"Die Überlebenden werden die Toten beneiden" Ditfurth-1985
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Dies alles wären die Folgen der Explosion eines einzigen nuklearen Sprengkopfs von "nur" 150 Kilotonnen. Es ist entweder unüberbietbar töricht oder schlicht verlogen, wenn angesichts eines solchen Infernos von der Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit der Vorbereitung von "Zivilschutzmaßnahmen" geredet wird.
Die Politiker, die das tun, die den Druck von "Aufklärungsschriften" veranlassen, um den Bürger zu belehren, wie er sich und die Seinen im Falle eines Atomangriffs "schützen" könne, die eine Zivilschutzorganisation ins Leben rufen und Ärzte gesetzlich zwingen wollen, sich "zur Vorbereitung auf den Ernstfall" einer strahlenmedizinischen Fortbildung zu unterziehen — alle diese Männer, und es gibt nicht wenige von ihnen —, sind entweder so abgrundtief ahnungslos, daß man sie schleunigst absetzen müßte, oder aber sie handeln wider besseres Wissen — etwa, um die "Öffentlichkeit" (das wären also wir) "zu beruhigen" — und damit (man darf es nicht anders formulieren) verbrecherisch.
Denn alle diese Maßnahmen und Planungen "beruhigen" doch dadurch, daß sie die aberwitzige Illusion nähren, auch ein Atomkrieg sei schließlich nur ein Krieg und deren habe man, so entsetzlich sie immer gewesen seien, ja doch schon mehrere recht und schlecht überstanden.16 Die Illusion, daß auch die Folgen einer nuklearen "Auseinandersetzung" durch vorbereitende Planung und zweckmäßige Organisation irgendwie in den Griff zu bekommen seien, daß, mit einem Wort, auch ein Atomkrieg ungeachtet aller Fürchterlichkeit von der menschlichen Gesellschaft letztlich zu bewältigen sei, wenn man sich nur rechtzeitig und konsequent genug auf ihn vorbereite.
Dieser Appell aber, sich auf den nuklearen "Ernstfall" vorzubereiten, läuft auf nichts weniger als auf Kriegstreiberei hinaus. Ungeachtet der subjektiven Motive der möglicherweise honorigen Männer, die uns eine solche Vorbereitung ans Herz legen, kann ihre Empfehlung nur eine Minderung unserer Angst vor einem Krieg bewirken, der auf gar keinen Fall geführt werden darf.
Die aktive zivile Vorbereitung auf den Atomkrieg durch Bunkerbau, durch die Organisation eines Katastrophenschutzes und medizinische Fortbildungskurse "beruhigt" doch allein dadurch, daß sie der menschlichen Neigung zum Wunschdenken schamlos entgegenkommt. Dadurch, daß sie die feige Versuchung bestärkt, das, was seiner tödlichen Endgültigkeit wegen niemals eintreten darf, zu einer Angelegenheit umzulügen, die gewiß ganz furchtbar scheußlich sein würde, mit der sich im Fall der Fälle letzten Endes, "wenn es denn sein muß", aber doch irgendwie zurechtkommen ließe.17
So nagt die zivile Vorbereitung psychologisch an jener Hemmschwelle, die unseren einzigen Schutz gegen den Ausbruch des atomaren Holocaust darstellt. Ungeachtet der subjektiven Motive, die hinter ihr stehen mögen, hat sie darum objektiv als Kriegstreiberei zu gelten.
Dies gilt um so mehr, als die zivile Vorbereitung einem realitätsbezogenen Zweck nachweislich ohnehin nicht dienen kann. Die Vorstellung, daß nach einem atomaren Angriff auf ein dichtbesiedeltes Gebiet irgendeine vorbereitete Organisation noch funktionieren könnte, daß etwa die planmäßige Bergung von Verwundeten und deren medizinische Versorgung möglich sein würden, ist irrational. Die Geistesverfassung eines verantwortlichen Politikers, der sie offiziell vertritt, muß — gelinde gesagt — als besorgniserregend angesehen werden.
