Staat und Strategie - Eine offene Konstruktionsaufgabe
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Dialektik, historischer Materialismus, politische Ökonomie — bei allen Mühen und Umwegen der theoretischen Diskussion ging es Bernstein darum, seine reformistische Strategie der strategisch-taktischen Unbeweglichkeit der Parteiführung entgegenzustellen. Deshalb polemisierte er gegen die revolutionären Schlussfolgerungen, die Marx und seine Interpreten aus ihren theoretischen Überlegungen zogen.
Der Übergang zum Sozialismus war kein Schicksal, ergab sich nicht zwangsläufig aus den Widersprüchen des Kapitalismus, sondern war eine Aufgabe der Politik.
Es gab genug Gründe, Eduard Bernstein in Fragen der Theorie Eklektizismus vorzuwerfen, aus Sicht des Marxismus ohnehin. Aber seine Erörterungen mündeten in systematischen Folgerungen. Dabei zeigen sich zwei Schwerpunkte: erstens seine Ansichten über die politische und staatliche Entwicklung des Kapitalismus in Deutschland und die daraus erwachsenden Aufgaben für eine reformistische Politik; zweitens führten ihn seine Betrachtungen über die ökonomische Entwicklung des Kapitalismus, vor allem den Prozess der Vergesellschaftung der Produktion, dazu, eine Strategie der Wirtschaftsdemokratie zu formulieren, die sich auf Genossenschaften und Gewerkschaften stützte.
In beiderlei Hinsicht zeigte sich Bernstein als ein außerordentlich origineller Kopf, dessen reformpolitische Vorschläge, ein Reflex auf die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Veränderungen in Europa, im Kern noch heute interessant sind. Damals aber waren sie in ihrer Weise revolutionär, denn sie konterkarierten die Flickschusterei der Parteiführung.
Die erste zentrale Frage, die Bernstein aufwarf, lautete: Welche Rolle spielt der Staat in der kapitalistischen Gesellschaft? Daraus ergab sich die zweite Frage: Wie steht die Sozialdemokratie zum Staat? Bernstein sah im sozialistischen Lager zwei Hauptströmungen:
Die eine habe als Ziel die Umgestaltung des gegebenen Staats zu einem »Hebel der Gesellschaftsreform«, die andere wolle den Staat aufheben. Im Prinzip vertrete die deutsche Sozialdemokratie zwar die erste Richtung, seit jedoch Engels im Antidühring den Satz vom Absterben des Staates geprägt habe, bekämpfe man nicht mehr nur den Staat als Agenten des Kapitals, sondern gehe auch davon aus, dass der Staat grundsätzlich nicht sozialistisch werden könne.
»Mit dem Sieg des Sozialismus hört der Staat auf und beginnt die sozialistische — Gesellschaft«, referierte Bernstein die Staatsauffassung, die er als authentisch marxistisch missverstanden hatte. Dazu hatte beigetragen, dass die Parteiführung aus Furcht vor Repressalien der Justiz oder einem neuen Ausnahmegesetz Äußerungen von Marx und Engels über Staat und Revolution entschärft oder gar nicht veröffentlicht hatte.
So beklagte sich etwa Friedrich Engels 1895 in einem Brief an Marx' Schwiegersohn Paul Lafargue:
»Liebknecht hat mir gerade einen schönen Streich gespielt. Er hat meiner Einleitung zu den Artikeln von Marx über das Frankreich von 1848 bis 1850 alles das entnommen, was ihm dazu dienen konnte, die um jeden Preis friedliche und Gewaltanwendung verwerfende Taktik zu stützen, die es ihm seit einiger Zeit, besonders in diesem Augenblick zu predigen beliebt, wo man in Berlin Ausnahmegesetze vorbereitet.«
Aber selbst in der neu herausgegebenen Fassung, wie sie später in der <Neuen Zeit> publiziert wurde, waren in der Einleitung zu Marx' Schrift über die <Klassenkämpfe in Frankreich> auf Druck des SPD-Vorstands revolutionäre Äußerungen gestrichen worden. Der Text wurde auch dann nicht in ungekürzter Fassung abgedruckt, als die Drohung eines neuen Sozialistengesetzes nicht mehr akut war.
Bernstein kannte den vollständigen Text, aber er konnte offenbar der Versuchung nicht widerstehen, Engels als Kronzeugen für seine reformpolitischen Konzepte anzuführen.
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Nicht veröffentlicht hatte der SPD-Vorstand auch eineinhalb Jahrzehnte lang Marx' berühmte Kritik am Gothaer SPD-Programm von 1875. August Bebel wollte Wilhelm Liebknecht schonen, der federführend am Programm mitgearbeitet hatte. Es gab einigen Ärger, als Kautsky 1890 die Schrift in der Neuen Zeit abdruckte, auch wenn sie kaum Wirkung gezeigt hat. Eine umfassende Diskussion über Marx' kritische Randglossen fand nicht statt, dazu war es zu spät. Wilhelm Liebknecht hatte zwar im Vorstand kaum noch Einfluss, aber er wurde in der Partei verehrt als Ikone der Arbeiterbewegung. Warum ihn behelligen mit einer alten Schrift? Und hatte die Partei nicht mit dem Erfurter Programm bewiesen, dass sie die Lehren des großen Meister verstanden hatte? Warum also in alten Geschichten herumrühren?
Die Diktatur des Proletariats
Marx hatte seine Auffassungen über den sozialistischen Staat konkretisiert, nachdem er die Erfahrungen der nicht einmal drei Monate existierenden Pariser Kommune (März bis Mai 1871) ausgewertet hatte. Seitdem sah er in der Diktatur des Proletariats die ideale Staatsform der sozialistischen Gesellschaft bis zu der Zeit, in der der Staat als Ganzes überflüssig werden würde. Der Staat sollte in dem Maß allmählich absterben, wie sich nach der sozialistischen Revolution die Klassengegensätze auflösten.
Im Kapitalismus aber war der Staat das »geschäftsführende Organ« der Bourgeoisie. Das Beispiel der Kommune hatte Marx gezeigt, dass es nicht ausreichte, die Staatsmacht zu erobern, sie musste auch neu strukturiert werden. Das proletarische Nationalkomitee in Paris, das aus den aufständischen Nationalgarden erwuchs, diente ihm als Modell. Und nicht zuletzt dessen unblutige und sozialreformerische Politik: Gleichstellung der Frau, kostenloser Schulbesuch, Arbeitsschutz.
Nachdem französische Regierungstruppen die Kommune niedergeschlagen hatten, wurden die Kommunarden Märtyrer der internationalen Arbeiterbewegung. Sie waren die Ersten gewesen, die den Sozialismus in die Tat umsetzen wollten. Dass die meisten Revolutionäre Anhänger Louis Blanquis und Pierre Joseph Proudhons gewesen waren, störte nicht einmal den eifersüchtigen Marx. Für ihn war die Kommune das erste Aufleuchten der Weltrevolution. Als August Bebel im Mai 1871 im Reichstag die Kommune lobte, begann Bismarck die Sozialdemokraten zu fürchten. Damals, so erklärte der Kanzler später, habe er die Gefahr des Sozialismus zum ersten Mal erkannt. Seitdem dachte er über Ausnahmegesetze gegen die Sozialdemokratie nach.
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»Meine Herren, mögen die Bestrebungen der Kommune in Ihren Augen auch noch so verwerfliche oder — wie gestern hier im Hause privatim geäußert wurde — verrückte sein, seien Sie fest überzeugt, das ganze europäische Proletariat und alles, was noch ein Gefühl für Freiheit und Unabhängigkeit in der Brust trägt, sieht auf Paris. (Große Heiterkeit.)
Meine Herren, und wenn auch im Augenblick Paris unterdrückt ist, dann erinnere ich Sie daran, dass der Kampf in Paris nur ein kleines Vorpostengefecht ist, dass die Hauptsache in Europa uns noch bevorsteht und dass, ehe wenige Jahrzehnte vergehen, der Schlachtenruf des Pariser Proletariats <Krieg den Palästen, Friede den Hütten, Tod der Not und dem Müßiggange!> der Schlachtruf des gesamten europäischen Proletariats werden wird. (Heiterkeit.)«
August Bebel, Rede im Deutschen Reichstag, Mai 1871
Auch im Hinblick auf Staat und Revolution ist es fraglich, ob Bernstein Marx gelesen oder verstanden hatte. Aber das ist, wie schon bei anderen Themen, unerheblich. Wichtiger sind Bernsteins Folgerungen: Der Kapitalismus besitzt zu verschiedenen Zeiten eine unterschiedliche Gestalt. Er muss »unter dem Drucke moderner demokratischer Einrichtungen und der ihnen entsprechenden gesellschaftlichen Pflichtbegriffe ein anderes Gesicht annehmen (...), als solange der Besitz auch die politische Herrschaft monopolisierte«. Das Aufkommen der modernen Demokratie habe den gesellschaftlichen Moralkodex nicht unbeeinflusst gelassen.
Diese Thesen konnten nur in England entstehen. Denn angesichts der autoritären Verhältnisse im Deutschen Kaiserreich von Demokratie zu sprechen, war absurd. Man musste dazu nicht einmal auf das groteske Dreiklassenwahlrecht in Preußen und Sachsen verweisen, das Grundbesitz und Reichtum mit einem zu hohen Anteil an Parlamentssitzen versorgte. Die Reichsregierung war vom Kaiser ernannt und dem Parlament nicht verantwortlich.
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Das Parlament hatte nur eine Möglichkeit, in die Staatspolitik einzugreifen: indem es die Zustimmung zum Haushalt verweigerte. Die Wahlkreiseinteilung aber sicherte den Konservativen von vornherein einen überproportionalen Teil der Reichstagssitze. Und wirkliche Republikaner gab es außerhalb der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion kaum. Die anderen deutschen Parteien waren kaisertreu, bis es keinen Kaiser mehr gab. Und selbst der SPD-Führung fiel es 1918 nicht leicht, Wilhelm II. ins niederländische Exil zu verabschieden. Dieses politische System war nur durch eine Revolution zu stürzen.
