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5.  Sozialismus ist das Ziel       Die Weimarer Bewährungsprobe des demokratischen Sozialismus

 

 

 

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Die Politik der SPD vom 4. August 1914 und dann in der Novemberrevolution hat viele Zeitgenossen verblüfft und ist selbst für Historiker kaum verständlich. Vor allem den 4. August haben viele linke Kritiker als plötzlichen Bruch einer Traditionslinie empfunden. Ich habe bereits gezeigt, dass diese Sicht falsch ist. Sie ist geeignet, Empörung hervorzurufen, aber nicht, die historische Wirklichkeit darzustellen. 

Die SPD wandelte sich nicht am 4. August, vielmehr wurde die Wandlung an diesem Datum offenkundig. Wer genau hinschaute, wie etwa Rosa Luxemburg, hatte sie schon früher erkannt. Solche markanten Ereignisse wie die Billigung der Kriegskredite schließen eher Wandlungsprozesse ab, als dass sie diese einleiten oder begründen. Es war für die SPD in der Opposition zumeist einfach, erst einmal gegen fast alles zu sein, was die kaiserliche Reichsleitung bezweckte. 

Am 4. August 1914 waren zwar die Stimmen der Sozialdemokraten für die Kriegskreditbewilligung nicht erforderlich, aber die Partei fühlte sich angesichts der chauvinistischen Stimmung im Land und in der Reichstagsfraktion gezwungen, Farbe zu bekennen. 

Nun wurde auf einen Schlag erkennbar, was sich in den Jahren seit dem Sozialistengesetz in der Partei verändert hatte. Aus einer marxistischen, internationalistischen Oppositionspartei war eine nationale Reformpartei geworden, und dies ohne jede Änderung des Programms. Die Identität einer Partei ändert sich nicht auf dem Papier, sondern in der Wirklichkeit. Auch wenn sich die SPD das lange nicht eingestehen wollte, war sie längst hineingewachsen in den kaiserlichen Obrigkeitsstaat. Und im Kleinen ahmte sie mitunter nach, was das Hohenzollernreich vormachte. Nicht umsonst nannten viele Bebel den »Arbeiterkaiser«, und die Vorstandshörigkeit der deutschen Sozialdemokraten ließ bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein alle Anfechtungen von links fast wirkungslos abprallen.


Bernstein ist keineswegs der Vater der Wandlungen in der SPD. Er hat seine Thesen nur zu einer Zeit vorgetragen, als sie der reformistischen Strömung inhaltlich zupass kamen, wenn sie diese auch aus taktischen Gründen nicht allzu laut begrüßen mochte. Bis 1914 waren Revisionismus und Reformismus dennoch zwei Seiten einer Medaille, galt der Revisionismus als theoretische Begründung der reformistischen Praxis. Nach dem Krieg aber war der Urheber des Revisionismus genauso in der Minderheit wie vor dem Krieg. Diesmal überholte ihn seine Partei rechts, wohingegen er auf dem einmal eingeschlagenen Kurs blieb. Bernstein wollte einen evolutionären Sozialismus, seine Partei hatte sich längst von jedem Sozialismus verabschiedet, auch diesmal ohne dies programmatisch zu dokumentieren.

Die Novemberrevolution war wie der 4. August 1914 die Probe aufs Programm. Nicht auf jeden Paragraphen, aber auf die Quintessenz. Es zeigte sich, dass in der revolutionären Partei nicht nur Ebert die Revolution hasste.

Am 4. August 1914 traf die Mehrheit der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion jenseits aller programmatischen Überlegungen eine katastrophale Fehlentscheidung. Fast alle Gründe, die für die Kriegskreditbewilligung angeführt wurden, waren falsch. Und manche Sozialdemokraten, die diese Gründe vortrugen, wussten dies oder ahnten es wenigstens. Am Ende blieb die archaische Grundentscheidung: Es ist Krieg, wir sind Deutsche, die anderen sind unsere Feinde. Wie der Kaiser kannte nun auch die SPD keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche. Und das begründeten die unter Rechtfertigungs­druck stehenden führenden Genossen mit »sozialistischen« Argumenten.

 

Bernsteins kurzer Triumph

 

Mit ihrem Görlitzer Programm von 1921 bemühte sich die Mehrheitssozialdemokratie, ihre theoretischen Aussagen an die Wirklichkeit anzupassen. Die Federführung hatte praktisch Eduard Bernstein, dessen historischer Konkurrent Kautsky nach wie vor der USPD angehörte. 

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Das Görlitzer Programm hätte einen ähnlichen Stellenwert wie die programmatische Wende von Godesberg im Jahr 1959 haben können, wenn es die Wiedervereinigung der beiden sozialdemokratischen Parteien 1922 überlebt hätte. So währte die programmatische Ehrlichkeit ein Jahr, um dann von einem Aktionsprogramm der vereinigten SPD abgelöst zu werden.

»Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist die Partei des arbeitenden Volkes in Stadt und Land. Sie erstrebt die Zusammenfassung aller körperlich und geistig Schaffenden, die auf den Ertrag eigener Arbeit angewiesen sind, zu gemeinsamen Erkenntnissen und Zielen, zur Kampfgemeinschaft für Demokratie und Sozialismus.

Die kapitalistische Wirtschaft hat den wesentlichen Teil der durch die moderne Technik gewaltig entwickelten Produktionsmittel unter die Herrschaft einer verhältnismäßig kleinen Zahl von Großbesitzern gebracht, sie hat breite Massen der Arbeiter von den Produktionsmitteln getrennt und in besitzlose Proletarier verwandelt. Sie hat die wirtschaftliche Ungleichheit gesteigert und einer kleinen, in Überfluss lebenden Minderheit weite Schichten entgegengestellt, die in Not und Elend verkümmern. Sie hat damit den Klassenkampf für die Befreiung des Proletariats zur geschichtlichen Notwendigkeit und zur sittlichen Forderung gemacht. (...) 

Eine gewaltig erstarkte Arbeiterbewegung, groß geworden durch die ruhmvolle opferreiche Arbeit von Generationen, stellt sich dem Kapitalismus als ebenbürtiger Gegner. Mächtiger denn je erhebt sich der Wille, das kapitalistische System zu überwinden und durch internationalen Zusammenschluss des Proletariats, durch Schaffung einer zwischenstaatlichen Rechtsordnung, eines wahren Bundes gleichberechtigter Völker, die Menschheit vor neuer kriegerischer Vernichtung zu schützen.

Diesem Willen den Weg zu weisen, den notwendigen Kampf der schaffenden Massen zu einem bewussten und einheitlichen zu gestalten, ist die Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei.

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Die Sozialdemokratische Partei ist entschlossen, zum Schutz der errungenen Freiheit das Letzte einzusetzen. Sie betrachtet die demokratische Republik als die durch die geschichtliche Entwicklung unwiderruflich gegebene Staatsform, jeden Angriff auf sie als ein Attentat auf die Lebensrechte des Volkes. Die Sozialdemokratische Partei kann sich aber nicht darauf beschränken, die Republik vor den Anschlägen ihrer Feinde zu schützen. Sie kämpft um die Herrschaft des im freien Volksstaat organisierten Volkswillens über die Wirtschaft, um die Erneuerung der Gesellschaft im Geiste sozialistischen Gemeinsinns. Die Überführung der großen konzentrierten Wirtschaftsbetriebe in die Gemeinwirtschaft und darüber hinaus die fortschreitende Umformung der gesamten kapitalistischen Wirtschaft zur sozialistischen, zum Wohl der Gesamtheit betriebenen Wirtschaft erkennt sie als notwendige Mittel, um das schaffende Volk aus den Fesseln der KapitaIherrschaft zu befreien, die Produktionserträge zu steigern, die Menschheit zu höheren Formen wirtschaftlicher und sittlicher Gemeinschaft empor zu führen.«

Aus dem Görlitzer Programm der SPD, 1921

 

Auch wenn das Görlitzer Programm sich in der Tradition des vorausgegangenen Erfurter Programms verstand, so sollte der Hinweis darauf wohl eher die dramatischen Änderungen erträglicher machen. Denn die SPD verabschiedete sich in Görlitz von der Idee, Partei der Arbeiterklasse zu sein. Sie verstand sich nun als linke Volkspartei und kam damit heutigen Interpretationen nah. Die Sozialdemokratie verzichtete auch theoretisch auf die Eroberung der politischen Macht, also die Diktatur des Proletariats, und anerkannte die bürgerlich-demokratische Republik als die beste Staatsform. Auch die Sozialisierungsforderungen sind vergleichsweise gemäßigt, vor allem wenn man sie im Vergleich mit KPD und USPD betrachtet. Der Klassenkampf wird mehr entschuldigt als gepriesen und erscheint als Verteidigung der Arbeiter gegen Übergriffe des Kapitals.

Das Görlitzer Programm war Bernsteins später Triumph. Der Autor des praktischen Teils des Erfurter Programms hatte seine in der Revisionismusdebatte vorgetragenen Positionen weitgehend in einem mehrheitsfähigen Parteiprogramm verankert. Allerdings währte der Triumph nur kurz. 

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Nach der Vereinigung mit den nicht zur KPD abgewanderten Resten der USPD erarbeitete eine Kommission ein neues Dokument, das mit einiger Verspätung im September 1925 vom Heidelberger Parteitag der SPD verabschiedet wurde. Leiter dieser Kommission war zunächst Karl Kautsky, der Autor des allgemeinen Teils des Erfurter Programms. Als Kautsky krank nach Wien zurückkehrte, löste ihn Rudolf Hilferding als Leiter ab, dieser hielt sich aber an Kautskys Vorarbeit. Bernstein war zwar Mitglied der Programmkommission, konnte aber seine Niederlage nicht verhindern. Der programmatische Wirklichkeitsgewinn von Görlitz wurde der neu gewonnenen Parteieinheit geopfert.

Gemessen an der politischen Praxis der Staatspartei SPD — als solche verstand sie sich auch in der Opposition —, war das Heidelberger Programm fast schon ein anachronistischer Rückfall in die Zeiten des Immobilismus. Als ginge es darum, sein Vermächtnis um jeden Preis, auch um den des Wirklichkeitsverlusts, zu erhalten, orientierte sich Kautskys Kommission so weit wie möglich am Erfurter Programm. Der Antagonismus von Kapitaleignern und Arbeiterklasse wird gegenüber dem Görlitzer Programm wieder erheblich verschärft.

»Das kapitalistische Monopolstreben führt zur Zusammenfassung von Industriezweigen, zur Verbindung aufeinander folgender Produktionsstufen und zur Organisierung der Wirtschaft in Kartelle und Trusts. Dieser Prozess vereinigt Industriekapital, Handelskapital und Bankkapital zum Finanzkapital.

Einzelne Kapitalistengruppen werden so zu übermächtigen Beherrschern der Wirtschaft, die nicht nur die Lohnarbeiter, sondern die ganze Gesellschaft in ihre ökonomische Abhängigkeit bringen.

Mit der Zunahme seines Einflusses benutzt das Finanzkapital die Staatsmacht zur Beherrschung auswärtiger Gebiete als Absatzmärkte, Rohstoffquellen und Stätten für Kapitalanlagen. Dieses imperialistische Machtstreben bedroht die Gesellschaft ständig mit Konflikten und mit Kriegsgefahr. Doch mit dem Druck und den Gefahren des Hochkapitalismus steigt auch der Widerstand der stets wachsenden Arbeiterklasse, die durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst sowie durch stete Arbeit der Gewerkschaften und der

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Sozialdemokratischen Partei geschult und vereint wird. Immer größer wird die Zahl der Proletarier, immer schroffer der Gegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, immer erbitterter der Klassenkampf zwischen den kapitalistischen Beherrschern der Wirtschaft und den Beherrschten. Indem die Arbeiterklasse für ihre eigene Befreiung kämpft, vertritt sie das Gesamtinteresse der Gesellschaft gegenüber dem kapitalistischen Monopol. Eine gewaltig erstarkte Arbeiterbewegung, groß geworden durch die opferreiche Arbeit von Generationen, stellt sich dem Kapitalismus als ebenbürtiger Gegner gegenüber. Mächtiger denn je ersteht der Wille, das kapitalistische System zu überwinden und durch internationalen Zusammenschluss des Proletariats, durch Schaffung einer internationalen Rechtsordnung, eines wahren Bundes gleichberechtigter Völker, die Menschheit vor kriegerischer Vernichtung zu schützen.

