6. Sozialismus als Tagesaufgabe
Der Neuanfang des demokratischen Sozialismus
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Eine Stunde Null hat es nie gegeben, nicht einmal für die Sozialdemokraten. Ein Neuanfang aber war nötig. Die Sozialdemokratie hatte nur in den Köpfen vieler ehemaliger Mitglieder in wirkungslosen Resten in der Emigration überlebt. Die Ankündigung, den Marxismus in allen seinen Formen auszurotten, hatte Hitler aber nicht wahr machen können. Schon in der Endphase des großen Krieges trafen sich in den befreiten Gebieten Deutschlands Sozialdemokraten und gründeten Ortsvereine.
Die neue Partei entstand von unten her. Am wichtigsten sollte sich die Neugründung des Ortsvereins Hannover erweisen. Dort hatte schon im April 1945 der ehemalige Reichstagsabgeordnete Kurt Schumacher seinen Willen bekundet, schnell überregionale Parteistrukturen unter seiner Führung zu schaffen. Schumacher wartete nicht auf Legitimation — der Londoner Exilvorstand verlieh sie ihm später —, sondern betrachtete sich von vornherein als neuen Führer der zu erneuernden Partei.
Man mag diese Idee für Größenwahn halten, und ein Element davon war unübersehbar. Aber bis 1952, als er starb, war Schumacher identisch mit seiner Partei, und genauso sah er es. Mit eisernem Besen zwang er seine Genossen auf seinen Kurs, und wenn Landesfürsten wie Wilhelm Hoegner in Bayern dem Zentralismus widerstehen wollten, hielten sie unter der Wucht von Schumachers Führungsanspruch nicht allzu lange durch.
Eine erste beeindruckende Kostprobe seines Willens zur Macht hatte Schumacher bereits zu Weimarer Zeiten gegeben. In Stuttgart hatte er sich wegen des Panzerkreuzerbaus mit dem dortigen Granden der Parteiorganisation und Herausgeber des örtlichen SPD-Blatts, Wilhelm Keil, angelegt. Keil hatte seinen Genossen in der <Schwäbischen Tagwacht> empfohlen, die Zustimmung der SPD-Minister zum Bau des <Panzerkreuzers A> zu akzeptieren.
Das sei besser als das Ende der Koalitionsregierung. Und dann war Keil in Urlaub gefahren. Schumacher mobilisierte unterdessen den Widerstand gegen Keils Position. Er tat dies so geschickt und überzeugend, dass er zwei Jahre später zum Vorsitzenden der Stuttgarter Parteiorganisation gewählt wurde. Außerdem gelang ihm der Sprung auf den vierten Platz der Landesliste für die Reichstagswahlen.
Der gleichfalls vorstandskritische Reichstagsabgeordnete Julius Leber sah in Schumacher einen »verbissenen doktrinären Kaffeehausmarxisten« und interpretierte dessen Rhetorik als »persönlich befriedigendes Instrument seiner streitlustigen Überlegenheitsbekundungen«.
Schumacher hatte im Ersten Weltkrieg einen Arm verloren, nach dem Zweiten wurde ihm auch ein Bein amputiert. Er hatte zehn der zwölf Jahre des »Tausendjährigen Reiches« in Konzentrationslagern verbracht. Er personifizierte als Opfer das Elend Deutschlands und der Sozialdemokratie. Er hatte bereits vor 1933 die Erstarrung der SPD-Führung kritisiert und betrachtete seine Partei als mitschuldig am Sieg der Nazis. Aus seiner Opferbiografie und seiner Haltung zur Parteiführung leitete er den Anspruch ab, dass er allein berufen sei, die Sozialdemokratie wieder aufzubauen und zu führen. Die politische Wirklichkeit gab ihm Recht.
Kurt Schumacher widersprach der Kollektivschuldthese, wonach alle Deutschen verantwortlich seien für die nationalsozialistische Katastrophe. Diese Behauptung diene nur dazu, die Schuldigen zu tarnen. Das waren in seinen Augen die Kapitalisten. Für ihn war der Kapitalismus der Nährboden des NS-Regimes, und deswegen trat er für den »Sozialismus als Tagesaufgabe« ein. Aber auch den Kommunisten warf er ihr Versagen von 1933 vor, sie hätten den »klassenpolitischen Wert der Demokratie« nicht erkannt. Er forderte, nicht nur die politischen Machtverhältnisse in Deutschland grundlegend umzugestalten, sondern auch die wirtschaftlichen:
»Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel erfolgt auf die verschiedenste Weise und in den verschiedensten Formen. Es gibt für den Sozialismus keine Einförmigkeit und keine Unfreiheit, keine Kollektivierung und keine Vermassung, keinen kommandierten Kasernensozialismus, keine Uniformität.
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Es gibt keine sozialistische Gesellschaft ohne die mannigfaltigsten Betriebsarten und Formen der Produktion. Der Sozialismus will so viel wirtschaftliche Selbstverwaltung wie möglich, unter stärkster Beteiligung der Arbeiter und Verbraucher. (...)
Die deutsche Sozialdemokratie sieht ihre politische Aufgabe darin, die umstürzenden Veränderungen des gesellschaftlichen Seins, die unvermeidlich und notwendig sind, in das politische Bewusstsein der Massen zu übertragen und die Mehrheit des Volkes für die Vorstellungen und Begriffe des Sozialismus zu gewinnen.«
Prüfung vor dem Richterstuhl der Geschichte
Schumacher propagierte eine aktive Politik, die keine programmatische Tradition hat, abgesehen vielleicht vom Prager Manifest der Sopade, das gleichfalls nicht darauf zielte, die Weimarer Demokratie wieder herzustellen, sondern den Kapitalismus in den Sozialismus überführen wollte. Aber der Sozialismus, so Schumacher, sei ohne Demokratie nicht denkbar, die Demokratie wiederum ohne Sozialismus nicht vollendet. In Schumachers SPD war der Marxismus kein Kriterium für die Mitgliedschaft, aber der übermächtige Parteivorsitzende sah in der Lehre von Karl Marx »die Methode, der wir, besonders in der Analyse angewendet, mehr Kraft und mehr Erkenntnisse und mehr Waffen zu verdanken haben als jeder anderen wissenschaftlichen und soziologischen Methode in der Welt«. Aber wie dereinst die neukantianischen Kritiker Bernsteins hielt er den Sozialismus nicht für eine historische, sondern für eine moralische Notwendigkeit. Dies umso mehr, als sich der Kapitalismus, vor allem die Großindustrie, durch den Nazismus diskreditiert hatte. Außerdem hielt Schumacher den Kapitalismus für ein »Hemmnis der Erholung und des Fortschritts«. Deutschland sei nicht mehr in der Lage, »eine privatkapitalistische Unternehmerwirtschaft zu ertragen und Unternehmerprofite, Kapitaldividenden und Grundrenten zu zahlen«. Für ihn war es selbstverständlich, dass allein die SPD die Gesellschaft zum Sozialismus führen könne.
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»Aus dem Klassencharakter des Nazismus ergibt sich zu seiner Überwindung als Konsequenz: der Sozialismus. Die Voraussetzung ist die völlige Zerbrechung der finanzkapitalistischen, imperialistischen und militärischen Linie. Die Arbeit kann sich nicht im Negativen erschöpfen. Das positive Ziel und einzige ausreichende Sicherung gegen die Wiederkehr solch volkszerstörender und weltgefährdender Kräfte ist die Änderung der ökonomischen und gesellschaftspsychologischen Voraussetzungen der deutschen Politik.
Als geistige und politische Grundlage steht neben dem Sozialismus und völlig mit ihm zusammengewachsen die Demokratie. Die Demokratie ist untrennbar von Begriff und Ethik des Sozialismus. Der Sozialismus ist in sich demokratisch, ist als Kampf um die geistige, politische und ökonomische Befreiung der arbeitenden Massen ein Kampf um das Recht und die Freiheit gegen Vergewaltigung und Knechtung. Ein auf diktatorischem Wege erkämpfter und behaupteter >Sozialismus< ist kein Sozialismus, sondern bestenfalls Staatskapitalismus oder irgendeine andere überindividualistische Wirtschaftsform.«
Kurt Schumacher, 1945
Schumacher sah die SPD im Kampf mit einer Koalition aus Nationalismus und Kommunismus, die gegnerischen Parteien waren KPD und CDU. In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) vereinigten sich in seinen Augen der alte Nationalismus mit dem revolutionären Totalitarismus, ähnlich wie im Dritten Reich, diesmal von »links«. In seinem übersteigerten Feindbild nahm sogar das mittlerweile völlig bedeutungslose, in sowjetischen Kriegsgefangenenlagern aus deutschen Soldaten gebildete Nationalkomitee Freies Deutschland einen wichtigen Platz ein als Sammelbecken der militärischen Elite, die sich mit den Kommunisten zusammengeschlossen habe. Aber nicht nur in der SBZ erkannte Schumacher eine Kooperation zwischen Kommunisten und Christdemokraten. Auf dem SPD-Parteitag in Nürnberg erklärte Schumacher 1947:
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»Allmählich spielen in Europa und vor allem in Deutschland die Kräfte, die bei den Kommunisten und bei der CDU ihre Zusammenballung finden, sich gegenseitig die Bälle zu. Es wird jetzt in Deutschland und Europa der Versuch gemacht, die politische Macht zwischen Kommunisten und CDU, zwischen nationalem Kommunismus und Kapitalismus zu verteilen. CDU und Kommunisten wollen die beiden großen, harten Mühlsteine sein, zwischen denen die Sozialdemokratie zerrieben wird. (...) Heute sehen die Kapitalisten in der Sozialdemokratie die einzige akute Klassenbedrohung, und die Kommunisten sehen in der deutschen Sozialdemokratie die einzige bedingungslose Kämpferin gegen den totalen Staat und für die menschliche Freiheit.«
Die Kommunisten in der SBZ appellierten ja an »alle einheitsliebenden Deutschen«, und mancher bürgerliche Politiker fiel auf die Einheitsavancen aus dem Osten herein. Dennoch ist Schumachers lautstark bekundete Furcht vor einer Koalition zwischen Kommunisten und bürgerlichen Kräften im Westen weit hergeholt. Dagegen spricht schon allein der Antikommunismus, der in der NS-Zeit übersteigert worden war und weiter wirkte. Genauso wie es Konstanten in der sowjetischen Politik gab, gab es in Deutschland die Kontinuitätslinie des Antikommunismus, der auch nach 1945 zum Teil groteske, zum Teil sogar rassistische Formen angenommen hatte. Natürlich bedienten sich bürgerliche Politiker gern der so einfach zu verwendenden und wirksamen Keule, etwa Adenauer, als er auf Wahlplakaten die SPD denunzieren ließ: »Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau.«
Wer so freiwillig die Opferrolle einnimmt, darf sich nicht wundern, wenn er zu den Verlierern zählt. Der teilweise maßlose Führungsanspruch, kombiniert mit stets neuen Anklagen gegen alle anderen, kapselte die SPD von Teilen der Gesellschaft ab. Sie hätte versuchen müssen, Bündnisse mit allen gesellschaftlichen Gruppen einzugehen, die sich für mehr soziale Gerechtigkeit einsetzten. Sogar Teile der CDU waren ja damals für eine bestimmte Art von Sozialismus, und es wäre klug gewesen, den sozialpolitischen Flügel der Partei gegen die konservativen Kräfte zu unterstützen. Aber Schumacher war nicht zu erschüttern in seiner Überzeugung, dass die SPD die stärkste deutsche Partei mit einem moralisch garantierten Führungsanspruch sei. Was brauchte es da Bündnispartner? Im Sommer 1945 erklärte die SPD in einem Aufruf:
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»Die Sozialdemokratische Partei ist die einzige Partei in Deutschland gewesen, die an der großen Linie der Demokratie und des Friedens ohne Konzessionen festgehalten hat. Darum kann nur sie allein von sich sagen, dass die Grundsätze ihrer Politik eine Prüfung vor dem Richterstuhl der Geschichte bestanden haben. Alle anderen Richtungen in Deutschland sind mehr oder weniger schuld am Aufkommen des Nazismus, haben entweder seine geistigen und politischen Grundlagen oder seine praktischen und taktischen Voraussetzungen geschaffen.«
Natürlich wusste Schumacher, dass dieser Aufruf schönfärberisch war. Die SPD hatte gegen Ende der Weimarer Republik lautere Absichten gehabt, aber keine gute Rolle gespielt. Und Schumacher hatte mit einigen anderen gegen die Unterwerfung protestiert. Er konnte sich bei diesem Appell aber immerhin darauf berufen, dass 1932/33 die SPD als einzige Partei die Demokratie verteidigt hatte. Wenn man Schumachers Bekundungen liest, so drängt sich einem allerdings der Eindruck auf, dass er bei solchen Erklärungen wie dem Aufruf vom Sommer 1945 vor allem an sich dachte. Er war die SPD, und seine moralische Überlegenheit übertrug sich auf seine Partei, die seinen Führungsanspruch angenommen hatte.