Durchführung der Genossenschaftlichkeit
Eduard Bernstein fabulierte über seine Konzepte, als lebten die Deutschen in demokratischen Idealverhältnissen. Er kümmerte sich nicht um die Frage, wie seine Forderungen durchzusetzen seien. Seine Ideen mochten für England zutreffen, im wilhelminischen Deutschland hatten sie keine Chance. Die abseitigen Voraussetzungen von Bernsteins Konzepten verhinderten jedoch nicht, dass aus ihnen Ideen erwuchsen, die sich später als tragfähig erwiesen. Aber ironischerweise erst nach der Revolution, die bei Bernstein nicht vorkam, es sei denn als Gruselstück.
Statt vom Endziel schrieb Bernstein etwas holprig von der »allseitigen Durchführung der Genossenschaftlichkeit«. Ziele, so Bernstein, dürfe man nicht als Plan, sondern nur als Prinzip verkünden. Die Mittel und Wege zur Genossenschaftlichkeit müssten in den gegebenen Bedingungen gefunden werden und dem jeweiligen Stand der Bewegung entsprechen. »Darum ist das allgemeine Ziel, die Bewegung selbst und ihr Fortschritt in der Richtung auf dieses Ziel die Hauptsache, während es recht gleichgültig ist, wie man sich das Endziel dieser Entwicklung ausmalt.«
Aus einem fest umrissenen Konzept verwandelte Bernstein den Sozialismus in eine »offene Konstruktionsaufgabe« oder in einen »Sozialismus in Teillieferungen«, wie der sozialdemokratische Theoretiker Thomas Meyer treffend schreibt.
Eine Bruchstelle aber gab es, jedenfalls vom Standpunkt heutiger sozialdemokratischer Programmatik aus gesehen: Die Durchführung seines Gesellschaftsprinzips »Genossenschaftlichkeit« bedeutete für Bernstein zuerst, die Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum zu überführen.
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Dies sei aber kein Endziel, »sondern nur ein Mittel zu einem solchen«. Ziele der sozialistischen Bewegung seien vielmehr höchste Wohlfahrt und allseitige Vervollkommnung. Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel sei dabei nur in dem Maß erstrebenswert, wie von ihr die Erfüllung dieser Ziele erwartet werden könne. Für diese Ziele aber könne die Sozialdemokratie in der Opposition mehr tun, als wenn sie plötzlich durch eine Katastrophe an die Macht käme. Wenn die Geschäfte stockten, frage niemand, ob eine Sache sozialistisch sei, sondern ob sie zu Arbeit und Brot verhelfe. »Wir fragen nicht bei Reformen, ob sie die Katastrophe, die uns ans Ruder bringen könnte, beschleunigen oder nicht, sondern wir fragen, ob sie die Arbeiterklasse in ihrer Entwicklung fördern, ob sie dem allgemeinen gesellschaftlichen Portschritt dienen oder nicht.«
Bernsteins Schlüsselbegriff ist Demokratie. Damit bezeichnet er einen Gesellschaftszustand, »wo keiner Klasse ein politisches Privilegium gegenüber der Gesamtheit zusteht«. Demokratie bedeutet, dass alle Angehörigen des Gemeinwesens gleichberechtigt sind. Gleichberechtigung ist aber auch eine Grenze, nämlich für die Herrschaft der Mehrheit. »Je mehr sie sich einbürgert und das allgemeine Bewusstsein beherrscht, umso mehr wird Demokratie gleichbedeutend mit dem höchstmöglichen Grad von Freiheit für alle.« Sie ist für Bernstein Mittel und Zweck zugleich: Mittel der Durchsetzung des Sozialismus ebenso wie die Form seiner Verwirklichung. Demokratie ist die »Substanz des Sozialismus«.
Bernstein setzte auf die Demokratie als Prozess. Die Demokratie sei die »Hochschule des Kompromisses«. Sie hebe nicht die Klassen auf, aber die Klassenherrschaft. Sie setze allen gesellschaftlichen Kräften Grenzen der Macht. In einer Erwiderung an Kautsky schreibt er: »Mit der Ausbildung der Demokratie muss der Klassenkampf allmählich andere Formen annehmen. Alle Parteien, die von der Demokratie Stimmen beanspruchen, müssen dem Allgemeininteresse ihren Tribut abstatten.« So verschwindet der Klassenantagonismus. Bernstein argumentiert bereits in Kategorien, wie sie erst viel später die Pluralismustheorie erarbeiten wird.
Das allgemeine Wahlrecht ist Bernsteins Alternative zur revolutionären Erhebung. Kein Mensch denke daran, der bürgerlichen Gesellschaft als einem »zivilistisch geordneten Gemeinwesen an den Leib zu wollen«.
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Nicht die Proletarisierung der Gesellschaft, sondern die Erhebung des Arbeiters aus der Stellung des Proletariers zu der eines Bürgers sei das Ziel der sozialistischen Politik. Folgerichtig bestimmte Bernstein den Liberalismus, der zunächst der Bourgeoisie zugute gekommen sei, als »weltgeschichtliche Bewegung«, die der Sozialismus beerbe: »Die Demokratie ist nur die politische Form des Liberalismus.« Der Sozialismus sei die Vollendung des Liberalismus.
Diktatur von Clubrednern und Literaten
Man kann die Verblüffung seiner Parteifreunde schon verstehen. Denn was Bernstein ihnen vorschlägt, ist nichts anderes als eine bürgerliche Parteiendemokratie. Mit Elementen einer direkten Demokratie hatte er nichts im Sinn. Stattdessen setzte er auf Organe der wirtschaftlichen Interessenvertretung und der Selbstverwaltung. (Bemerkenswerterweise tauchen diese Ideen in aktuellen Programmen der PDS heute wieder auf; allerdings wird der Urheber dieser Konzepte nicht genannt.)
Sozialismus war für Bernstein zunächst einmal gleichbedeutend mit einer modernen bürgerlichen Demokratie. Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die markanteste marxistische Forderung, war im Vergleich zum allgemeinen Stimmrecht zweitrangig und eine Frage von Nützlichkeitserwägungen.
Daher war Bernsteins Angriff auf die zentrale Kategorie der Marx'schen Staatstheorie, die Diktatur des Proletariats, nur folgerichtig. Er verspottete sie als »Diktatur von Clubrednern und Literaten«. An dieser »Phrase« könne man nicht mehr festhalten in einer Zeit, wo sich Vertreter der Sozialdemokratie faktisch auf den Boden der parlamentarischen Arbeit gestellt hätten. »Die ganze praktische Tätigkeit der Sozialdemokratie geht darauf hinaus, Zustände und Vorbedingungen zu schaffen, die eine von konvulsivischen Ausbrüchen freie Verfügung der modernen Gesellschaftsordnung in eine höhere ermöglichen und verbürgen sollen.« Die Klassendiktatur dagegen gehöre einer tieferen Kultur an, sie sei als Rückfall, als politischer Atavismus zu betrachten.
Bernstein verwarf die Diktatur des Proletariats, aber nicht die Forderung nach der Eroberung der politischen Macht. Alle seine Vorschläge liefen darauf hinaus, den Einfluss der Sozialdemokratie zu steigern.
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Unter Eroberung der politischen Macht verstand Bernstein jedoch etwas anderes als die meisten anderen Sozialdemokraten. Diese nämlich dachten an eine Klassenherrschaft, daran, die Bourgeoisie von der Macht auszuschließen. Von einer politischen Revolution aber war bei Bernstein nicht die Rede. Stattdessen setzte er darauf, den politischen Einfluss der Sozialdemokratie zu vergrößern.
Diesem Ziel dienten auch Bernsteins Vorschläge zur Bündnispolitik. Der auf Lassalle zurückgehenden Vorstellung, dass alle anderen Klassen eine »reaktionäre Masse« seien, setzte Bernstein ein Konzept des Bündnisses mit dem liberalen Flügel des Bürgertums entgegen. Nur so lasse sich der Sozialismus ohne Katastrophe erreichen. Für den Moment möge es richtig sein, dass in Deutschland das Bürgertum immer reaktionärer werde. Man solle jedoch nicht vergessen, dass es aus Schichten mit unterschiedlichen Interessen bestehe, die von der Sozialdemokratie nicht gleichermaßen bedroht würden. Die SPD »schwärmt in keiner Weise für eine gewalttätige Revolution gegen die gesamte nichtproletarische Welt«. Wenn man dies deutlich sage, sei es möglich, Teile des Bürgertums für den gemeinsamen Kampf zu gewinnen.
So utopisch dies klang und so heftig manche Sozialdemokraten Kompromisse mit anderen Kräften ablehnten: Bei den Reichstagswahlen zwang das Mehrheitswahlrecht die Sozialdemokraten zu einer flexiblen Stichwahltaktik. Gewählt wurde nur der Kandidat, der die absolute Stimmenmehrheit erhielt. Also mussten die Sozialdemokraten Kompromisse mit anderen Parteien eingehen, um ihre Wählerstimmen optimal in Reichstagsmandate umzusetzen. Zur Zeit des Sozialistengesetzes unterstützte die SAP nur dann Kandidaten anderer Parteien, wenn diese sich dafür aussprachen, die Ausnahmegesetze aufzuheben.
Nach dem Sturz Bismarcks und dem Ende seiner Repressalien machten die Sozialdemokraten Stichwahlabkommen davon abhängig, ob die konkurrierenden Kandidaten sich nach ihrer Wahl für eine Verbesserung der sozialen und politischen Lage der Arbeiter einsetzten. 1912 schloss die SPD-Führung sogar ein geheimes Stichwahlabkommen mit der Fortschrittlichen Volkspartei. Sie verpflichtete sich darin, ihren eigenen Wahlkampf in sechzehn Wahlkreisen zu »dämpfen«, um Kandidaten der Volkspartei zu unterstützen. Dafür gewährte die Volkspartei in anderen Wahlkreisen der SPD den Vortritt.
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Fasst man Bernsteins Haltung zur Marx'schen Staats- und Revolutionstheorie zusammen, so kann man folgende vier Punkte festhalten:
1. Bernstein hatte die Marx'sche Staats- und Revolutionstheorie nicht begriffen. Er polemisierte gegen eine Haltung, die auch in der deutschen Sozialdemokratie kaum einer einnahm. Die Gleichsetzung von Revolution mit außergesetzlicher Gewalt verfehlt die Haltung des Marxismus, der in der Revolution einen qualitativen Sprung sah: die Ablösung einer Gesellschaftsordnung durch eine andere. Wie die Revolution stattfand, hing nach Marx von den politischen Umständen ab. Engels fasste nach Marx' Tod zunehmend einen friedlichen Weg zum Sozialismus ins Auge.