Hier einige wenige Hinweise, die vollauf genügen, jeden, der seine Sinne beisammenhat, vor jeglichen Illusionen zu bewahren. Die Behandlung eines einzigen Brandopfers mit einem Hautverlust von 25 Prozent oder mehr erfordert einen monatelangen Aufenthalt in einer Spezialklinik. In ganz Westeuropa gibt es nur etwa 1500 entsprechende Betten. Über Wochen hinweg sind wiederholte Bluttransfusionen sowie laufender Eiweißersatz durch Infusionen notwendig. In der Spätphase der Behandlung wiederholte ausgedehnte Hauttransplantationen.
Wie sollte ein Land wie die Bundesrepublik unter diesen Umständen den mindestens zehntausend, möglicherweise mehreren zehntausend verbrannten Halbtoten helfen können, die der geschilderte Angriff mit nur einer einzigen Rakete auf Frankfurt innerhalb weniger Minuten hinterlassen würde?
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Die Frage bleibt selbst dann rein rhetorisch, wenn man, wie hier geschehen, den unrealistischen Fall annimmt, daß es bei dieser einen Rakete bliebe, daß das Land außerhalb des Katastrophengebietes mit allen Kliniken, medizinischem Personal, Versorgungseinrichtungen, Straßen und so weiter also intakt wäre. Dabei wird es in der Realität kaum Patienten mit reinen Verbrennungsschäden geben.
Die Aufeinanderfolge von Strahlungsausbruch, Hitzeblitz und Druckwelle würde unweigerlich dazu führen, daß es sich bei fast allen Verletzten um "Mehrfachgeschädigte" handelte, wie der medizinische Ausdruck lautet. Neben ihren Brandwunden würden die Menschen Knochenbrüche, oft mehrfache und komplizierte Knochenbrüche davontragen, die zu versorgen wären. Bei den meisten würden zusätzlich früher oder später Übelkeit und Erbrechen auftreten, nach kurzer Pause gefolgt von blutigen Durchfällen, die einen laufenden Flüssigkeitsersatz durch Tropfinfusionen erforderlich machten.
Wenn man diese Opfer einer beginnenden Strahlenkrankheit nicht einfach hilflos einem wochenlangen Martyrium überlassen, im Klartext: sie also nicht einfach qualvoll verenden lassen will, müßte jeder dieser Menschen — und wieder würde es sich bei unserem Szenario um Abertausende handeln — über Wochen, womöglich Monate hinweg intensiv ärztlich und pflegerisch betreut werden — bis die Mehrzahl dann schließlich doch stürbe.
Wolfgang Send, Beauftragter des Bundes für den Zivilschutz, hat angesichts dieser vorhersehbaren Situation in aller Deutlichkeit festgestellt:
"Bereits die Explosion einer einzigen Atombombe mit der Sprengkraft von 200 Kilotonnen TNT über einer deutschen Großstadt würde theoretisch das gesamte deutsche Rettungswesen auf Wochen, die medizinischen Möglichkeiten unseres Landes auf Jahre hinaus jenseits der Grenze der Leistungsfähigkeit beanspruchen."18
Ganz abgesehen davon, daß es "im Ernstfall" gewiß nicht bei einer einzigen Bombe bliebe: Selbst dann wären die Folgen der Katastrophe auch nach Jahren noch nicht ausgestanden. Denn die "Strahlenkrankheit" — der Ausdruck erweckt den irreführenden Eindruck, daß es sich dabei um ein einheitliches Krankheitsgeschehen handele — hat viele verschiedene Gesichter, und eines davon ist häßlicher als das andere.
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Zunächst einmal ist die von der Kernexplosion ausgehende Strahlung aus mehreren Komponenten zusammengesetzt. Da gibt es eine aus geladenen Teilchen bestehende "Alpha-Strahlung" (Kernbruchstücke, jeweils aus 2 Protonen und 2 Neutronen bestehend) und "Beta-Strahlen" aus freien Elektronen. Neben dieser Teilchen- oder Korpuskularstrahlung entstehen bei der Explosion große Mengen sehr energiereicher (extrem kurzwelliger) elektromagnetischer Strahlung im Gamma- und Röntgenbereich. Die Wirkungen beider Strahlungsarten sind sehr unterschiedlich.
Die Teilchenstrahlen bleiben schon in den alleräußersten Körperschichten stecken. Sie "ionisieren" die getroffenen Gewebeatome — schlagen Elektronen aus ihnen heraus — und werden dadurch sehr schnell abgebremst. Dabei werden allerdings örtlich beträchtliche Energien übertragen, was zu verbrennungsartigen Hautschäden führt.