Das Ziel der Arbeiterklasse kann nur erreicht werden durch die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an den Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum. Die Umwandlung der kapitalistischen Produktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion wird bewirken, dass die Entfaltung und Steigerung der Produktivkräfte zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger Vervollkommnung wird. Dann erst wird die Gesellschaft aus der Unterwerfung unter blinde Wirtschaftsmacht und aus allgemeiner Zerrissenheit zu freier Selbstverwaltung in harmonischer Solidarität emporsteigen.«

Aus dem Heidelberger Programm der SPD, 1925

 

Nun hatte die SPD in mancher Hinsicht den Vorkriegszustand wiederhergestellt. Wie bis 1914 klafften Programm und politische Praxis auseinander. Die Lehre der Sozialdemokratie aus der Revolution lautete in dieser Hinsicht, dass sie ihren Fehler wiederholen wolle. Warum nur schrieb man nicht ins Programm, was offensichtlich war: dass die Sozialdemokratie politisch längst eine bürgerlich-demokratische Partei mit sozialer Verankerung in der Arbeiterschaft geworden war? Ebert und die ihm folgenden führenden Genossen hassten nicht nur die Revolution wie die Sünde, sondern

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auch den Sozialismus, jedenfalls das, was man mit Marx darunter verstehen konnte. Der hatte geschrieben: »Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme.« Aber damit hatte er nicht gemeint, dass man Programme als Dutzendware betrachtete. Jedem Mitglied der Programmkommission und jedem Delegierten des Heidelberger Parteitags musste dieser Anachronismus aufstoßen. In der politischen Praxis entschied sich die SPD im Zweifel gegen links, in ihrem Programm aber forderte sie, dass die Arbeiterklasse die politische Macht übernehmen und das Kapital enteignen solle. Die Gelegenheit dazu war längst verpasst. Man konnte es verdammen oder begrüßen, aber die Sozialdemokraten hätten ein Programm verabschieden müssen, das mit ihrer historischen wie politischen Praxis etwas zu tun hatte. Es war grotesk, eine Revolution zu fordern, ohne sich mit der Frage auseinander zu setzen, warum man die letzte zerschlagen hatte. Nachdem sich geschichtlich erwiesen hatte, dass die SPD keine revolutionäre Partei mehr war, gab sie sich erneut ein marxistisches Programm.

 

Anachronismen

Die soziale Wirklichkeit im sozialdemokratischen Lager widersprach dem Heidelberger Programm, das eine Verschärfung der Klassengegensätze unterstellte. Der Anteil der Arbeiter unter den Mitgliedern hatte vor dem Krieg 90 Prozent ausgemacht. 1926 waren es 73 Prozent und 1930 nur noch 60 Prozent. In diesem Jahr waren 10 Prozent der SPD-Mitglieder Angestellte, 3 Prozent Beamte und 17 Prozent Hausfrauen. In der Gesellschaft stagnierte währenddessen der Anteil der Arbeiter an der erwerbstätigen Bevölkerung, wohingegen der Anteil der Beamten und Angestellten wuchs und 16,5 Prozent erreichte. Sozialstatistische Daten aus dem Jahr 1926 zeigen, dass mehr als 50 Prozent der Bevölkerung zur Unterschicht zu zählen waren. Weiteren 12 Prozent der Kleinbürger ging es kaum besser. Das war ein gewaltiges Potential, dass die Sozialdemokraten nicht einmal annähernd ausschöpften.

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Die Mitgliederzahlen der SPD schwankten zwischen 1,2 Millionen (1920) und 800.000 (1926), 1930 betrugen sie eine Million. 1918 waren zahlreiche Mitglieder zur USPD abgewandert, weil sie mit der Politik Eberts und Scheidemanns nicht einverstanden waren und den revolutionären Parolen der Unabhängigen Sozialdemokraten folgten. Aber die Verluste wurden ausgeglichen durch neue Mitglieder, die in die Staatspartei strömten und zuvor zum konservativen alldeutschen Lager gehört hatten. Sie erkannten in der SPD die Partei der Ordnung, die die Revolution niedergeschlagen hatte und ein Bündnis mit den neuen alten herrschenden Schichten eingegangen war. Zahlreiche Angehörige des öffentlichen Dienstes traten der SPD bei, weil sie glaubten, so ihr berufliches Fortkommen zu begünstigen.

Die Fluktuation der Mitgliedschaft war erstaunlich: 1930 waren nur noch 21 Prozent der Mitglieder länger als fünfzehn Jahre in der SPD. Knapp 80 Prozent der Sozialdemokraten kannten die SPD demnach nur noch als Partei des Burgfriedens im Krieg und als Weimarer Staatspartei. Umso erstaunlicher der Mangel an Wechseln in den Führungsorganen. Wer Mitglied des Parteivorstands war, blieb dies quasi auf Lebenszeit. Ein einziges Mitglied des Parteivorstands wurde in der Weimarer Zeit abgewählt, ein Linker. Während die soziale Zusammensetzung der SPD sich umschichtete, änderte sich in der Führung nichts. Dieser Anachronismus ist wenigstens genauso erstaunlich wie das Heidelberger Programm.

Bemerkenswert war die Schwäche der Partei auf dem Land. Sie hatte schon die Bebel-SPD geplagt, und trotz mancher Anstrengungen gelang es der Sozialdemokratie nie, in der Landarbeiterschaft Fuß zu fassen. Das lag gewiss auch am »Idiotismus des Landlebens«, den Marx und Engels im Kommunistischen Manifest beklagt hatten, und auch an der halbfeudalen Herrschaft der Großbauern über ihr Gesinde. Aber die Sozialdemokratie verstand es außerdem nicht, ihr »Image« als reine Industriearbeiterpartei abzulegen. Obwohl sie in ihrer Politik oftmals nicht nur die sozialpolitischen Interessen der Arbeiterschaft vertrat, versagte sie in ihrer Bündnispolitik kläglich, sofern man von Bündnispolitik überhaupt sprechen kann. Ihre kommunistischen »Klassengenossen« begingen hier übrigens genau die gleichen Fehler.

Die SPD zog weder aus gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umstrukturierungen, die ja Bernsteins Thesen bestätigten, politische Konsequenzen, noch aus den Umschichtungen in ihrer Mitgliedschaft oder gar aus dem Gebot, die Massenbasis der völkischen Rechten auf dem Land zu verringern. 

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Die SPD-Reichstagsfraktion hatte die Weimarer Verfassung als Erfüllung des Erfurter Programms gefeiert, und seitdem waren strategische Konzepte Mangelware. Der zum Reichsinnenminister avancierte Revisionist Eduard David erklärte vor der Nationalversammlung, dass die Arbeiter 99 und mehr Prozent der Bevölkerung ausmachten. Insofern gab es in seinen Augen keinen Unterschied zwischen bürgerlicher und sozialistischer Republik, waren also die Ziele der Sozialdemokratie in Sachen Demokratie erfüllt.

Natürlich waren Achtstundentag und Frauenwahlrecht großartige Errungenschaften, auch das Dreiklassenwahlrecht in Preußen war zerschlagen, aber nun hätten die Sozialdemokraten beginnen müssen, Konzepte für die Fortentwicklung der Demokratie und der Sozialpolitik zu erarbeiten und umzusetzen.

Die Führung der Partei stammte aus Bebeis Zeit, und sie war geprägt durch die in dieser Zeit unabweisbare Forderung, eine parlamentarische Demokratie zu erkämpfen, also alles zu bekämpfen, was der Ausgestaltung der Demokratie im Weg stand. Mehr Demokratie hatten viele Sozialdemokraten für die Zustimmung zu den Kriegskrediten und den Verzicht auf Antikriegsaktionen eintauschen wollen, aber nicht erhalten. Erst die ungewollte Revolution erfüllte zentrale Forderungen. Mehr aber gab die Fantasie der Sozialdemokraten nicht her. War den Sozialdemokraten die demokratische Republik bis zur Jahrhundertwende bloß ein guter Kampfplatz für den Sozialismus gewesen, so war die Demokratie nach dem Krieg längst Selbstzweck. Sie hatten so lange für die bürgerliche Demokratie gekämpft, dass sie sich keine andere mehr vorstellen konnten. Deshalb die Zerstörung der Räte-Idee, deshalb das Klammern an die Reste der Weimarer Demokratie, als diese längst zu Tode toleriert war (dazu später mehr). Die SPD der Weimarer Zeit war in ihrem geistigen Horizont nicht über den Rahmen der Vorkriegszeit hinausgekommen. Die Partei war in den Händen der alten Reformisten und Revisionisten, die sich nie mehr gewünscht hatten als das, was die Revolution gebracht hatte. Nur Bernstein beharrte auf seinen Forderungen nach einer sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft.

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Wie aber sollte die Partei mit einem veralteten Programm (Heidelberg) und einer geistig erstarrten Führung neue Wählermassen gewinnen? Das war unmöglich. Sie begnügte sich mit einer gewissen Folgerichtigkeit darauf zu bewahren, was erkämpft war. Sie hatte spätestens seit dem Kapp-Putsch eine durch und durch defensive Haltung: Verteidigung der Demokratie gegen die sich am Horizont abzeichnende braune Gefahr. Aber gegen Ende der Weimarer Republik, als diese Verteidigungshaltung angebracht war, skandierten viele Sozialdemokraten, vor allem auf dem linken Flügel: »Demokratie, das ist nicht viel / Sozialismus ist das Ziel.« Die einzigen organisationspolitischen Neuerungen der Sozialdemokratie — Reichsbanner und Eiserne Front — dienten der Verteidigung gegen die Nazis, die auf dem Feld der Massenorganisationen mit ihrer SA aber viel erfolgreicher waren als die Sozialdemokraten.

 

Die Logik der Geschichte  

Geistig war die SPD der Weimarer Zeit ein Dinosaurier aus kaiserlicher Vorzeit. Wie sollte diese Partei des ewigen Kompromisses und der tönenden Phrasen Menschen begeistern? Die Demokratie starb nicht nur wegen Hitler, sondern auch aus Mangel an Fantasie. Nationalsozialismus und Kommunismus reklamierten für sich die Zukunft, die Sozialdemokraten begnügten sich mit der Vergangenheit. So konnten Nazis wie Kommunisten in das Wählerpotential der SPD einbrechen.

Die Weltwirtschaftskrise hatte unsägliche Not für Millionen gebracht, die Zeichen standen auf Veränderung, aber die Sozialdemokraten verwiesen auf ihre bewährte Taktik, wie sie es schon zu Zeiten des Revisionismusstreits getan hatten. Wer auf dem linken Flügel auf Aktionen gegen rechts drängte, wurde gemaßregelt wie einst Bernstein und Luxemburg, weil sie es gewagt hatten, die ewige Weisheit der Parteiführung anzuweifeln.

 

Auf dem Kieler Parteitag 1927 sagte der sozialdemokratische hessische Ministerpräsident Karl Ulrich: »Wir müssen den Massen sagen, dass wir entschlossen sind, die demokratische Republik mit Nägeln und Zähnen zu verteidigen, weil wir in ihr einen erfolgverheißenderen Kampfboden für unsere sozialpolitischen Forderungen und sozialistischen Ziele sehen als in der Monarchie.« Dieser Satz eines SPD-Funktionärs in der beginnenden Endphase der Republik zeigt die Wirklichkeitsblindheit der sozialdemokratischen Führungskaste, ihre Verhaftung in der Vergangenheit in prototypischer Klarheit.

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Es ging schon lange nicht mehr um Demokratie oder Monarchie, das war das Thema der Bebel-Zeit, es ging um nicht weniger als die Fortexistenz der politischen Arbeiterbewegung. Dies hätte aber verlangt, dass die Partei eine Strategie entwickelte, die über die Grenzen von Weimar hinauswies. Das ist ja die eigentümliche Logik der Geschichte: Wer stehen bleibt, bleibt zurück. Wer sich nur am Vergangenen ausrichtet, ist bald selbst Vergangenheit. Das war auch das unvermeidliche Schicksal einer erneuerungsunfähigen Sozialdemokratie.

Wie zu Kaisers Zeiten warteten die Genossen darauf, dass der Kapitalismus durch seine inneren Widersprüche den Sozialismus gewissermaßen gesetzmäßig hervorbringen würde. Das stand im Erfurter Programm von 1891, das stand im Heidelberger Programm von 1925 und das war ein später Sieg über Bernstein, aber vor allem über die soziologische und ökonomische Wahrheit der Weimarer Republik. Die Erben des Zentrismus erzeugten eine unübertreffliche programmatische, strategische und taktische Hilflosigkeit. Auch sie trug bei zum Sieg der Nazis.