Genauso unbeirrbar war Schumacher in seinem Antikommu-nismus. Er hatte ihn in den Auseinandersetzungen mit den Kommunisten vor 1933 ausgeprägt. Diese hatten wiederholt antinazistische Kundgebungen dieser Jahre, an denen auch Schumacher teilnahm, gestört. Wer nun nach 1945 in und außerhalb seiner Partei die sowjetischen Vereinigungsavancen auch nur prüfen wollte, war bald verdächtig, mit dem Kreml zu paktieren. In diesem Punkt arbeitete er gewissermaßen mit Konrad Adenauer zusammen, der ebenfalls alle Vereinigungsbestrebungen aus dem Osten als finstere Machenschaften bekämpfte. Eine deutsche Neutralität, wie sie die Sowjetunion verschiedentlich ins Spiel brachte, war für Adenauer wie für Schumacher ein heimtückisches Projekt, durch das ganz Deutschland am Ende im sich herausbildenden Ostblock landen sollte. Schumacher aber plädierte in einem viele Zeitgenossen skeptisch stimmenden Pathos auch gegen Adenauers starke Hinwendung zu den Westalliierten. Wenn sich Westdeutschland zu sehr an die USA binde, werde die Spaltung zementiert.
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Kerntruppe der Demokratie
Schumachers übersteigerter Nationalismus stieß in der eigenen Partei auf manches Unverständnis. Aber er setzte diesen Kurs gegen alle Widerstände durch und geißelte jeden, der anderer Meinung war. Adenauer schalt er den »Kanzler der Alliierten«, und die Kommunisten waren für ihn ohnehin nur die Verkörperung des sowjetischen Machtstrebens. Wer sich Schumacher in den Weg stellte, bekam Schwierigkeiten.
Der ehemalige Reichstagspräsident Lobe zum Beispiel, der sich sowjetischen Offerten gegenüber offenherziger zeigte als Schumacher, wurde kaltgestellt. Natürlich hatten viele Sozialdemokraten seine unrühmliche Rolle am Ende der Weimarer Republik in Erinnerung. Er verlor sein Bundestagsmandat schon nach der ersten Wahlperiode und wurde 1954 Präsident des Kuratoriums »Unteilbares Deutschland«. Lobes Karriere war damit am Ende.
Die SPD-Führer der Weimarer Zeit sollten nach Schumachers Willen das Gesicht der Partei nicht mehr prägen. Der zweite Mann nach Schumacher war Erich Ollenhauer, von 1928 bis 1933 Vorsitzender der führungskritischen Sozialistischen Arbeiterjugend und erst im Exil Mitglied des Parteivorstands. Aber auch der zweite Mann hatte nichts zu sagen. Willy Brandt erinnerte sich mit einiger Verwunderung an sein erstes Treffen mit dem Parteichef: »Ich begriff etwas widerstrebend die magnetische Wirkung, die er auf viele ausübte. Er bat nicht, sondern forderte. Er wog nicht Argumente gegeneinander ab, sondern schleuderte das Ergebnis seines Nachdenkens in den Zuhörerkreis — und dies mit erheblichem Stimmaufwand.«
»Als ich nach Hannover kam, waren meine Gefühle eher verwirrt. Es war eine gewaltige Sache, daß die Sozialdemokraten sich wieder zu einem Parteitag, jedenfalls für die Westzonen, zusammenfanden, doch zugleich drängte sich die Sorge auf, daß der Prozeß der deutschen (und europäischen) Teilung noch beschleunigt werden könnte. Zuvor schon hatte ich festgestellt: Die Zwangseinheit im Osten trage zweifellos dazu bei, daß sich die Zonengrenzen verfestigen würden. Ich respektierte Schumachers Bedeutung, doch das Apodiktische seiner Aussagen oder Ausbrüche widerstrebte mir, wie auch die
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Absolutheit seines Anspruchs auf Gefolgschaft. Ich hoffte, er würde die Partei wirklich neu begründen wollen, doch befürchtete ich auch, es würde bei kosmetischen Korrekturen der alten Partei bleiben. Unser erstes längeres Gespräch, das mich nicht unbeeindruckt ließ, war in seinem damaligen Büro in der Jacobstraße. Später übernachtete ich häufig - wenn ich während der Blockade zu Gesprächen aus Berlin herüberkam - in seinem Arbeitszimmer, als der Parteivorstand in die Ode-onstraße eingezogen und er ernsthaft erkrankt war. Der Parteitag begann ungewöhnlich stimmungsgeladen im Kantinensaal der Hanomag-Werke, den die Arbeiter nach schwerer Zerstörung wieder hergerichtet und festlich geschmückt hatten. Der Parteitag wurde, wie es schon bei den fast einjährigen Vorbereitungen der Fall gewesen war, eindeutig durch den 50jährigen Mann dominiert, der im ersten Krieg den rechten Arm verloren und unter den Nazis so schwer gelitten hatte (1948 mußte auch noch sein linkes Bein amputiert werden). Die Partei sah in ihm eine Verkörperung des von Hitler unbesiegten Deutschland. Gequält und ausgemergelt wie er war, wurde der >Doktor Schumacher« für viele, über die Reihen der Parteigänger hinaus, zu einem Symbol des geschundenen und schwergeprüften Deutschland. Sein dominierender Charakterzug war ein eiserner Wille zur Macht. Er war ein ungewöhnlicher Mensch, asketisch geworden und unbestechlich geblieben, ein dynamischer Führer und Volkstribun. Wie kaum ein anderer deutscher Politiker der ersten Nachkriegsjahre verstand er es, inmitten extremer Not neue Hoffnung zu wecken. Doch wie andere fand auch ich es nicht leicht, mit ihm zu diskutieren und zusammenzuarbeiten. Die an Fanatismus grenzende Unbedingtheit, mit der er an einer einmal gefaßten Entscheidung festhielt, seine Art des Redens und die Überbetonung nationaler Gesichtspunkte - ich könnte nicht behaupten, daß ich mich mit Schumacher wesensverwandt fühlte.«
Willy Brandt, 1982
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Der Historiker Thomas Stamm schreibt über Schumacher:
»Kurt Schumacher hat geholfen, die Bundesrepublik zu einem festen Bestandteil des demokratischen Westens zu machen. Er hat die autoritären Tendenzen des Faschismus und des Kommunismus gleichermaßen rücksichtslos bekämpft. Doch weil er ein so rücksichtsloser Kämpfer war, fehlte ihm der Sinn dafür, die von ihm verteidigte Demokratie im Kleinen und im Alltag einzuüben. Ein Lehrmeister der Deutschen in praktischer Demokratie ist er nicht geworden.«
Wichtig war Schumacher, das Profil der Partei nach links wie nach rechts abzugrenzen — bei eher verbaler Bekundung des Willens zur Zusammenarbeit mit anderen politischen Kräften. Er wollte die SPD weltanschaulich öffnen, aber den Marxismus als Methode beibehalten. Die Partei sollte nicht nur die Arbeiter führen, sondern auch die Mittelschichten für sich gewinnen. Die SPD war laut Schumacher die einzige sozialistische Partei in Deutschland, sie sollte die Keimzelle eines sozialistischen Westeuropas sein. Weil lediglich die SPD moralisch unbelastet das Hitlerreich überstanden hatte und eine der Ausgangslage angemessene Strategie besaß, musste sie die führende Kraft in Deutschland sein: »Dabei hat die Sozialdemokratische Partei Funktionen, die durch keine andere politische Richtung in Deutschland ersetzt werden können. Sie ist die Kerntruppe der Demokratie, die diesen Gedanken nicht aufgeben kann, ohne sich selbst zu vernichten.« Die Idee, dass Westeuropa sozialistisch werden sollte, hatte nicht nur die SPD. Sie stand hier im Einklang mit der Sozialistischen Internationale. Die erklärte im Jahr 1951:
»Der Sozialismus will das kapitalistische System überwinden durch eine Wirtschaftsordnung, in der das Interesse der Gemeinschaft über dem Profitinteresse steht. Die unmittelbaren wirtschaftlichen Ziele sozialistischer Politik sind Vollbeschäftigung, Produktionssteigerung, stetige Vergrößerung des Wohlstandes, soziale Sicherheit und eine gerechte Verteilung der Einkommen und Vermögen.
Um diese Ziele zu verwirklichen, muss die Produktion im Interesse des Volkes geplant werden. Solche Planwirtschaft ist unvereinbar mit der Konzentration wirtschaftlicher Macht in den Händen weniger; sie erfordert eine wirksame demokratische Kontrolle der Wirtschaft.
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Der demokratische Sozialismus steht daher im scharfen Gegensatz zum Monopolkapitalismus wie zu jeder Form der totalitären Wirtschaftsplanung, denn diese Formen der Wirtschaftsorganisation schließen die öffentliche Kontrolle des Produktionsprozesses aus und sichern nicht eine gerechte Verteilung der Arbeitsprodukte.
Sozialistische Planung kann sich verschiedener Methoden bedienen. Das Ausmaß öffentlichen Eigentums und die Formen der Planung sind durch die Struktur der einzelnen Länder bedingt.«
Nach Schumachers Überzeugung sollten sich alle Sozialisten in der SPD versammeln, auch die ehemaligen Mitglieder der SAP und anderer sozialistischer Gruppen wie etwa »Neu Beginnen«, die aktiv gegen die Nazis gekämpft hatten. »Wir erstreben die einheitliche Partei als demokratische Sozialisten. (...) Die Zukunft hat nur für eine Partei demokratischer Sozialisten im System der Parteien Platz.«
Schon Anfang Mai 1945, der Krieg war noch nicht beendet, sprach sich Schumacher gegen die Vereinigung mit der KPD aus. Er warb dafür, dass Kommunisten Mitglieder der SPD wurden. Gegen eine Einheitspartei aber standen in seinen Augen die machtpolitischen Gegebenheiten. Die KPD war für ihn gebunden an Stalins Direktiven und daher nicht fähig, selbstständig zu handeln: »Die Kommunisten sind ja lediglich eine Funktion der russischen Außenpolitik.« Nur die Sozialdemokratie diene nicht einer ausländischen Macht, sei »nicht russisch und nicht britisch, nicht französisch und nicht amerikanisch«. Von Anfang an wies Schumacher alle Bestrebungen zurück, SPD und KPD zu verschmelzen. Stalins Außenpolitik habe der deutschen Arbeiterbewegung bereits vor 1933 geschadet. Und natürlich hatte sich der Sozialfaschismusvorwurf tief eingegraben in die Erinnerung vieler Sozialdemokraten. Der Hitler-Stalin-Pakt, den auch die deutschen Kommunisten bejubelt hatten, hatte weiteres Misstrauen gesät hinsichtlich der Bereitschaft der KPD, aus ihren Fehlern zu lernen, den eingestandenen wie den nicht eingestandenen. Und die offenkundige Bevorzugung der Kommunisten in der SBZ war ein Grund mehr, vorsichtig zu sein gegenüber der kommunistischen Annäherung.
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Heute liegen die Fakten offen zutage, und es ist leicht, die Vereinigungsambitionen der Kommunisten zu bewerten. Damals, als Schumacher gegen die KPD und ihre Moskauer Auftraggeber polemisierte, waren die Absichten der Kommunisten viel schwerer zu erkennen. Sie hatten in einer Proklamation im Juni 1945 sogar das Eigentum garantiert und sich zum Parlamentarismus bekannt. Und hatte sich die Kommunistische Internationale auf ihrem VII. Weltkongress 1935 nicht selbst scharf gerügt wegen ihrer Angriffe auf die Sozialdemokraten und Sozialisten? Bereits zuvor hatte die KPD auf einer Konferenz erstaunlich deutliche Worte gefunden, um die eigenen Attacken auf die SPD zu rügen.
Durch seinen Führungsanspruch trieb Schumacher die SPD zwar in die Isolierung, aber es bleibt sein Verdienst, die SPD als selbstständige Partei gerettet zu haben. Hinter allen Anbiederungen aus dem Osten entlarvte er den Machtwillen Stalins. Als viele in seiner Partei die Einheitspartei forderten und diese sogar an manchen Orten in den Westzonen bereits gegründet hatten, ignorierte Schumacher den Druck und verweigerte jedes Zugeständnis. Wäre die SPD der antifaschistischen Verlockung erlegen, dann hätten es die anderen Parteien im Westen viel schwerer gehabt, dem auch auf ihnen lastenden Druck hinsichtlich einer Zusammenarbeit mit dem Osten zu entgehen.