Anders die Gamma- und Röntgenstrahlen. Sie dringen tief in den Körper ein und treffen dort von Fall zu Fall einzelne Atome. Das Ausmaß der Folgen hängt von der Zahl der Treffer ab und die Art der Schäden von der biologischen Funktion des betroffenen Gewebes. Die Trefferzahl ist selbst bei einer tödlichen Strahlendosis überraschend niedrig. Der Kölner Genetiker Hubert Kneser gibt an, daß dabei nur jeweils eins von einer Milliarde Atomen getroffen wird. (Anm. 15, S. 51)
Einer gewöhnlichen Körperzelle macht das denn — relativ gesehen! — zunächst auch nicht allzuviel aus. Da auch die größten Moleküle, mit deren Hilfe eine Knochen-, Muskel- oder Leberzelle ihren Stoffwechsel betreibt, aus nicht mehr als etwa 100.000 Atomen bestehen, bedeutet die von Kneser berechnete Treffer-Wahrscheinlichkeit, daß nur jedes zehntausendste Molekül der Zelle eines seiner Atome durch einen direkten Treffer verliert.
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Das Atom wird aus dem Molekülverband dabei regelrecht herausgeschossen, und im ungünstigsten Falle wird die Struktur des Moleküls dadurch so einschneidend verändert, daß es seine biologische Leistungsfähigkeit einbüßt. Diesen Verlust kann die Zelle in den meisten Fällen verschmerzen, da die Zahl der spezifischen Moleküle, über die sie verfügt, sehr groß ist.
Die biologischen Folgen dieser akuten Wirkung der Strahlung auf den menschlichen Organismus sind daher auch vergleichsweise harmlos: Stunden nach der Explosion stellen sich Mattigkeit und Kopfschmerzen ein, es kommt zu Übelkeit und schließlich Erbrechen. Spätestens nach einigen Tagen sind alle diese Krankheitserscheinungen, Symptome einer vorübergehenden Beeinträchtigung der zellulären Stoffwechselvorgänge, abgeklungen, und das Opfer fühlt sich wieder wohl.
Es ist ein trügerisches Wohlbefinden.
Denn unser Weiterleben hängt nicht nur (akut) von dem ungestörten Funktionieren der Zellen ab, aus denen unser Körper besteht, sondern langfristig auch von deren in bestimmten Zeitabständen notwendig werdenden Ersatz. Dieser erfolgt durch Teilung und Vermehrung spezieller Stammzellen, im Falle des Blutes zum Beispiel im Knochenmark und in der Milz. Die Fähigkeit dieser Gewebe, durch Teilung neue Zellen zu bilden, hängt nun von einer besonderen Art von Molekülen ab, den sogenannten Erbmolekülen, und diese sind fatalerweise riesig. Sie bestehen nicht aus 100.000, sondern aus zehn oder mehr Milliarden Atomen. Das heißt bei einer Treffer-Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Milliarde nichts anderes, als daß bei der entsprechenden Strahlendosis — die eben deshalb langfristig tödlich wirkt — jedes einzelne von ihnen durchschnittlich zehnmal getroffen wird. Damit aber ist ihre Fähigkeit zur Teilung in aller Regel beeinträchtigt.
Das Strahlenopfer lebt jetzt also scheinbar unbehelligt weiter, jedoch mit Zellen, die von seinem Körper nicht mehr oder nur noch unvollkommen ersetzt werden können. Sein weiteres Schicksal wird von nun an folglich von der Lebensdauer dieser Zellen bestimmt. Am kürzesten ist diese bei den Blutzellen. Ein rotes Blutkörperchen lebt durchschnittlich zwar immerhin drei bis vier Monate, bevor es durch einen im Knochenmark neu gebildeten Nachfolger ersetzt werden muß.
