Wen die Götter vernichten wollen ...
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Man muß es sich einmal bewußt klarmachen, wie einfach alle Sorgen und Befürchtungen grundsätzlich zu zerstreuen wären. Sämtliche Gefahren würden sich ohne ein einziges zusätzliches Menschenopfer beheben lassen, wenn verhindert würde, daß die Zahl der Menschen bis zu einer kritischen Größenordnung weiter ansteigt.
Uns bliebe - wenn das gelänge - nicht nur die Katastrophe »apokalyptischen Ausmaßes« erspart, die sonst unweigerlich über uns hereinbräche. Auch alle ökologischen Krankheitserscheinungen, sämtlich und ausnahmslos Folgen der schon seit längerem eingetretenen Überlastung der irdischen Lebenssphäre, würden wieder verschwinden. Die Atemluft würde wieder atembar, die Wasserquellen würden ihre Frische wiedererlangen und der Boden seine natürliche Fruchtbarkeit.
Auch das lautlose Massensterben würde aufhören, das wir unter den anderen Lebewesen, Tieren und Pflanzen, durch die bloße Maßlosigkeit unseres Auftretens anrichten. Ein Ausrottungsprozeß käme zum Stillstand, dessen Dimension ohne Beispiel ist in der ganzen Geschichte der Erde (was uns Menschen zur verheerendsten Aussterbe-Ursache in dieser Geschichte werden läßt). Aber nicht nur moralisch wären wir entlastet. Da der von uns zu verantwortende Faunenschnitt früher oder später unweigerlich auch uns selbst einbeziehen würde, würden wir sogar uns selbst helfen.
Alles, was notwendig wäre, ist der aus der Einsicht in unsere gegenwärtige Lage geborene Entschluß, zu verhindern, daß weiterhin Menschen in großer Zahl geboren werden, denen, wenn sie erst einmal auf diese Welt gekommen sind, kein anderes Schicksal beschieden wäre als ein qualvoller Hungertod oder das gewaltsame Ende in den Schrecken der dann bevorstehenden Verteilungskämpfe. Die Mittel stehen zur Verfügung. Sein angesichts von Notlagen so oft voller Zuversicht beschworener Einfallsreichtum hat den Menschen auch in diesem Falle keineswegs im Stich gelassen.
Geburtenkontrolle durch Empfängnisverhütung — allein von ihr ist hier die Rede und nicht von Abtreibung — ist heute billig, ungefährlich (alle bestehenden oder behaupteten Risiken liegen unter denen einer »normalen« Schwangerschaft) und ohne Lästigkeiten praktikabel. Alle Gefahren ließen sich durch ihre weltweit koordinierte Anwendung innerhalb weniger Jahrzehnte aus der Welt schaffen. Niemand brauchte durch Hunger oder Gewalt umzukommen. Die potentiellen zukünftigen Opfer würden gar nicht erst geboren werden.
Dies ist der offenkundige und der einzige Ausweg.
Beschrieben aber ist mit ihm wiederum nur ein lediglich in der Theorie, »auf dem Papier«, funktionierendes Rezept. Eine weltweit koordinierte Familienplanung mit dem Ziel der Durchsetzung der Zwei-Kinder-Familie im statistischen Durchschnitt würde uns noch retten können — wenn alle mitmachten.113
Es werden aber nicht alle mitmachen. Es werden sogar nur die wenigsten mitmachen.
Mit einer über jeden vernünftigen Zweifel erhabenen Sicherheit steht fest, daß die Menschheit von diesem Ausweg — dem einzigen, der sie vor der Katastrophe noch bewahren könnte — keinen Gebrauch machen wird.
Sehen wir uns die Gründe einmal an, die zu dieser resignierenden Voraussage Anlaß geben.
Tabus sind es, die den Ausweg verlegen. Es existiert kein Naturgesetz, es gibt keinen unsere Initiative real blockierenden Sachverhalt, keine etwa zu gewärtigende bedrohliche Konsequenz und auch sonst keine mit Händen zu greifende konkrete Barriere, die ihn versperrten. Dennoch ist es so, als sei das alles der Fall. Der rettende Ausgang ist für uns so undurchschreitbar, als ob er zugemauert wäre. Denn auch kulturelle Prägungen und aus ihnen erwachsende Vorurteile, archaische Verhaltensprogramme und aus ihrem Boden sprießende pseudorationale Beweggründe können Hindernisse aufrichten, die so undurchdringlich sind wie eine massive Wand.
Fruchtbarkeitskulte gehörten zu den ältesten Riten der Menschheit. Auch seine eigene Fähigkeit zur Vermehrung schien dem Menschen von Beginn an von so unüberschätzbar hoher Bedeutung, daß er sie Göttern zu verdanken glaubte.