Die Geschichte der SPD bis 1989 prägte kaum etwas stärker als der Kampf um die Einheitspartei. Die »Zwangsvereinigung«, wie sie innerhalb und außerhalb der westdeutschen Sozialdemokratie nur noch genannt wurde, begründete einen vehementen Antikom-munismus. In der Tat hatten die Kommunisten die Sozialdemokratie nach der Verschmelzung der beiden Parteien in Ostdeutschland vernichtet. Das machte es der SPD lange Jahre unmöglich, mit Kommunisten zusammenzuarbeiten. Umso größer später die Überwindung, die es kostete, den Dialog mit dem Osten aufzunehmen und zu pflegen. Dazu später mehr. Hier sollen zunächst noch einige Anmerkungen zur »Zwangsvereinigung« folgen.
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Der Kampf um die Einheitspartei
In den Dörfern, Städten, Kreisen und Ländern nicht nur der sowjetischen Besatzungszone hat es eine breite Bewegung für eine Einheitspartei gegeben. Genauso unbestreitbar aber ist, dass der SPD-Vorstand in Berlin von der KPD und der Sowjetischen Militäradministration stark bearbeitet wurde. Auch ist bis heute die Zahl derjenigen nicht festgestellt, die als sozialdemokratische Einheitsgegner oder -Skeptiker bearbeitet, schikaniert, verhaftet und umgebracht wurden. Keine Frage, es hat brutalen Zwang gegeben. Aber es hätte des Zwangs nicht bedurft, um die Einheitspartei zu gründen. Die Gewalt war dem Stalinismus immanent, sie bedurfte keines äußeren Grundes. Das stalinistische System wandte auch dann Gewalt an, wenn es sie nicht benötigte, um seine Ziele zu erreichen. Deswegen ist die Tatsache, dass es Zwang gegeben hat, kein hinreichender Beleg für die These, die Einheitspartei sei ohne die Zwangsvereinigung nicht entstanden.
Das Dilemma der sozialdemokratisch orientierten Geschichtsschreibung wird deutlich, seit die Wende den Historikern den Zugriff auf bis dahin verschlossene Aktenbestände eröffnet hat. Zuvor galt folgende Darstellung: Direkt nach Kriegsende hätten die Kommunisten eine Vereinigung mit der SPD abgelehnt, wohl im Glauben, stärkste Partei werden zu können. Aber bald sei klar geworden, dass trotz allen Zulaufs zur KPD (März 1946: 600 000 Mitglieder) die Sozialdemokraten die stärkste Kraft in der SBZ werden würden, wenn nicht schon waren (März 1946: 680 000 Mitglieder). Deshalb, und um die zahlreichen Positionen in der Verwaltung ausfüllen zu können, habe die KPD seit Herbst 1945 nach »dem großen Blutspender« gesucht und sei daran gegangen, sich die SPD einzuverleiben. Hatte die KPD bis dahin lediglich auf eine Aktionseinheit der beiden Arbeiterparteien gesetzt, so habe sie nun das Projekt SED betrieben. Im Dezember 1945 habe es auf einer Konferenz von je dreißig Spitzenfunktionären beider Parteien (»Sechziger-Konferenz«) zunächst starken Widerstand der SPD gegeben. Deren Vorsitzender Otto Grotewohl und seine Genossen erklärten, eine Vereinigung könne gesamtdeutsch erfolgen, nicht in einer der vier Besatzungszonen. Andere Sozialdemokraten beklagten Übergriffe der Besatzer gegen Sozialdemokraten, die die Vereinigung ablehnten. Das geschah am ersten Tag der Konferenz.
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Am zweiten Tag akzeptierten die Sozialdemokraten überraschenderweise die Verschmelzung mit der KPD. Kurz darauf, im Januar 1946, aber ging der Zentralausschuss der SPD, wie sich der provisorische Parteivorstand nannte, wieder zurück auf seine Position, nur ein Reichsparteitag könne die Vereinigung beschließen. Schließlich aber habe es der Druck der Besatzungsmacht erreicht, dass der SPD-Zentralausschuss einer Vereinigung zustimmte. »Wo sich Ablehnung zeigte, griff die sowjetische Besatzungsmacht massiv ein, unter anderem mit Redeverboten und sogar Verhaftungen von sozialdemokratischen Einheitsgegnern«, schreibt der große Biograf der deutschen Arbeiterbewegung, Hermann Weber, in seinem vorzüglichen Standardwerk zur DDR-Geschichte, das vor der Wende erschienen ist.
Kurz nach der Wende publizierte Hermann Weber einen Aufsatz unter dem Titel Mit Zwang und Betrug, in dem er schreibt: »Bis vor kurzem haben Historiker der DDR überhaupt geleugnet, dass die Bildung der SED 1946 eine Zwangsvereinigung war. Sie sprachen stets vom Freiwilligen Zusammenschlüsse gegen den sich angeblich nur einige >rechte< Sozialdemokraten unter dem Einfluss Kurt Schumachers gewandt hatten. Wenn jetzt die Archive geöffnet werden, dürfte sich durch Einsicht in geheim gehaltene Unterlagen ein ganz anderes Bild ergeben. Schließlich ist schon aus den bisher bekannten Dokumenten und nach dem heutigen Forschungsstand jedem unvoreingenommenen Betrachter klar, dass die Sozialdemokraten zunächst in die Einheitspartei hineingezwungen und danach betrogen und von den sowjetischen und deutschen Kommunisten, den Trägern der Macht, unterdrückt worden sind.«
1996 bekräftigt Hermann Weber seine Position und beruft sich dabei auf die verdienstvolle Quellenedition zur SED-Gründung, die der Berliner Historiker Andreas Malycha 1995 vorgelegt hat. Andreas Malycha, der bis zur Wende am ZK-Institut für Marxismus-Leninismus (IML) arbeitete, hat in der Tat bahnbrechende Forschungsarbeiten zur Gründung der SED und darüber hinaus vorgelegt und dazu einen gewaltigen Quellenberg abgearbeitet. Er spricht an keiner Stelle von »Zwangsvereinigung«, sondern von »Zusammenschluss«, »Verschmelzung« oder »Fusion«. Malycha schildert die »stalinistische Geburtshilfe«, verkürzt aber den Ein-heitsprozess nicht auf seine von Repression geprägten Begleitumstände. In seinem vorzüglichen Buch über die Umwandlung der gerade gegründeten SED in eine stalinistische Partei zeigt er stattdessen, dass die Gewalt umfassend erst nach dem Zusammen-schluss der beiden Parteien eingesetzt hat, als es darum ging, den »Sozialdemokratismus« auszurotten.
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Ich führe das Umdenken der SPD seit Dezember 1945 auf zahlreiche Faktoren zurück, darunter auf den Zwang der Besatzungsmacht. Entscheidend aber war der Druck der Basis, der wiederum nicht ohne Zutun der Kommunisten aus Deutschland und aus Moskau zustande kam, aber auch ohne dies stark gewesen wäre. Hätte der Zentralausschuss unter Otto Grotewohl der Vereinigung nicht zugestimmt, dann wäre sie in den Ländern gegen den Vorstand erfolgt. Am Ende siegte die Hoffnung, dass in der neuen Partei die einstigen Sozialdemokraten die Übermacht gewinnen und sich dem Zugriff der Besatzungsmacht entziehen könnten. Schließlich brachten sie mehr Mitglieder und vor allem auch mehr erfahrene Funktionäre als Mitgift ein. Aber die Braut wurde betrogen - hier hat Hermann Weber recht -, weil sie nicht mit Stalin und Ulbricht gerechnet hatte. Schon binnen kurzer Zeit waren die ehemaligen Sozialdemokraten entweder bekennende Anhänger der Lehren Stalins oder aus der Partei ausgeschlossen, verjagt, verhaftet, wenn nicht gar ermordet. Übrigens waren auch manche Kommunisten gegen die Einheitspartei. Bei ihnen wirkte das Sektierertum der Weimarer Zeit nach, sie wollten lieber kleiner, aber ideologisch »rein« sein.
Hermann Weber beklagt zu Recht, dass Konservative heute der SPD vorwürfen, die Vereinigung 1946 sei freiwillig erfolgt. »Offensichtlich wollen sie damit von der einstigen Mitmacher-Rolle der Blockparteien ablenken.« In der Tat bestehen die ostdeutschen Landesverbände von CDU und FDP bis heute zu einem beachtlichen Teil aus einstigen Mitgliedern und Funktionären der mit der SED verbündeten Blockparteien CDU, DBD, NDPD und LDPD. Im Bundestag sitzen noch heute Leute, die bis 1989 die Mauer gepriesen und die führende Rolle der SED bejubelt haben, und dies auf den Fraktionsbänken der Christdemokraten und der Liberalen.
Im Juli 1990 publizierte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion eine Broschüre über »die politischen Verstrickungen der SPD in die SED-Diktatur«. In der Einleitung heißt es: »In der sowjetischen Besatzungszone waren es Blauäugigkeit und Opportunismus, die die SPD in die Arme der KPD trieben. Sie machte sich damit mit-
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verantwortlich an der Errichtung der zweiten schrecklichen Diktatur auf deutschem Boden in diesem Jahrhundert.« Und es folgt ein Potpourri aus Zitaten, das mich in seiner Machart an SED-Agitationsbroschüren erinnert. Man rührte all das zusammen, was einem ins Weltbild passt, und was nicht hineinpasst, wurde großzügig übersehen.
Erstaunlich übrigens, dass diese Sichtweise exakt übereinstimmt mit der Position der SED und mancher Unbelehrbarer in der PDS, die ebenfalls unterstellen, dass die Sozialdemokraten einstmals einheitsbeseelt in die SED geströmt waren.
Die historische Wahrheit, so, wie sie auch Malycha in seinen Arbeiten schildert, ist komplizierter und für Agitatoren, gleich welcher Couleur, nicht brauchbar. Wenn man den Begriff »Zwangsvereinigung« als eindimensional ablehnt, so bestreitet man keineswegs, dass Zwang eine wichtige Rolle gespielt hat.
1945/46 konnten die Sozialdemokraten in Ostdeutschland nicht wissen, dass die KPD von Anfang an einen eindeutigen Kurs verfolgte: Sie wollte die herrschende Partei werden, entweder allein oder durch »Blutspende«. Das war der kommunistischen Führung um Pieck und Ulbricht schon lange vor Kriegsende klar. Der Berliner Historiker Manfred Wilke hat dieses Konzept in einem brillanten Vortrag vor der Bundestags-Enquetekommission zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte dargelegt.
Alle strategischen und taktischen Erwägungen der KPD waren der Machtfrage untergeordnet. Am Ende ging es darum, die politische Herrschaft zu erlangen und die Konkurrenten um die Macht auszuschalten. Der Weg zur Liquidierung des jederzeit erfolgreicheren Hauptrivalen in der Arbeiterbewegung war die Vereinigung, der die Säuberung umgehend folgte. In diesem Sinn hatte Thäl-mann Recht gehabt, als er erklärte, die Vernichtung der Sozialdemokratie sei erst möglich, wenn die Kommunisten die Macht erobert hätten. Nach dem Parteibuchumtausch 1951 hatte die sta-linisierte SED 320 000 Mitglieder weniger! Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck und Wilhelm Florin - Letzterer war in der Komintern für Säuberungen zuständig gewesen! -, die einstigen Politbürogenossen Thälmanns, führten den Kampf gegen die Sozialdemokraten siegreich zu Ende. Stalin hatte sie gelehrt, »dass ohne Zerschlagung der in den Reihen der Arbeiterklasse tätigen kleinbürgerlichen Parteien (...) der Sieg der proletarischen Revolution
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unmöglich ist«. Wer den Marxismus-Leninismus in der Arbeiterbewegung durchsetzen wollte, musste den Sozialdemokratismus vernichten. Davon ließen sich die Kommunisten auch durch die Schrecken des Nationalsozialismus nicht abhalten. Das konnten die Sozialdemokraten 1945/46 allerdings bestenfalls ahnen. Sie hofften, dass die Kommunisten aus dem Desaster von 1933 gleichfalls Lehren gezogen hatten. Und was die Kommunisten nach 1945 erklärten, hörte sich danach an.