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Manche Arten weißer Blutkörperchen jedoch, die zur Infektionsabwehr unentbehrlich sind, haben nur eine Lebensdauer von einer oder einigen wenigen Wochen. Und die Lebensdauer der sogenannten Blutplättchen ("Thrombocyten"), von denen die Gerinnungsfähigkeit des Bluts abhängt, beträgt nur Tage. Wenn man das weiß, kann man sich an den Fingern abzählen, wie es weitergeht. Am schnellsten nimmt die Zahl der Thrombocyten im Blut ab. Immer mehr von ihnen zerfallen. Nachschub gibt es nicht mehr. Die Gerinnungsfähigkeit des Blutes nimmt daher laufend ab, bis das Opfer schließlich wie ein Bluter spontan zu bluten beginnt: aus der Nase, aus der Mundschleimhaut, schließlich aus dem Darm.
Wenn es soweit ist — bei der angenommenen Strahlendosis spätestens nach zwei Wochen —, ist auch die Zahl der weißen Blutkörperchen spürbar zurückgegangen. Die Infektionsabwehr beginnt daher nachzulassen, Entzündungen in Hals und Rachen, in der Lunge, auf der äußeren Haut (Furunkel) treten auf und breiten sich aus. Wenn die Kombination dieser beiden Schädigungen dem Leiden kein Ende setzt, kommt es, den Tod wenigstens jetzt rasch herbeiführend, noch zu schweren Durchfällen mit dem entsprechenden Flüssigkeitsverlust und quälendem Durst. Jetzt nämlich wären auch die empfindlichen Zellen der Darmschleimhaut auf den — jedoch ausbleibenden — Ersatz durch neugebildete Zellen angewiesen.
Wenn die Dosis tödlich war, ist die Leidensgeschichte für den betroffenen Menschen damit nach einigen Wochen zu Ende. Für die Folgen insgesamt, die der mit der Kernexplosion einhergehende Strahlungsausbruch nach sich zieht, gilt das leider keineswegs. Denn auch die Menschen, die "Glück gehabt" haben, die vom Zentrum der Explosion so weit entfernt waren — oder zufällig durch Mauern gedeckt —, daß sie nur eine Strahlungsmenge unterhalb der tödlichen Dosis abbekommen haben, sind mitnichten etwa ungeschoren geblieben.
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Auch wenn sie an den Folgen nicht sofort und nicht einmal in den anschließenden Wochen zu sterben brauchen, so sind die in den Kernen ihrer Zellen steckenden Erbmoleküle, welche die geordnete Teilung ihrer Körperzellen steuern, doch so stark geschädigt, daß ihr Risiko, an Krebs zu erkranken, für den Rest ihres Lebens stark erhöht ist. Und nicht nur sie sind betroffen. Die schadenstiftenden Konsequenzen der Katastrophe erstrecken sich auch auf die noch Ungeborenen und auf zukünftige Generationen.
Da aus den geschilderten Gründen vor allem die Teilungsfähigkeit der Zellen durch die Strahlung geschädigt wird, sind die Keimzellen der Menschen besonders stark gefährdet und ebenso die in den Körpern der Frauen schon existierenden Ungeborenen. Unfruchtbarkeit und Totgeburten sind die Folgen. Und wo diese akuten Konsequenzen ausbleiben, ist mit der Gefahr von Mißbildungen zu rechnen. Nicht nur durch unmittelbare Schädigung der Föten. Auch für die kommenden Generationen. Denn die Schäden und willkürlichen Veränderungen, welche die Strahlung in den Samenzellen und Eizellen der von ihr getroffenen Männer und Frauen bewirkt hat, werden mit der gleichen Zuverlässigkeit und Präzision weitervererbt, wie die in ihnen gespeicherten Teile des menschlichen Bauplans, die intakt geblieben sind.
Die Büchse der Pandora
Am 14. Juni 1946 machte der amerikanische UNO-Botschafter Bernard M. Baruch vor dem Forum der Atomenergie-Kommission der Vereinten Nationen einen Vorschlag.
"Wir stehen vor einer Entscheidung auf Leben und Tod. Hinter den drohenden Vorzeichen des neuen Atomzeitalters liegt eine Hoffnung, die unsere Rettung bedeuten kann, wenn wir in zuversichtlicher Entschlossenheit auf sie setzen. Wenn wir versagen, werden wir die Menschen dazu verdammen, ein Leben in ständiger Furcht zu führen. Seien wir uns darüber klar: Wir haben zu wählen zwischen dem Frieden für die Welt und ihrer Zerstörung."