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Wenn man die Bedingungen im Kopf hat, unter denen unser Geschlecht während des weitaus größten Teils seiner Geschichte sein Überleben zu sichern hatte, nimmt das nicht wunder. Angesichts der Länge dieser Zeit und der Unerbittlichkeit, mit der diese Bedingungen herrschten, bedarf es auch keiner Erklärung dafür, daß individuelles und gesellschaftliches Verhalten tiefgreifend von ihnen geprägt worden sind.
Der Wert und die besondere Bedeutung der menschlichen Fruchtbarkeit stehen für das naive Urteil jedes einzelnen von uns gleichsam a priori fest. Sie sind für das »natürliche Empfinden« des Menschen so etwas wie Axiome, nicht Urteile, zu denen man erst durch vorangehende Argumentation gelangte. Wie tief verankert das Werturteil ist, kann auch ein Nichtpsychologe unschwer an der Hartnäckigkeit ablesen, mit der die Menschen es verteidigen, wenn äußere Umstände auftreten, die geeignet sind, es ins Zwielicht zu rücken.
Die Behauptung, der menschlichen Fruchtbarkeit komme ein absoluter Wert zu, wird dann mit einer Fülle »sekundärer Rationalisierungen«, wie ein Psychologe das nennt, »begründet«; mit einer Vielzahl scheinbar rationaler Argumente, deren Pseudocharakter sich daraus ergibt, daß sie die Wertaussage in Wirklichkeit nicht logisch begründen, sondern lediglich verteidigen. Es handelt sich um eine »vorgefaßte Meinung«, nicht wirklich um das aus den vorgegebenen Gründen zwingend oder auch nur überzeugend sich ergebende Urteil.
Man bedenke nur, welche umfängliche Bedeutungs- und Wertungsskala ins Spiel kommt, sobald von »männlicher Potenz« die Rede ist. Keine menschliche Kultur, in der Zweifel an ihrem uneingeschränkten Vorhandensein nicht als verletzender, ehrabschneidender empfunden würden als der Verdacht auf ein Versagen in jedem beliebigen anderen Bereich — als der Verdacht auf einen Mangel an Fleiß, Intelligenz oder selbst an Mut.
Ähnlich geht es der kinderlosen Frau, die sich dem kaum weniger gravierenden Verdacht der »Unfruchtbarkeit« ausgesetzt sieht.
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Auch in einer sozialen Umwelt, in der diese Form weiblichen »Versagens« heute nicht mehr zu konkreten sozialen Strafen führt — zu Verstoßung oder Scheidung —, erlebt man es, daß einem kinderlose Frauen bei Gelegenheit ungefragt versichern, sie hätten keine Kinder gewollt, womit sie das tiefwurzelnde Bedürfnis befriedigen, klarzustellen, daß sie anderenfalls schon welche hätten bekommen können.
Im Umfeld menschlicher Fruchtbarkeit ist die Werteskala zumindest durch äonenlange kulturelle Überlieferung nahezu unverrückbar festgelegt. Man kann freilich — ohne daß sich etwas beweisen ließe — darüber hinaus noch den Verdacht hegen, daß eine in diesem speziellen Falle ganz unmittelbar wirksam werdende natürliche Auslese die Einschätzung einer möglichst großen individuellen Fruchtbarkeit als eines absoluten Wertes im Laufe der Zeit sogar im menschlichen Erbgut ihren Niederschlag finden ließ.
Jedenfalls ist der Mensch, wie sich in seiner heutigen Lage mit beklemmender Deutlichkeit zeigt, praktisch nicht dazu fähig, an der Eichung dieser Skala wirksame Korrekturen vorzunehmen. Auch an diesem äußerst kritischen Punkt stoßen wir damit erneut auf das besorgniserregende Phänomen mangelhafter Fähigkeit zum Umlernen angesichts einer grundlegenden Änderung der Überlebensbedingungen.
Konkret dokumentiert sich diese Unfähigkeit in den mannigfaltigen Formen, in denen der Widerstand gegen die Propagierung wirksamer Methoden der Familienplanung auftritt. Am ehesten läßt er sich noch in den »traditionellen« Gesellschaften der Entwicklungsländer rational begreifen. In vielen dieser Regionen — etwa in Asien und Afrika — existiert als soziales Grundelement noch immer die Großfamilie. Sie »funktioniert« dort heute weitgehend auch noch bei räumlicher Trennung ihrer Mitglieder, dann also, wenn die Angehörigen zum Teil noch auf dem Lande, zum anderen Teil aber schon in der Stadt leben. Unter diesen sozialen Bedingungen aber ist die gesellschaftliche, wirtschaftliche und nicht zuletzt die politische Macht einer Familie, wie die Entwicklungsexpertin Gabriele Wülker betont, in der Tat noch entscheidend abhängig von der Zahl ihrer Mitglieder. (107/1, S. 83) Hier ist Fruchtbarkeit auch objektiv noch »ein Wert an sich«.