Auch die »Grundsätze und Ziele« der SED, die auf dem Vereinigungsparteitag 1946 beschlossen wurden, erinnern eher an das Heidelberger Programm der SPD von 1925 oder an das Prager Manifest des sozialdemokratischen Exilvorstands von 1934. In ihrer Struktur erinnern die Grundsätze sogar an das Erfurter SPD-Programm von 1891, auch dieses war aufgeteilt in Gegenwartsforderungen und Aussagen über das sozialistische Endziel. In den SED-Grundsätzen ist zum Beispiel die Rede von der »Sicherung der demokratischen Volksrechte, Freiheit der Meinungsäußerung in Wort, Bild und Schrift (...). Gesinnungs- und Religionsfreiheit«. Garantiert werden soll auch das »Koalitions-, Streik- und Tarifrecht«. Und da heißt es auch: »Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands erstrebt den demokratischen Weg zum Sozialismus; sie wird aber zu revolutionären Mitteln greifen, wenn die kapitalistische Klasse den Boden der Demokratie verlässt.«
Betrachtet man die Programme der SPD vor dem Godesberger Programm (1959), so konnten sich die Sozialdemokraten inhaltlich als Sieger fühlen. Von Marxismus-Leninismus steht nichts im ersten SED-Programm, genauso wenig vom demokratischen Zentralismus, und nicht einmal Stalin wird bejubelt. Die Zugeständnisse der KPD waren groß, und wenn man zu DDR-Zeiten Forderungen aus den »Grundsätzen« erhoben hätte, wäre man in Bautzen gelandet. Zu den Verlockungen auf dem Weg zur Einheitspartei gehörte die Illusion, die Sozialdemokraten könnten in der SED die Oberhand gewinnen.
Bei alldem sollte man sich in die Lage nach 1945 versetzen. In den Augen der meisten politisch denkenden Deutschen hatte der Kapitalismus abgewirtschaftet, wie es auch die CDU in ihrem Ahlener Programm sagte. Irgendein Sozialismus sollte an seine Stelle treten. Die Sowjetunion hatte die Hauptlast des Kriegs getragen und war nicht nur Besatzer, sondern auch Befreier. Stalin -
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»Uncle Joe« — war kurz nach 1945 nicht der blutrünstige Diktator, sondern der Führer einer der großen Mächte der Welt, die gemeinsam das Erbe des Nationalsozialismus zu verwalten hatten. In den Konzentrationslagern hatte es meist keinen Unterschied gemacht, welches Parteibuch ein Gefangener hatte. Und nach der Niederlage der Nazis, war es da nicht klar, dass deren entschiedenste Gegner eine führende Rolle beanspruchten? Waren nicht die Kommunisten 1933 als Erste aus dem Reichstag ausgeschlossen und gejagt worden, während Konservative und Liberale Hitlers Ermächtigungsgesetz zustimmten, dem allein die sozialdemokratischen Abgeordneten widersprachen? Und hatten sich die bürgerlichen Kräfte nicht diskreditiert, als sie die Nazis an die Macht brachten und sich ihnen andienten? Die Zukunft gehörte dem Sozialismus und seinen Parteien - das war vor allem in der sowjetischen Zone, wo die Besatzungsmacht sozialistisch war, in den Monaten nach dem Mai 1945 eine klare Sache. Hunderttausende strömten in die Parteien, die den Sozialismus versprachen: Mehr als 1,2 Millionen Mitglieder hatten SPD und KPD vor ihrem Zusammenschluss allein in der SBZ!
Die sozialdemokratischen Befürworter und die konservativen Kritiker der Zwangsvereinigungsthese haben politische Motive. Es geht um die so genannte Kommunismusanfälligkeit der SPD, die die einen behaupten und die anderen bestreiten. Konservative werfen der SPD traditionell vor, mit den Kommunisten zu kungeln, mindestens unsichere Kantonisten zu sein. Und Sozialdemokraten verweisen darauf, dass nur die Gewalt sie in Ostdeutschland zur Vereinigung mit den Kommunisten gebracht habe, um damit die Vorwürfe von rechts abzuweisen.
In der Opposition
Während in der SBZ die SPD mit der KPD fusionierte (und die sozialdemokratische Idee in den kommenden Jahren zerstört wurde), konnte sich die Partei in den Westzonen erfolgreich reorganisieren. Ende 1946 hatte die SPD in Westdeutschland mehr Mitglied als im gleichen Gebiet vor 1933, nämlich 700.000. Es gab 8000 Ortsvereine, fast 3000 mehr als zu Weimarer Zeiten.
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Allerdings lagen die einstigen sozialdemokratischen Stammländer Sachsen und Thüringen nun unter sowjetischer Kontrolle, ab 1946 gab es in ihnen keine Sozialdemokratie mehr. Dort aber war der Ursprung der deutschen Sozialdemokratie, nicht in Berlin, nicht im Ruhrgebiet. Nicht umsonst tragen die ersten sozialdemokratischen Programme die Namen von Eisenach, Gotha und Erfurt. Die »marxistische« Strömung in der deutschen Arbeiterbewegung, die im Kampf mit den Lassalleanern lag, wurde die »Eisenacher« genannt, angeführt wurde sie vom Sachsen August Bebel. In Sachsen errang die 1869 gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei die ersten Erfolge. Sie war aus der Sächsischen Volkspartei hervorgegangen, gegründet von Bebel und Wilhelm Liebknecht. August Bebel war zuvor Vorsitzender des Leipziger Arbeiterbildungsvereins gewesen und von dort zum Leiter aller deutschen Arbeiterbildungsvereine aufgestiegen. In Sachsen und Thüringen war die Sozialdemokratie immer stark und fest verwurzelt gewesen. Dort blühte auch das sozialdemokratische Milieu am besten: die unzähligen Nebenorganisationen, Vereine und Genossenschaften, die es den Sozialdemokraten erlaubten, in hohem Maß neben der bürgerlichen Gesellschaft zu leben und nicht in ihr.
Das Milieu hatten bereits die Nazis zerstört, in Sachsen, Thüringen und überall. Teile davon entstanden neu im Ruhrgebiet, das nun zur sozialdemokratischen Hochburg wurde, nachdem die Kommunisten schon vor dem Parteiverbot 1956 ihre Stalintreue mit deftigen Einflussverlusten bezahlen mussten. Der Städtemoloch am Rhein stellte nun die stärksten SPD-Bataillone. Erst in unseren Tagen bröckelt die lange Jahre für uneinnehmbar gehaltene Festung.
26. Januar 2000. In Schleswig-Holstein haben die Sozialdemokraten wieder Oberwasser. Der CDU-Spendenskandal treibt ihnen laut Umfragen die Wähler zu, die schon als an die Konkurrenz verloren gegolten hatten. Doch tickt in Düsseldorf die nächste Bombe. Ministerpräsident Johannes Rau, inzwischen Bundespräsident, und einige seiner Minister haben zig Mal den Flugdienst der Westdeutschen Landesbank benutzt. Finanzminister Heinz Schleußer musste gestern zugeben, dass in einigen Fällen seine Freundin dabei war. Er hatte es bisher bestritten. Erstaunlicherweise führten des Finanzministers dienstliche Flüge oft nach Split, wo rein zufällig sein Segelboot liegt. Zweifellos ist Split aber auch ein Zentrum der Finanzwelt.
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Ministerpräsident Wolfgang Clement will nicht, dass Schleußer zurücktritt. Er will wohl bis zur Landtagswahl durchhalten und rechnet damit, dass die CDU-Affäre schwerer wiegt als die eigene. (Natürlich konnte Clement dann Schleußer doch nicht bis zu den Wahlen halten.) Woanders gelten andere Maßstäbe. Gestern gab es im hessischen Landtag eine heftige Debatte über die von SPD und Grünen beantragte Selbstauflösung des Parlaments. Auch die hessische CDU hatte ein Schwarzgeldsystem aufgebaut. In der Debatte ereiferten sich die SPD-Redner in höchsten Tönen über politische Moral. Schade, dass die Genossen in Nordrhein-Westfalen nicht genauso konsequent sind. Oder sind sie es in Hessen nur, weil es ihnen nutzt, und in Nordrhein-Westfalen nicht, weil es ihnen schaden würde?
Nicht nur die Organisationsstrukturen, auch die programmatischen Vorstellungen hatten schon 1945 feste Formen angenommen. Auf dem ersten Nachkriegsparteitag in Hannover wurden sozialistische Forderungen erhoben. Es ging den Sozialdemokraten vor allem um das, was Bernstein »Wirtschaftsdemokratie« genannt hatte und was auch in den SPD-Programmen vor 1933 verankert war: die Sozialisierung der Grundstoffindustrie und ein neuer Ordnungsrahmen auf sozialistischer Grundlage, eine »LenkungsWirtschaft«. Vergesellschaftet werden sollten die Großunternehmen der Branchen Bergbau, Eisen, Stahl, Energie, Chemie, Baugrundstoffe, Versicherungen und Banken. Außerdem sollte der Staat das Recht besitzen, weitere Unternehmen in Gemeineigentum zu überführen, wenn er dies für sinnvoll hielte.
Dieses Mal, so schien es, sollten die Sozialismusbekundungen nicht ersticken, nicht am Mangel an Entschlossenheit, nicht durch die Entscheidung für falsche Loyalitäten. Schumachers SPD trat ein für einen Schnitt, auch in der Beziehung der eigenen Partei zum Großkapital. Das war seine Lehre daraus, dass erhebliche Teile der deutschen Unternehmer vaterlandslose Gesellen waren und vom Nationalsozialismus profitiert hatten, solange es irgendwie ging, während Demokraten wie Schumacher in den KZ saßen und viele von ihnen ermordet wurden. Anders als Ebert und Scheidemann glaubte Schumacher, dass die Deutschen nun reif seien für den Sozialismus.
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Und dies nicht, weil die kapitalistische Gesellschaft durch innere Gesetze zur Vergesellschaftung gedrängt wurde, sondern weil der Kapitalismus in den Augen vieler Zeitgenossen moralisch verschlissen war. Es war ja im Hinblick auf Produktivkräfte und Eigentumsverhältnisse kein grundlegend anderer Kapitalismus als 1933. Kurt Schumacher erklärte 1946 zur Abgrenzung gegenüber den Sozialismusvorstellungen der Kommunisten:
»Für die deutschen Sozialdemokraten ist der Sozialismus ein Mittel zur ökonomischen Befreiung der Persönlichkeit. Der Sozialismus in Deutschland will die Persönlichkeit, und zwar eine solche Persönlichkeit, die der Individualismus und der Liberalismus nicht haben schaffen können, eine Persönlichkeit auf sozial sicherer Basierung. Für die deutsche Sozialdemokratie ist unvorstellbar ein Sozialismus der autoritär dirigierten Vermassung. Wenn alle prinzipiellen, taktischen und historischen Differenzen geklärt wären — in Wirklichkeit ist keine einzige Differenz geklärt —, dann wäre allein diese Frage schon entscheidend.«
Im Jahr 1918 lag Deutschland am Boden, auch wirtschaftlich war es durch den Krieg schwer beschädigt. 1945 war Deutschland zerstört. Man brauchte im Gegensatz zu 1918 Versorgungsmängel durch Sozialisierung nicht zu befürchten. Es gab in den Städten kaum eine Versorgung, sieht man von der Hilfe der Alliierten ab. Aber die wäre durch Enteignungsmaßnahmen nicht betroffen gewesen. Nicht nur Schumacher und die SPD forderten den Sozialismus, was immer dieser im Einzelnen sein sollte, auch andere Parteien traten für ihn ein, etwa die CDU mit ihrem Ahlener Programm. Manche bürgerlichen Zeitgenossen waren keineswegs für den Sozialismus, sie hielten ihn aber für unvermeidlich, da der Kapitalismus auf ewig diskreditiert sei.
Mit dem gleichen Eifer kämpfte die SPD dafür, die nationale Einheit zu erhalten. Sie wandte sich gegen die Oder-Neiße-Grenze zu Polen und griff alle Bestrebungen an, in Ost wie in West, durch Unterwerfung unter die jeweiligen Besatzungsmächte die Spaltung Deutschlands zu vertiefen, während der anhebende Kalte Krieg die Welt in zwei Lager teilte. Die Sozialdemokratie orientierte sich an der Perspektive eines westeuropäischen Sozialismus und wandte sich gegen stalinistische Staatswirtschaft und Unterdrückung und
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gehörte so bei allem Beharren auf einer eigenen Identität zum Lager des Westens. Diese Zugehörigkeit zum Westen personifizierte niemand besser als Ernst Reuter. Der ehemalige bolschewistische Funktionär (unter dem Decknamen Friesland) war 1947 zum Berliner Oberbürgermeister gewählt worden, konnte aber sein Amt nicht antreten, weil die sowjetischen Behörden dagegen intervenierten. Während der Berlinblockade 1948/49 wurde Reuter weltberühmt durch seine Appelle, der von sowjetischen Soldaten abgeriegelten Stadt zu helfen.
Schumachers Debakel
Der Sozialismus war 1918 ein nicht gehaltenes Versprechen, 1945 war er unmöglich. Denn in dem Maß, wie die Welt in zwei feindliche Lager zerfiel, gab es im besetzten Westdeutschland nicht den Hauch einer Chance für gesellschaftspolitische Experimente. Auch bröckelte die Unterstützung für den Sozialismus in der Bevölkerung bald ab. Spätestens mit dem Marshallplan, der Währungsreform 1948 und dem durch sie ausgelösten Wohlstandsschub war die SPD weltanschaulich mit sich allein. Im bürgerlichen Lager waren alle sozialistischen Verlockungen erloschen, und der Kampf zwischen Kapitalismus und stalinistischem Sozialismus ließ feine Unterscheidungen nicht mehr zu.