Friedrich Ebert hatte 1919 in seiner Rede zur Eröffnung der Nationalversammlung erklärt, es gehe nun um den »Sozialismus der werdenden Wirklichkeit«. Die Praxis zeigte, dass die Weimarer Verfassung diesem Anspruch nicht standhalten konnte. Sie enthielt zwar einige vorwärts weisende Artikel über die Rolle der Räte und die Sozialisierung, aber diese »Schritte zum Sozialismus« wurden in der Realität zu Makulatur. Nur sechs Jahre später erkannte der sozialdemokratische Gewerkschaftsführer Fritz Tarnow, »dass im Seelenleben der deutschen Arbeiterbewegung etwas gebrochen ist. Eine Illusion ist geplatzt. Das, woran man jahrzehntelang geglaubt hat, wenigstens in den Massen, indem man meinte, an dem Tage, an dem wir die politische Macht erringen würden, werde es ein Kinderspiel sein, die letzten Ziele unserer Bewegung zu verwirklichen, ist nicht in Erfüllung gegangen.«

Tarnow schloss aus dieser Analyse, dass es notwenig sei, neue Konzepte zu entwickeln, Konzepte, die wirklichkeitstreu und motivierend sein sollten. Aber er und andere, die nach vorn drängten -ob politisch, ob theoretisch -, rannten gegen die Wand der ewigen Wahrheiten, wie sie der verknöcherte Parteivorstand verkörperte. Der SPD-Reichstagsabgeordnete Julius Leber, später einer der Verschwörer des 20. Juli gegen Hitler, sah in seiner Parteiführung

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»eine geschlossene Kampffront«, gegen die sich kein Redner der Opposition durchsetzen könne. Dies lähmte die Partei schon deswegen, weil in ihr im Gegensatz zu allen Bekenntnissen zur Demokratie die Führerverehrung ungebrochen fortbestand.

 

7. Januar 2000. Nachdem in der rot-grünen Koalition weniger gestritten wird und die Union sich fast nur noch mit ihrem Parteispendenskandal beschäftigt, hat die SPD gute Aussichten, die Wahlen in Schleswig-Holstein (Februar) und in Nordrhein-Westfalen (Mai) zu gewinnen. Es ist wie zu Weimarer Zeiten: Die Führung der Partei kann gegen sozialdemokratische Grundsätze in Serie verstoßen. Es genügt dann ein bisschen Seelenmassage und die Mitglieder sind wieder versöhnt. Als bestünden die protesterregenden politischen Fakten nicht fort. Nach wie vor zahlen die Rentner und Arbeitslosen einen ungerechten Anteil an der Haushaltssanierung. Die Ankündigung, dass mit der Unternehmenssteuerreform Beteiligungen an Wirtschaftsunternehmen steuerfrei verkauft werden können, löste an der Börse ein Kursfeuerwerk aus. Damit hatten nicht einmal die größten Optimisten im Unternehmerlager gerechnet. Ich habe aber keinen Protest gehört in der Partei über die Milliarden, die angesichts leerer Kassen Unternehmen in den Rachen geworfen werden, während Arme weiter den Staatshaushalt konsolidieren dürfen. Nun siegen wir also wieder wie in Lübeck bei der Bürgermeisterwahl. Was interessiert uns der Rest?

Die Politik der SPD in der Weimarer Zeit aber wurde auch durch eine selbst gewählte Verstrickung geprägt. Die Sozialdemokratie hatte zusammen mit ihren Partnern in der Weimarer Koalition den Versailler Vertrag unterzeichnet und sich dadurch den Hass jener Politiker und Militärs eingehandelt, die der Republik Krieg und Vertrag eingebrockt hatten. Die Kriegskreditbewilligung am 4. August 1914 brachte die SPD in die moralische Mitverantwortung, eine politische Verantwortung für die Auslösung des Kriegs hatte sie nicht. Und doch sollte sie nun die Zeche für den Größenwahn des Kaisers bezahlen. Zugleich wurden ausgerechnet die Mehrheitssozialdemokraten als »Novemberverräter« beschimpft, die der

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Front mit dem »Dolchstoß« in den Rücken gefallen seien. Statt Dankbarkeit zu zeigen, baute die extreme Rechte die Sozialdemokratie als feindlichen Popanz auf, auf den sich alle Hassgefühle leiten ließen. Die Sozialdemokratie wurden von links wie von rechts des Verrats geziehen: entweder an der Revolution oder wegen der Revolution.

Allerdings hätten die Sozialdemokraten sich aus der Verstrickung in das Hassgewebe freikämpfen können. Sie hätten Schluss machen müssen mit der Kriegsschuldlüge. Sie hätten die Verantwortlichen an Krieg und Niederlage klar benennen müssen. Sie hätten die abstrusen Kriegsziele der Reichsleitung nennen müssen, also das geplante deutsche Diktat über Frankreich, Russland und England. Sie hätten die Notwendigkeit der Revolution und ihren demokratischen Charakter herausstellen müssen. In allen diesen Punkten haben sie versagt.

 

Verwischtes Profil

Die SPD hat sich zu Recht als Weimarer Staatspartei verstanden. Sie versuchte auch andere Parteien, sogar eher rechts angesiedelte wie die Deutsche Volkspartei Gustav Stresemanns, in die Mitverantwortung zu ziehen. Sie verzichtete hin und wieder auf die Regierungsteilnahme, um dem Druck der Rechtskräfte auszuweichen, in dem Irrglauben, dass eine Teilhabe der Rechten an der verhass-ten Republik sie politisch integrieren werde. Das war natürlich eine Fehlkalkulation. Das »nationale Lager« tat mit seinen Kräften alles, um die Republik so bald wie möglich von der Landkarte zu tilgen. Und doch mühten sich die Sozialdemokraten, gerade diesen Kräften zu beweisen, dass sie eine Partei von Ruhe und Ordnung waren. Das gelang nicht, denn Völkische und Nationale betrachteten Sozialdemokraten und Kommunisten gleichermaßen als »Marxisten« und »Novemberverräter«, die es auszurotten gelte wie Ungeziefer. Da mochten sich Ebert und Genossen noch so mühen, auch im rechten politischen Lager Gunst zu gewinnen. Die Nazis verfolgten später beide Parteien, machten aber zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten feine Unterschiede. So blieben Gustav Noske, Gustav Bauer und andere Funktionäre der verbotenen Partei vor schlimmster Verfolgung bewahrt.

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Selbst in der Opposition verstand sich die SPD als halbe Regierungspartei. Sie tolerierte schon lange vor 1930 Regierungen, an denen sie nicht beteiligt war. Die Konturen der Partei verschwammen in dem Maß, wie sie nach links, in Konkurrenz zur KPD, auf dem Sozialismus beharrte und sich nach rechts als nationale Partei gerierte.

Im Untergrund aber wirkten weitere, oft stärkere Kräfte, die das Profil der Partei verwischten. Am 4. August 1914 war die Partei gezwungen gewesen, plötzlich in einer Grundsatzfrage Farbe zu bekennen. Sie beging einen Fehler, versäumte es, ihn einzugestehen und die politischen Konsequenzen zu ziehen. Lebenslügen produzieren neue Lügen. Der Rechtfertigungsdruck, der mit der Kriegskreditbewilligung entstand und mit jedem Kriegstag stieg, begann die Identität der SPD als Friedenspartei zu zerstören. Die Revolution unterhöhlte ihre Identität als sozialistische Partei. Solche Prozesse vollziehen sich über Jahre und Jahrzehnte, ihre Nachwirkungen sind bis heute spürbar. Die Bewunderung, wenn nicht Anbetung, die Willy Brandt während einiger Jahre seiner Regierungszeit erfuhr, hat unter anderem auch zu tun mit der Erlösung von der Schuld des 4. August. Dank Brandt war die SPD wieder Friedenspartei. Der sozialdemokratische Widerstand gegen Helmut Schmidts »Nachrüstung« Anfang der achtziger Jahre widerspiegelte auch die Angst vor dem Verlust der wiedergewonnenen Identität als Friedenspartei. Wir werden später die Frage zu erörtern haben, welche Wirkungen auf die SPD die deutsche Teilnahme am Jugoslawienkrieg vor dem beschriebenen Hintergrund hat.

In der Sozialdemokratie der Weimarer Republik wirkten die Konfliktlinien der Vorkriegszeit weiter. Sieht man einmal ab vom kurzen Görlitzer Zwischenspiel, wagte es kaum ein Sozialdemokrat, die programmatischen Konsequenzen aus der politischen Praxis der eigenen Partei zu ziehen. Die einstigen Zentristen um Kautsky oder Hilferding suchten ihr Heil in der Vergangenheit und verklebten die unübersehbaren Widersprüche der eigenen Theorie und Praxis, indem sie die bürgerliche Politik der SPD mit marxistischen Phrasen behängten. »Hegel bemerkt irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce«, schrieb Marx über Louis Bonaparte, der sich als Napoleon III. verehren ließ. 

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Dieser Satz gilt auch für die Rolle Kautskys und der Zentristen in der Weimarer Zeit. Es ist schon erstaunlich: Die Partei bekundete gegenüber ihren rechten Kritikern fortlaufend ihre staatstragende Gesinnung, und gegenüber ihren linken Kritikern innerhalb und außerhalb der Partei erklärte sie sich zur einzig wahren sozialistischen Partei.

Reichspräsident Ebert führte zahlreiche Prozesse gegen Leute, die ihm vorwarfen, im November 1918 das Vaterland verraten zu haben. Als ein Gericht ihn als »Landesverräter« titulierte, erfuhr er am eigenen Leib, wie falsch es gewesen war, nicht aufzuräumen mit der wilhelminischen Justiz. (Manche Fehler müssen offenbar mehrfach begangen werden, denn auch nach 1945 wurde die Justiz nicht gesäubert. Erst nach der ersten erfolgreichen Revolution, 1989, ging man einen anderen Weg und erneuerte die Justiz in Ostdeutschland. Ich habe allerdings den Verdacht, dass es hier weniger darum ging, aus Fehlern der Geschichte zu lernen, als vielmehr darum, eine offiziell sozialistische Justiz abzuschaffen.)

Die einstigen Revisionisten waren bedeutungslos geworden, seitdem die Partei 1922 wieder vereinigt war. Der äußerste linke Flügel der Partei hatte sich in den Revolutionstagen endgültig von der Sozialdemokratie abgetrennt. Aber auch die Nachfolger Rosa Luxemburgs fanden keine Konzepte, keinen roten Faden für ihre Politik. Auch sie waren »Opfer« des 4. August und bestimmten ihr Verhältnis zur SPD von der Geschichte ihrer Abspaltung her. Die Schlachten von damals wurden nun unter neuen Namen wieder und wieder geschlagen. Die Niederlage der Linken im Spartakusaufstand im Januar 1919 lebte fort als Quelle immer neuer Hassorgien gegen die SPD, nur unterbrochen von kurzen Phasen der Einsicht in die Forderungen des politischen Alltags. Von bewaffnetem Kampf bis zu weitgehenden Einheitsfrontangeboten reichte das Spektrum der sich ständig häutenden Kommunisten. Einer, der diesem ewigen Wechseln zwischen »Linksradikalismus« und »Rechtsopportunismus« nicht standhielt, war Paul Levi, der bald zum Kopf des linken Flügels der SPD wurde.

Die Kommunisten gerieten zunehmend an die Leine Moskaus. In dem Maß, wie sie jedes Detail der doch oft traurigen Wirklichkeit im Sowjetreich entweder abstritten oder es auf die Kriegstreiberei der Imperialisten zurückführten, wuchs der Raum für die sozialistische Linke in der SPD. Aber er wurde nicht genutzt, und die Linke blieb schwach. Der Antikommunismus war schon immer ein Prügel, um die Parteilinke zu schwächen. Und er rechtfertigte die Angriffe von Rechtsaußen gegen die gesamte Partei — denn führten letztlich nicht alle Wege des Marxismus nach Moskau?

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Eine SPD ohne starken linken Flügel musste politisch und organisatorisch ihren Strukturen verhaftet bleiben. Entsprechend gering war ihre Anhängerschaft in der Jugend. Auch deswegen fehlte das vorandrängende Element. Die fruchtlosen Streitereien mit der KPD stärkten eher die Konservativen in der Partei, die dazu neigten, gesellschaftspolitische Fragen auf die Alternative Demokratie oder Diktatur zu reduzieren. Demnach herrschte in Berlin Demokratie und in Moskau Diktatur. Das traf mit einigen Einschränkungen hinsichtlich der deutschen Demokratie zu, bot aber nicht ein Jota Zukunftsperspektive. Betrachtet man die Geschichte der Weimarer SPD, dann beschleicht einen manchmal der Gedanke, dass die Partei zwangsläufig in der Nazibarbarei versinken musste, dass erst damit die Tragödie des 4. August 1914 ihren Schlussakt fand.

 

Das Staatsmissverständnis

Im Oktober 1929 brach die Weltwirtschaftskrise los, beschleunigt auch durch den Wahn der Reparations­milliarden, die Deutschland an die Siegermächte zahlen musste. Die SPD hatte kein Konzept, als immer wieder neue Kompromisse einzugehen mit den Kräften von rechts, die die Krise nutzten, um die Demokratie zu zerstören.