2. Der Revisionismus setzte bürgerliche Demokratie und Sozialismus gleich. Man muss vermuten, dass er eine sozialistische Parlamentsmehrheit in einer bürgerlichen Parteiendemokratie als Sieg des Sozialismus auffasste. Damit ist der Sozialismus keine neue Gesellschaftsordnung mehr, sondern eine jederzeit widerrufbare Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse.
3. Hält man den revisionistischen Vorstellungen die politische Wirklichkeit des wilhelminischen Deutschlands entgegen, dann wirken manche Thesen Bernsteins illusorisch. Schon die Forderung nach einer demokratischen bürgerlichen Republik stellte eine Straftat dar. Ein parlamentarischer Weg zum Sozialismus war ein Anachronismus. Und von einem sich allmählich durchsetzenden Allgemeininteresse konnte nicht ernsthaft gesprochen werden.
4. Mit der Definition des Sozialismus als Gesellschaftsprinzip legte der Revisionismus einen bedeutenden Grundstein für die politische Reformarbeit. Dies bedeutete eine klare Alternative zum Immobilismus der Parteiführer und zu deren Vertrauen auf das Mahlwerk der historischen Gesetze. In dem Maß, wie das Endziel ad acta gelegt wurde, öffneten sich den Sozialdemokraten neue Möglichkeiten, die soziale und politische Lage der Arbeiter zu verbessern.
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Die wirtschaftliche Demokratie
Das zweite Standbein der revisionistischen Auffassung vom Weg zum Sozialismus kann man »wirtschaftliche Demokratie« nennen. Im Mittelpunkt stehen hier aber nicht die Gewerkschaften, die im kaiserlichen Deutschland kaum weniger Repressalien ausgesetzt waren als die Partei. Vielmehr geht es Bernstein zuerst um die Genossenschaften sowie um das, was er als »Kollektivismus« bezeichnet. Der Marxismus hatte die Genossenschaften zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich, letztlich aber doch mit Skepsis beurteilt. Bernstein führt dies zurück auf zwei Gründe: Zum einen fehle es bei Marx an einer tiefer greifenden Kritik des Genossenschaftswesens, zum anderen seien die Produktivgenossenschaften, denen Marx zeitweilig Wert beigemessen habe, in der Praxis gescheitert, und die Konsumvereine erschienen als bloße Kramläden. »Hier stand seiner großen Kraft der Analyse die schon ausgebildete Doktrin oder, wenn ich mich so ausdrücken darf, die Formel der Expropriation im Wege.«
In der Tat hatte Marx Lassalles Forderung, der Staat möge Produktionsgenossenschaften fördern, als illusorisch zurückgewiesen. Dass Bismarck und der Kaiser den Sozialismus voranbringen könnten, war in der Tat eine abstruse Idee. Und doch hatte Lassalle zum Ärger vieler Sozialisten mit niemand anderem als dem »Eisernen Kanzler« im Zwiegespräch darüber debattiert. Marx kommentierte in seiner Kritik des Gothaer Programms bissig: »Statt aus dem revolutionären Umwandlungsprozesse der Gesellschaft >entsteht< die >sozialistische Organisation der Gesamtarbeit< aus der >Staatshilfe<, die der Staat Produktivgenossenschaften gibt, die er, nicht der Arbeiter >ins Leben ruft<. Es ist dies würdig der Einbildung Lassalles, dass man mit Staatsanlehn ebenso gut eine neue Gesellschaft bauen kann wie eine neue Eisenbahn!«
Im Gegensatz zu Marx glaubte Bernstein, dass das Genossenschaftswesen die Grundlage abgeben könne für ein friedliches Hineinwachsen in den Sozialismus. Die Propagierung des Genossenschaftswesens wurde zu einem Eckpfeiler des Revisionismus, in dem der Sozialismus begriffen wurde als die Durchsetzung der Genossenschaftlichkeit. Die SPD dagegen lehnte die Genossenschaften zwar nicht ab, sah aber in ihnen kein Mittel des Kampfes für den Sozialismus.
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Und Bernstein widersprach Marx noch in einem weiteren Punkt. Dieser hatte in den Produktionsgenossenschaften immerhin den Beweis dafür entdeckt, dass es schon im Kapitalismus des Kapitalisten nicht bedurfte, um die Arbeit zu leiten. Bernstein dagegen hielt ausgerechnet die Produktivgenossenschaften für die »allerunglücklichste Form genossenschaftlicher Arbeit«. Mit einer Produktivgenossenschaft, die irgendeinen Zweig der Produktion oder des öffentlichen Dienstes auf eigene Rechnung betreibe, habe die Gesellschaft die gleichen Differenzpunkte wie mit einem kapitalistischen Unternehmen. Produktivgenossenschaften hätten wie diese ein Sonderinteresse an einer hohen Profitrate. Es habe sich gezeigt, »dass die Voraussetzung, die moderne Fabrik erzeuge durch sich selbst eine größere Disposition für die genossenschaftliche Arbeit, als ganz irrig zu betrachten [sei]«. Wenn die technologische Entwicklung der Fabrik auch die »Körper« für die kollektivistische Produktion geliefert habe, so habe sie »die Seelen keineswegs in gleichem Maße dem genossenschaftlichen Betrieb nähergeführt«. Die Produktivgenossenschaften seien gescheitert am Mangel an Disziplin, Risiko- und Verantwortungsbereitschaft.
Umgekehrt betrachtete Bernstein die Konsumvereine als ökonomische Potenz, als leistungs- und entwicklungsfähigen Organismus. Sie seien für die Arbeiterklasse eine Handhabe, einen erheblichen Teil des gesellschaftlichen Reichtums, »der sonst dazu dienen würde, die Klasse der Besitzenden zu vermehren und dadurch auch zu stärken, für sich zu beschlagnahmen«.
Eine ruhige Entwicklung
Das Gedankengebäude ist in sich stimmig: Die Kritik der Werttheorie führte zur Schlussfolgerung, dass die Marx'sche These, die Arbeiter würden als Produzenten und nicht als Konsumenten ausgebeutet, nur bedingt galt. In dem Maß, wie das Ausbeutungsverhältnis von der Produktion in die Konsumtion verlagert wurde, gewannen die Konsumgenossenschaften an Bedeutung. Von daher rührte das Gewicht der Konsumgenossenschaften im revisionistischen Weltbild. Bernstein gelangte in seiner Auseinandersetzung mit Marx zur Überzeugung, mittels der Genossenschaften die Ausbeutung Schritt für Schritt einschränken und im demokratischen Prozess überwinden zu können. Aus diesem Grund setzte er in die Entwicklung des Genossenschaftswesens mehr Hoffnungen als in den gewerkschaftlichen Kampf.
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Hier fand er auch einen weiteren Grund, Revolutionen abzulehnen. Erfolg haben könne das Genossenschaftswesen nämlich nur, wenn seine ruhige Entwicklung gewährleistet sei. Er glaubte nicht, dass ein »Zeitpunkt, wo alle Gemüter erhitzt, alle Leidenschaften gespannt sind, wie in einer Revolution, der Lösung dieses Problems, das sich schon in gewöhnlichen Zeiten für so schwer erweist, irgendwie förderlich sein kann. Nach menschlichem Ermessen muss gerade das Gegenteil der Fall sein.« Hier tritt aber einmal mehr Bernsteins eher emotionale und moralische denn analytische Haltung zutage. Der Sozialismus verlangte eine »ruhige Entwicklung« — die Frage war aber, ob das allein von der Sozialdemokratie abhing.
Dass Bernstein das Gewicht auf die Konsumgenossenschaften legte, widerspiegelte auch die Wirklichkeit. Es gab nur wenige Produktionsgenossenschaften, und wenn, dann gehörten sie zu Konsumvereinen. Es liegt auf der Hand, dass es den Arbeitern nicht möglich war, konkurrenzfähige Produktionsanlagen zu errichten und zu verwalten. Es fehlte vor allem an Kapital.
Gegen Ende des Jahrhunderts gab es sechs größere sozialdemokratisch dominierte Konsumvereine, die im Verband »Vorwärts« zusammengeschlossen waren. Sie zählten 80.000 Mitglieder und hatten 1200 Beschäftigte. 1903 wurde der Zentralverband deutscher Konsumvereine gegründet mit 573.000 Mitgliedern und 7000 Beschäftigten. 1914 zählte der Verband l ,7 Millionen Mitglieder und mehr als 30.000 Beschäftigte. Die Genossenschaften konnten günstig einkaufen und ihren Mitglieder bessere Preise bieten als konventionelle Geschäfte. Nicht ohne Grund waren die bürgerlichen Kaufleute nicht gut zu sprechen auf die Genossenschaften, verloren sie doch in manchen Regionen viele Kunden an die Konsumvereine.
Auf ihrem Berliner Parteitag 1892 beschloss die SPD, dass sie den Aufbau von Genossenschaften begrüße, »wo sie die soziale Existenzermöglichung von im politischen oder im gewerkschaftlichen Kampf gemaßregelten Genossen bezwecken oder wo sie dazu dienen sollen, die Agitation zu erleichtern, sie von allen äußeren Einflüssen der Gegner zu befreien«.
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Sonst sollten die Sozialdemokraten der Gründung von Genossenschaften entgegentreten und vor allem den Glauben bekämpfen, »dass Genossenschaften imstande seien, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu beeinflussen, die Klassenlage der Arbeiter zu heben, den politischen und gewerkschaftlichen Klassenkampf der Arbeiter zu beseitigen oder auch nur zu mildern«.
Auch Bernstein erkannte Grenzen des Genossenschaftswesens, aber an anderer Stelle als seine Genossen. Waren diese der Überzeugung, dass Konsumvereine nichts änderten an den kapitalistischen Eigentums- und Ausbeutungsverhältnissen, so sah Bernstein ihre Entwicklung durch den »Kollektivismus« eingeschränkt. Kollektivismus nannte er die Ausdehnung des öffentlichen Sektors. Dazu gehörte vor allem die Umwandlung von privaten in öffentliche Unternehmen.