1918 scheiterte das sozialistische Experiment an der sozialistischen Partei SPD. 1945 scheiterte es an den weltpolitischen Umständen und an der mangelnden Bereitschaft der in den Wohlstand driftenden Westdeutschen, sozialistische Konsequenzen aus der Nazibarbarei zu ziehen. Unter der Zustimmung der Mehrheit bat die CDU-geführte Bundesregierung unter Konrad Adenauer, die von den Alliierten inhaftierten deutschen Kriegsverbrecher freizulassen. Es war auch die Zeit der geistigen Restauration. Zwar gab es massenhaft Opfer des Nazireichs, aber keine Täter mehr, außer denen, die tot waren. Die Deutschen überwanden die Not und vergaßen, vor allem die eigene Schuld. Das Verdrängen dieser Schuld sollte Ralph Giordano später zu Recht als »zweite Schuld« anklagen.
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Diese Voraussetzungen mündeten in die fatale Niederlage der SPD bei den ersten Bundestagswahlen im August 1949. Mit 29,2 Prozent startete die SPD schlechter in das parlamentarische System der Bundesrepublik, als Beobachter und vor allem die Sozialdemokraten selbst es vermutet hatten. Schumachers unbedingter Führungsanspruch führte die Partei in die Sackgasse. Aber die Linke hatte insgesamt miserabel abgeschnitten. Dieses Bild ergibt sich, wenn man die 5,6 Prozent für die KPD zu den sozialdemokratischen Stimmen zählt. Nur etwa ein Drittel der Deutschen wählte links. Der »Antimarxismus« hatte einen großen Sieg errungen, und nicht nur in den Augen Schumachers waren jene Kräfte an die Macht gekommen, an deren antinazistischer Tradition und Gesinnung zu zweifeln war. Die Kommunisten fielen als Bündnispartner aus, und die Sozialdemokratie sollte bis 1966 von der Macht ausgeschlossen bleiben.
Im Jahr 1952, auf ihrem Parteitag in Dortmund, zog die SPD erste Folgerungen aus dem Debakel. Neben die Sozialisierung trat nun die Absicht, das kleine und mittlere Eigentum genauso wie den Wettbewerb zu fördern. Zwei Jahre später, auf dem Berliner Parteitag, galt bereits die Devise »Wettbewerb soweit wie möglich, Planung soweit wie nötig«. Auch wenn es noch weitere fünf Jahre brauchte, die SPD war auf dem Weg zur Wende von Godesberg. Im Gegensatz zur Sozialdemokratie bis 1933 passte die Partei ihre programmatischen Aussagen bald der Wirklichkeit an. Mit den Forderungen, welche die Partei bis 1950 erhoben hatte, war in Deutschland über die feste Anhängerschaft hinaus nichts zu gewinnen. Der Sozialismus der Sozialisierung war passe, zumal die westdeutsche Wirtschaft boomte. Den meisten Deutschen erschien die Vorstellung absurd, die Wirtschaft umzustülpen. »Wir müssen wissen, dass wir bei dem augenblicklichen Stand der Gesellschaft nicht mit dem Strom, sondern gegen ihn schwimmen«, erklärte der spätere Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Fritz Erler bereits 1950. Aber erst nach Schumachers Tod 1952 war die Partei fähig, Programmatik und Politik an das anzupassen, was sie als westdeutsche Wirklichkeit betrachtete.
Schumachers SPD war eine sozialistische Partei, die die von ihr gesetzten Ziele erreichen wollte. Dass sie diese Ziele nicht erreichte, lag auch an der Starrheit ihres Vorsitzenden, mehr noch aber an der wirtschaftlichen und politischen Realität, deren Entwicklungsrichtung festgelegt war, bevor die ersten Bundestagswahlen diese grundlegenden politischen Entscheidungen für den Kapitalismus
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und für die Westintegration legitimierten. Das Wahlergebnis von 1949 war auch ein Resultat der vorweggenommenen Entscheidungen. Marshallplan und Währungsreform vertrieben alle sozialistischen Träume ins Reich der Utopie. Es war für die SPD ein langer Weg von dort nach Godesberg.
Die Wende von Bad Godesberg
Der Weg war früh vorgezeichnet. Das Godesberger Programm der SPD geht im Kern zurück auf Eduard Bernstein. Mit diesem Programm passte die SPD sich auch »offiziell« an die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft an und warf »Ballast« ab, wie Carlo Schmid erklärte. Sie verzichtete nun auch auf die Sozialismuspropaganda. Betrachtet man die Politik der Partei von 1945 bis 1959, so erkennt man, dass Godesberg ähnlich wie Görlitz 1921 der programmatische Niederschlag der Einsicht in die politische und wirtschaftliche Realität und die eigenen Möglichkeiten darstellt. Schon zuvor hatten skandinavische Sozialdemokraten pragmatisch auf soziale Demokratie gesetzt, also auf soziale Gerechtigkeit in der kapitalistischen Ordnung und die Demokratisierung des Wirtschaftslebens. Auch wenn der geistige Urheber wie so oft nicht genannt wurde: Es ging um Bernsteins Wirtschaftsdemokratie, um Reformen des Arbeitsrechts, den Sozialstaat und die Mitbestimmung der Arbeiter. Die SPD wollte den Kapitalismus nicht mehr überwinden und verzichtete auf planwirtschaftliche Konzepte, stattdessen setzte sie auf die Ausgestaltung der sozialen Demokratie im Sinn der Grundwerte des demokratischen Sozialismus. Der Sozialismus war kein Ziel mehr, sondern eine Aufgabe.
»Grundwerte des Sozialismus
Die Sozialisten erstreben eine Gesellschaft, in der jeder Mensch seine Persönlichkeit in Freiheit entfalten und als dienendes Glied der Gemeinschaft verantwortlich am politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben der Menschheit mitwirken kann.
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Freiheit und Gerechtigkeit bedingen einander. Denn die Würde des Menschen liegt im Anspruch auf Selbstverantwortung ebenso wie in der Anerkennung des Rechtes seiner Mitmenschen, ihre Persönlichkeit zu entwickeln und an der Gestaltung der Gesellschaft gleichberechtigt mitzuwirken. Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, die aus der gemeinsamen Verbundenheit folgende gegenseitige Verpflichtung, sind die Grundwerte des sozialistischen Wollens. Der demokratische Sozialismus, der in Europa in christlicher Ethik, im Humanismus und in der klassischen Philosophie verwurzelt ist, will keine letzten Wahrheiten verkünden - nicht aus Verständnislosigkeit und nicht aus Gleichgültigkeit gegenüber den Weltanschauungen oder religiösen Wahrheiten, sondern aus der Achtung vor den Glaubensentscheidungen des Menschen, über deren Inhalt weder eine politische Partei noch der Staat zu bestimmen haben.
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist die Partei der Freiheit des Geistes. Sie ist eine Gemeinschaft von Menschen, die aus verschiedenen Glaubens- und Denkrichtungen kommen. Ihre Übereinstimmung beruht auf gemeinsamen sittlichen Grundwerten und gleichen politischen Zielen. Die Sozialdemokratische Partei erstrebt eine Lebensordnung im Geiste dieser Grundwerte. Der Sozialismus ist eine dauernde Aufgabe - Freiheit und Gerechtigkeit zu erkämpfen, sie zu bewahren und sich in ihnen zu bewähren.«
Godesberger Programm der SPD, 1959
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Aber das neue Programm trug doch kräftige Merkmale der Vergangenheit. Allerdings haben kein sozialdemokratischer Kanzler und keine sozialdemokratisch geführte Regierung jemals auch nur den Versuch gemacht, diese »altsozialistischen« Programmforderungen durchzusetzen. Und kein Parteitag hat sie deshalb gerügt. In diesen Punkten lebte die Kluft fort zwischen Programm und Politik, wie sie in viel schärferem Maß die Partei bis 1933 geprägt hatte, manchmal bis zur Unkenntlichkeit. Der Vertrauensverlust der SPD in der Weimarer Republik beruhte auch darauf, dass die Partei zu oft das Gegenteil von dem praktizierte, was sie gefordert oder versprochen hatte. Das war im Kleinen so beim Panzerkreuzerbau, und im Großen geschah es in Fragen des Sozialismus und der Sozialisierung, wo die Partei die radikalsten Forderungen erhob, um sie gleich wieder abzuschwächen mit dem Hinweis auf Versorgungssicherheit oder mangelnde Reife der Industrie.
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Wenn die SPD sich auch auf die Wirklichkeit zu bewegt hatte, so blieb mit dem Godesberger Programm ein Glaubwürdigkeitsdefizit. Das Programm sah eine Überführung großer Wirtschaftsgebilde in Gemeineigentum vor, seine Verwirklichung wurde aber nicht ernsthaft erwogen. Das Gleiche gilt für die Investitionskontrolle, die Unternehmensverfassung für die Großwirtschaft und die Änderung der ungerechten Einkommens- und Vermögensverteilung. So ist Godesberg zu einem Teil die Hinwendung zu einer modernen Variante des Revisionismus, zum anderen die Verfestigung der Kluft zwischen Theorie und Praxis. Nur wenig überspitzt formuliert: Bis heute trauen sich manche Sozialdemokraten nicht mehr, auf das gültige Parteiprogramm zu verweisen, denn nur Naive können annehmen, dieses sei ernst gemeint und würde die Regierungsarbeit beeinflussen.
Im Berliner Programm von 1989 etwa steht:
»Wir erstreben eine solidarische Gesellschaft der Freien und Gleichen ohne Klassenvorrechte, in der alle Menschen gleichberechtigt über ihr Leben und ihre Arbeit entscheiden. Die neue und bessere Ordnung, die der Demokratische Sozialismus anstrebt, ist eine von Klassenschranken befreite Gesellschaft. Wir wollen sie durch den Abbau von Privilegien und Vollendung der Demokratie erreichen.«
Wachstumsfixierung
In Wahrheit will die gegenwärtige sozialdemokratische Politik die Reichen noch reicher machen in der Hoffnung, dass dabei Arbeitsplätze entstehen. Jede Statistik beweist, dass in Deutschland (aber nicht nur dort) die Klassenunterschiede zunehmen, dass eine kleine Gruppe von Kapitaleignern ihre Vermögen zum Teil grotesk vermehrt, wohingegen die Zahl der Armen wächst (an dieser soziologischen Tatsache ändert sich nichts, wenn man die Existenz von Armut mit dem Hinweis auf die Sozialhilfe dementiert). Im hochgepriesenen Wirtschaftswunderland USA, regiert von den Schröder seelenverwandten »New Democrats«, wächst die Kluft zwischen Arm und Reich in der Hochkonjunktur noch krasser als bei uns. Zu diesen erstaunlichen Folgen des angebeteten Wachstums später mehr.
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Die Wachstumsfixierung findet sich auch im Godesberger Programm. Auch die »marxistischen« Programme der SPD wollten, dass die Wirtschaft stetig wuchs. Darin sah schon Marx das Allheilmittel: Überfluss und gerechte Verteilung sind seine Maximen. Man muss es den Programmautoren und Parteitagen bis in die fünfziger Jahre hinein nachsehen, dass sie die Ökologie nicht im Blick hatten. Als das Godesberger Programm diskutiert und verabschiedet wurde, wuchs die Wirtschaft, und es fiel auch für die nicht Wohlhabenden etwas ab: Arbeitsplätze und steigende Löhne, ein besseres Konsumangebot, vor allem die Tilgung der Nachkriegsarmut. Die Wachstumsphase der westdeutschen Wirtschaft, die die meisten Menschen binnen kurzer Zeit aus der Not befreite, prägt die Mentalität der Westdeutschen bis heute. Natürlich neigen Menschen dazu, nur die Gegenwart ernst zu nehmen. Sie können und wollen sich nicht vorstellen, dass morgen alles schlechter sein kann. Im Wirtschaftswunder wurde aus dem Wachstumsglauben der Wachstumsfetischismus. Auch wenn die SPD einige sozialistische Forderungen in ihr Programm schrieb, so ging es ihr doch nur um eines: um eine gerechte Teilhabe der Lohnabhängigen an diesem Wachstum.