Während der Kapitalismus zusammenbrach, Pleitewellen den Markt erschütterten und die Arbeitslosigkeit bislang ungeahnte Höhen erreichte, hätten die Sozialdemokraten den Systemüberwindungsplänen von Nazis wie Kommunisten mehr entgegensetzen müssen, als sich mit der Rolle zu bescheiden, Arzt am Krankenbett des Kapitalismus zu sein. In der größten seiner zahlreichen Krisen war der Kapitalismus weltweit diskreditiert, und besonders in Deutschland gewann im Volk alles an Attraktivität, was sich sozialistisch nannte, ob der Sozialismus der KPD oder der Nationalsozialismus der NSDAP. Die Führung der SPD aber erkannte nicht die riesige Chance, sich als authentische sozialistische Partei zu profilieren. Stattdessen tolerierte sie den Abbau der selbst geschaffenen Demokratie, bis es nichts mehr zu tolerieren gab.

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»Einige Genossen glauben, die Zeichen dafür sehen zu können, dass es sich diesmal nicht mehr um eine der zyklusmäßigen Krisen des kapitalistischen Systems handelt, sondern dass wir die entscheidende Krise des kapitalistischen Systems vor uns haben, die endgültige Krise, die mit dem Zusammenbruch des Kapitalismus enden müsse. In der Partei ist ja ernsthaft die Zusammenbruchstheorie schon längst nicht mehr vertreten worden. Das ist natürlich kein absolut schlüssiger Gegenbeweis, dass nun nicht doch die kapitalistische Wirtschaft in eine Sackgasse geraten sein könnte, aus der es ein Herauskommen nicht mehr gibt, außer durch eine vollständige Umwandlung des Systems. Ich glaube aber, dass man mit solchen Prophezeiungen sehr vorsichtig sein muss, weil ja möglicherweise die Tatsachen selbst früher oder später den Gegenbeweis liefern könnten. Die gegenwärtige Krise ist zweifellos umfangreicher und in ihren Wirkungen tiefer als alle früheren Krisen. Das erklärt sich zu einem Teil aus dem Eingriff des Weltkriegs in das ganze Getriebe der Weltwirtschaft. Es erklärt sich auch daraus, dass die Verbundenheit der Volkswirtschaften in der Weltwirtschaft sehr viel enger geworden ist. Es erklärt sich weiter aus den künstlichen Störungen durch die Politik und Reparationszahlungen, und schließlich auch durch die Strukturwandlungen innerhalb des kapitalistischen Systems. Die Krise muss auch schon deswegen schwerer sein, weil eine Industriekrise mit einer Agrarkrise zusammengefallen ist, was wir bisher nur einmal in der Weltwirtschaftsgeschichte erlebt haben.

Trotz dieser noch nie da gewesenen Häufung von Krisenursachen glaube ich, dass die Wirtschaft die Wege finden wird, die wieder zum Aufstieg führen, und ich befinde mich damit, soweit ich übersehen kann, in Übereinstimmung mit ziemlich allen Wirtschaftstheoretikern in unseren Reihen. Die starke Senkung der Zinssätze und der Rohstoffpreise sind nach allen früheren Krisenerfahrungen auch schon die sichtbaren Anzeichen dafür, dass ein Umschwung sich vorbereitet, was natürlich nichts über die Zeitdauer sagt.

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Nun stehen wir ja allerdings am Krankenlager des Kapitalismus nicht nur als Diagnostiker, sondern auch — ja, was soll ich da sagen? — als Arzt, der heilen will?, oder als fröhlicher Erbe, der das Ende nicht erwarten kann und am liebsten mit Gift noch etwas nachhelfen möchte? (Heiterkeit.) In diesem Bild drückt sich unsere ganze Situation aus. (Sehr gut!) Wir sind nämlich, wie mir scheint, dazu verdammt, sowohl Arzt zu sein, der ernsthaft heilen will, und dennoch das Gefühl aufrechtzuerhalten, dass wir Erben sind, die lieber heute als morgen die ganze Hinterlassenschaft des kapitalistischen Systems in Empfang nehmen wollen. Diese Doppelrolle, Arzt und Erbe, ist eine verflucht schwierige Aufgabe. (Sehr richtig!) 

Wir könnten uns in der Partei manche Auseinandersetzung ersparen, wenn wir uns dieser Doppelrolle immer bewusst bleiben würden. Aber wir sind es nicht immer. Manchmal glaubt der eine, die Notlage derjenigen, die davon abhängen, dass der Patient gesund wird, erfordere, alles zu tun, um den Patienten zu heilen; der andere meint, jetzt, wo er schon röchelt, sei es richtig, ihm den Gnadenstoß zu geben. Der Patient selbst barmt uns gar nicht so sehr, aber die Massen, die dahinterstehen. (Sehr richtig!) Wenn der Patient röchelt, hungern die Massen draußen. (Sehr richtig!) Wenn wir das wissen und eine Medizin kennen, selbst wenn wir nicht überzeugt sind, dass sie den Patienten heilt, aber sein Röcheln wenigstens lindert, sodass die Massen draußen wieder mehr zu essen bekommen, dann geben wir ihm die Medizin und denken im Augenblick nicht so sehr daran, dass wir doch Erben sind und sein baldiges Ende erwarten. Ich will die Frage nicht aufwerfen, ob denn, wenn wir mit dem Gedanken spielen wollten, die Gelegenheit zum totalen Zusammenbruch zu benutzen, um diesen Zusammenbruch gewaltsam herbeizuführen und zu beschleunigen, in der gegenwärtigen Krise durch einen vollständigen Zusammenbruch wirklich die kapitalistische Wirtschaftsordnung erledigt wäre. Ich könnte mir denken, dass etwas anderes zusammenbricht, als das kapitalistische System.«

Der sozialdemokratische Gewerkschaftsfunktionär Fritz Tarnow, 1931

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Schon in der Revolution und nun in der Tolerierung schlug sich nieder, was sich spätestens seit dem Revisionismusstreit abgezeichnet hatte: eine Veränderung des sozialdemokratischen Staatsverständnisses oder besser die Aufdeckung eines großen Missverständnisses. Für Marx und Engels war der Staat nichts als der »geschäftsführende Ausschuss der Bourgeoisie«. Im Antidühring, der für die deutschen Sozialdemokraten geschriebenen populären Zusammenfassung der Marx'schen Theorie, erklärt Engels:

»Der Staat war der offizielle Repräsentant der ganzen Gesellschaft, ihre Zusammenfassung in einer sichtbaren Körperschaft, aber er war dies nur, insofern er der Staat derjenigen Klasse war, welche selbst für ihre Zeit die ganze Gesellschaft vertrat: im Altertum Staat der sklavenhaltenden Staatsbürger, im Mittelalter des Feudaladels, in unsrer Zeit der Bourgeoisie. Indem er endlich tatsächlich Repräsentant der ganzen Gesellschaft wird, macht er sich selbst überflüssig. Sobald es keine Gesellschaftsklasse mehr in der Unterdrückung zu halten gibt, sobald mit der Klassenherrschaft und dem in der bisherigen Anarchie der Produktion begründeten Kampf ums Einzeldasein auch die daraus entspringenden Kollisionen und Exzesse beseitigt sind, gibt es nichts mehr zu reprimieren [unterdrücken], das eine besondre Repressionsgewalt, einen Staat, nötig machte. Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt - die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft - ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat.«

Die deutschen Sozialdemokraten aber glaubten, mit der Überwindung der Monarchie den »Volksstaat« eingeführt zu haben, wenn er auch Mängel aufwies, die aus der Kaiserzeit herrührten. Diesen über allen Klassen stehenden Staat mühten sie sich zu verteidigen gegen den Ansturm von links und rechts. Stattdessen hätten sie auf weitere Demokratisierung setzen müssen, vor allem im Verwaltungsapparat, um die Republik von Weimar durch ihre schrittweise Überwindung zu retten. Natürlich lässt sich die Frage nicht beantworten, ob ein solches sozialistisches Konzept erfolgreich gewesen wäre. Sicher ist aber, dass das stete Lavieren zwischen Oppositions- und Regierungsrolle und das Festhalten an der Mumie des Weimarer Staates im politischen Bankrott enden mussten.

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Man mache es sich aber nicht zu leicht. Die Herausforderungen, denen sich die Sozialdemokraten in der Weimarer Zeit gegenübersahen, waren nicht nur für die erstarrte Partei neu. Eine Massenbewegung wie den Nationalsozialismus hatte es zuvor nirgendwo gegeben. Die neuen Formen der Propaganda, wie sie vor allem Hitlers Berliner Gauleiter Joseph Goebbels vorantrieb, überrollten nicht nur die SPD. Was war schon die bieder-reaktionäre Kreuzzeitung der Kaiserzeit im Vergleich mit der hasserfüllten Demagogie des Völkischen Beobachters"? Das Zusammentreffen von Massennot mit der keinerlei moralische Grenzen respektierenden Massenpropaganda ergab eine geistige Mixtur, die das ihre dazu beitrug, die Republik zu zerstören. Aber die chauvinistischen Hetzkampagnen gegen das »Diktat von Versailles« und die »Novemberverräter« waren auch deshalb so erfolgreich, weil die Sozialdemokraten sich in der Kriegsschuldlüge verheddert hatten. Das Versagen am 4. August hatte Fern Wirkungen, die das Ende der klassischen Sozialdemokratie herbeiführen sollten.

 

Panzerkreuzer A

Der Untergang der Sozialdemokratie war nicht unausweichlich. Es hatte immer wieder Gelegenheiten gegeben, das Ruder herumzureißen. Es ist verblüffend, mit welcher Konsequenz sich die Partei der Rettung verweigerte.

Eine solche Gelegenheit, die Weichen zu stellen, war die Affäre um den Bau des Panzerkreuzers A. Was war der Hintergrund dieser unglaublichen Episode? Die Reichswehr war durch den Versailler Friedensvertrag auf 100.000 Mann begrenzt und durfte keine Luftstreitkräfte, Panzer, schwere Artillerie, Schlachtschiffe und U-Boote besitzen. Von Anfang an aber bemühte sich die Reichswehrführung, diese Beschränkungen zu umgehen, um sie schließlich zu beseitigen. Unter dem Vorwand, sich um Abrüstung zu bemühen, forderten Generäle und auch sozialdemokratische Politiker »Gleichberechtigung« mit den anderen Großmächten. Diese, viel stärker bewaffnet als das Deutsche Reich, sollten abrüsten. Wenn sie dies aber nicht täten, habe Deutschland das moralische Recht, gleichzuziehen. 

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Es war Heuchelei, denn angesichts der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs konnte man es vor allem Frankreich nicht verdenken, dass es an Abrüstung nicht dachte. Es fürchtete, nicht unberechtigt, deutsche Revanchegelüste. Tatsächlich forderten die Deutschen Gleichberechtigung, um selbst aufrüsten zu können. Die Sozialdemokraten duldeten diesen Kurs. Sie begründeten dies mit der verwegenen These, es sei in Deutschland schon mehr an sozialistischen Errungenschaften zu verteidigen als in der Sowjetunion. Deshalb unterstützte die SPD auch die geheime Zusammenarbeit der Reichswehr und der Roten Armee. In der Sowjetunion konnten deutsche Militärs den Einsatz von Waffen üben, die ihnen verboten waren, vor allem von Panzern und Kampfflugzeugen. Die Sowjetarmee wiederum profitierte vom technischen und militärtaktischen Know-how ihrer gut getarnten Gäste.

Ein deutliches Signal der Aufrüstung war der Plan, einen Panzerkreuzer für die Reichsmarine zu bauen. Der Panzerkreuzer mit dem schlichten Namen »A« war ein erster Schritt zur Marineaufrüstung, wobei die Schiffsgattung eigens erfunden wurde, um das Verbot zu umgehen, Schlachtschiffe zu bauen. Vor den Reichstagswahlen vom Mai 1928 hatten die Sozialdemokraten gegen diese Aufrüstung protestiert und gefordert: »Kinderspeisung statt Panzerkreuzer«. Bei den Wahlen gab es einen Linksruck, SPD und KPD gewannen, die Rechtsparteien büßten Stimmen ein. Im Juni 1928 bildete der Sozialdemokrat Hermann Müller eine Koalitionsregierung mit dem Zentrum, der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), der Deutschen Volkspartei (DVP) und der Bayerischen Volkspartei (BVP). Vor allem DVP und BVP hatten sich im Wahlkampf für den Panzerkreuzerbau stark gemacht. Um die Koalition zu erhalten, beschloss die Reichsregierung mit den Stimmen des sozialdemokratischen Reichskanzlers Müller und der SPD-Minister Rudolf Hilferding, Carl Severing und Rudolf Wissell, das verkappte Schlachtschiff zu bauen. Der Chef der SPD-Reichstagsfraktion, Rudolf Breitscheid, gab dazu eine enthüllende Erklärung ab:

»Indem wir uns zum Eintritt in die Regierung bereit erklärten, nahmen wir den Panzerkreuzer >A< mit in Kauf. Immerhin waren wir berechtigt, anzunehmen, dass unsere vier Minister mit Nein stimmen und andere Ausgaben, insbesondere solche für sozialpolitische Zwecke, für vordringlicher erklären würden als die für den Schiffsersatzbau. Wir waren dazu auch entschlossen, aber nun machten

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ihnen die Demokraten insofern einen Strich durch die Rechnung, als sie erklärten, sich in jedem Falle der Entscheidung der Sozialdemokraten anschließen zu wollen. Damit wäre eine Mehrheit für die Ablehnung entstanden, und das hätte die Krisis bedeutet, die unsere Genossen vermeiden wollten.«

Die Sozialdemokraten in der Regierung stimmten also für den Schiffsbau, weil der Koalitionspartner DDP erklärt hatte, dem Votum der Sozialdemokraten zu folgen. Damit war das geplante Täuschungsmanöver geplatzt. Als es darauf ankam, entschieden sich die Führer der SPD für die Aufrüstung. Um den Protest in der eigenen Partei zu dämpfen, wurde die Reichstagsfraktion angewiesen, im Parlament gegen diesen Regierungsbeschluss zu stimmen, wohl wissend, dass es eine klare Mehrheit für das Schiff geben würde. Was bedeutete, dass sozialdemokratische Minister nun als Reichstagsabgeordnete gegen den eigenen Beschluss votierten. Eine groteskere Situation hat es in der Geschichte des Parlamentarismus kaum gegeben. Es war Heuchelei, Ausdruck auch des Umstandes, dass die Sozialdemokraten das verhängnisvolle Bündnis mit der antirepublikanischen Reichswehr fortsetzten.