Wie Marx glaubte Bernstein, dass sich die Produktion immer weiter vergesellschafte. Im Unterschied zu Marx aber umfasste der Kollektivismus in Bernsteins Sinn nicht nur die Vergesellschaftung der Produktion, sondern auch des Eigentums. Marx und Engels dagegen hatten den Grundwiderspruch des Kapitalismus als den Gegensatz zwischen der zunehmenden Vergesellschaftung der Produktion und der privatkapitalistischen Aneignungsweise bestimmt. Nach ihrer Theorie verschärfte sich dieser Widerspruch in dem Maß, in dem die Produktion vergesellschaftet wurde. Nach Bernstein milderten sich die sozialen Widersprüche mit dem Kollektivismus. So zogen die gegensätzliche Lager gegensätzliche Schlüsse aus einer von beiden anerkannten Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise.
Die Vergesellschaftung der kapitalistischen Produktion zeigte sich nach Marx und nach Bernstein in verschiedenen Entwicklungen, so in der fortschreitenden Arbeitsteilung, der Zunahme der Produktionszweige, der Herausbildung eines gesellschaftlichen Produktionsprozesses, der Konzentration der Arbeiter in Großbetrieben und im Entstehen nationaler Märkte. Der Kapitalismus hob die Zersplitterung der Produktion auf und schuf einen gesamtgesellschaftlichen Produktionsprozess.
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Ein gewerkschaftliches Reformprogramm
Wie konnte nun das Allgemeininteresse geltend gemacht werden angesichts der zunehmenden Differenzierung von Produktion und Distribution?
Anhand dieser Frage rundete Bernstein seine staatstheoretischen Überlegungen ab: Der Staat hat die Aufgabe, das Allgemeininteresse zu vertreten. Da die Weiterentwicklung der Produktion nicht in der Rücknahme ihrer Differenzierung bestehen kann, »sondern nur in neuer Zusammenfassung auf Grundlage der ausgebildeten Differenzierung (...), so kann der Verwaltungskörper der Gesellschaft in der absehbaren Zukunft sich vom gegenwärtigen Staate nur dem Grade nach unterscheiden«. Ebenso wenig würde eine sozialistische Umwälzung den Staat in eine Versorgungsanstalt umwandeln; am Prinzip der wirtschaftlichen Selbstverantwortung der Werktätigen — einem dem Liberalismus entnommenen Prinzip — wollte Bernstein festhalten. Die staatliche Struktur aber sollte so verändert werden, dass lokale und regionale Selbstverwaltungskörper die Produktionsbetriebe allmählich unter Kontrolle bringen konnten. Ein Zentralstaat würde dieser Aufgabe hilflos gegenüberstehen. Er habe künftig die Aufgabe, die diversen Selbstverwaltungskörperschaften zu koordinieren.
Sozialismus war für Bernstein vor allem die Kontrolle der wirtschaftlichen Verhältnisse durch die Gesellschaft. Dabei war es keineswegs erforderlich. Privatunternehmen in Staatseigentum zu überführen. In einem guten Fabrikgesetz könne mehr Sozialismus stecken als in der Verstaatlichung von Unternehmen, erklärte Bernstein.
Wie sollte der Vergesellschaftungsprozess aussehen, den die Sozialdemokratie voranzutreiben hätte? Bernstein forderte, alle gesetzlichen Hindernisse aufzuheben, die der Organisation der Produzenten in Verbänden, vor allem Gewerkschaften und Genossenschaften, entgegenstanden. Allerdings wollte er auch verhindern, dass Verbände eine Monopolstellung erlangten. Diese Verbände sollten bevollmächtigt sein, die Industrie zu kontrollieren. So sollten künftig Lohndrückereien und Unternehmerwillkür vermieden werden. Auch solle niemand durch Not gezwungen werden, unter unwürdigen Bedingungen zu arbeiten. Wenn diese Bedingungen erfüllt seien, sei es gleichgültig, ob noch private Betriebe existierten. Diese würden mit der Zeit ganz von selbst genossenschaftlichen Charakter annehmen.
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Es handelte sich um ein gewerkschaftliches Reformprogramm. Im Vertrauen auf die objektive Entwicklung — private Betriebe würden früher oder später von selbst genossenschaftlichen Charakter annehmen — überließ es den Sozialismus einer unbestimmten Zukunft. Aber darin unterschied es sich nicht von der Revolutionserwartung vieler Sozialdemokraten. Denn wo stand denn, dass man eine Revolution herbeiführen wolle?
Während aber die Verheißung des großen Kladderadatsch die Partei von der Reformarbeit abhielt, verlangte Bernstein, dass sich die Sozialdemokratie einließ auf die veränderbaren Spielregeln der bürgerlichen Gesellschaft, selbst in deren wilhelminischer Ausprägung. Allerdings beantworteten weder Bernstein noch seine Kontrahenten die Frage, wie der vermeintlich objektiven Entwicklung zum Sozialismus in einer parlamentarisch verbrämten Diktatur zum Durchbruch verholten werden könnte. Jeder musste wissen, dass das Regime der Hohenzollern und der Ostelbier nur durch eine Revolution zu stürzen war. Alles andere waren rosarote Illusionen. Als dann aber 1918 die Revolution gegen den Willen der Sozialdemokraten ausbrach, wandelte die Partei auf Bernsteins Wegen, ohne ihn als Propheten anzuerkennen. Längst dachten die meisten Genossen wie Bernstein, wenn sie es auch nach wie vor vermieden, offiziell dem Marxismus abzuschwören.
Als die Genossen 1918/19 die Macht dazu hatten, propagierten sie lauthals die Notwendigkeit der Sozialisierung. Aber es geschah nichts, und dies vor allem, weil der Führung der Sozialdemokraten nicht nur das Konzept, sondern auch der Wille dazu fehlte. Der Ruf nach der Vergesellschaftung der Produktionsmittel war längst zur Phrase erstarrt, die aber weiter beschworen wurde, um der Konkurrenz von links etwas authentisch Sozialistisches entgegenzusetzen. Die SPD hatte an ihrem Parteiprogramm festgehalten wie an einer Bibel. Als sie es hätte verwirklichen können, scheiterte sie. Denn das Programm taugte ohne Konzept zur Umsetzung genauso wenig wie die Bibel als Programm vatikanischer Geschäftstüchtigkeit.
Bei den Vorstellungen des Revisionismus über den ökonomischen Weg zum Sozialismus sind mindestens fünf Punkte beachtenswert:
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1. Bernstein betrachtete die Entwicklung zum Sozialismus als einen relativ gleichförmigen, objektiven Prozess, der im Kapitalismus selbst begründet war. Hinsichtlich der Gleichförmigkeit widerspricht er Marx, im Hinblick auf die Objektivität der Entwicklung zeigt sich Bernstein dagegen als Materialist, wenn auch nicht als dialektischer.
2. Die Aufhebung des Privateigentums, eine zentrale Kategorie des Marxismus und des Sozialismusverständnisses der Sozialdemokratie, verwandelte sich bei Bernstein in eine zweitrangige Frage.
3. Objektive Entwicklung sollte auf keinen Fall heißen, die Hände in den Schoß zu legen. Bernsteins Vorschläge sollten den Weg zum Sozialismus beschleunigen. Auch wenn Bernstein ganz in sozialdemokratischer Tradition auf die Gesetzmäßigkeit der Entwicklung zum Sozialismus verweist, macht er ihn in Wahrheit abhängig vom praktischen Handeln der Arbeiter und der Partei. Darin unterscheidet er sich vom offiziellen Marxismus der SPD, der sich revolutionär gab, aber ganz den »Gesetzen der Geschichte« vertraute. Insofern war dieser Marxismus unbeweglich und Bernsteins Revisionismus handlungsanleitend.
4. Bernstein hielt es für möglich, sozialistisches Eigentum bereits im Kapitalismus herauszubilden — eine Analogie zur bürgerlichen Revolution —, wobei er aber das bei Marx angelegte planwirtschaftliche Element im Sozialismus ignorierte. Der Revisionismus ging davon aus, dass das Genossenschaftswesen und der Kollektivismus das Privateigentum quasi niederkonkurrierten bzw. die Kapitalisten durch die Entwicklung überzeugt würden, dass das Privateigentum nicht mehr haltbar sei.
5. Erstaunlich an diesen Konzepten ist vor allem, dass die Möglichkeit des Widerstands durch Kapitaleigentümer und Großgrundbesitzer nicht bedacht wurde. Der sonst so realitätsbezogene Revisionismus erwies sich im Hinblick auf die Verwirklichungsbedingungen als utopisch. Wer dies bestreitet, behauptet implizit, Bernstein habe bei seinen Reformideen entweder die Gutwilligkeit des zu entmachtenden Gegners oder eine Revolution stillschweigend vorausgesetzt.
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Karl Kautsky und die Revolution
Zu Recht widersprach »SPD-Cheftheoretiker« Kautsky Bernsteins merkwürdigen Vorstellungen von den marxistischen Revolutionserwartungen: »Wann und wo Marxisten eine politische oder soziale Katastrophe erwarteten, war das nicht eine notwendige Folge ihrer Theorie, sondern eine Folgerung aus bestimmten politischen und sozialen Situationen.«
An Bernsteins Auffassung bemängelte er in erster Linie die Festlegung auf einen evolutionären Weg zum Sozialismus. Als Möglichkeit ausschließen aber wollte auch Kautsky ihn nicht. Das ist erstaunlich, denn begreift man Revolution als grundlegende politische und gesellschaftliche Umgestaltung, dann konnte es nach Marx einen evolutionären Weg zum Sozialismus nicht geben, wohl aber einen friedlichen. Wie die meisten seiner Zeitgenossen hatte auch der marxistisch gebildete Kautsky die Dialektik nicht verstanden und damit auch die Methodik der Marx'schen Analyse.