Das Godesberger Programm ist aber auch aus einem weiteren Grund von besonderer Bedeutung für die Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie. Es relativiert den Marxismus mitsamt seinen zentralen Kategorien - Klassenkampf, Sozialisierung und Planung - und öffnet die Partei für weitere geistige Strömungen. Auch dies ist ein Rückgriff auf Bernstein. Dieser hatte den historischen Materialismus kritisiert, vor allem dessen These, dass die Geschichte nach Gesetzen verlaufe und der Kapitalismus unvermeidlich abgelöst werde durch den Sozialismus, der eine eigenständige Gesellschaftsformation sei. Bis hin zu Schumacher hatte die Partei in marxistischen Kategorien gedacht (aber nicht gehandelt). Nun waren die Wege in die Sozialdemokratie auch programmatisch offen (in der Praxis waren sie es schon längst). Das galt vor allem für Menschen, die die sozialistische Idee aus ethischen Überlegungen ableiteten. Wir erinnern uns, dass Bernstein auch auf Kant als Begründer sozialistischer Vorstellungen verwiesen hatte.
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Der bedeutende sozialdemokratische Staatsrechtler und Politiker Carlo Schmid sagte knapp und richtig über das Godesberger Programm: »Bernstein hat auf der ganzen Linie gesiegt.« Aber, das sei hinzugefügt, Bernstein hätte gewiss die politische Praxis der SPD gerügt, in der die sozialistischen Forderungen nicht vorkamen. Bernstein litt unter der Kluft zwischen revolutionärer Theorie und reformistischer Praxis, und er hätte wohl nicht weniger gelitten unter der Kluft zwischen revisionistischer Theorie und bürgerlicher Praxis. »Ede« war ein reformistischer Sozialist und kein Reformpolitiker. Es mag auch daran gelegen haben, dass sich die SPD nicht offiziell zu ihrem neuen Vordenker bekannte. Sie hätte so eine neue theoretische Tradition begründen können, die gewissermaßen in einer dialektischen Aufhebung der Marx'schen Lehre begründet gewesen wäre (auch wenn Bernstein eine solche Formulierung nur als Ironie hätte durchgehen lassen). Möglicherweise ahnten damals schon die Parteidenker, dass eine neue Tradition künftige Entwicklungen auch behindern könnte. Auf dem Weg in die theoretische Unverbindlichkeit, wie sie heute in der SPD herrscht, wäre Bernsteins Revisionismus ein Hindernis gewesen.
Eine auf Bernstein gründende historische und theoretische Tradition aber hätte die Identität der Partei klarer profiliert und gefestigt. Die Sozialdemokraten brachen mit dem 19. Jahrhundert, mit Marx vor allem, auch mit Lassalle, aber sie setzten keine festen neuen Identitätslinien. Das bisschen Sozialismus, das im Godesberger Programm blieb, konnte das sozialistische Theoriegebilde des 19. Jahrhunderts, so widersprüchlich es in sich ist, nicht ablösen. So war die Partei auf dem Weg, an Identität zu verlieren, aber Wahlen zu gewinnen. Die Frage war, was geschehen sollte, wenn die SPD die Kernabsichten des Godesberger Programms durchgesetzt haben würde? War sie dann überflüssig? Wo waren Identitätselemente, die über die gegenwärtige Politik hinauswiesen?
So abstrus der Unterschied zwischen politischer Praxis und Theorie bis 1933 zuweilen gewesen war, die über die Praxis hinausweisenden Ziele der Partei, wie sie in den Programmen beschrieben waren, markierten den entscheidenden Unterschied zu anderen politischen Kräften. Es sind die Unterschiede, die die Identität schärfen, und nicht die Übereinstimmungen. Die Weimarer SPD war programmatisch die einzige demokratisch-sozialistische Partei. Links standen die stalinistisch gewordenen Kommunisten,
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die die Demokratie für einen »roten Oktober« abschaffen wollten. Rechts arbeiteten die antidemokratischen Parteien und Gruppen nur zu dem Zweck, eine chauvinistische Diktatur zu errichten. In der Mitte gab es mit dem Zentrum und den Deutschen Demokraten Kräfte, die eingeschworen waren auf die bestehende politische und gesellschaftliche Ordnung.
Nach 1945 gab es bald den Druck von links nicht mehr. 1956 wurde die KPD verboten, aber sie hatte schon zuvor stark an Bedeutung verloren. Es gab bis auf unbedeutende Ausnahmen am rechten Rand nur demokratische Parteien. In dem Maß, wie die SPD aber nach rechts rückte, wuchs die Unzufriedenheit auf ihrem linken Flügel. Vor allem verlor die Sozialdemokratie in zunehmendem Maß die identitätsprägenden Unterschiede zu den anderen Parteien.
Mit dem Godesberger Programm beschrieb die SPD endlich annähernd die Identität, die sie seit langem angenommen hatte. Sie war eine linksbürgerliche Volkspartei mit Verankerung in der Arbeiterschaft. 1960 vollzog sie den entsprechenden außenpolitischen Schwenk und akzeptierte die Integration der Bundesrepublik in die von den USA beherrschte Gemeinschaft westlicher Staaten. Es war der Abschied von Schumachers Nationalismus und die Übernahme der Adenauer'schen Axiome der Westbindung. So war die Partei bereit, aus dem »30-Prozent-Turm« auszubrechen, in den die Wähler sie gesteckt hatten. Ihre innen- und rechtspolitischen Forderungen liefen kongruent mit Entwicklungen in der FDP, wo sich allmählich eine Richtung herausschälte, die die Freiheitsrechte der Bürger stärker betonte. Schon damals waren die sozialdemokratischen Strategen davon überzeugt, dass sie ihr linkes Wählerpotential nicht verlieren durften, dass aber Wahlen in der Mitte entschieden wurden. Allerdings handelte es sich damals nicht um Sprüche der Marketingfachleute, sondern um den Versuch einer Zusammenarbeit von Arbeiterbewegung und liberalem Bürgertum. Die »Neue Mitte« - der Begriff stammt von Brandt (oder einem seiner Berater) - war in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre tatsächlich neu. Historisch findet sie ihre Traditionslinie im Zusammenwirken von SPD und DDP in der Weimarer Republik, aber auch in der Kaiserzeit hatte es, etwa bei Stichwahlen, punktuelle Gemeinsamkeiten mit dem Liberalismus gegeben.
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Die große Koalition unter dem CDU-Kanzler Kurt Georg Kie-singer von 1966 bis 1969 sollte in den Augen der SPD-Strategen der Öffentlichkeit beweisen, dass die Sozialdemokratie nicht die geborene Oppositionspartei war. Es stellte sich heraus, dass es für die SPD ein begrenzter Nachteil war, die ersten,siebzehn Jahre der Bundesrepublik in der Opposition verbracht zu haben. Nun nämlich identifizierten sich CDU und CSU mit dem neuen Staat, im Gegensatz zur Weimarer Republik, die die Sozialdemokraten immer als ihre Schöpfung ansahen und an die sie sich deshalb auch stärker ketteten, als es für die Partei gut war. Die SPD der Weimarer Zeit war strukturkonservativ, trotz aller anders lautenden Bekundungen. Die SPD der Bonner Republik aber drängte auf Veränderung, nach innen wie nach außen. Die außenpolitischen Veränderungen begannen schon während der Großen Koalition, in der die Partner erstaunlich harmonisch miteinander umgingen. Bundesaußenminister Willy Brandt setzte erste Markierungen für die Verständigung mit dem realsozialistischen Lager; Gespräche mit der DDR fanden statt, wenn auch meist informell. Es war die Zeit der Emissäre.
Die APO-Revolte
In der Innenpolitik half die Koalition unfreiwillig, die Republik zu verändern. Die Verabschiedung der Notstandsgesetze im Juni 1968 entzündete die Studentenproteste, auch wenn sie nicht deren Ursache war. Die junge Republik war verknöchert, viele Politiker dachten in den Kategorien der Vorkriegszeit, in Behörden, Schulen und Hochschulen herrschte der Geist der Unterordnung. Vasallentreu unterstützten die führenden Parteien und die Bundesregierung den Krieg der US-Amerikaner in Vietnam.
Der pathetische Antikommunismus und die einseitige Westbindung — manche sprachen von Unterwerfung unter die USA — weckten zunehmend Unverständnis, vor allem bei jungen Leuten. Diese forderten besonders, dass die vorangegangenen Generationen endlich ihr Schweigen über die Nazizeit brechen und die Beschönigungen, mit denen viele den Krieg verherrlichten und den Holocaust verharmlosten, ein Ende haben sollten. Zu viele Menschen waren noch davon überzeugt, dass Deutschland sich gegen den Bolschewismus habe verteidigen müssen. (Es gibt bis heute namhafte Politiker, die diesen Unsinn verkünden. Als hätte die Sowjetunion den Krieg angefangen.)
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Die Notstandsgesetze waren das Streichholz am Pulverfass. Was als Protestbewegung begann, mündete in Rebellion. Die Gesetze trafen Regelungen für den so genannten Verteidigungs- und Spannungsfall (äußerer Notstand) und für innere Unruhen und Naturkatastrophen (innerer Notstand). Der Verteidigungsfall kann vom Bundestag mit Zweidrittelmehrheit und unter Zustimmung des Bundesrates festgestellt werden, wenn die BRD angegriffen wird oder ein Angriff droht. In Ausnahmefällen entscheidet der Gemeinsame Ausschuss — ein aus Vertretern des Bundestags und des Bundesrats gebildetes Notparlament — über den Verteidigungsfall. Tritt ein äußerer oder innerer Notstand ein, kann der Bund Freiheitsrechte einschränken und Wahlen aussetzen.
In diesen Regelungen erkannten viele Menschen, vor allem Studenten und andere Jugendliche, einen Angriff auf die demokratischen Grundrechte. Sie misstrauten den Politikern, von denen zu viele eine ungeklärte Vergangenheit hatten. Kiesinger war NSDAP-Mitglied gewesen und hatte im Rundfunk Nazipropaganda betrieben. Bundespräsident Heinrich Lübke wurde nachgesagt, »KZ-Baumeister« gewesen zu sein, ein Vorwurf, der auf Aktenfälschungen des Ministeriums für Staatssicherheit beruhte. Und sie waren nicht die Einzigen mit brauner (oder vermeintlich brauner) Biografie. Wie sollten sie glaubwürdig demokratische Werte verkörpern, die sie einst mit Füßen getreten hatten, ob aus Überzeugung oder aus Opportunismus?
Willy Brandt und die Konterrevolution auf Filzlatschen
Die Revolte der Außerparlamentarischen Opposition (APO) Ende der sechziger Jahre verstärkte den Drang zur Veränderung verkrusteter (Denk-)Strukturen. Es war die endlich nachgeholte Aufklärung der westdeutschen Demokratie. Willy Brandt personifizierte den Wandel wie kein anderer. Was ihm konservative Kreise vorwarfen, machte ihn zum Idol eines Teils der Jugend. Brandt hatte gegen die Nazis gekämpft und hatte fliehen müssen ins skandinavische Exil. Er verkörperte das Gegenteil des konservativen Muffs. Willy Brandt setzte das Godesberger Programm der SPD in weiten Teilen um.
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In seine Regierungszeit fällt vor allem der Ausgleich mit dem Osten, ohne die Westbindung aufzugeben. Die Regierung Brandt profitierte vom internationalen Tauwetter, den Entspannungsbemühungen, die die USA unter Präsident Richard Nixon und die Sowjetunion unter ihrem neuen Generalsekretär Leonid Breschnew einleiteten. Die Zeichen standen auf Abrüstung, und es wurden einige Fortschritte erreicht.
Die Westdeutschen holten nach, was sie in der Adenauer- und Erhard-Zeit versäumt hatten: die Verständigung mit den einstigen Kriegsgegnern in Osteuropa, die nun zum sozialistischen Lager gehörten. Polen war Deutschlands erstes Kriegsopfer gewesen - die Tschechoslowakei hatten Großbritannien und Frankreich Hitler ausgeliefert -, kein anderes Volk hatte unter dem von Deutschland angezettelten Krieg mehr leiden müssen als die Polen. Der Warschauer Vertrag von 1970 brachte endlich die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Der Vertrag und der Kniefall Brandts in Polens Hauptstadt vor dem Mahnmal für das ehemalige Warschauer Ghetto waren ehrliche Signale, die jeder verstand - auch die Kritiker im konservativen Lager, die Sturm liefen gegen die Zeitenwende und sich nun weltweit isolierten.
Der Grundlagenvertrag rundete das Vertragssystem mit Staaten des sozialistischen Lagers ab. Erstmals erkannte die Bundesrepublik die DDR als Staat an, und beide deutsche Staaten wurden Mitglieder der UNO. Beide nahmen gleichberechtigt teil an der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Ohne den Grundlagenvertrag hätten sich die Beziehungen zwischen Bonn und Ostberlin, zwischen Bonn und Moskau nicht so vorteilhaft entwickeln können, wie sie es taten.
