah Bernstein wesentlich bestimmt durch die Vermehrung der »kollektivistischen Betriebe«; einen vollkommen »kollektivistischen« Gesellschaftszustand erwartete er allerdings auf lange Zeit nicht.
Auf dieser Grundlage zog Bernstein eine zentrale strategische Schlussfolgerung: Wenn man unter Verwirklichung des Sozialismus die Errichtung einer in allen Punkten streng kommunistischen Gesellschaft verstehe, »so trage ich allerdings kein Bedenken, zu erklären, dass mir dieselbe noch in ziemlich weiter Ferne zu liegen scheint. Dagegen ist es meine feste Überzeugung, dass schon die gegenwärtige Generation noch die Verwirklichung von sehr viel Sozialismus erleben wird, wenn nicht in der patentierten Form, so doch in der Sache.«
Dem entsprach ein dem Marxismus entgegengesetztes politisches Konzept. Bernstein erklärte, »wenn die Sozialdemokratie bei dieser Gliederung des Wirtschaftsorganismus ans Ruder käme«, könne sie auf den Kapitalismus zunächst nicht verzichten, sonst würde das Wirtschaftsleben zusammenbrechen und die Konterrevolution heraufbeschworen werden. Käme die Sozialdemokratie unter den Verhältnissen an die Macht, welche die Zusammen-bruchstheorie voraussetze, könne sie der Wirtschaft kaum Vertrauen einflößen.
Bernstein greift seiner Zeit weit voraus. Denn exakt diese Negativstrategie werden die Sozialdemokraten einschlagen, als sie zum ersten und zum letzten Mal die ganze Macht in Deutschland in den Händen halten. Sie nutzen sie in der deutschen Revolution von 1918/19, um das Kapital vor der Sozialisierung zu bewahren.
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Ein ideologisches Vakuum
Auch wenn Karl Kautsky von seiner klugen Biografin Ingrid Gilcher-Holtey gegen den Vorwurf des »Immobilismus« in Schutz genommen wird: In dem Maß, wie Kautsky sich als Wahrer des wahren Marxismus verstand, wurde er zum Scholastiker. Er erkannte Schwächen in Bernsteins Argumentation, vor allem dessen fehlende Marx-Kenntnis. Aber er zeigte sich nicht fähig, die von Bernstein hervorgehobenen neuen Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft zu analysieren. Er charakterisierte Kartelle und Trusts lediglich als glänzende Bestätigung der Marx'schen Theorie. Er versuchte zu belegen, dass die Marx'schen Erwartungen hinsichtlich Konzentration und Zentralisation des Kapitals sich erfüllt hätten. Die »Kapitalmagnaten«, welche alle Vorteile des kapitalistischen Umwälzungsprozesses usurpierten und monopolisierten, »sind zur Wirklichkeit geworden in der kurzen Spanne Zeit, seitdem Marx diesen Satz niedergeschrieben, und werden immer mehr zur Wirklichkeit durch die Vollendung der Kapitalkonzentration in der Form der Kartelle und Trusts«. Schaut man sich das Zitat genauer an, dann erkennt man, wie die zusammenbruchstheoretische Erwartungshaltung durchscheint: »Vollendung der Kapitalkonzentration«. Kautsky sah die Monopolisierung ganzer Industriezweige - den »Ausschluss der Konkurrenz aus der Produktion« -, eine Erscheinung, die erst nach Marx' Tod eine ökonomische Bedeutung erlangt habe. Die modernen Finanzkönige beherrschten durch Kartelle und Trusts die Nation direkt, sie machten sich die gesamte Produktion Untertan.
Aber welche Schlussfolgerungen sollte die Sozialdemokratie aus dieser Entwicklung ziehen? Musste sie angesichts der Macht der Monopole nicht die Beschränkung auf das Proletariat aufgeben, jenen Nachhall von Lassalles These, gegenüber der Arbeiterklasse seien alle Klassen und Schichten nur eine »reaktionäre Masse«? Und wenn die Trusts und Kartelle die Nation direkt beherrschten, welche Rolle spielten dann der Staat, der Kaiser, das Militär? Und wenn die großen Produktionseinheiten den Markt kontrollierten, was geschah mit dem Tauschwert der Waren und der Marktpreisbildung, mit Mehrwert und Profit?
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Was den Wert der Ware ausmacht, zeigt sich erst, wenn die Ware auf dem Markt verkauft wird. Ist der Preis zu hoch, bleibt die Ware ein Ladenhüter, dann können Wert und Mehrwert nicht realisiert werden. Ist der Preis zu niedrig, verringert sich der Profit, der rekapitalisiert, in Arbeitsproduktivität und Konkurrenzfähigkeit reinvestiert werden kann. Dann schwächt das Unternehmen seine Wettbewerbsfähigkeit. Im schlimmsten Fall werden nicht einmal die Reproduktionskosten der Arbeit realisiert, der Betrieb kann seine Arbeiter nicht mehr bezahlen und geht Bankrott. Dieses Szenario des Kapitals funktioniert allerdings nur unter den Bedingungen der freien Konkurrenz.