Mit diesem Appell leitete der amerikanische UN-Botschafter den Vorschlag seiner Regierung ein, alle existierenden Atomwaffen abzuschaffen und auf ihren Bau für alle Zukunft zu verzichten.
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Die USA verfügten zu diesem Zeitpunkt als einzige Nation über Kernwaffen: ganze neun Spaltbomben, zerlegt, in nicht einsatzfähigem Zustand. Noch hätte sich die Flasche mit dem Teufelszeug wieder versiegeln lassen. Aber die sowjetische Delegation lehnte den Vorschlag auf Geheiß Stalins ab. Andrej Gromyko, der russische Chefdelegierte, erklärte, der Sowjetunion sei es nicht zuzumuten, das bisherige amerikanische Kernwaffenmonopol hinzunehmen. Außerdem weigerte die Sowjetunion sich strikt, einer der entscheidenden Vorbedingungen des amerikanischen Vorschlags zuzustimmen: der Kontrolle aller nationalen kernphysikalischen Aktivitäten durch internationale Inspektionen.
Damit war die Entscheidung gefallen. Es gab kein Halten mehr.
In den folgenden Jahrzehnten konzentrierten beide Supermächte, angetrieben von Angst und Mißtrauen, von den Forderungen ihrer Militärs und einer immer hysterischer werdenden politischen Propaganda, einen ständig wachsenden Teil ihrer wissenschaftlichen Fähigkeiten und ihrer wirtschaftlichen Kraft auf die Herstellung immer neuer, immer wirksamerer und immer furchtbarerer Vernichtungsmittel. Das Maß, in dem die Vorräte das zur Ausrottung allen irdischen Lebens Erforderliche heute schon übersteigen, ist ein verläßlicher Gradmesser für die psychopathische Verfassung unserer Gesellschaft. Die Menschen sind, wie Baruch es 1946 vorhergesagt hatte, zu einem Leben in ständiger Furcht verdammt.
Die Büchse der nuklearen Pandora enthält heute (Stand vom Jahresende 1983, s. Anm. 19) das folgende Arsenal:
Die USA verfügen über mindestens 26.000 nukleare Gefechtsköpfe unterschiedlichen Kalibers. Die jährlichen Aufwendungen zur Vergrößerung dieser Zahl — und zur Wartung der existierenden Kernwaffen — betragen umgerechnet etwa neunzig Milliarden DM (täglich also 250 Millionen DM oder 173.000 DM in jeder einzelnen Minute, allein in den USA).
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Dieser Einsatz ermöglicht es der westlichen Supermacht, ihren Vorräten Tag für Tag acht neue Sprengsätze hinzuzufügen — in einer Situation, in der die vorhandenen Vorräte längst zum "Overkill", das heißt zum mehrfachen Umbringen (was immer das bedeuten mag) eines jeden Gegners, reichen würden. Offizielle Schätzungen gehen davon aus, daß die USA bei einer Beibehaltung des jetzigen Rüstungstempos — das unter der Präsidentschaft Reagans in den kommenden Jahren eher noch zunehmen dürfte — zu Beginn des kommenden Jahrzehnts über 32.000 Kernsprengköpfe verfügen werden.
Die Zahl der sowjetischen Atomwaffen liegt nach allen Schätzungen — genaue Angaben sind aufgrund der notorischen Geheimhaltungssucht der östlichen Supermacht nicht zu bekommen — deutlich darunter. Dabei sollte jedoch keineswegs übersehen werden, daß auch der östliche Vorrat längst für einen mehrfachen "Overkill" ausreicht. SIPRI, das angesehene und unparteiliche "Stockholm International Peace Research Institute", schätzt die Zahl der sowjetischen Sprengköpfe auf 17.500.
Offizielle US-amerikanische Schätzungen sprechen von 23.000 russischen Kernwaffen. Eine Zahl, die ganz sicher unter dem Aspekt zu bewerten ist, daß sie die Summe von Teilrechnungen darstellt, bei denen aus den verschiedensten (naheliegenden) Gründen jeweils die für die USA ungünstigsten Annahmen zugrunde gelegt wurden.