Der damalige DDR-Außenminister Otto Winzer kritisierte die Entspannungspolitik als »Aggression auf Filzlatschen«, er hatte Recht. In dem Maß, wie die Staaten die gegenseitigen Feindbilder abbauten, schöpften Oppositionelle in der DDR und anderen sozialistischen Staaten Mut, die Versprechungen der eigenen Regierung einzuklagen. Der Kalte Krieg hatte auch die Innenpolitik der realsozialistischen Staaten beherrscht, in der äußeren Konfrontation wurde innerer Widerstand als Kollaboration betrachtet und unterdrückt.
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Im Innern wagte die sozialliberale Koalition mehr Mitbestimmung. Sie erweiterte die Mitgestaltungsmöglichkeiten der Arbeiter, die nun in größeren Firmen genauso viele Vertreter in die Aufsichtsräte schicken durften wie die Kapitaleigner (wenn auch im Zweifelsfall die Eigentümer das Sagen behielten). Weitere wichtige Reformen gab es im Familienrecht, die Emanzipation der Frauen machte Fortschritte, und an den Hochschulen wurde der Muff von tausend Jahren gelüftet.
Ich war bis 1983 Kommunist. Willy Brandt bereitete uns in der DKP genauso wie unseren großen Brüdern in Moskau und Ostberlin Kopfschmerzen. An seinen Verdiensten für den Frieden konnten nicht einmal wir rütteln. Der demokratische Sozialismus erschien uns als der gefährlichste Feind. Wie eine ansteckende Krankheit befiel er kommunistische Organisationen und verursachte heftige innerparteiliche Debatten. In der DDR bekam das lebenswichtige Feindbild BRD Risse. Der gefährlichste Gegner der SED war nicht Franz Josef Strauß, waren nicht kalte Krieger oder Neonazis, sondern der demokratische Sozialismus. Während man mit Brandt Verträge aushandelte, arbeiteten die Propagandamaschinen mit höchster Drehzahl, um die ideologische Front zu begradigen. Es half nichts. Die Aufweichung des sozialistischen Lagers von innen ist unter den vielen Verdiensten sozialdemokratischer Entspannungspolitik die nachhaltigste Folge. Die Vorzüge der Demokratie strahlten umso stärker, je besser die Kontakte zwischen Ost und West wurden und je mehr die realsozialistische Propaganda ad absurdum geführt wurde. Als Brandt Kanzler war, war die Bundesrepublik kein fast faschistischer Staat mehr, der jeden Augenblick bereit war, seine Soldaten gegen den Friedensstaat DDR loszuschicken, sondern ein friedlicher, interessanter, offener Staat. Nicht Raketen, nicht die markigen Sprüche und das Wiedervereinigungsgerede, nicht die Ablehnung der KSZE durch CDU und CSU, sondern die dem Osten entgegengestreckte Hand zog den Spätstalinismus auf die Schlachtbank. Den Anfang vom Ende habe ich erlebt Der Sozialismus soll im neuen SPD-Parteiprogramm nicht mehr stehen. Er sei diskreditiert, heißt es. Seltsam, als es den Warschauer Pakt noch gab, war der Sozialismus offenbar weniger diskreditiert als heute, wo es das realsozialistische Lager nicht mehr gibt.
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Damals waren die Jungsozialisten eine treibende Kraft und Gegenstand dauerhaften Ärgers für die Parteioberen. Diese waren erpicht darauf, dem Kommunismusverdacht der Konservativen keine Munition zu liefern. Dass manche Jusos mit Kommunisten zusammenarbeiteten, war für die Rechte Bestätigung. und für die SPD-Führung eine Bedrohung. Sie reagierte darauf mit einem Abgren-zungsbeschluss. Kommunistische Bewerber um Beamtenstellen, oder auch nur solche, die der Sympathie mit den Kommunisten verdächtigt wurden, wurden mit Berufsverboten belegt. Der Jusovorsitzende Klaus-Uwe Benneter, der zur so genannten Stamokapfraktion zählte, wurde aus der Partei ausgeschlossen, weil er Bündnisse mit der DKP nicht ablehnte. (Heute gilt Benneter als graue Eminenz der Berliner SPD.) Brandt hat den Radikalenerlass später als Fehler eingestanden, er verdüsterte zusammen mit den im Klima der Terroristenhysterie beschlossenen Einschränkungen von Freiheitsrechten die Bilanz der sozialliberalen Koalition.
Helmut Schmidt und die Nachrüstung
Helmut Schmidts Kanzlerschaft von 1974 bis 1982 fiel in eine schwierige Zeit. Die Ölkrise erschütterte die Weltwirtschaft und die Gewissheit der Deutschen, dass es krisenfrei immer weiter aufwärts gehe. Nun zeigte sich, dass das Wachstum Grenzen hatte. Aber wie wollte die Partei ihre Ziele durchsetzen, wenn die Wirtschaft nicht wuchs? Wie Arbeitsplätze und Sozialstandards erhalten? Darauf gab die SPD genauso wenig eine Antwort wie andere Parteien. Stattdessen setzte sie darauf, Wachstum wieder zu ermöglichen - ein gefährlicher Kurs, der am Ende nicht nur die Umwelt schädigte, sondern auch die soziale Sicherheit und die Wirtschaft. Es hatte schon Ende der sechziger Jahre Rezessionserscheinungen gegeben, auch wilde Streiks, aber die Krise war bald überwunden worden. Schmidt öffnete die Partei nach rechts, fuhr einen rigiden Sparkurs und erweckte bald den Eindruck eines über allen Parteien stehenden Kanzlers. Seine an Überheblichkeit grenzende Attitüde des Weltökonomen entfernte ihn nur noch weiter von seiner Partei. Der Riss aber brach auf mit dem so genannten Nachrüstungsbeschluss der NATO.
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In der Außenpolitik zogen dunkle Wolken auf, als Kanzler Helmut Schmidt eine »Abschreckungslücke« zwischen Ost und West diagnostizierte. Er drängte die NATO-Partner zum Doppelbe-schluss. Das Bündnis forderte Moskau zu Verhandlungen über Mittelstreckenraketen auf. Sollten diese Verhandlungen bis Ende 1983 nicht erfolgreich beendet werden, wollte die NATO neue Mittelstreckenraketen aufstellen, vor allem in den Niederlanden und in Westdeutschland.
In Wahrheit war die NATO dem Warschauer Pakt nie unterlegen, schon gar nicht bei Atomwaffen. Beide Paktsysteme hatten genug Bomben und Raketen, um die Erde mehrfach zu zerstören. Die Mittelstreckenraketen der Sowjetunion zielten auf die westeuropäischen Bündnispartner der USA, hatten also keine strategische Bedeutung. So manifestierte sich im Doppelbeschluss vor allem die Befürchtung der westeuropäischen NATO-Staaten, die US-Amerikaner wären im Kriegsfall nicht bereit, für Westeuropa zu sterben.
Der NATO-Doppelbeschluss hat den Aufrüstungswahn nicht gestoppt, sondern beschleunigt. Nur wer glaubt, dass die Geschichte eingleisig vorbestimmte Ziele ansteuert, kann übersehen, dass der Doppelbeschluss der NATO die Welt näher an einen Krieg heranführte. Es war ein Glück für die NATO und die Welt, dass die Generalsekretäre der KPdSU in Reihe starben, bis endlich Michail Gorbatschow an die Schlüsselstelle der Macht gekommen war. Er hatte nur sechs Jahre, sie erschütterten die Welt.
Als 1983 das Ultimatum der NATO ergebnislos auslief, begann das Bündnis, neue Raketen in Europa aufzustellen. Die Sowjetunion brach daraufhin die Verhandlungen ab und rüstete weiter. Der NATO-Nachrüstungsbeschluss hatte ergeben, was Kritiker prognostiziert hatten: Moskau konnte ohne Gesichtsverlust nicht klein beigeben und fühlte sich ohnehin ins Unrecht gesetzt, waren die Sowjets doch der Auffassung, dass ihre Raketen eine ganz andere Aufgabe hätten als die der NATO in Westeuropa. Die in Westeuropa aufgestellten Marschflugkörper und Pershing-2-Rake-ten wiederum erhöhten die Sicherheit keineswegs, sondern verringerten lediglich die Vorwarnzeiten. Mitte der achtziger Jahre stand die Welt am Abgrund. Wir wissen nicht, wie dicht. Aber es war offensichtlich, dass angesichts der extrem kurzen Alarmzeiten für die Sowjetunion das Risiko eines unbeabsichtigten Atomschlags als Antwort auf einen vermeintlichen Angriff des Westens gestiegen war. Was wäre geschehen, wenn nicht Michail Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU geworden wäre, sondern Andrej Gromyko oder ein anderer Hardliner?
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Dass der NATO-Beschluss ein Fehler war, bekam auch sein Urheber zu spüren. Die SPD schwenkte mehrheitlich zur Friedensbewegung über. Am Ende war Schmidt in der SPD isoliert. Nur der allen Parteien innewohnende Machttrieb motivierte die SPD-Bundestagsfraktion, den ungeliebten Kanzler weiter zu stützen. Der Koalitionswechsel der FDP 1982 beschloss das Trauerspiel und erlöste eine zerrissene und abgenutzte SPD von der Solidarität mit einer Politik, die sich in kaum einem Punkt von dem unterschied, was nun die Nachfolger unter Kanzler Helmut Kohl großspurig als »geistig-moralische Wende« begannen. Wir wissen, wie sie geistig und moralisch endete.
Eine sozial-liberale Bilanz
Die Kanzler Brandt und Schmidt — der Erste mehr als der Letztere — haben das Godesberger Programm so weit umgesetzt, wie dies möglich schien. Insofern war das Godesberger Programm das erste Grundsatzdokument der SPD, das praktische Folgen hatte. Im Vergleich dazu waren die Programme von Gotha, Erfurt, Görlitz, Heidelberg wie auch das Prager Manifest der Sopade wirkungslose Deklamationen. Sie vermittelten den Mitgliedern das Gefühl, einer besseren Partei anzugehören. Auch die Predigt in der Kirche erhebt Christen zeitweise, ohne sie zu bessern.
Aber bereits unter der Kanzlerschaft Schmidts zeigte sich, dass die identitätsstiftenden Unterschiede zu den anderen Parteien abseits des Spektakels des öffentlichen Streits verschwindend gering waren. Schon zu Schmidts Zeiten verlor die SPD den Nimbus der »Friedens-und-Freiheits-Partei«. Was die Studentenbewegung ihr an Potential zugeführt und was das Gesicht der Partei zeitweise verändert hatte, büßte sie wieder ein. Die Aufbruchsstimmung war passe. Der auf Initiative eines sozialdemokratischen Kanzlers herbeigeführte NATO-Doppelbeschluss untergrub die friedenspolitische Glaubwürdigkeit der SPD. Zu einer klaren Distanzierung von Schmidt war sie erst spät bereit. Die Nachfolgeregierung konnte sich, als sie den NATO-Beschluss durchführte, gegenüber der Opposition im Bundestag zu Recht darauf berufen, dass sie nur vollende, was die SPD-geführte Regierung begonnen habe. Da half alle Rabulistik nichts mehr.
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Manche Kritiker warfen Schmidt vor, die SPD christdemokratisiert zu haben, und dieser Vorwurf war nicht falsch. Nach Schmidts Sturz zeigte sich, dass die Union im Gegenzug sozialdemokratisiert worden war. Ihr Generalsekretär Heiner Geißler entdeckte die »neue soziale Frage«, und die Partei entwickelte ein umfassendes Konzept der Sozialpolitik, gegen das Sozialdemokraten zwar pflichtgemäß protestierten, das sie aber angesichts eigener Versäumnisse eher hätte beschämen müssen. Die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft spielte nun oft die Rolle, die der SPD angestanden hätte.
Zu den Profilverlusten durch schwindende Unterschiede zur Hauptkonkurrenz kam in der Schmidt-Ära der Zerfall des linken Spektrums in der SPD. Die Grünen besetzten den Platz, den die Schmidt-SPD links frei gemacht hatte. Es gibt in der Politik kein Vakuum, die Nachfrage schafft sich ihr Angebot. Wer sich in der Schmidt-SPD nicht mehr zu Hause fühlte, fand eine neue Heimat bei den damals linken Grünen. So gesellten sich zu den Identitätsverlusten durch die Rechtsentwicklung der Partei und durch den Verlust des Friedensthemas die Unfähigkeit, neue Fragen zu beantworten. Es existiert bis heute kein sozialdemokratisches Konzept, das es ermöglichen würde, die Nord-Süd-Teilung der Welt abzumildern. Und es hat lange gedauert, bis die allein auf Wachstum gerichtete Wirtschaftspolitik wahrgenommen hat, dass es ökologische Grenzen gibt. Zwar hat die SPD ökologische Forderungen in ihre programmatischen Aussagen und Parteitagsbeschlüsse aufgenommen, in ihrer Politik läuft dieses existentielle Thema aber eher am Rand mit. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Die Grünen sind Ausdruck der Tatsache, dass die SPD es versäumt hat, sich den neuen Bedrohungen zu stellen. Sie versagte in der Friedenspolitik, obwohl sie gerade auf diesem Feld während der Kanzlerschaft von Willy Brandt enorme Identitätszugewinne zu verzeichnen hatte, und sie versagte in der Umweltpolitik, weil sie an der Wachstumsorientierung nicht rütteln wollte. Menschen, die für Frieden und eine neue Umweltpolitik eintraten, fanden nur außerhalb der SPD eine politische Heimat. Früher hatte sich das gesellschaftskritische Potential großteils in der SPD versammelt, jetzt agierte es außerhalb ihrer Reihen, hin und wieder im Zusammenwirken mit der in der eigenen Partei an den Rand gedrängten SPD-Linken.