 

Von Brüning zu Hitler

Die vorletzte Etappe des Niedergangs der SPD und damit der von ihr geschaffenen Republik verbindet sich mit dem Namen Brüning. Als im März 1930 das Kabinett der großen Koalition unter Reichskanzler Müller trotz aller Panzerkreuzerverrenkungen zerbrach, ernannte Reichspräsident Hindenburg den rechten Zentrumspolitiker Heinrich Brüning zum Kanzler. Der verlor aber schon im Juli die Unterstützung des Parlaments für sein Sanierungsprogramm, das man in heutiger Terminologie als monetaristisch bezeichnen würde. In der Wirtschaftskrise setzte die neue Regierung auf Sparen und die Sanierung des Staatshaushalts. So glaubte sie, die Arbeitslosigkeit bekämpfen und die ausstehenden Reparationen laut Ver-sailler Vertrag bezahlen zu können. Als Brüning im Parlament scheiterte, löste er den Reichstag auf. Bei den Neuwahlen im September 1930 erhielt seine rechtslastige Regierung wiederum keine Mehrheit, dafür aber gewannen die Nazis explosionsartig hinzu (1928: 2,6; 1930: 18,3 Prozent).

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Auch die Kommunisten wurden stärker (1928: 10,6; 1930: 13,1 Prozent), wohingegen die Sozialdemokraten die Quittung für ihr Lavieren erhielten (1928: 29,8; 1930: 24,5 Prozent). Die SPD sollte in den verbleibenden Jahren der Weimarer Republik keine Wahlsiege mehr feiern. Bei der letzten freien Wahl, am 6. November 1932, erhielt die SPD noch gut 20 Prozent der Stimmen, die KPD fast 17 Prozent, die Linke zusammen also rund 37 Prozent. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung hatte die SPD noch trotz USPD-Konkurrenz (7,6 Prozent) fast 38 Prozent der Stimmen, die Linke zusammen also mehr als 45 Prozent der Wähler für sich gewonnen. Der Abstieg der Weimarer Republik verlief analog zum Niedergang der Linken.

Da sich keine Mehrheit für Hindenburgs Kandidaten Brüning fand, griff der Reichspräsident zum Hilfsmittel der Notverordnung, das ihm die Weimarer Verfassung mit dem Artikel 48 lieferte. Dieser Artikel war zum Schutz der Republik vor ihren Feinden von rechts und für Notfälle wie zum Beispiel den Kapp-Putsch gedacht. Nun aber diente er dazu, den Reichstag auszuschalten. Gesetze, die im Parlament keine Mehrheit fanden, wurden auf dem Weg der Notverordnung verabschiedet. Steuern wurden erhöht, Sozialleistungen gekürzt, und die Pressefreiheit wurde eingeschränkt. Deutschland war auf dem Weg zur Abschaffung der Demokratie. Nur, wohin sollte die Reise gehen? Teile der Rechten wollten die Monarchie wieder einführen, andere setzten auf Hitler, wieder andere erhofften eine Diktatur der Reichswehr.

 

Politik des kleineren Übels

Die Sozialdemokraten standen vor der Alternative, die Brüning-Regierung zu stürzen (wofür es mit ihren Stimmen immer eine Mehrheit gegeben hätte, allerdings mit Unterstützung von NSDAP und KPD) oder die Regierung zu tolerieren, auch wenn sie deren Politik nicht guthieß. Sie garantierte den Bestand des Präsidialsystems bis zum Mai 1932, als Hindenburg Brüning fallen ließ.

Reichswehrgeneral Kurt von Schleicher, der die weitere Zerschlagung der Demokratie betrieb, war in diesen Jahren der herausragende Drahtzieher. Er hatte dafür gesorgt, dass Brüning Kanzler wurde, und er sorgte dafür, dass Brüning es nun nicht mehr war.

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Schleicher sollte nach der Übergangsperiode mit dem eitlen Herrenreiter und Präsidentenintimus Franz von Papen schließlich selbst ins Rampenlicht treten. Seine Kanzlerschaft aber währte nur bis zum Januar 1933, als Hindenburg die Macht an Hitler übertrug und die Republik von Weimar beerdigte. Schleicher hatte sich mit seinen Winkelzügen übernommen. Er wollte die Demokratie abschaffen, sich aber Hitler vom Hals halten. Dazu war er sogar bereit, mit Gewerkschaften und Sozialdemokraten zu kooperieren. Erst später sollten die Generäle erkennen, welch großartiger Reichskanzler ihnen mit Hitler beschert worden war. Da aber war Schleicher längst tot, ermordet beim so genannten Röhm-Putsch, den Nazigrößen auch dazu nutzten, alte Rechnungen blutig zu begleichen.

Die SPD entschied sich für die Tolerierung des Brüning-Kabinetts als »kleineres Übel«. Das größere war in ihren Augen die Machtübernahme durch Hitler. Das Argument verliert an Überzeugungskraft, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Nazipartei bei den Wahlen vom September 1930 keine zwanzig Prozent der Wählerstimmen bekam. Ihr potentieller Bündnispartner, die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) des Medienmoguls Alfred Hugenberg (unter anderem Eigentümer der Filmgesellschaft Ufa), erreichte sieben Prozent. Kein Grund, die rechte Gefahr zu verharmlosen, aber auch kein Grund, aus Furcht politisch zu erstarren. Noch vereinigten die Parteien der Weimarer Koalition über vierzig Prozent der Stimmen, und die Stimmen der Kommunisten durften unter der Rubrik Antinazismus verbucht werden. So komplex die Lage war, so gefährlich das Anwachsen der Hitlerpartei erschien, ein Notstand herrschte nicht, und es gab auch keinen Grund, die Demokratie zu beschädigen. All die Ausreden vom »kleineren Übel«, von einer vorübergehenden Phase wie schon 1923 angesichts von Ruhrgebietsbesetzung und Rekordinflation, waren Schminke über dem Versagen der Sozialdemokraten, als es darum ging, die Demokratie zu verteidigen. Die Demokratie verteidigt man nicht, indem man sie abbaut, sondern indem man sie festigt und erweitert, indem man »mehr Demokratie wagt«.

Zugunsten der Tolerierungspolitik muss man drei Punkte anführen: Da war zum einen die Weltwirtschaftskrise, die alle Regierungen in Hektik verfallen ließ. Erst später entdeckten Politiker, vor allem in Skandinavien, die kriseneindämmende Kraft des deficit spending, die schließlich mit dem Namen des größten Ökonomen seiner Zeit, John Maynard Keynes, verbunden wurde.

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Keynes war aus der britischen Delegation bei den Versailler Verhandlungen 1919 ausgeschieden, als er erkannte, dass der Reparationswahn den deutschen Chauvinismus nur stärken würde. Er sollte auch in diesem Punkt Recht behalten. Bis Keynes den Weg aus der Krise wies, hatten weder die Sozialdemokraten noch irgendjemand sonst ein Konzept gegen das Desaster.

Zum anderen erwuchs der SPD auf der Linken ein immer gefährlicherer Konkurrent um die Wähler aus der Arbeiterschaft. Die KPD nutzte die Enttäuschung der Unterschichten über die Hilflosigkeit der SPD. Sie denunzierte die Sozialdemokraten als »Sozialfaschisten«, die viel gefährlicher seien als die Nazis. Der »antifaschistische Kampf« der KPD richtete sich zuerst gegen die SPD. Das war eine katastrophale Politik der Stalin-hörigen Partei, Ausfluss auch der aufkeimenden Machtkämpfe in Moskau. Das Gerede der Kommunisten nach Hitlers Machtantritt, die Sozialdemokraten hätten die Einheitsfront gegen die Nazis verraten, erwies sich bei Betrachtung der Tatsachen als billige Polemik. Sofern denn die Kommunisten überhaupt phasenweise eine Einheitsfront anstrebten, dann um die sozialdemokratischen Anhänger und Mitglieder von der SPD-Führung abzuspalten. Die KPD-Einheitsfrontpolitik zielte auf die Zerstörung der SPD im Interesse der von den Kommunisten angesteuerten proletarischen Revolution, die aus Deutschland ein Zuchthaus gemacht hätte nach dem Vorbild der großen Sowjetunion.

Angesichts des Vernichtungswillens der KPD war es der Sozialdemokratie kaum zuzumuten, mit den Kommunisten eine Front gegen die Hitlerpartei zu verabreden. Und doch haben es einige Sozialdemokraten versucht, unter ihnen das Führungsmitglied Friedrich Stampfer, der auf dem rechten Parteiflügel angesiedelt war. Aber es konnte nicht klappen. Noch nach dem Desaster von 1933 beschimpften Kommunisten Sozialdemokraten als »Sozialfaschisten«, die man schlagen müsse, wo man sie treffe. Streichen wir den Einheitsfrontmythos aus den Akten!

Wenn die KPD Hitler hätte verhindern wollen, dann hätte sie dazu zahlreiche Gelegenheiten gehabt, unter der Voraussetzung allerdings, dass sie Verabredungen von gleich zu gleich und von Vorstand zu Vorstand angestrebt hätte. Warum etwa hätte man jenseits des Einheitsfrontgeredes nicht das Vorgehen im Reichstag absprechen sollen? Man lese die Reden der kommunistischen Parlamentarier, um festzustellen, dass sie stattdessen von der Revolution schwafelten und immer wieder vom »Sozialfaschismus«.

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Der dritte Umstand, der die Erstarrung der SPD etwas verständlicher macht, ist die Tatsache, dass wir heute über den Nationalsozialismus unendlich viel mehr wissen als die Menschen am Ende der Weimarer Republik. Viele Sozialdemokraten verglichen die Bedrohung durch Hitler mit dem Sozialistengesetz - auch in dieser Beziehung hatte sich die Parteifantasie nicht weiterentwickelt. Das Sozialistengesetz war eine Heimsuchung gewesen, hatte viele Sozialdemokraten die soziale Existenz gekostet und nicht wenige ins Gefängnis gebracht. Aber verglichen mit Hitlers KZ- und Mordmaschine war das Bismarck'sche Ausnahmegesetz harmlos. In der Reichstagsdebatte über das Ermächtigungsgesetz im März 1933 erklärte der SPD-Vorsitzende Otto Wels: »Das Sozialistengesetz hat die Sozialdemokratie nicht vernichtet. Auch aus neuen Verfolgungen kann die deutsche Sozialdemokratie neue Kraft schöpfen.« Eine furchtbare Fehleinschätzung. Die neuen Verfolgungen würden die Sozialdemokratie vernichten.