Diesen monströsen Zahlen gegenüber wirken die Vorräte der restlichen Atomwaffen-Besitzer bescheiden — relativ, wohlgemerkt, denn auch jeder dieser atomaren "Zwerge" wäre heute in der Lage, ein Vernichtungspotential zu entfesseln, das den Alptraum von Hiroshima vieltausendfach überträfe. Die Briten verfügen über etwa 600 Sprengköpfe — darunter etwa fünfzig im Megatonnen-Bereich —, die Franzosen über 720 und die Chinesen über 940.
Alles in allem existieren heute auf der Erde rund 50.000 atomare Sprengköpfe unterschiedlichsten Kalibers: von dem gigantischen W-53-Gefechtskopf der amerikanischen Titan-Rakete mit einer Sprengkraft von neun Megatonnen bis zu atomaren Landminen von weniger als einer Kilotonne Sprengkraft, die nur 26 Kilogramm wiegen und die daher ein einzelner Soldat transportieren und verlegen kann. (Auch der Feuerball einer solchen Mini-Atombombe hat noch einen Durchmesser von mehr als fünfzig Metern und würde ungeschützte Menschen bis zu einer Entfernung von mehreren hundert Metern verbrennen.)
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Was wären die Folgen, wenn jemals die Entscheidung fiele, von diesem Potential als "Ultima ratio" Gebrauch zu machen? Die Ansichten darüber gehen auseinander. Am optimistischsten sind die Prognosen bedenklicherweise in den Kreisen jener, die die Entscheidung im Krisenfall zu treffen hätten.
Für strategische und Kernwaffen mittlerer Reichweite ist im amerikanischen Verteidigungsministerium unter anderen der stellvertretende Unterstaatssekretär Thomas K. Jones zuständig. Nicht ohne Interesse ist allein die Vorgeschichte, die dazu führte, daß "TK", wie er von Insidern genannt wird, von der Reagan-Regierung auf diesen wichtigen Posten berufen wurde.20
Jones, Mitarbeiter der Rüstungsabteilung des Boeing-Konzerns, hatte zu Zeiten Nixons als wissenschaftlicher Berater an den SALT-I-Verhandlungen teilgenommen. Bei dieser Gelegenheit machte er erstmals Bekanntschaft mit sowjetischen Broschüren über Möglichkeiten des Zivilschutzes im Falle eines Atomkriegs. Die darin geschilderten Methoden, die Bevölkerung mit primitivsten Mitteln — zum Beispiel selbstgegrabene Schlupflöcher — wirksam zu schützen, machten auf ihn einen tiefen Eindruck.
Wieder zurück bei Boeing begann er, mit Hilfe simulierter Atomexplosionen — unter Verwendung konventioneller Sprengstoffe —, die Schutzwirkung von Erdlöchern für Menschen und von Erdwällen für Maschinen und Industrieanlagen experimentell zu untersuchen. Die Versuche verliefen so erfolgreich, daß sich bei "TK" eine furchtbare Vermutung regte: Vielleicht waren die Russen längst dabei, sich mit Hilfe der in ihren Zivilschutzbroschüren geschilderten simplen Methoden gegen die Gefahren eines amerikanischen "Zweitschlages" zu immunisieren?
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Wenn es ihnen gelingen sollte, ja, sogar schon dann, wenn sie nur an die Möglichkeit glauben sollten, daß sich ihre Bevölkerung und ihre Industrie auf die beschriebene einfache Weise wirkungsvoll würden schützen lassen, würde sich ihre Angst vor einem amerikanischen Vergeltungsschlag entsprechend verringern. Im Klartext: Die sowjetischen Zivilschutzbemühungen drohten in den Augen von "TK", das atomare Gleichgewicht außer Kraft zu setzen.
Jones' Veröffentlichungen zu dem Thema fanden die Aufmerksamkeit der Regierung Reagan, als diese ans Ruder kam. Die Entschiedenheit, mit welcher der Verfasser die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit amerikanischer Anstrengungen zur Beseitigung der von ihm entdeckten "Zivilschutzlücke" öffentlich verfocht, führten schließlich zu seiner Berufung ins Verteidigungsministerium. Dort vertritt "TK" seitdem seine inzwischen unerschütterliche Überzeugung von der Möglichkeit, dem Atomkrieg mit einfachsten Mitteln seine Schrecken zu nehmen.