Marx und Engels haben zeitlebens einen nichtrevolutionären Weg zum Sozialismus ausgeschlossen und in dieser Hinsicht immer wieder auf die Gesetze der Dialektik verwiesen. Kautsky verteidigte also nicht Marx, als er Bernsteins Revisionismus angriff, sondern die von der Dialektik befreite, vulgarisierte, mechanisch-materialistische Variante, die als Heilslehre die Sozialdemokratie umwehte. Kautsky bestimmte die SPD als eine »prinzipiell revolutionäre« Partei in dem Sinn, »dass sie sich dessen bewusst ist, sie könne, wenn im Besitz der politischen Macht, diese gar nicht anders anwenden als zur Überwindung jener Produktionsweise, auf der die heutige Gesellschaft beruht«.
Mit Fug und Recht konnte Kautsky gegen Bernsteins Revolutionsauffassung polemisieren:
»Seit Lassalle bemüht sich die Sozialdemokratie, den Unterschied zwischen der Revolution mit Heugabel und Dreschflegel und der sozialen Revolution klarzumachen. (...) Wir durften uns schmeicheln, diese Auffassung sogar den Staatsanwälten näher gebracht zu haben — und heute tritt einer unserer ältesten und hervorragendsten Wortführer auf und setzt die ökonomische Revolution dem Aufstand gleich. (...) Es ist klar, dass das Proletariat als selbständige politische Partei nicht im Polizeisinn revolutionär sein muss, sondern im Sinne der Politischen Ökonomie.«
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Eine Richtung, welche die alte Gesellschaftsordnung durch eine neue ersetzen wolle, bezeichne ihr Ziel nicht durch das Wort »soziale Umgestaltung«, sondern durch das Wort »soziale Revolution«. Soziale Revolution und politischer Aufstand aber seien zwei verschiedene Dinge, die Revolution sei das Ziel, der Aufstand das Mittel. Die »außergesetzliche Gewaltanwendung« könne eine wichtige Episode des Aufstands sein, »aber er ist nie die Revolution selbst«. Die reformistische und die revolutionäre Richtung in der Arbeiterbewegung wollten im Augenblick zwar eigentlich das gleiche, »aber es hat sich gezeigt, dass die Frage des Endziels unserer Politik: ob Revolution oder Beschränkung auf die Reform, aufs engste verknüpft ist mit der Organisation und Propaganda des Proletariats als politische Partei in der Gegenwart.«.
Das sind einmal mehr abstrakte Phrasen, scholastische Erörterungen ohne Bezug zur praktischen Politik der Partei. Zu den konkreten Vorschlägen des Revisionismus fiel Kautsky nicht mehr ein, als die offizielle Lehre wiederzukäuen. Er tat sich damit selbst keinen Gefallen, denn abstrakte Argumente mit geringem Wirklichkeitsinhalt erreichen die Köpfe nicht. Auch weil der »offizielle Marxismus« keine konkreten Antworten hatte auf die vor aller Augen stattfindenden neuen Entwicklungen — wie die Zunahme von Genossenschaften und Gewerkschaften oder der Kartelle —, gewann der Revisionismus/Reformismus die Köpfe. Trotz aller dröhnenden Verurteilung durch Parteigrößen und Parteitage. Es ist eben wenig überzeugend, alle Entwicklung lediglich als Bestätigung der ehernen Lehre zu interpretieren.
»Die Praxis ist das Kriterium der Wahrheit«, riet Engels seinen deutschen Genossen, aber die meisten glaubten, die Wahrheit gepachtet zu haben, und missbilligten die Entwicklungen in der Realität. Kautsky begab sich nicht hinab in die Gefilde der politischen Mühen, er hatte seine Rolle als erster Exeget der Lehren der Meister gefunden und beurteilte das politische Handeln seiner Genossen danach, ob es der Lehre entsprach oder nicht. Im ersten Fall gab es Lob, im zweiten Tadel. Die solcherart vollzogene Trennung der Theorie von der Praxis verwandelte die Theorie in ein System von Dogmen und die Praxis in orientierungsloses Handeln oder »Kompromisseln« (Rosa Luxemburg) mit der parteipolitischen Konkurrenz.
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Aber was sollte man sich groß Gedanken machen? Alle Streiterei über die wahre Theorie und praktische Politik würde eines nicht allzu fernen Tages sowieso alle Bedeutung verlieren. Dann nämlich, wenn die historischen und ökonomischen Gesetze den Sozialismus mit eherner Kraft auf die Tagesordnung der Geschichte setzen würden. Und daran glaubte sogar Eduard Bernstein.
Die proletarische Demokratie
Auch Kautskys Kritik des Bernstein'schen Demokratiebegriffs blieb abstrakt. Für Kautsky bedeutete Demokratie nicht die Aufhebung der Klassen, denn unabhängig vom politischen System blieben bei unveränderter Gesellschaftsordnung die ökonomischen Verhältnisse und die Klassenbeziehungen die gleichen. Wohl aber sei die Demokratie die Vorbedingung der Aufhebung der Klassenherrschaft, »weil sie die einzige Form bildet, in der das Proletariat zur Klassenherrschaft kommen kann«. Das Proletariat müsse die Demokratie nutzen, um die Klassenherrschaft aufzuheben. »Ohne Klassenherrschaft des Proletariats keine Aufhebung der Klassen.« Eine fortschrittliche Demokratie war nach Kautsky nur denkbar als »proletarische Demokratie«. Aber die Klassenherrschaft des Proletariats musste nicht notwendigerweise die Form einer Klassendiktatur annehmen.
Mochte sich Kautsky in Sachen Revolution noch zu Recht darauf berufen, die SPD habe selbst Staatsanwälten beigebracht, dass eine Revolution etwas anderes sei, als der deutsche Spießbürger befürchte. Bei seinen Ausführungen über Demokratie und Klassenherrschaft aber könnte der Gedanke an die Justiz durchaus eine Rolle gespielt haben, wenn auch auf mittelbarem Weg. Jedenfalls war, was Kautsky als Marxismus vertrat, alles andere als marxistisch. Die »Diktatur des Proletariats« ist eine zentrale Kategorie im Gesamtwerk von Marx und Engels. Sie meint genauso wenig wie »Revolution« Dreschflegel und Guillotine, sondern vielmehr eine auf das Proletariat begrenzte Demokratie und die Unterdrückung der Bourgeoisie.
Bei aller Polemik gegen Bernstein ist Kautsky in der Staatsfrage genauso Revisionist wie Bernstein. Die Konzentration der Partei auf den Kampf für das allgemeine Wahlrecht und die demokratische Republik (auch wenn das letztgenannte Ziel aus strafrechtlichen Gründen gerne umschrieben wurde) hatte ihre theoretische Entsprechung in der Entleerung des Marx'schen Staatsbegriffs.
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Engels hatte den bürgerlichen Staat als geschäftsführendes Organ der Bourgeoisie bestimmt, und Marx hatte in seiner Analyse der Pariser Kommune die Idee von der Diktatur des Proletariats als der Staatsform der in der Revolution siegreichen Arbeiterklasse herausgearbeitet. Auch wenn viele sozialdemokratische Marx-Interpreten sich mühten, Äußerungen der großen Meister auszugraben, welche die sozialdemokratische Politik der klassenunspezifischen Demokratie stützten, handelte es sich hierbei durchweg um Fehlauslegungen oder um Texte, die mit oder gegen den Willen ihrer Urheber redigiert worden waren. Ob Engels' Einleitung zu Marx' Klassenkämpfen in Frankreich, ob die Kritik des Gothaer Programms, um nur die bekanntesten Texte in diesem Zusammenhang zu nennen: Bebel, Liebknecht und Genossen entschärften aus Furcht vor Wilhelms Staatsanwälten Passagen, um diese Texte dann später als Beweise dafür anzuführen, dass Marx und Engels es doch nicht so revolutionär gemeint hätten. Insofern trug die kaiserliche Justiz einiges bei zur sozialdemokratischen Theoriebildung. Auch Bernstein, der an der Quelle saß und die Originaltexte und den Streit um deren Änderungen kannte, verwechselte schließlich die zum Teil verstümmelten veröffentlichten Versionen mit den Intentionen ihrer Autoren.
»Die Kommune machte das Stichwort aller Bourgeoisrevolutionen — wohlfeile Regierung — zur Wahrheit, indem sie die beiden größten Ausgabequellen, die Armee und das Beamtentum, aufhob. Ihr bloßes Bestehn setzte das Nichtbestehn der Monarchie voraus, die, wenigstens in Europa, der regelrechte Ballast und der unentbehrliche Deckmantel der Klassenherrschaft ist. Sie verschaffte der Republik die Grundlage wirklich demokratischer Einrichtungen. Aber weder <wohlfeile Regierung> noch die <wahre Republik> war ihr Endziel; beide ergaben sich nebenbei und von selbst.
Die Mannigfaltigkeit der Deutungen, denen die Kommune unterlag, und die Mannigfaltigkeit der Interessen, die sich in ihr ausgedrückt fanden, beweisen, dass sie eine durch und durch ausdehnungsfähige politische Form war, während alle früheren Regierungsformen wesentlich unterdrückend gewesen waren.
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Ihr wahres Geheimnis war dies: Sie war wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse, das Resultat des Kampfs der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte.
Ohne diese letzte Bedingung war die Kommunalverfassung eine Unmöglichkeit und eine Täuschung. Die politische Herrschaft des Produzenten kann nicht bestehn neben der Verewigung seiner gesellschaftlichen Knechtschaft. Die Kommune sollte daher als Hebel dienen, um die ökonomischen Grundlagen umzustürzen, auf denen der Bestand der Klassen und damit der Klassenherrschaft ruht. Einmal die Arbeit emanzipiert, so wird jeder Mensch ein Arbeiter, und produktive Arbeit hört auf, eine Klasseneigenschaft zu sein.«
Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, 1871
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Bei Kautsky kam die Marx-Interpretation in Sachen Revolution und Staat einer Sinnentlehrung gleich. Er wollte sich nicht festlegen: »Die Entscheidung über das Problem der proletarischen Diktatur können wir wohl ganz ruhig der Zukunft überlassen. Auch da brauchen wir uns nicht die Hände zu binden.«
Klassenpartei und Reformarbeit
Durch das Aufkommen der Sozialdemokratie seien die bürgerlichdemokratischen Parteien gezwungen, für Sozialreformen einzutreten, erklärte Kautsky. Auf diese Weise wirke die Sozialdemokratie schon lange, bevor sie an die Macht gekommen sei. Ihre Angriffskraft würde jedoch erlahmen, wenn die SPD nicht die »reine Klassenpartei des Proletariats« bleibe. Deshalb musste Kautsky Bernsteins Äußerungen über das Verhältnis von Liberalismus und Sozialismus und dessen Forderung nach einer aktiven Bündnispolitik mit anderen Parteien als gefährlich erachten. Kautsky betrachtete dies als den Versuch, die Sozialdemokratie in eine Partei der demokratischen Sammlung umzuwandeln. Damit aber würde sich auch das Endziel des politischen Handelns verändern. Jede politische Partei müsse sich die Aufgabe stellen, die politische Macht zu erobern.