Der Anfang vom Ende war die Tolerierung bis zur Selbstverleugnung. Manche SPD-Führer hätten aus Furcht vor den Nazis sogar die Wiedererrichtung der Monarchie akzeptiert, was nur zeigt, welch veraltete Maßstäbe die Genossen an die Wirklichkeit der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts anlegten. Statt den Widerstand gegen den Abbau sozialer Errungenschaften und der Demokratie zu organisieren, verwirklichten die sozialdemokratisch geführten Landesregierungen Notverordnungen. Sie halfen mit, mehr Arbeitslosigkeit und mehr Not zu schaffen, das war das Ergebnis der Brü-ning'schen Sparpolitik. Besonders tat sich dabei die bedeutendste Landesregierung hervor, die preußische unter Otto Braun mit seinem schneidigen Innenminister Carl Severing. Brüning hatte Braun und Severing im Auge, als er sich später erinnerte: »Ein Wort der Anerkennung verdienen die sozialdemokratischen Minister in den Ländern (...). Die Entwicklung war so weit gediehen, dass aus früheren Parteiagitatoren Männer geworden waren, die nur das Interesse des ihnen anvertrauten Landes im Auge hatten. Ich (...) muss-te erkennen, dass sie bereit waren, ihre eigene Zukunft und die Zukunft ihrer Partei jederzeit aufs Spiel zu setzen, wenn es sich um das Gesamtinteresse handelte.«

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Spaltung der Arbeiterklasse

Mit der Tolerierung der rechtsorientierten Brüning-Politik demotivierte die SPD Mitglieder und Wähler. Sie hatte das Gesetz des Handelns aus der Hand gegeben. Statt außerhalb des Parlaments gegen rechts zu mobilisieren, baten sozialdemokratische Führer im trauten Zwiegespräch mit Brüning, auf diese oder jene soziale Härte zu verzichten.

Natürlich gab es in der Partei Widerstand gegen die desaströse Tolerierung. Der Parteiführung aber war das Bündnis mit Brüning näher als Genossen, die die politische Selbstaufgabe kritisierten. Im März 1931 gab es Krach in der Reichstagsfraktion. Neun Abgeordnete stimmten gegen weitere Mittel für den Panzerkreuzerbau, die sich die Regierung Brüning bewilligen ließ. Der folgende Parteitag in Leipzig 1931 verurteilte das abweichende Abstimmungsverhalten der neun Abgeordneten und löste gleich noch die tolerie-rungskritische Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialisten auf. 

Kurz darauf wurden die Wortführer der Parteilinken, die Reichstagsabgeordneten Max Seydewitz und Kurt Rosenfeld, aus der SPD ausgeschlossen. Sie gründeten bald die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP), der sich auch der Lübecker Sozialdemokrat Herbert Frahm - später: Willy Brandt - anschloss. Die SAP erkannte, dass nur die entschlossene Aktivität aller antinazistischen Kräfte die Demokratie retten konnte. Sie forderte SPD und KPD auf, Trennendes zurückzustellen, um den gemeinsamen Feind zu bekämpfen. Aber die Kommunisten hielten nach wie vor die Sozialdemokraten für einen »Zwillingsbruder des Faschismus«, wenn nicht für die Hauptgefahr, und die Sozialdemokraten bemühten sich, Risse im rechten Lager auszumachen und zu vertiefen. Beide Strategien führten in den eigenen Untergang. Immerhin darin hatten Sozialdemokraten und Kommunisten etwas Gemeinsames.

Beide Parteien, die sich nach 1945 so lautstark ihres »antifaschistischen Kampfes« rühmen sollten, haben im Angesicht der Gefahr versagt. Sie schlugen, wenn nun auch mit anderen Kampfwörtern, die Schlacht von 1918/19. Beide standen unausgesprochen unter dem Rechtfertigungsdruck, den eine Parteispaltung verursacht und der die Spaltung nur weiter verschärft. Man findet Gründe nicht mehr nur in der in die Spaltung mündenden Vergangenheit, sondern immer neue in der Gegenwart, im politischen

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Alltag, die die alten Gründe rechtfertigen sollen. Auf beiden Seiten häuft sich so schließlich ein Berg von Hassargumenten an, der es unmöglich macht zusammenzuarbeiten, nicht einmal gegen eine für beide tödliche Gefahr.

Die Diskussionen über die Mitschuld am Aufstieg des Nationalsozialismus haben auch nach dem Krieg nicht aufgehört. Sie dienten aber vor allem tagespolitischen Zwecken. Die KPD warf der SPD vor, die Einheitsfront nicht gewollt zu haben, und die SPD der KPD, die Arbeiter gespalten zu haben. Beide Vorwürfe treffen zu. Die so genannte Einheitsfrontpolitik der KPD hatte das Ziel, die SPD zu vernichten. Die antinazistische Politik der SPD verzichtete von vornherein auf den Faktor KPD. Alles andere wäre auch ein Wunder gewesen, denn seit dem 4. August 1914 setzte die SPD im Zweifelsfall auf das Bündnis mit den »nationalen Kräften«, und seit der Revolution waren der Sozialdemokratie zweifelhafte Demokraten näher als der feindliche Bruder auf der linken Seite. Diese Politik setzte die Partei auch fort, als die Nazis nach der Macht griffen. Nicht nur linke Sozialdemokraten verzweifelten an der Unbeweglichkeit ihrer Partei, auch vom rechten Flügel kamen harsche Vorwürfe. Julius Leber, Carl Mierendorff oder Kurt Schumacher verdammten die Inaktivität der Parteiführung.

Die Sozialdemokratie nahm sich durch die Tolerierung sämtliche strategische Optionen. Sie tolerierte, bis Hindenburg das erste Präsidialkabinett durch das zweite ersetzte. Es trat nun Franz von Papen auf die Bühne, Zentrumspolitiker wie sein Vorgänger, aber noch weiter am rechten Rand dieser konservativen katholischen Partei. Papen bildete ein Kabinett aus Kreisen reaktionärer Kaiserverehrer. Er buhlte um die Reichstagsfraktion der Nazis. Nach zwei Wochen Amtszeit hob er das Verbot von Hitlers Bürgerkriegstruppen SA und SS auf, und sieben Wochen nach Amtsantritt schleifte er die letzte Bastion der Demokratie: Per Notverordnung des Präsidenten Hindenburg jagte er die geschäftsführende preußische Landesregierung aus dem Amt und ernannte sich selbst zum Reichskommissar für Preußen.

Da half es nicht mehr viel, dass der »Preußenputsch« schon im Oktober 1932 vom Staatsgerichtshof als verfassungswidrig verurteilt wurde und Ministerpräsident Otto Braun seine Amtsgeschäfte wieder aufnehmen konnte, bis ihn dann wenig später die Nazis ins Schweizer Exil zwangen. 

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Der »Preußenputsch« vom 20. Juli 1932 entlarvte auf einen Schlag die wortreichen Ankündigungen der SPD-Führung, Anschläge auf die Demokratie auch mit außerparlamentarischen Mitteln zu verhindern. Nichts geschah, als ein Leutnant mit zwei Begleitsoldaten den großen Carl Severing aus seinem Amtszimmer jagte. Der Innenminister war Chef der preußischen Polizei, gerade auf ihn und seine Truppen hatten die Demokraten gebaut. Statt Widerstand gab es Worte. Wenn sie es nicht schon längst gewusst hatten, jetzt war allen sonnenklar, dass diese Sozialdemokratische Partei nur noch geeignet war, als Opfer in die Vorgeschichte des Dritten Reichs einzugehen.

»Auch in unserer Partei hat der 20. Juli eine Rolle gespielt, und denjenigen gegenüber, die den 20. Juli immer wieder zum Streitgegenstand in der Partei machen wollen, möchte ich betonen, dass nach meiner Beurteilung die Stimmung in der Partei in bezug auf politische Haltung und Taktik selten einmal eine so einheitliche gewesen ist wie gegenwärtig. Wenn eine Kritik an der Partei erfolgt ist, so ist das eine ganz natürliche Auslösung des Gefühls: Wo bleibt hier die grade Führung, die uns klar das Ziel erkennen lässt, auf das wir losmarschieren könnten usw.? Ist nicht der Führer daran schuld? Und man denkt nicht daran, dass zu dem hohen Ziel auch krumme Wege notwendig sind. Aus dieser Gefühlseinstellung heraus ist meiner Überzeugung nach die Kritik geboren. Als ich heute morgen nach Berlin mit dem Genossen Vogel fuhr und meinen Wagen steuerte, musste ich wegen des starken Nebels sehr langsam fahren. Da habe ich mir gesagt, so ungefähr fährst du jetzt auch in der Politik. Aber alle andren Parteien müssen das auch tun. Wenn du jetzt Vollgas geben würdest, dann würden alle sagen: Der haut aber ab! So neblig wie draußen die Witterung heute ist, so neblig ist auch die politische Situation für uns alle. Wir fahren langsam. Nicht nur die Autofahrer haben dafür Verständnis, sondern auch die, die im Auto sitzen. Ihr werdet wohl sagen, dass ich es heute sehr leicht habe, diesen Vergleich zu ziehen, weil es neblig ist.«

Der SPD-Vorsitzende Otto Wels auf einer Parteivorstandssitzung, Dezember 1932

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Betrachtet man die Diskussionen in den Führungsgremien der SPD gegen Ende der Weimarer Republik, so kann man im Rückblick nur die Schlussfolgerung ziehen, dass die Partei sich aufgegeben hatte. Manche verbargen die Einsicht hinter pathetischen Ankündigungen, aber die SPD war längst am Ende, als die Nazis sie schließlich verboten. Sie fand nicht den Mut zum außerparlamentarischen Kampf. Der eigens dafür geschaffene Kampfverband, das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, blieb untätig bis zu seinem Verbot, und der Zusammenschluss des Reichsbanners mit den sozialdemokratisch orientierten Freien Gewerkschaften unter dem martialischen Namen »Eiserne Front« erwies sich als Papiertiger.

Die Parteiführung wurde von der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler kalt erwischt. Der Parteivorsitzende Otto Wels befand sich zur Kur in Ascona, aber auch in seiner Anwesenheit hätten die Genossen mit Mehrheit beschlossen abzuwarten. Auf keinen Fall sollten Massenaktionen initiiert werden, denn diese würden die angeblich auseinander strebenden rechten Koalitionäre nur zusammentreiben.

Die sozialdemokratische Führung vertraute auf das Gewaltmonopol eines Staats, dessen Unzulänglichkeit aber mittlerweile auch viele SPD-Mitglieder erkannt hatten. Was konnte man von der Reichswehr erwarten, die dem gestürzten Kaiserreich so viel näher stand als der Demokratie? Die Führung der Reichswehr plante schon die Revanche für Versailles, und da waren ihr die Demokratiefeinde allemal näher als die Sozialdemokraten, auch wenn diese sie an keiner finsteren Absicht hinderten. Was sollte man von einer Justiz halten, die Mörder von der politischen Rechten mit Samthandschuhen anfasste und unerbittlich auf Linke einschlug, wo sich nur die Gelegenheit bot? Das staatliche Gewaltmonopol war kein Bollwerk gegen Hitler, das hätten die Sozialdemokraten wissen müssen. Viele Zeitgenossen wie Kurt Tucholsky oder Carl von Ossietzky wussten es und verzweifelten an der abenteuerlichen Untätigkeit der SPD oder dem wirkungslosen Abenteurertum der KPD.

Die Regierung Franz von Papens brauchte die Sozialdemokratie nicht mehr, und so war ihre parlamentarische Rolle erschöpft. Der letzte Weimarer Reichskanzler Kurt von Schleicher, der große Intrigant, versuchte die Gewerkschaften, die Sozialdemokratie und sogar den nationalrevolutionären Strasser-Flügel der NSDAP zu einem Regierungsbündnis zu überreden. Aber mehr als Gespräche gab es nicht, auch weil die SPD allen Grund hatte, Schleicher zu misstrauen. Aber es hätte sich gelohnt, einen letzten Kraftakt gegen Hitler zu versuchen.

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Hitlers nationale Revolution

Gewiss, wir wissen heute mehr als die Akteure der sterbenden Republik. Die damals Handelnden ahnten nicht, was der Nationalsozialismus bedeutete. Erst nach dem 30. Januar 1933 wurde klar, dass das NS-Regime mit ungebremster Radikalität alle Institutionen der Republik zerstören sollte und nicht einmal den Anschein erwecken wollte, sich bei der Verfolgung seiner Gegner an irgendein Recht zu halten. Aber immerhin, angekündigt hatten die Nazis, was sie tun wollten. Und ein Vorbild dafür gab es auch, nämlich den italienischen Faschistenführer Benito Mussolini. Aber sogar die Diktatur des einstigen linken Sozialisten, der mit seinen Gegnern auch nicht nach Recht und Gesetz umsprang, sollte vergleichsweise gemäßigt bleiben. In den Wochen vor Hitlers Machtantritt galt das faschistische Italien als das Menetekel schlechthin. Um die Mitglieder zu beruhigen, erklärten führende Sozialdemokraten immer wieder: »Deutschland ist nicht Italien!« »Hitler ist nicht Mussolini!« In diesem Punkt hatten sie Recht, wenn auch in anderer Weise.

Das Mordsystem des Nationalsozialismus lässt sich mit Blick auf die Zahl seiner Opfer nur mit dem Mordsystem Stalins vergleichen. Im Blick auf die Systematik seiner Verbrechen, auf den Ausrottungswillen seiner Führer aber findet es keinen Vergleich in der Weltgeschichte. Manches davon deutete sich bereits in den ersten Monaten der braunen Diktatur an. Mord und Totschlag begannen am Tag der Machtübertragung an Hitler.