Der amerikanische Journalist Robert Scheer,20) der Jones wiederholt interviewte, hat berichtet, daß dieser ihm gegenüber die Ansicht geäußert habe, ein Nuklearkrieg sei in Wirklichkeit nicht annähernd so verheerend, wie man die Öffentlichkeit glauben zu machen versuche. Von einem "totalen Nuklearkrieg mit der Sowjetunion" würden die USA sich innerhalb von nur zwei bis vier Jahren wieder erholen — unter der Voraussetzung, daß man den Menschen ihre Furcht nehme und ihnen zeige, wie sie sich schützen könnten.
"TK" Jones ist der Erfinder der berühmt-berüchtigten "Schaufel-Strategie": Es müsse nur jeder für sich ein Erdloch graben, eine Tür oder ein paar Bretter darüberlegen und darauf Erde anhäufen. Mehr sei nicht notwendig. "Wenn es genug Schaufeln gibt, kann jeder überleben."
Man muß sich klarmachen, worauf es schließen läßt, wenn sich ein hochgestellter, für Verteidigungsfragen verantwortlicher Beamter der amerikanischen Regierung in dieser Weise äußert. Zwar haben diese und vergleichbare Bemerkungen in der amerikanischen Presse inzwischen so bissige Kommentare ausgelöst, daß "TK" von seinen Oberen ein Maulkorb verpaßt wurde. Seinen Posten versieht er jedoch nach wie vor, was nur den Schluß zuläßt, daß er mit seinen Ansichten unter seinen Kollegen keineswegs allein dasteht.
Eine im Grunde beneidenswerte Geistesverfassung.
Wer sich und die Seinen vor den Folgen eines "totalen Nuklearkriegs" mit Schaufel und ausgehängter Küchentür wirksam schützen zu können glaubt, der braucht sich wegen der Existenz von 50.000 Kernsprengsätzen auf diesem Globus allerdings keine ernsten Gedanken mehr zu machen. Das einzig Besorgniserregende an der Angelegenheit ist eben nur der Umstand, daß Männer wie "TK" Jones und seine ihm offenbar geistesverwandten Kollegen Einfluß darauf haben, was mit diesen 50.000 Kernsprengsätzen geschehen wird.
Denn dieser Jones ist kein Einzelfall. "Es wäre eine schreckliche Geschichte, aber man könnte sie in den Griff bekommen", antwortete Louis Giuffrida, Leiter der amerikanischen Katastrophenschutzbehörde, auf die Frage nach den Folgen eines Atomkriegs in einem Interview der Fernsehgesellschaft ABC. (Quelle für dieses und die folgenden Zitate s. Anm. 20) Sein Mitarbeiter William Chipman entgegnete auf die Frage, ob die Demokraten einen totalen Atomkrieg gegen die Sowjetunion überleben könnten: "Im Zweifel ja. Wie ich zu sagen pflege: Die Ameisen bauen sich schließlich einen neuen Ameisenhaufen." Charles Kupperman, von Reagan in die US-Abrüstungsbehörde berufen: "Es ist für jede Gesellschaft möglich, einen Nuklearkrieg zu überleben."
Die Frage, ob nach einem Atomangriff wirklich die Lebenden die Toten beneiden werden — wie Nikita Chruschtschow es prophezeite —, wird in einer offiziellen Publikation der amerikanischen Zivilschutzbehörde so beantwortet:
"Angesichts der schrecklichen Kraft der Nuklearwaffen lautet die gefühlsmäßige Antwort oft ›ja‹. Aber Daten und Schlußfolgerungen, die aus komplexen und kenntnisreichen Untersuchungen stammen, unterstützen diese Ansicht nicht ... Bei näherem Hinsehen zeigen die Tatsachen mit ziemlicher Sicherheit, daß die Vereinigten Staaten bei vernünftigen Schutzmaßnahmen einen Nuklearangriff überleben und dann binnen weniger Jahre zum Wiederaufbau übergehen könnten." (Anm. 20, S. 207)
Angesichts so phantastischer Verdrängungstendenzen in offiziellen und verantwortlichen Kreisen bleibt nichts anderes übrig als der Versuch, den Realitätsbezug durch eine möglichst präzise — auf neuere wissenschaftliche Untersuchungen gestützte Darstellung — dessen wiederherzustellen, was ein "totaler Nuklearkrieg" in Wirklichkeit bedeutet.
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Hoimar von Ditfurth -- Atombombenfolgen