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»Eine Partei, die von vornherein erklärte, sie könne nur in der Opposition sich ersprießlich betätigen, sie strebe nur nach Macht, nicht aber nach der Macht, würde sich selbst lahm legen und alles Vertrauen der Volksmassen verlieren. In diesem Sinne muss also jede Partei ein >Endziel< haben, nicht als Abschluss der sozialen Entwicklung: diese hat kein Ende und kein Endziel, sondern als Endzweck ihres praktischen Wirkens.« Die SPD könne sich daher nicht auf demokratisch-sozialistische Reformen beschränken, »sie muss eine Partei der sozialen Revolution werden«.
Die Reformarbeit galt Kautsky und vielen anderen Sozialdemokraten wenig, schließlich war die sozialistische Revolution unvermeidlich und nahe. Um die Lehre und die Politik nicht reformistisch zu verwässern, war auch die Bündnispolitik verpönt. Sie war nur zulässig, wenn das Wahlrecht sie erzwang, dann aber befristet und mit strengen Auflagen. Die Sozialdemokraten hielten es nicht für nötig, strategische Ziele mit fremder Hilfe anzusteuern. Was aber hätte dagegen gesprochen, eine Zusammenarbeit mit bürgerlichen Politikern zu suchen, um endlich eine Wahlrechtsreform durchzusetzen? Der Ausgrenzung durch das wilhelminische Deutschland begegnete die Partei mit der Arroganz des Siegers der Geschichte. Die Sozialdemokraten unterschätzten sträflich das demokratische Potential bei anderen Parteien, vor allem bei den Freisinnigen und beim Zentrum. Genauso ignorierten sie die Notwendigkeit, Anhänger auf dem Land zu gewinnen. Zu sporadisch waren die Versuche sozialdemokratischer Propaganda in Dörfern und Gütern. Dabei saß etwa in Preußen in Gestalt der »ostelbischen Junker« die gesellschaftliche und politische Kraft, die am stärksten demokratische Fortschritte behinderte. Gewiss, die bürgerlichen Demokraten in Deutschland waren nicht vergleichbar mit ihren radikaleren Gesinnungsbrüdern in Frankreich. Aber das mochte auch daran liegen, dass die Sozialdemokraten als stärkste Partei der Demokratie sie als reaktionär einstuften.
Die SPD hätte bei Bündnissen nicht verlieren müssen. Wenn sie sich mit anderen Kräften in einem oder zwei Punkten auf eine Zusammenarbeit verständigt hätte, hätte dies keineswegs bedeutet, vom Programm Abstriche zu machen. Es hätte die Partei aber aktivieren können, und sie hätte sich womöglich Positionen erkämpft, die es ihr erleichtert hätten, auch andere Programmpunkte durchzusetzen.
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Erst im Weltkrieg und nach Abspaltung der USPD schlossen die Sozialdemokraten Übereinkünfte mit dem Zentrum und der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), die dann in der »Weimarer Koalition« mündeten, der »Arbeitsgemeinschaft zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft«. Aber die Unterschätzung der politischen Arbeit auf dem Land blieb.
Das gilt übrigens genauso für die feindlichen Brüder, die kommunistischen Partei, die sich zum Jahreswechsel 1918/19 gründete und sich auf das Proletariat fixierte. Wohl gab es immer wieder Ermahnungen, so etwa aus Moskau von der Kommunistischen Internationale, aber außer kurzfristigen Stippvisiten und ein paar pathetischen Erklärungen kam dabei nichts heraus. Der »Arbeiter-und-Bauern-Staat« DDR konnte sich keineswegs auf eine Tradition der politischen Arbeit auf dem Land stützen, weder vom kommunistischen noch vom sozialdemokratischen Teil der SED her.
»Eine sieghafte Taktik«
Aber zurück zum Streit über Bernsteins Thesen. Kautsky erwies sich als der Typ des Beamtenrevolutionärs, über den sich später der Linkssozialist Karl Radek mit einigem Recht lustig machen sollte. Der Genossenschaftsbewegung und Bernsteins Interpretationen widmete Kautsky kaum ein Wort. Stattdessen verwies er einmal mehr auf die ökonomische Entwicklung, die »das Proletariat in den Klassenkampf gegen die Kapitalistenklasse treibt«, die das Proletariat an Kraft, Zahl, Geschlossenheit und Intelligenz wachsen lasse und die die ökonomische Bedeutung der Arbeiterklasse steigere, und somit »seine Organisation als politische Partei sowie deren Sieg unvermeidlich macht«.
Durch die Konzentration des Kapitals würde die Einführung der sozialistischen Produktionsweise zur historischen Aufgabe. Sie schaffe die Kräfte und Mittel zu ihrer Lösung, bringe aber nicht ohne weiteres die Lösung der Aufgaben. »Diese kann nur aus dem Bewusstsein, dem Willen, dem Kampfe des Proletariats entspringen.«
Zweierlei Maßnahmen eines proletarischen Regimes sollten die historische Aufgabe lösen: die Vergesellschaftung der kapitalistischen Monopole und die Beseitigung der Arbeitslosigkeit, die Aufhebung der »industriellen Reservearmee«.
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Karl Kautsky und andere führende Sozialdemokraten versäumten es, die an realen Entwicklungen ansetzende revisionistische Herausforderung zu nutzen, um die eigenen Anschauungen weiterzuentwickeln oder doch wenigstens zu präzisieren. Die oft phrasenhaften Abstraktheiten bestätigen, dass es eine entwickelte Strategie und Taktik der SPD, eine organische Verbindung zwischen Reform und Revolution nicht gegeben hat. Dafür sprechen auch diverse Parteitage der SPD, die sich damit begnügten, die »sieghafte und bewährte Taktik« zu bestätigen. Als würde sich der Kapitalismus nicht unaufhörlich weiterentwickeln und die Arbeiterbewegung nicht immer wieder vor neue Aufgaben stellen.
»Der Parteitag verurteilt auf das entschiedenste die revisionistischen Bestrebungen, unsere bisherige bewährte und sieggekrönte, auf dem Klassenkampf beruhende Taktik in dem Sinne zu ändern, dass an Stelle der Eroberung der politischen Macht durch Überwindung unserer Gegner eine Politik des Entgegenkommens an die bestehende Ordnung der Dinge tritt. Die Folge einer derartigen revisionistischen Taktik wäre, dass aus einer Partei, die auf die möglichst rasche Umwandlung der bestehenden bürgerlichen in die sozialistische Gesellschaftsordnung hinarbeitet, also im besten Sinne des Wortes revolutionär ist, eine Partei tritt, die sich mit der Reformierung der bürgerlichen Gesellschaft begnügt.
Daher ist der Parteitag im Gegensatz zu den in der Partei vorhandenen revisionistischen Bestrebungen der Überzeugung, dass die Klassengegensätze sich nicht abschwächen, sondern stetig verschärfen, und erklärt,
dass die Partei die Verantwortlichkeit ablehnt für die auf der kapitalistischen Produktionsweise beruhenden politischen und wirtschaftlichen Zustände und dass sie deshalb jede Bewilligung von Mitteln verweigert, welche geeignet sind, die herrschende Klasse an der Regierung zu erhalten;
dass die Sozialdemokratie, gemäß der Resolution Kautsky des internationalen Sozialistenkongresses zu Paris im Jahre 1900, einen Anteil an der Regierungsgewalt innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft nicht erstreben kann. Der Parteitag verurteilt ferner jedes Bestreben, die vorhandenen, stets wachsenden Klassengegensätze zu vertuschen, um eine Anlehnung an bürgerliche Parteien zu erleichtern.
Der Parteitag erwartet, dass die Fraktion die größere Macht, die sie durch die vermehrte Zahl ihrer Mitglieder wie durch die gewaltige Zunahme der hinter ihr stehenden Wählermassen erlangt, nach wie vor zur Aufklärung über das Ziel der Sozialdemokratie verwendet und entsprechend den Grundsätzen unseres Programms dazu benutzt, die Interessen der Arbeiterklasse, die Erweiterung und Sicherung der politischen Freiheit und der gleichen Rechte für alle aufs kraftvollste und nachdrücklichste wahrzunehmen und den Kampf wider Militarismus und Marinismus, wider Kolonial- und Weltmachtspolitik, wider Unrecht, Unterdrückung und Ausbeutung in jeglicher Gestalt noch energischer zu führen, als es ihr bisher möglich gewesen ist, >und für den Ausbau der Sozialgesetzgebung und die Erfüllung der politischen und kulturellen Aufgaben der Arbeiterklasse energisch zu wirkem.«
Resolution des Dresdener SPD-Parteitags, 1903
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Reform oder Revolution? Reform und Revolution!
Allein Rosa Luxemburg gelang es, den revisionistischen Angriff nicht nur abzuwehren, sondern auch den orthodoxen Marxismus à la Kautsky zumindest in Teilen zu überwinden. Von ihr stammen die wichtigsten strategischen und taktischen Überlegungen in der Debatte. Sie hatte verstanden, um was es Eduard Bernstein ging, nämlich um eine Strategie und eine Taktik der Partei, die in die ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklungen eingebettet waren.
Bernstein als Antidialektiker fand auf die Herausforderung der Wirklichkeit eine evolutionäre Antwort. Eines seiner großen Verdienste bestand darin, die Schwäche des sozialdemokratischen Immobilismus, die Hohlheit des revolutionären Pathos der Parteiführung und ihres Cheftheoretikers enthüllt zu haben. Luxemburg nun dachte gar nicht daran, dem Parteivorstand aus dem Schlamassel zu helfen. Sie nutzte den Streit, um selbst Zeichen zu setzen. Am Ende dieses Streits gründete Luxemburg die KPD, wogegen ihr Mitkämpfer Kautsky und ihr Gegner Bernstein sich in einer Partei, der SPD, wieder fanden, nachdem beide wie Rosa Luxemburg den »Umweg« über die USPD genommen hatten.