Die deutschen Konservativen haben sich schließlich der »nationalen Revolution« angeschlossen; die wenigen, die widerstanden, haben zu lang gebraucht, um das Wesen des NS-Staats zu begreifen. Weil den Kommunisten die Abgeordnetenmandate durch einen Willkürakt aberkannt waren, blieben nur die Sozialdemokraten, die im März 1933 der Errichtung der Diktatur durch das Ermächtigungsgesetz widersprachen. Neun Fraktionsmitglieder waren bereits verhaftet. 

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Im mutigen Widerspruch des Parteivorsitzenden Otto Wels, unter dem höhnischen Gejohle der SA und bereits körperlich bedroht durch Hitlers Schlägerbande, spiegelte sich aber auch die Inkonsequenz der sozialdemokratischen Politik in der Weimarer Republik. Noch in der Reichstagsdebatte über das Ermächtigungsgesetz im März 1933 verteidigte Wels die nationale Gesinnung der Sozialdemokratie:

»Der außenpolitischen Forderung deutscher Gleichberechtigung, die der Herr Reichskanzler [Adolf Hitler] erhoben hat, stimmen wir Sozialdemokraten umso nachdrücklicher zu, als wir sie bereits von jeher grundsätzlich verfochten haben. (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Ich darf mir wohl in diesem Zusammenhang die persönliche Bemerkung gestatten, dass ich als erster Deutscher vor einem internationalen Forum, auf der Berner Konferenz am 3. Februar des Jahres 1919, der Unwahrheit von der Schuld Deutschlands am Ausbruch des Weltkrieges entgegengetreten bin. (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Nie hat uns irgendein Grundsatz unserer Partei daran hindern können oder gehindert, die gerechten Forderungen der deutschen Nation gegenüber den anderen Völkern der Welt zu vertreten.«

Die Kriegsschuldlüge, der ideologische Sündenfall der Sozialdemokratie und der Ausgangspunkt der Bündnisversuche mit den Rechtskräften, wirkte fort und versperrte auch am letzten Tag der Republik den Blick auf die Wahrheit von 1918. So schloss sich der Kreis.

 

Der Weg in den Untergang

Es ist notwendig, den Weg zum Ende der Sozialdemokratie zu beleuchten. Am Tag nach der Machtübernahme Hitlers erklärte der SPD-Reichstagsfraktionsvorsitzende Rudolf Breitscheid:

»Es ist begreiflich, dass man in den Diskussionen jetzt in erster Linie spricht von außerparlamentarischen Aktionen und die Frage ventiliert: Massenstreiks, Einzelstreiks, Demonstrationen mit dem Ziel, dass etwas anderes und mehr daraus wird als ein Marsch durch die Straße. Wir aber stellen die Gegenfrage: Ist der Augen-

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blick zu einer großen außerparlamentarischen Aktion gekommen? (...) Ich will meine Meinung dazu sagen. Wenn Hitler sich zunächst auf dem Boden der Verfassung hält, und mag das hundert Mal Heuchelei sein, wäre es falsch, wenn wir ihm den Anlass gäben, die Verfassung zu brechen, ganz abgesehen davon, dass wir in demselben Augenblick die widerstrebenden Kräfte innerhalb des Kabinetts zusammenschweißen würden.«

Statt auf Widerstand setzte Breitscheid darauf, dass die Partei »für den Augenblick dieses Verfassungs­bruches gerüstet sein« müsse. In diesem Sinn hatte sich auch der Parteivorstand zu Hitlers Ernennung zum Reichskanzler geäußert:

»Wir führen unseren Kampf auf dem Boden der Verfassung. (...) Jeder Versuch der Regierung, ihre Macht gegen die Verfassung anzuwenden oder zu behaupten, wird auf den äußersten Widerstand der Arbeiterklasse und aller freiheitlich gesinnten Volkskreise stoßen. Zu diesem entscheidenden Kampf sind alle Kräfte bereitzuhalten.«

Nun war der Verfassungsbruch bereits mit der Einsetzung von Präsidialkabinetten und deren Regieren durch Notverordnungen gegeben, genauso mit dem »Preußenschlag«. Die SPD aber hatte die Ausschaltung des Reichstags erst ermöglicht, als sie Brüning als »kleineres Übel« unterstützt hatte. Die Nationalsozialisten hatten trotz aller Legalitätsbekundungen Hitlers nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie die demokratischen Institutionen der Republik zerstören würden. Es war also längst Zeit, Widerstand zu organisieren.

Die sozialdemokratischen Mitglieder waren dazu bereit, sie warteten auf das Signal. Parteigliederungen, die nicht stillhalten wollten, wurden an Aktionen gehindert.

Spätestens am Tag des »Preußenputsches« hätte die Parteiführung begreifen müssen, dass »ihre« Republik nicht gefährdet war, sondern schon nicht mehr existierte. Die politischen Kräfte, die nun um die Macht stritten, waren durchweg antidemokratisch. Damit war die Bindung an die Republik von Weimar de facto gelöst und die Sozialdemokratie aus ihrer selbst auferlegten Pflicht befreit, sogar in der Opposition Regierungspartei zu sein.

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In Wahrheit ging es der Parteiführung um etwas anderes, nämlich darum, ein Verbot der Partei zu verhindern. Und dies um jeden Preis. Statt, wie angekündigt, zum Widerstand zu rüsten, verzichtete die SPD auf jede Aktion gegen das Regime. Bis zum Verbot der Partei gab es weitere Verfassungsbrüche und damit Gelegenheiten, die Angekündung wahr zu machen. Man denke an den Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. zum 28. Februar, als die SA zur Hilfspolizei ernannt wurde und Prügelorgien gegen Unschuldige veranstaltete. Am 28. Februar verbot die Regierung die KPD und die sozialdemokratische Presse. 24 Stunden später beseitigte eine Notverordnung des Reichspräsidenten Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit, das Postgeheimnis wurde aufgehoben. Die KPD-Reichstagsmandate nach den Wahlen vom 5. März, die selbst schon unter denkwürdigen Bedingungen durchgeführt wurden, wurden aberkannt. Willkürlich verhafteten die Nazis Abgeordnete, missliebige Beamte wurden entlassen und die Gewerkschaftspresse wurde verboten. Auf was warteten SPD und Gewerkschaften? Auf den Verfassungsbruch.

Der Fraktionsvorsitzende Breitscheid erklärte großtrabend:

»Wir stehen jetzt in einem Klassenkampf in seiner reinsten Form. Es stehen zwei Fronten einander gegenüber: die Arbeiterklasse auf der einen, die vereinigte Reaktion, der vereinigte Kapitalismus, unterstützt von den braunen Scharen des Herrn Hitler, auf der anderen Seite. Nie gab es eine klarere, einwandfreiere Klassenkampfsituation als in diesem Moment, in dieser Zeit. Parteigenossinnen und -genossen! Wir müssen uns bewusst sein, dass nach Hitler nichts anderes mehr kommen kann und kommen darf als eine Regierung, auf die die Arbeiterschaft den maßgebenden Einfluss ausübt.

Für diese Entscheidungsstunde gilt es frei zu sein, für diese Entscheidungsstunde gilt es die Kräfte zu sammeln. Zu früh losschlagen hieße nur die Lebensdauer des Gedankens der Autorität verlängern. Wir müssen wissen, was wir wollen, und wir müssen wollen, was wir wissen; aber wir müssen an diese Dinge mit jener Kaltblütigkeit herangehen, die nicht durch irgendwelches hysterisches Geschrei getrübt werden darf. Wir müssen auch, wenn wir es für richtig halten, in diesem Augenblick innerhalb der Bahn bleiben, die wir bisher beschritten haben. Ich wiederhole: Wir müssen alles tun, um im Einzelnen gerüstet zu sein für den Moment, wo Hitler von der Demokratie abweicht.«

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Es hatte schon am 30. Januar spontane Massendemonstrationen gegen die Hitlerregierung gegeben. Noch an diesem Tag waren Abgesandte von Arbeitervertretungen in Großbetrieben und Arbeiterorganisationen nach Berlin geeilt, um bei Partei und Gewerkschaftsverband Instruktionen abzuholen für den Gegenschlag. In der Nacht des 30. Januar traten die Führungen von SPD und ADGB zusammen, um zu beraten. Weil die Arbeiter fest mit dem Signal zum Kampf rechneten, bereiteten sie sich auf den Generalstreik vor. Am 7. Februar marschierte eine unübersehbare Menschenmenge in Berlin gegen Hitler. Trotzdem warteten Partei und Gewerkschaften ab. Sie hatten Angst, verboten zu werden, wenn sie energische Aktionen durchführten. Am Ende wurden sie zerstört, weil sie das Verbot nicht riskiert hatten.

 

Reisepässe für SPD-Führer

In dem Maß, wie die Parteiführung den Worten keine Taten, sondern nur neue Worte folgen ließ, zerbrach die Partei. »Wir waren weder Fisch noch Fleisch. (...) Offenkundige Schwäche wirbt nicht, sondern stößt zuletzt die treuesten Anhänger ab«, kommentierte verbittert der Reichstagsabgeordnete Wilhelm Hoegner, später bayerischer Ministerpräsident. Die führenden Parteigenossen setzten nicht auf Handeln, sondern hofften, dass die Hitler-Papen-Koalition auseinander fallen werde. Die Nationalsozialisten würden bald abwirtschaften, prophezeiten kluge Genossen (sie waren nicht klüger als die nach wie vor den »Sozialfaschismus« strapazierende kommunistische Konkurrenz, die auf einen baldigen »roten Oktober« setzte). Einige Sozialdemokraten hatten sogar Reichspräsident Hindenburg geraten, die Hitler-Leute endlich mit an die Regierung zu lassen. Sie hatten damit das Kalkül verbunden, dass die Marktschreier sich binnen kurzem selbst entlarven würden. »Ich weiß, dass die, die jetzt an der Macht sind, einer des anderen Teufel sind und jeder seine Interessen wahrnimmt im Kampfe gegen uns. Und in diesem Kampfe geraten sie sich gegenseitig in die Haare«, wusste der Parteivorsitzende Wels zu berichten.

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Die SPD-Führer gingen hart nur gegen eigene Genossen vor, so Anfang April 1933, als die Berliner Jugend­organisation der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) in die Illegalität übergehen wollte, um den Widerstand gegen das braune Regime zu organisieren. Statt Widerstand gab es eine Anbiederung an die neuen Machthaber. Während die bayerische SPD-Landtagsfraktion der dortigen Vorlage eines Ermächtigungsgesetzes aus eher lauen Gründen nicht zustimmte, aber versprach, auf »kleinliche Nörgeleien« zu verzichten, verhandelte die Parteiführung mit Hermann Göring, NS-Reichsminister ohne Geschäftsbereich und preußischer Ministerpräsident, über die Wiederzulassung der sozialdemokratischen Presse. Als Vorleistung erbaten die Genossen Reisepässe. Nachdem sie diese erhalten hatten, mühten sie sich, ihre europäischen Bruderparteien davon abzuhalten, das NS-Regime allzu hart zu kritisieren. So verharmloste die SPD-Führung den braunen Terror, dem nicht nur Kommunisten, sondern längst schon viele Sozialdemokraten zum Opfer fielen. Man muss fast froh sein, dass Hitler und Göring die sozialdemokratische Goodwilltour durch die Nachbarländer nicht belohnten, indem sie das Verbot der SPD-Zeitungen aufhoben. Denn es schaudert einen bei der Vorstellung, was in diesen Zeitungen zu lesen gewesen wäre.

Schon Ende März erfolgte wieder ein Beweis der Loyalität gegenüber der neuen Regierung. Die SPD trat aus der Sozialistischen Internationale aus. Begründung: Diese habe zwei Resolutionen gegen die NS-Machthaber ohne Konsultation mit den deutschen Sozialdemokraten beschlossen. Beide Resolutionen widersprachen dem organisationsnarzisstischen Kurs der Berliner Parteiführung. Die eine kritisierte den Terror, die andere befasste sich mit der Zusammenarbeit mit der Kommunistischen Internationale gegen Faschismus und Nazismus. Damit wollten die deutschen Genossen nichts mehr zu tun haben, und sie hofften, dass die Hitler-Regierung diesen Verrat an den Genossen belohnte. Das tat diese natürlich nicht. Erst nachdem zahlreiche Parteiführer nach Prag emigriert waren, hob Otto Wels im Namen der Exil-SPD diesen fatalen Beschluss wieder auf. Aber da war es zu spät, die Loyalitätsbekundungen gegenüber Hitler hatten die Mitglieder schon demoralisiert.

Alle diese Schritte verursachten in den Parteigremien keinen Streit. Der kam erst auf, als es um die Frage ging, ob die Reichstagsfraktion einer Hitler'schen Friedensresolution zustimmen solle.