Aber die freie Konkurrenz empfanden viele Unternehmer als Bedrohung. Sie scheuten das Risiko sich schnell wandelnder Märkte und setzten stattdessen auf Absprachen, um den Wettbewerb und Krisen zu dämpfen. In Deutschland entstanden nach den hektischen Gründerjahren in Folge der deutschen Einheit vor allem in der Grundstoffindustrie Kartelle, berühmt war etwa das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat, Ähnliches gab es in der Zement- und der Kaliindustrie. Kartelle erlaubten es, die Preise hoch zu halten, sodass auch die Kartellmitglieder auf ihre Kosten kamen, deren Arbeitsproduktivität unterdurchschnittlich war. Unternehmen mit hoher Arbeitsproduktivität erzielten Extraprofite. Kartelle regulierten den Markt und setzten für sich das Marx'sche Wertgesetz außer Kraft. Welche Konsequenzen mussten die Marxisten hieraus ziehen? Diese zentrale Frage und viele andere ließen die Theoretiker der SPD unbeantwortet. So durften sie sich nicht beklagen, dass die Antworten der ideologischen Konkurrenz das Vakuum füllten.
Gegen die revisionistische Auffassung über die Aktie polemisierte Kautsky, diese bringe nicht Geldbesitz, sondern setze ihn voraus. Die Form der Aktiengesellschaft vermehre die der Produktion zu Gebote stehende Kapitalmenge, indem sie es erlaube, Besitz in Kapital zu verwandeln, der sonst nicht Kapital würde; sie ändere also zunächst überhaupt nichts an der Verteilung des vorhandenen Besitzes. »Die Zunahme der Zahl der Aktionäre beweist gar nicht die Zunahme der Zahl der Besitzenden, sie beweist nur, dass in der kapitalistischen Gesellschaft die Form der Aktie immer mehr die vorherrschende Form des Besitzes wird.« Mit der Aktiengesellschaft als »auserlesenem Kittel, Gimpel zu fangen und zu rupfen«, würden den großen Kapitalisten neue Machtmittel zur Verfügung gestellt, da Aktien nichts weiter seien als eine besondere Form des Kredits.
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Die Aktiengesellschaft sei die geeignete Form, die Konzentration des Kapitals auf die Spitze zu treiben, erklärte Kautsky in Übereinstimmung mit Marx und Engels den sich vor aller Augen vollziehenden Prozess der Konzentration von Kapital und Produktion. Was durch das Aktienkapital vermehrt werde, sei nicht die Zahl der Besitzenden, sondern die der »müßigen Besitzenden«. »Nicht die Zunahme der Besitzenden wird durch die rasche Zunahme der Aktiengesellschaften bewiesen, sondern die wachsende Überflüssigkeit kapitalistischer Produktion, die wachsende Möglichkeit, ja Notwendigkeit sozialistischer Produktion.«
Der Bernstein'schen These, dass es den Kapitalmagnaten unmöglich sei, das wachsende Mehrprodukt zu verbrauchen, hielt Kautsky den wichtigsten Abflusskanal des Mehrwerts entgegen:
die Akkumulation des Kapitals. Eine neue Mittelschicht bilde sich trotzdem heraus. Für diese aber spiele das Privateigentum zumeist keine Rolle. Weder diese noch andere Erscheinungen, wie etwa die Zunahme des physischen Wohls einzelner Arbeiterschichten, stünden im Widerspruch zu den »Marx'schen Lehren von der Konzentration des Kapitals, der Zunahme der Ausbeutung des Proletariats und der Verschärfung der sozialen Gegensätze«.
Der Hammerschlag der Revolution
Rosa Luxemburg hatte das Kapital verstanden, und hier vor allem dessen dritten Band. Die wichtigste Konsequenz der Akkumulation des Kapitals bestand in ihren Augen in der Verschärfung der sozialen Widersprüche. Die Produktionsverhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft näherten sich denen der sozialistischen immer mehr, ihre politischen und rechtlichen Verhältnisse dagegen errichteten »zwischen der kapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaft eine immer höhere Wand«. Diese Wand werde durch die Entwicklung der Sozialreformen oder demokratische Tendenzen nicht durchlöchert, sondern umgekehrt fester und höher gemacht. »Wodurch sie also niedergerissen werden kann, ist einzig der Hammerschlag der Revolution.« Bernstein aber wolle die sozialen Gegensätze nicht zur Reife gelangen lassen »und durch einen revolutionären Umschlag auf die Spitze aufheben, sondern ihnen die Spitze abbrechen, sie abstumpfen«.