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Rosa Luxemburg erkannte in der Frage »Reform oder Revolution« den Kulminationspunkt der Bernstein-Debatte. Daher konzentrierte sie sich darauf, das konkrete Verhältnis des Kampfes um Reformen zum Kampf um das revolutionäre Ziel herauszuarbeiten. »Die Frage von dem Verhältnis des alltäglichen praktischen Kampfes zum Endziel ist die Lebensfrage der Partei seit Anbeginn ihrer Existenz und bleibt es auch bis zu Ende«, erklärte sie. Eine »grundsätzliche Politik« könne nicht durch die Tagesinteressen der Arbeiter, sondern stets nur durch den Zusammenhang der gegebenen Frage mit dem Endziel begründet werden. Im Kampf für politische Freiheiten und soziale Reformen sah Rosa Luxemburg die Vorstufe zur Ergreifung der Staatsgewalt. Aber immer war ihr das Endziel das entscheidende Moment, das auch dem Kampf für Teilziele einen grundsätzlich oppositionellen Charakter verlieh. Der Kampf um Reformen war für Rosa Luxemburg dem Endziel untergeordnet.
Warum sollte die Sozialdemokratie überhaupt für Reformen kämpfen? In der Tat hatten etwa anarchistische Theoretiker und Politiker dies prinzipiell abgelehnt. Jede Verbesserung der Lage der Arbeiter im Kapitalismus würde nur den ausbeuterischen Charakter des kapitalistischen Systems verschleiern, die Revolution in noch weitere Ferne rücken. Bernstein wiederum setzte auf die Reformarbeit. Kautsky stellte sich diesen komplexen Fragen gar nicht erst. Er betrachtete Reformarbeit und soziale Revolution als hintereinander liegende Entwicklungsetappen. Dagegen gelang es Rosa Luxemburg in ihrer bekannten Schrift Sozialreform und Revolution den inneren Zusammenhang dieser Grundsatzfrage bis ins Detail zu erarbeiten.
Für Luxemburg bildete der alltägliche praktische Kampf um soziale Reformen den einzigen Weg für die Sozialdemokratie, den proletarischen Klassenkampf zu leiten und auf das Endziel hinzuarbeiten. »Für die Sozialdemokratie besteht zwischen der Sozialreform und der sozialen Revolution ein unzertrennlicher Zusammenhang, in dem ihr der Kampf um die Sozialreform das Mittel, die soziale Umwälzung aber der Zweck ist. (...) Eine Entgegensetzung dieser beiden Momente der Arbeiterbewegung finden wir erst in der Theorie von Eduard Bernstein.« Diese laufe »praktisch auf nichts anderes als auf den Rat hinaus, die soziale Umwälzung (...) aufzugeben und die Sozialreform umgekehrt aus einem Mittel des
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Klassenkampfes zu seinem Zwecke zu machen«. Das Endziel, die soziale Umwälzung, sei jedoch das einzige entscheidende Moment, das die SPD von der bürgerlichen Demokratie unterscheide und den Kampf der Arbeiterklasse aus einer müßigen Flickarbeit in einen Kampf gegen die kapitalistische Ordnung verwandle. Wenn man das Endziel aufgebe, setze nach und nach eine »völlige Umwälzung in der ganzen Physiognomie der Arbeiterbewegung« ein. »Das Programm, die Taktik, das Verhalten zum Staate, zur Bourgeoisie, zu der auswärtigen Politik, zum Militarismus, alles wird auf den Kopf gestellt, und aus einer revolutionären internationalen proletarischen Partei verwandelt sich die Sozialdemokratie in eine national-kleinbürgerliche-sozialreformerische Partei.« Die vom kapitalistischen Staat veranlassten Sozialreformen betrachtete Rosa Luxemburg nicht, wie Bernstein, als Kontrolle der Gesellschaft über die Produktion, sondern als »Kontrolle der Klassenorganisation des Kapitals über den Produktionsprozess des Kapitals«. In den Interessen des Kapitals finde auch die Sozialreform ihre natürliche Schranke.
Trotzdem kämpfe die Sozialdemokratie um Reformen, um die Arbeiterklasse auf die Umwälzung vorzubereiten. Reformen hätten in der Geschichte stets der allmählichen Erstarkung der aufstrebenden Klasse gedient, bis diese sich reif genug gefühlt habe, die politische Macht zu erobern und das bestehende Rechtssystem umzuwerfen. Und sie setzte hinzu:
»Bernstein, der gegen die Eroberung der politischen Macht als eine blanquistische Gewalttheorie wettert, passiert das Malheur, dass er das, was seit Jahrhunderten der Angelpunkt und die Triebkraft der menschlichen Geschichte ist, für einen blanquistischen Rechenfehler hält. Seit die Klassengesellschaften existieren und der Klassenkampf den wesentlichen Inhalt der Geschichte bildet, war die Eroberung der politischen Macht stets ebenso das Ziel aller aufstrebenden Klassen wie der Ausgangs- und Endpunkt jeder geschichtlichen Periode.«
Reform und Revolution stellten sich so dar als Momente in der Entwicklung der Klassengesellschaft, die man nicht als verschiedene Methoden des gesellschaftlichen Fortschritts betrachten könne, »die man in dem Geschichtsbuffet nach Belieben wie heiße Würstchen oder kalte Würstchen auswählen kann«.
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Reform und Revolution seien auch nicht durch die Zeitdauer, sondern durch ihr Wesen verschiedene Momente. »Das ganze Geheimnis der geschichtlichen Umwälzungen« liege im Umschlagen einer quantitativen Entwicklung in eine neue Qualität, im Übergang von einer Gesellschaftsordnung zu einer anderen.
Bernstein gehe zwar wie Marx von der Existenz der gesellschaftlichen Widersprüche des Kapitalismus aus, aber er irre sich hinsichtlich der Rolle der Sozialdemokratie im Kapitalismus. Tatsächlich antizipiere diese dessen Entwicklung, treibe die Konsequenzen seiner Widersprüche im politischen Kampf auf die Spitze. »Man eskomptiert sozusagen die weitere objektive Entwicklung und steht jederzeit auf dem Boden zur vollen Reife entwickelter Widersprüche, worin das Wesen jeder revolutionären Taktik überhaupt besteht.« Bernstein dagegen wolle diese Widersprüche abstumpfen und glaube, sich hierbei auf die objektive Entwicklung des Kapitalismus, besonders seiner Ökonomie, stützen zu können.
Rosa Luxemburg arbeitete so die politischen Dimensionen der unterschiedlichen Analysen der kapitalistischen Entwicklung heraus: Kam man zu dem Ergebnis, dass sich die von allen Kontrahenten als existent anerkannten sozialökonomischen Widersprüche kraft der wirtschaftlichen Entwicklung im Kapitalismus ausgleichen würden, dann war eine reformistische Strategie die geradezu naturnotwendige Konsequenz. Unterstellte man aber, die auf dem Boden der gegebenen Gesellschaftsordnung erwachsenden Gegensätze würden sich mit der ökonomischen Entwicklung verschärfen, seien also auf dem Boden dieser Verhältnisse nicht lösbar, dann mündete diese Einsicht nicht weniger folgerichtig in eine revolutionäre Strategie und Taktik.
Luftgebilde
War es möglich, durch eine Evolution der Demokratie zum Sozialismus zu gelangen? Und welche Bedeutung hatte die Demokratie für den Kampf der Arbeiterbewegung? Laut Rosa Luxemburg dient die Demokratie dazu, die Interessen der gesamten Gesellschaft in der staatlichen Organisation auszudrücken. Aber die der Form nach demokratischen Einrichtungen würden als Einrichtungen der kapitalistischen Gesellschaft dem Inhalt nach »zum Werkzeuge der herrschenden Klasseninteressen«.
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Dies zeige sich immer dann, wenn die Demokratie die Tendenz habe, ihren Klassencharakter zu verleugnen. Dann werde sie von der Bourgeoisie geopfert. »Die Idee von einer sozialdemokratischen Parlamentsmehrheit erscheint angesichts dessen als eine Kalkulation, die bloß mit der einen, formellen Seite der Demokratie rechnet, die andere Seite aber, ihren reellen Inhalt, völlig außer Acht lässt.«
Die Demokratie erscheint demnach nicht als ein die kapitalistische Gesellschaft allmählich durchdringendes sozialistisches Moment, sondern als spezifisch kapitalistisches Mittel, die kapitalistischen Widersprüche zur Reife zu bringen. Dennoch hält Luxemburg die Demokratie für unentbehrlich, weil im Kampf um die Demokratie das Proletariat zum Bewusstsein seiner Klasseninteressen und seiner geschichtlichen Aufgabe kommen könne. »Sie ist unentbehrlich, nicht, weil sie die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat überflüssig, sondern weil sie diese Machtergreifung notwendig wie auch einzig möglich macht.« Rosa Luxemburg stellte die Diktatur des Proletariats im Gegensatz zu Bernstein und Kautsky nicht zur Disposition, sondern begriff Marx und Engels authentisch.
Bernsteins These von der stetigen Demokratisierung war in den Augen Rosa Luxemburgs ein »Luftgebilde«, der Kapitalismus bringe keineswegs die Demokratie: »Die politische Form ist jedes Mal das Ergebnis der gesamten Summe politischer — innerer und äußerer — Faktoren und lässt in ihren Grenzen die ganze Stufenleiter von der absoluten Monarchie bis zur demokratischen Republik zu.« Bei Luxemburg entdecken wir keine Unbestimmtheiten über die Rolle der Demokratie im Allgemeinen, sondern den Versuch, die Faktoren zu analysieren, welche die Entwicklung der Demokratie bedingen, und ihre Bedeutung für den Kampf der Arbeiterbewegung zu bestimmen.