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Bis sie den herbeigesehnten Krieg endlich beginnen konnte, legten die braunen Herren nämlich Wert darauf, dem aufgeregten Ausland Friedenswillen zu bekunden. Einigermaßen klarsichtige Zeitgenossen aber erkannten schon früh das diesem Regime eigene Gewaltpotential. 1933 ging es Hitler darum, den europäischen Nachbarn mitzuteilen, dass Deutschland nach Gleichberechtigung strebe.

 

Lobe spaltet die Partei

Einige SPD-Führer, auch der Parteivorsitzende Wels, gingen Ende April/Anfang Mai auf Grund eines Parteibeschlusses in die Emigration. Sie rieten ihren in Deutschland gebliebenen Genossen, der Reichstagssitzung am 17. Mai fernzubleiben, weil dort über die Hitler'sche Friedensresolution abgestimmt werden sollte. Eine Zustimmung zur Resolution konnte nur fatale Wirkungen auf die europäische Arbeiterbewegung und die Regierungen der Nachbarstaaten haben.

Die im Reich verbliebenen Parteiführer um den ehemaligen Reichstagspräsidenten Paul Lobe und die noch in Freiheit befindlichen SPD-Abgeordneten im preußischen Landtag und im Reichstag wollten diesen Kotau. Sie änderten ihre Position auch nicht, als am 2. Mai die Gewerkschaften zerschlagen wurden, nachdem diese noch am »Tag der nationalen Arbeit« hinter Hakenkreuzfahnen hermarschiert waren. Die Führung des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) hatte sich bald nach der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes von der SPD distanziert im Glauben, sich dadurch zu retten. Natürlich stachelte dieses opportunistische Zugeständnis den Vernichtungswillen der Nazis nur an.

Am 17. Mai stimmten 48 von 65 anwesenden sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten für Hitlers Friedensresolution. Lobe und Genossen hätten längst begreifen müssen, dass das NS-Regime jede Unterwerfungsgeste mit neuer Unterdrückung beantwortete. Wo die braunen Herren eine Schwäche beim Gegner erkannten, setzten sie nach bis zu dessen Vernichtung. Aber vorher gaben sie ihren Opfern noch die Gelegenheit, sich selbst zu diskreditieren. Lobe und die in Berlin verbliebenen Parteifunktionäre aber stimmten nicht nur Hitlers Friedensheuchelei zu, sie distanzierten sich

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sogar offiziell von den in die Emigration gegangenen Parteiführern. Am 19. Juni 1933 wählte eine Reichskonferenz einen neuen Parteivorstand. Gleichzeitig entzog sie der Emigrationsparteiführung die Ämter. Damit war die Partei gespalten.

Der neue Parteiführer in Deutschland, Paul Lobe, nahm das Angebot der »loyalen Mitarbeit« ernst, das Otto Wels in seiner letzten Rede im Reichstag vorgetragen hatte. Zu Recht warf er dem alten Parteivorstand vor, diese - fatale - Linie verlassen zu haben. Dieser hatte seinen Fehler endlich begriffen. Die Stimmung gegen die ehemaligen Parteivorstandsmitglieder im Ausland sei gereizt gewesen, berichtete der Reichstagsabgeordnete Wilhelm Hoegner, der an der Konferenz in Berlin teilgenommen hatte.

Die Spaltung hatte nur deshalb keine größere Bedeutung, weil die SPD drei Tage nach der Reichskonferenz der Löbe-Fraktion verboten wurde. In Abgrenzung zur Politik der Reichskonferenz, aber auch zur gesamten Partei am Ende der Weimarer Republik nannten sich die Sozialdemokraten nun »Sopade«. Julius Leber, der das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 mitplanen und einer neuen Regierung als Innenminister angehören sollte, saß im Gefängnis, als die SPD verboten wurde. Er schrieb an seine Frau: 

»Nun sind wir also endgültig verboten! Ich weiß nicht, ob es möglich war, dieses Schicksal noch abzuwenden seit dem 23. [Ermächtigungsgesetz] oder dem 5. März [Reichstagswahlen] oder dem 30. Januar [Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, C. D.]. Aber soviel weiß ich: Etwas hinzugelernt hatten unsere maßgebenden Leute nicht einmal in diesen Monaten. Sie waren wirklich von Gott verlassen.« 

Ein anderer Lübecker Sozialdemokrat, Willy Brandt, schreibt in seinen Memoiren: »Wir gingen mit sauberen Händen, aber doch mit der Last der Mitverantwortung für das Scheitern der deutschen Demokratie: damit für das Unglück, das über Deutschland und Europa kommen sollte.«

 

Revolution machen

Wenn man so will, dann war der Untergang von 1933 die letzte Konsequenz des Versagens von 1918/19. Die Sozialdemokraten hatten die Revolution gestoppt, bevor sie die Machtbastionen der Rechten zerschlagen konnte. Als die SPD die Macht hatte und die Unterstützung eines Großteils der Deutschen dazu, hat sie die Macht aus den Händen gegeben.

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In den Jahren von 1918 bis 1932 identifizierte sich die SPD mit dem von ihr geschaffenen Staat. Sie war die Staatspartei. Wenn es auch auf dem linken Flügel der Partei oft rumorte, hat sie ihre über diesen Staat hinausreichenden programmatischen Ziele nicht verwirklichen wollen. Ihre gesellschaftsverändernden Absichten hatte sie gewissermaßen an die KPD abgegeben, die aber die Idee des Sozialismus spätestens seit Mitte der zwanziger Jahre in Stalinhörigkeit erstickte. 

Die Sozialdemokratie musste ihren Staat gegen den Angriff des Stalinismus verteidigen, weil die demokratische Republik der beste Ausgangspunkt für den Sozialismus war. Aber die SPD begriff den Staat von Weimar als Endpunkt, trotz anders lautender Programme. Die Parteiführung erhielt all die Jahre große Unterstützung für einen Kurs, der wie ein Sieg des Zentrismus in der Revisionismusdebatte aussah: Wenn es einen Weg zum Sozialismus geben sollte, dann würde die Geschichte ihn weisen. An der theoretischen wie politisch-praktischen Unbeweglichkeit prallten die Erneuerungsimpulse des linken Flügels ab. Der Revisionismus ä la Bernstein meldete sich nach der niedergeschlagenen Revolution hin und wieder zu Wort, um schließlich in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Man mag es als Erfolg Bernsteins und seiner Mitstreiter oder Nachfolger ansehen, dass sie die sozialdemokratische Doktrin vom blanquistischen Element bei Marx befreiten. Aber ursprünglich hatte der Revisionismus gegen den geistigen Stillstand der Partei protestiert, war er entstanden als Reaktion auf die vulgärmarxistische Erstarrung der Sozialdemokratie unter Bebel und Kautsky.

Die programmatische und die politische Identität der SPD klafften weit auseinander. Die Partei war schizophren. Ihre Daseinsberechtigung verdankte sie ihrem sozialistischen Ziel, ihre Funktion aber bestand darin, die Arbeiterbewegung in die bürgerliche Gesellschaft einzubeziehen. So wurde die kapitalistische Gesellschaft in Maßen, die Arbeiterbewegung dafür umso stärker verändert. Vor allem am Ende der Weimarer Zeit offenbarte sich ein grotesker Organisationsfetischismus: Der Erhalt der Partei war wichtiger als die Beachtung ihrer raison d'etre. Neu war das nicht, schon am 4. August 1914 hatten viele Sozialdemokraten ihre Zustimmung zum Krieg begründet mit dem Argument, im anderen Fall hätte ein Verbot der Partei gedroht.

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Ein solches Verbot aber hätte die programmatische, moralische und geistige Identität der SPD keineswegs zerstört. Weil die Partei ihre geistige Identität schon weit vor 1914 - mit dem Hinweis auf diese Identität! - verleugnet hatte, war ihre ursprüngliche Existenzberechtigung erodiert. Sie verlor dadurch an Halt. Sie gab die Systemüberwindung auf, um ihr Schicksal mit dem Weimarer System zu verknüpfen. In dem Maß, wie das Weimarer System an Massenunterstützung und Ausstrahlungskraft verlor, verlor die SPD an Kraft. Der Sozialismus irrte noch als Heilslehre durch Reden und Papiere, als identitätsstiftendes Elixier mit schrumpfender praktischer Bedeutung.

Als alles verloren war, ging der Streit im Exil los. Trotz aller Bemühungen, die politische Arbeit im anbrechenden Dritten Reich aufrecht zu erhalten, war die Partei bedeutungslos geworden. Gelegenheit also, auf Vergangenes zurückzublicken und Lehren für die ungewisse Zukunft zu ziehen. Schon im Lauf des Jahres 1933 wurde klar, dass das NS-Regime nicht daran dachte abzuwirtschaften. Ganz im Gegenteil, es baute seine Macht aus und gewann auch Menschen für sich, die Hitler zuvor abgelehnt hatten.

In Prag, wo der Exilvorstand der SPD bis zur »Erledigung der Tschechoslowakei« durch Hitler residierte, trafen sich die Genossen unter Führung von Otto Wels, um über die Strategie zu streiten. Nicht zuletzt ging es um die Frage, wie sich das Verhältnis zu den gleichfalls verfolgten Kommunisten gestalten solle. Ein wesentliches Ergebnis dieser Diskussionen war das Prager Manifest der Sopade, quasi das neue Parteiprogramm, in dem erklärt wird, dass »die Einigung der Arbeiterklasse zum Zwang [wird], den die Geschichte selbst auferlegt«. 

Das Programm beschreibt einen revolutionären Weg zum Sozialismus unter Führung der Sozialdemokratie. Das Manifest zerschlägt die Erstarrung und die Dogmen des Spätzentrismus und verlangt Aktionen. Der Sozialismus ist nun das Ergebnis des Kampfes der Arbeiterklasse. Die Sozialdemokratie will nun Revolution machen, und dies nicht nur, um die bürgerlichdemokratischen Verhältnisse der Weimarer Republik wiederherzustellen, sondern um den Sozialismus als Endziel zu erreichen. Erst jetzt überwindet die Partei Kautsky und Bernstein und ist gewissermaßen bei Rosa Luxemburg angekommen, nämlich bei der Verbindung des Kampfes für Reformen mit der sozialistischen Revolution: »Freiheit bis zur völligen Aufhebung aller Ausbeutung und aller Herrschaft von Menschen über Menschen!« Das war auch eine Absage an die Verlockung, sich mit Stalin einzulassen, Hitlers vermeintlichem Hauptfeind.

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»Der Sturz der Despotie wird sich, wenn nicht äußere Katastrophen ihn herbeiführen, nur in der gewaltsamen Niederringung, nur durch den Sieg im revolutionären Kampfe vollziehen. Er wird sich ergeben, wenn die Bedingungen einer objektiv revolutionären Situation ausgenützt werden von einer entschlossenen, von radikalem Kampfgeist durchseelten, von einer erfahrenen Elite geführten Partei des revolutionären Sozialismus. Er kann nur erwachsen aus der Tat der Massen selbst.

Diese Art der Eroberung der Macht bestimmt die Art ihrer Ausübung.

Im schweren, opferreichen, leidenschaftlichen Ringen um den Sturz der Diktatur erfüllt sich die Arbeiterbewegung mit radikalem, kompromisslosem Geist. Der politische Umschwung von 1918 vollzog sich am Abschluss einer konterrevolutionären Entwicklung, die durch den Krieg und die nationalistische Aufpeitschung der Volksmassen bedingt war. Nicht durch den organisierten, vorbereiteten, gewollten revolutionären Kampf der Arbeiterklasse, sondern durch die Niederlage auf den Schlachtfeldern wurde das kaiserliche Regime beseitigt. Die Sozialdemokratie als einzig intakt gebliebene organisierte Macht übernahm ohne Widerstand die Staatsführung, in die sie sich von vornherein mit den bürgerlichen Parteien, mit der alten Bürokratie, ja mit dem reorganisierten militärischen Apparat teilte. Dass sie den alten Staatsapparat fast unverändert übernahm, war der schwere historische Fehler, den die während des Krieges desorientierte deutsche Arbeiterbewegung beging.

Die neue Situation schließt jede Wiederholung aus. Die Niederwerfung des nationalsozialistischen Feindes durch die revolutionären Massen schafft eine starke revolutionäre Regierung, getragen von der revolutionären Massenpartei der Arbeiterschaft, die sie kontrolliert. Die erste und oberste Aufgabe dieser Regierung ist es, die Staatsmacht für die siegreiche Revolution zu sichern, die Wurzeln jeder Widerstandsmöglichkeit auszureißen, den Staatsapparat in ein Herrschaftsinstrument der Volksmassen zu verwandeln. Der revolutionären Regierung obliegt deshalb die sofortige Durchführung einschneidender politischer und sozialer Maßnahmen zur dauernden völligen Entmachtung des besiegten Gegners.«

Aus dem Prager Manifest der Sopade, 1934

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