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Bei den Aktiengesellschaften, von denen Bernstein sich so viel versprach, sondere sich das Eigentum an Kapital als Anspruchstitel bei der Verteilung des Profits gänzlich von persönlichen Beziehungen in der Produktion und erscheine in seiner reinsten, geschlossenen Form. »In dem Aktienkapital und dem industriellen Kreditkapital gelangt das kapitalistische Eigentumsrecht erst zu seiner vollen Ausbildung.«
Ohne es zu sagen, korrigierte Luxemburg Marx nach dessen dialektischer Methode. Das zeigte sich vor allem bei der Frage der Mittelschichten, deren zahlenmäßiges Wachsen Bernstein als Beweis gegen die Verschärfung der gesellschaftlichen Widersprüche angeführt hatte. Nach Luxemburg treibt das Kleinkapital die technische Revolution voran: Es führt neue Produktionsmethoden in alten Branchen ein, und es schafft neue, vom großen Kapital noch nicht beherrschte Produktionszweige. »Vollkommen falsch ist die Auffassung, als ginge die Entwicklung des kapitalistischen Mittelbetriebes in gerader Linie abwärts zum stufenweisen Untergang. Der tatsächliche Verlauf der Entwicklung ist vielmehr auch hier rein dialektisch und bewegt sich ständig zwischen Gegensätzen.«
Die kapitalistischen Mittelschichten befänden sich wie die Arbeiterklasse unter dem Einfluss zweier entgegengesetzter Tendenzen — eine befördernde — die krisenhafte, periodische Entwertung des vorhandenen Kapitals, die die Stufenleiter der Produktion immer wieder für eine Zeit lang senke, sowie das Eindringen der kapitalistischen Produktion in neue Sphären — und eine hemmende — das beständige Steigen der Stufenleiter der Produktion, welche die Produktivkräfte der Mittelkapitale periodisch überhole und sie so immer wieder aus dem Wettbewerb herausschleudere.
In der Konkurrenz mit dem Großkapital gehe es demnach nicht um eine kontinuierliche Schlacht, »wo die Truppe des schwächeren Teiles direkt und quantitativ mehr zusammenschmilzt«, sondern vielmehr um ein »periodisches Abmähen der Kleinkapitale, die dann immer wieder rasch aufkommen, um von neuem durch die Sense der Großbetriebe abgemäht zu werden«. In letzter Instanz aber siegt die herabdrückende Tendenz durch das allmählich steigende Kapitalminimum, das zum Betrieb in den alten Branchen notwendig sei, und durch die immer kürzere Zeitspanne, die den Kleinkapitalen bleibe, um in neue Sphären einzudringen. Aber aus diesem Grund würden die Mittelschichten nicht schrumpfen, sondern lediglich einem immer rascheren sozialen Stoffwechsel ausgeliefert sein.
Rosa Luxemburg erwies sich in ihren ökonomischen Betrachtungen als Meisterin der dialektischen Methode von Marx. Das unterschied sie krass von Bernstein, auch von Kautsky, die sich beide erstaunlich häufig als »Opfer« der dürftigen Marx-Rezeption in der Sozialdemokratie entpuppten. In ihrer Argumentation steckt auch mehr Wucht.
Sie lamentierte nicht, sondern nahm die doppelte Herausforderung offensiv an: den Revisionismus und die Veränderung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wirklichkeit. Sie verstand es geschickt, die Marx'schen Auffassungen über die Akkumulation des Kapitals auf die neue Realität der Kartelle, Trusts und Aktiengesellschaften anzuwenden. Ihre Korrektur der Verelendungsthese — der Proletarisierung der Mittelschichten — war von funkelnder Originalität. Es ging ja auch um eine Schlüsselfrage: Wenn am Ende die Mittelschichten der entscheidende soziale Faktor würden, wäre der Sozialismus von einer »Wissenschaft« in eine spekulative Vision zurückverwandelt.
Auch wenn es noch fünfzehn Jahre dauern sollte bis zu den ersten Schritten einer organisatorischen Absonderung der Linken in der Sozialdemokratie (Spartakusbund) und zwanzig bis zur Gründung der KPD: In der Auseinandersetzung um Bernsteins Thesen kristallisierten sich die künftigen Fronten heraus: die Parteirechte, die um die Jahrhundertwende von Bernstein repräsentiert wurde (der dann in der Kriegsfrage 1914-1918 zunehmend nach links, zur USPD, rückte); die Parteilinke, in der damals bereits niemand Luxemburgs Genie überstrahlte; das Parteizentrum, das Bebel und Kautsky vertraten (auch wenn sich Letzterer im Krieg gemeinsam mit Bernstein in der USPD wieder finden sollte).
Als der Krieg verloren war, entfiel der Grund für die Aufspaltung in Mehrheitssozialdemokraten und Unabhängige Sozialdemokraten, und Bernstein und Kautsky gehörten wieder gemeinsam der SPD an. Die Linke hatte sich in der Kommunistischen Partei versammelt.
Im Kern zeigten sich die Unterschiede bereits um die Jahrhundertwende in allen wichtigen Fragen, vor allem aber hinsichtlich der strategischen Konsequenzen. Welche Politik sollte die Sozialdemokratie verfolgen? Weiter auf den »großen Kladderadatsch« warten? Oder den Kapitalismus durch beharrliche Reformarbeit verändern?
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