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Es hat Sozialdemokraten gegeben, die früh gegen die neue sozialdemokratische Eindimensionalität geschrieben haben, zum Beispiel Johano Strasser, der einstige Jusovorsitzende, der den Kapitalismus durch systemüberwindende Reformen bezwingen wollte. Anfang der achtziger Jahre war Strasser zwar kein Jusovorsitzender mehr, und die Systemüberwindung eher eine Jugendsünde, aber er wagte es weiterhin, über die Grenzen der politischen Gegenwart hinaus zu denken. Er forderte, eine »neue Reformpolitik zu konzipieren«. Dafür formulierte er beachtenswerte Grundsätze:
»Wir müssen von der Fixierung auf Quantität wegkommen. Es ist völlig absurd, eine Kennziffer wie das Bruttosozialprodukt als Indikator des Wohlstands zu bezeichnen. Was dort zusammengezählt wird, ist die Summe positiver und negativer Dinge. Wir können eine sehr erhebliche Steigerung des Bruttosozialprodukts haben, ohne dass das Wohlergehen der Menschen dadurch gesteigert wird. Der Bau von schlechten Autos, der viele Reparaturen notwendig macht, erhöht das Bruttosozialprodukt ebenso wie die Vergiftung der Umwelt, die viele teure Maßnahmen zu ihrer Sanierung erfordert. Wir müssen von der bequemen Politik des Sowohl-als-auch abgehen, insbesondere in der Verteilungsfrage, und uns zu einer Politik hinwenden, die klare Prioritäten setzt und sagt, wer was bekommt und wem wie viel genommen wird. Auf die Konflikte und Auseinandersetzungen, die damit verbunden sind, muss man sich psychologisch rüsten. Wir werden die Politik der Verschwendung durch eine Politik des Sparens und Wiederverwendens ersetzen müssen, weil die Ressourcen nicht beliebig zur Verfügung stehen und die Verschwendungspolitik zu Umweltbelastungen führt, die auf die Dauer nicht erträglich sind.
Wir werden von einer Politik abgehen müssen, die davon ausgeht, dass sich der Bedarf in dieser Gesellschaft quasi naturwüchsig entwickelt und wir uns ausschließlich auf die Deckung dieses Bedarfs zu orientieren haben. Wir müssen
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vielmehr danach fragen, wie der Bedarf nach gewissen öffentlichen Leistungen eigentlich entsteht: Durch welche falsche Raumordnungs- und Städtepolitik erzeugen wir zum Beispiel einen immer stärkeren Bedarf an Transportleistungen? Wie kommt es, dass ein immer größerer Bedarf an gewissen Gesundheitsleistungen entsteht?
Wir werden darüber diskutieren müssen, wie sinnvoll es ist, eine Gesellschaft so zu organisieren, dass immer mehr Menschen in immer mehr Bereichen von Fremdleistungen, insbesondere anonym erbrachten Fremdleistungen, abhängig sind. Hier werden wir mit einem Stück Tradition brechen müssen, die besagt, dass der Sozialstaat erst dann perfekt ist, wenn der Mensch von der Wiege bis zur Bahre betreut wird. Dagegen sollten wir heute deutlich aussprechen, dass eine solche Gesellschaft eine inhumane Gesellschaft ist. Und wir sollten daran gehen, Verhältnisse zu schaffen, die es den Menschen ermöglichen, in solidarischer Kooperation ihre Probleme aus eigener Kraft lösen zu können. Das klingt so ähnlich, wie man es manchmal von Konservativen hört. Wenn wir das aber mit dem Postulat der Gleichheit verbinden, wird der grundsätzliche Unterschied wieder deutlich. Sehr viel von dem, was wir in der Vergangenheit dem Spiel der Kräfte, dem individualistischen Egoismus überlassen haben, soll durch bewusste Solidarität organisiert werden.
Wir werden in diesem Zusammenhang auch überdenken müssen, ob wir nicht in vielen gesellschaftlichen Bereichen und staatlichen Institutionen eine Überzentralisierung haben, die für Freiheit und Demokratie nachteilig ist, weil die zu beurteilenden Sachfragen nicht mehr transparent sind, weil die Datenmenge, die zur Verfügung stehen muss, um kompetent zu urteilen, von den Bürgern nicht mehr überschaubar ist, weil durch die Kontrolle über diese Daten die Manipulationsmöglichkeiten erheblich gewachsen sind und weil Machtkonzentration alle Mal etwas ist, was unter demokratischen Gesichtspunkten problematisch erscheint.«
Johano Strasser, 1982
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In der Regierungszeit der SPD wandelte sich auch ihre soziale Struktur. Dies zeigt sich, wenn man die Neueintritte zu verschiedenen Zeitpunkten untersucht. 1960 waren von den neuen Mitgliedern 55,7 Prozent Arbeiter, 21,2 Prozent Beamte und Angestellte, 5 Prozent Selbstständige, 2,7 Prozent Freiberufler, 5 Prozent Rentner und 9,3 Prozent Hausfrauen. 1969 fiel der Arbeiteranteil auf 39,6 Prozent; die anderen Anteile betrugen: Angestellte und Beamte 33,6 Prozent; Selbstständige 5,6 Prozent; Freiberufler 7,8 Prozent; Rentner 5,6 Prozent; Hausfrauen 9,6 Prozent. Bereits drei Jahre später, 1972, war der Arbeiteranteil auf 27,6 Prozent gefallen, wogegen der Anteil der Angestellten und Beamten auf 34 Prozent gestiegen war. Gleichzeitig sank das Durchschnittsalter der Mitglieder durch zahlreiche Eintritte von Jugendlichen.
Während der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt stagnierten die Mitgliederzahlen. Auch gelang es der Partei nicht mehr so wie zu Brandts Zeiten, Sympathisanten bei Wahlkämpfen zu gewinnen. Es gab weniger Bürgerinitiativen für die SPD oder die sozialliberale Koalition: Die Ausstrahlungskraft der Partei sank, wie die Aufbruchsstimmung verflog. Viele Menschen, die sich politisch engagieren wollten, gingen in Bürgerinitiativen, die parteipolitisch neutral waren oder die Grünen unterstützten bzw. von den Grünen unterstützt wurden. Sozialdemokraten, die sich in diesem Umfeld engagierten, wurden oft angegriffen in der eigenen Partei. Die Offenheit, die das Godesberger Programm versprach, wurde eingeengt, und der Parteivorsitzende Brandt bemühte sich mit wenig Erfolg darum, die SPD für die neuen Protestbewegungen zu öffnen. Aber für die meisten Anhänger der Friedens- und Antiatomkraft-bewegung war die SPD ohnehin spießig, wachstumsfixiert und unbeweglich.
Das Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts
War die SPD also ein Auslaufmodell: erneuerungsunfähig und kaum mehr zu unterscheiden von der parteipolitischen Konkurrenz? In den sechzehn Jahren der Opposition bis 1998 drängte sich dieser Eindruck mitunter auf. Betrachtet man die Politik der Regierung Schröder, dann relativieren sich die Konzepte der sozialdemokratischen Opposition gegen die Kohl-Regierung.
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Das Projekt Gesellschaftsveränderung hat die Partei längst ad acta gelegt, auch wenn es das Berliner Programm von 1989 noch schmückt. Grob gesagt, unterscheiden sich die politischen Lager vor allem hinsichtlich der Frage, wie wirtschaftliches Wachstum angekurbelt werden kann. Die lautstarken Verteidigungsreden für das Rentensystem sind durch die Rentenpolitik der rot-grünen Regierung lächerlich gemacht worden. Das Gleiche gilt für die Blüm'sche Gesundheitsreform, an der die Sozialdemokraten besonders die Patientenzuzah-lung störte; sie wurde etwas reduziert, aber als Prinzip beibehalten. Diese Anmerkungen mögen an dieser Stelle genügen, um die Frage aufzuwerfen, was den eigentlichen Charakter sozialdemokratischer Politik ausmacht.
Der liberale Soziologe Ralf Dahrendorf hat Anfang der achtziger Jahre die These aufgestellt, dass das »sozialdemokratische Jahrhundert« beendet sei. Alle politischen Parteien seien sozialdemokratisch geworden, weil alle Parteien die sozialdemokratischen Themen aufgenommen hätten: Wachstum, Gleichheit, Arbeit, Vernunft, Staat und Internationalismus. Deshalb habe die Sozialdemokratie ihre historische Aufgabe erfüllt. Die Autoren der quasi parteioffiziellen SPD-Geschichte, Susanne Miller und Heinrich Potthoff, halten diese Aussage zwar für verzerrt, glauben aber dennoch, dass sie »Anlass zum Nachdenken« gebe. In der Tat gibt es einige Argumente, die für Dahrendorfs Behauptung sprechen (auch wenn dieser sie unter dem Eindruck der New-Labour-Renaissance in Großbritannien mittlerweile widerrufen hat).
Die Sozialdemokratie begann als revolutionäre Arbeiterpartei. Sie hat diese Identität nie verwirklicht. Als sie es in der deutschen Revolution 1918/19 gekonnt hätte, zeigte sich, dass Reformismus und Revisionismus die Partei längst verändert hatten, auch wenn die Zentristen diese Tatsache im Interesse der Parteieinheit abstritten. Erst 1933 war der Zentrismus am Ende, bekannte sich die Partei zu einer gesellschaftsverändernden Politik. Sie durchzuführen hatte sie keine Gelegenheit. Mit dem Godesberger Programm verabschiedete sie sich vom Marxismus als alleiniger Parteilehre und geistiger Traditionslinie, ohne aber eine neue Tradition begründen zu können. Die Propagierung des demokratischen Sozialismus verlor im Lauf der Jahre an sozialistischem Inhalt. Mittlerweile soll der Begriff »Sozialismus« aus der Programmatik gestrichen werden. Das wäre folgerichtig, legt man die Politik der Partei als Maßstab an.
Als identitätsstiftendes Bindemittel hat der demokratische Sozialismus in den Augen bedeutender Teile der Partei ausgedient. Stattdessen soll künftig von der sozialen Demokratie gesprochen werden - ein Vorschlag, den Vertreter des rechten Parteiflügels gemacht haben.
Außer dem Sozialismus kommen der Partei auch die Arbeiter abhanden. Der Anteil der Arbeiter an der erwerbstätigen Bevölkerung sinkt. Die Vorstellung, dass die Arbeiter eine zum Sozialismus strebende Klasse seien, die Totengräber des Kapitalismus, war nie richtig. Aber längst ist sie auch soziologisch als Hokuspokus enttarnt. Die Idealisierung des Arbeiters, die hinter dieser Sozialismusvorstellung steckt, war schon zu Zeiten grotesk, als die Arbeiter ein viel größeres Gewicht in der Gesellschaft hatten. Ihre Interessenvertretungsorgane waren und sind konservativ. Man betrachte die Rolle der Gewerkschaftsvertreter in der Revisionismus- und in der Massenstreikdebatte, am 4. August 1914 oder in der deutschen Revolution, aber auch ihr Versagen beim Kampf gegen die Nazis.
Bis vor wenigen Jahren spukte das Idealbild des gesellschaftsverändernden Arbeiters in sozialdemokratischen Köpfen, weil es eine konkrete Ausdrucksform der Heilslehre war, wonach die Arbeiter eine bessere Klasse seien. Die meisten Arbeiter aber waren nie sozialistisch, und sie begriffen ihre Partei, die SPD, als ihre politische Interessenvertretung in der bürgerlichen Gesellschaft. Hier hatte die Arbeiterbewegung viele Erfolge vorzuzeigen. Sie gewann nicht die Macht, aber an Einfluss.
Der Sozialstaat Bundesrepublik ist kein Geschenk des Kapitals an die Arbeiter, sondern von diesen erkämpft worden, nicht für den Sozialismus, sondern zum eigenen Vorteil. Aber er brachte auch dem Kapital Vorteile, nämlich stabile soziale Verhältnisse und die Marginalisierung der Linken.
Was bleibt also von der SPD? Ist sie nicht längst überflüssig geworden?
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