Zwei Faktoren waren hier nach Luxemburg von Bedeutung: die Arbeiterbewegung und die zeitgenössische »Weltpolitik«, also das, was man später mit dem sozialdemokratischen Wirtschaftstheoretiker Rudolf Hilferding als Imperialismus bezeichnet hat. Nach Luxemburg befand sich die bürgerliche Demokratie mit der Aufwärtsentwicklung von Weltpolitik und Militarismus auf einem absteigenden Ast. Die mit der Ausbildung des Weltmarkts einhergehende Verschärfung und Verallgemeinerung der Konkurrenz hätten Militarismus und Marinismus »zum tonangebenden Moment ebenso des äußeren wie des inneren Lebens der gesamten Großstaaten gemacht«. Die auswärtige Politik wie die wachsende Arbeiterbewegung treibe die Bourgeoisie in die Hände der Reaktion.
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Rosa Luxemburg betrachtete die Aussichten der demokratischen Entwicklung viel konkreter und vor allem gänzlich anders als Eduard Bernstein, der die Triebkräfte der demokratischen Entwicklung nicht untersucht hatte. Tatsächlich gingen die revisionistischen Anschauungen über die Entwicklung der Demokratie im wilhelminischen Deutschland von falschen Voraussetzungen aus. Hier scheint mir Bernstein durch die von ihm sonst so gescholtene »Tendenz« — in seinem Fall der Versuch, eine reformistische Strategie für die deutsche Sozialdemokratie zu begründen — dazu verleitet worden zu sein, die politischen Verhältnisse und ihre Perspektiven schönzufärben.
Rosa Luxemburg ging auch nicht davon aus, dass mit der zunehmenden Vergesellschaftung der Produktion das Privateigentum in wachsendem Maß unter gesellschaftliche Kontrolle geriet. Es werde stattdessen immer unantastbarer und geschlossener. Das, was Bernstein als gesellschaftliche Kontrolle bezeichne, sei nicht Beschränkung des kapitalistischen Eigentums, sondern dessen Schutz. Es handle sich nicht um einen Eingriff in die kapitalistische Ausbeutung, sondern um deren Normierung. In Sozialreform und Revolution heißt es: »Und wenn Bernstein die Frage stellt, ob in einem Fabrikgesetz viel oder wenig Sozialismus steckt, so können wir ihm versichern, dass in dem allerbesten Fabrikgesetz genauso viel Sozialismus steckt wie in den Magistratsbestimmungen über die Straßenreinigung und das Anzünden der Gaslaternen, was ja auch >gesellschaftliche Kontrolle< ist.«
Rosa Luxemburg erkannte wie Bernstein und im Gegensatz zu Kautsky, dass der Staat sich immer mehr in die Wirtschaft einmischte. Aber auch hier fand sie kein Mehr an Sozialismus. In einem gewissen Sinn würde sich tatsächlich die Verschmelzung des Staats mit der Gesellschaft vorbereiten. Zunächst aber sei der Staat eine Organisation der Kapitalistenklasse. Nehme er Funktionen im allgemeinen gesellschaftlichen Interesse wahr, so nur, insofern dieses Interesse mit dem der herrschenden Klasse zusammenfalle. Diese Harmonie dauere lediglich bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Interessen der Bourgeoisie mit denen der ökonomischen Entwicklung kollidierten. Ein Zeitpunkt, der nach Auffassung Luxemburgs bereits längst erreicht war, wie sich in der Zollpolitik und im Militarismus zeige.
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Bezieht man Rosa Luxemburgs späteres Werk ein, so wird deutlich, dass sie bereits um die Jahrhundertwende wesentliche Seiten der neuen ökonomischen und politischen Entwicklung des Kapitalismus erfasst hatte — wie Bernstein, wenn dieser auch andere Schlüsse daraus zog. Wenn sich, wie Luxemburg unterstellte, die staatliche wie die wirtschaftliche Entwicklung ganz anders darstellte, als Bernstein annahm, dann musste die innere Logik der revisionistischen Auffassung zum Verlust jeglicher Beziehung zwischen Tageskampf und Sozialismus führen. Auch konnte dann von einer stufenweise sozialisierenden Wirkung wirtschaftlicher und politischer Faktoren keine Rede mehr sein: »Indem somit der Staat, d. h. die politische Organisation, und die Eigentumsverhältnisse, d. h. die rechtliche Organisation des Kapitalismus, mit der Entwicklung immer kapitalistischer und nicht immer sozialistischer werden, setzen sie der Theorie von der allmählichen Einführung des Sozialismus zwei unüberwindliche Schwierigkeiten entgegen.« Daraus ergab sich ihre von Bernstein grundverschiedene Auffassung vom Sinn von Reformen und demokratischem Kampf: Für Luxemburg waren sie notwendig, um der sozialen Revolution näher zu kommen und die Arbeiterklasse auf sie vorzubereiten.
Zwitterding Genossenschaften
Es überrascht nicht, dass Rosa Luxemburg auch hinsichtlich der Gewerkschaften und Genossenschaften eine konträre Position zu Bernstein vertrat — und insoweit auch zu Kautsky, als dieser sich mit diesen zentralen Überlegungen Bernsteins gar nicht erst plagen mochte.
Genossenschaften unter kapitalistischen Bedingungen betrachtete sie als Zwitterding, als im Kleinen sozialisierte Produktion bei kapitalistischem Austausch: Da in der kapitalistischen Wirtschaft der Austausch aber die Produktion beherrsche, seien die Genossenschaften gezwungen, alle die Methoden zu praktizieren, die ein kapitalistisches Unternehmen konkurrenzfähig machten. In den Produktivgenossenschaften müssten daher die Arbeiter sich selbst gegenüber die Rolle des Unternehmers spielen.
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An diesem Widerspruch, und nicht wegen mangelnder Disziplin, wie Bernstein meinte, würde letztlich diese Art Genossenschaft zugrunde gehen, indem sie sich entweder in ein kapitalistisches Unternehmen zurückentwickelten oder sich auflösten. Den Gesetzen der Konkurrenz könnten sich Produktivgenossenschaften nur entziehen, wenn sie sich einen festen Kreis von Konsumenten sicherten, also Konsumvereine gründeten. Die mit einem Konsumverein gekoppelten Produktivgenossenschaften seien im günstigsten Fall auf einen kleinen lokalen Absatz, auf wenige Produkte des unmittelbaren Bedarfs angewiesen.
Dagegen seien »alle wichtigen Zweige der kapitalistischen Produktion: die Textil-, Kohlen-, Metall-, Petrolindustrie sowie der Maschinen-, Lokomotiven- und Schiffsbau, (...) vom Konsumverein, also auch von der Produktivgenossenschaft, von vornherein ausgeschlossen«. Deren allgemeine Durchsetzung erfordere überdies die Abschaffung des Weltmarktes und die Auflösung der bestehenden Weltwirtschaft in kleine lokale Produktionsund Austauschgruppen, »also dem Wesen nach einen Rückgang von großkapitalistischer auf mittelalterliche Warenwirtschaft«.
Produktivgenossenschaften erwiesen sich in der gegebenen Gesellschaft als bloße Anhängsel der Konsumvereine, die als Hauptträger der beabsichtigten sozialistischen Reform in den Vordergrund treten würden. So werde aus einem Kampf gegen das Produktionskapital ein Kampf gegen das Handelskapital, und zwar gegen das Kleinhandels- und Zwischenhandelskapital. Der Kampf gegen den Hauptstamm — die Produktion — reduziere sich so auf den Kampf gegen bloße Verästelungen des kapitalistischen Stammes.
Organisierte Defensive der Arbeitskraft
Die Gewerkschaften erachtete Rosa Luxemburg für ähnlich untauglich im Sinn eines friedlichen Hineinwachsens in den Sozialismus. Sie seien zu einer ökonomischen Angriffspolitik nicht imstande, »weil sie nichts anderes als die organisierte Defensive der Arbeitskraft gegen die Angriffe des Profits« seien. Zwei wesentliche Funktionen hatten die Gewerkschaften in Rosa Luxemburgs Augen:
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1. Sie beeinflussen die Marktlage durch Organisation. Durch die Proletarisierung der Mittelschichten wird der Organisationsgrad aber ständig wieder vermindert.
2. Sie dienen der Hebung der Lebenslage und der Vergrößerung des Anteils der Arbeiterklasse am gesellschaftlichen Reichtum. Der Wachstum der Arbeitsproduktivität wirkt dem aber entgegen, weil sich die Kapitalisten den größten Anteil des dadurch entstehenden Reichtums aneignen und die Einkommensunterschiede wieder verschärfen.
Die Gewerkschaftsarbeit verwandle sich kraft objektiver Vorgänge in der kapitalistischen Gesellschaft in eine Art Sisyphusarbeit, die jedoch zur Verwirklichung des kapitalistischen Lohngesetzes unentbehrlich sei. Rosa Luxemburg stellt sich so auf Marx' Position, wonach der Arbeitslohn immer um den Wert der Ware Arbeitskraft pendelt. Ein Arbeiter muss essen, wohnen, sich bilden und eine Familie gründen können. Die Arbeitskraft muss sich, wie Marx sagt, reproduzieren können. Die Kosten der Güter und Dienstleistungen, die dazu erforderlich sind, machen den Wert der Ware Arbeitskraft aus.
Wolle man die Gewerkschaften zu einem Mittel der gesellschaftlichen Umverteilung machen, so setze das erstens den Stillstand der Proletarisierung der Mittelschichten und zweitens einen Wachstumsstillstand der Arbeitsproduktivität, »also in beiden Fällen — ganz wie die Verwirklichung der konsumgenossenschaftlichen Wirtschaft — einen Rückgang auf vorgroßkapitalistische Zustände voraus«.
Die Gewerkschaften sind wie die Konsumgenossenschaften also ungeeignet, die kapitalistische Produktionsweise umzugestalten, schloss Rosa Luxemburg. Bernstein verzichte mit seinen Auffassungen auf den Kampf gegen die kapitalistische Produktion und richte den Kampf gegen die kapitalistische Verteilung, die doch bloß »eine naturgesetzliche Folge« der kapitalistischen Produktionsweise sei. Die Sozialdemokratie dagegen wolle die kapitalistische Warenproduktion aufheben, wozu aber die Beseitigung der kapitalistischen Produktionsweise erforderlich sei.
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