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Aber auch in diesen Ländern, in deren Interesse es vor allem läge, das ungebremste Wachstum ihrer Bevölkerung in den Griff zu bekommen, überwiegen alles in allem die pseudorationalen, dem archaischen Vorurteil entspringenden Formen des Widerstands. Da heißt es dann etwa, daß viele Kinder den Segen der Gottheit und der Ahnen herbeizögen oder daß viele Söhne dem Willen Allahs entsprächen. Auch in diesen Ländern aber gilt eine kleine Kinderzahl, und erst recht gar Kinderlosigkeit, eben einfach als »Unglück« und darüber hinaus fast immer auch als Anzeichen einer Minderwertigkeit der Ehepartner. Auch die so oft zitierte Begründung, daß viele Kinder die sicherste Form der Altersversorgung darstellten, verliert ihre Rationalität in Ländern, deren Bevölkerungswachstum jede Chance auf einen Anstieg des Sozialprodukts und damit des Lebensstandards hinfällig werden läßt.
Als deutlicher Hinweis auf die nichtrationale, unbewußte Quelle des Widerstands kann ferner eine Beobachtung gelten, die westliche Entwicklungshelfer bei wissenschaftlich überwachten Geburtenkontroll-Programmen wiederholt machten: Die Frauen, welche die empfängnisverhütenden Medikamente einnahmen, klagten ungewöhnlich häufig über Nebenwirkungen in Form von Kopfschmerzen, Übelkeit und anderen Beschwerden, und zwar auch dann, wenn die betreuenden Arzte ihnen anstelle des wirksamen Medikaments zur Kontrolle »Placebos« aushändigten, unwirksame Scheinpräparate.114
Übel wurde diesen Frauen also nicht durch die Unverträglichkeit eines medikamentösen Wirkstoffs (sie bekamen in Wirklichkeit gar keinen). Übel wurde ihnen vielmehr, so kann man hier sagen, bei dem Gedanken an die Folgen, die der Zustand der Unfruchtbarkeit, in den sie sich (vermeintlich) versetzten, für ihr soziales Ansehen und für ihr weibliches Selbstgefühl haben würde.
Es besteht kein Anlaß, uns über das alles erhaben zu dünken. Unsere Gesellschaft reagiert nicht anders. Tradition und — wahrscheinlich — äonenlange natürliche Selektion haben in den unbewußten Tiefen der Psyche aller Menschen die gleichen Spuren hinterlassen. Deren Auswirkungen ließen sich in den letzten Jahren auch bei uns geradezu beispielhaft studieren.
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In der Bundesrepublik — wie auch in den anderen westlichen Industrienationen einschließlich Japan — sind die Geburtenzahlen in den vergangenen beiden Jahrzehnten bekanntlich deutlich zurückgegangen. Mit der Ausnahme von Irland und Griechenland genügen die »Gebärleistungen der Frauen« (wie es in dem Vokabular der Kritiker des Phänomens heißt) in keinem dieser Länder mehr zur »Bestandserhaltung der Bevölkerung«. Die Zahl der Einwohner der Bundesrepublik hat zu schrumpfen begonnen. Die Hochrechnung ergibt, daß es im Jahre 2000 nur noch 52 Millionen Westdeutsche geben dürfte. Hielte der Trend danach unverändert an, würden es im Jahre 2050 gar nur noch 25 Millionen sein.
Die Bekanntgabe dieser Daten löste in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit erschrockene, in manchen Fällen regelrecht panisch anmutende Reaktionen aus. Der Gedanke, daß eine — vorübergehende — Schrumpfung der Bevölkerung in unserem Lande (mit fast 250 Einwohnern pro Quadratkilometer eines der am dichtesten besiedelten Länder der Erde) auch positive Aspekte haben könnte, tauchte in der öffentlichen Diskussion allenfalls am Rande auf.
Kaum ein Gedanke daran, daß Energie- und Abfallprobleme abnehmen könnten. Daß die Lebensqualität zunehmen könnte, wenn die Menschen mehr individuellen Lebensraum zur Verfügung hätten. Daß auch das bedrückende Problem der Massenarbeitslosigkeit — nicht Folge ungenügenden und ohnehin nicht beliebig fortsetzbaren Wachstums, sondern in erster Linie einer Abnahme der Arbeitsmenge infolge zunehmender Automatisierung aller Produktionsvorgänge — sich langfristig auflösen könnte. Daß die Straßen leerer, die Zubetonierung der natürlichen Restflächen unserer Heimat seltener und die Luft atembarer werden könnten.
Kaum jemand sah die Nachricht aus dieser Perspektive.
Der Gedanke, daß es sich bei dem in unserem und so vielen anderen Industrieländern anhebenden Schrumpfungsprozeß um eine Art »Gesundschrumpfung« handeln könnte, wurde nicht ernstlich in Erwägung gezogen. Dabei hätte es doch nahegelegen, die Entwicklung unter dem Aspekt einer biologisch zweckmäßigen, da im Dienste einer Verbesserung der Überlebenschancen stehenden instinktiven Reaktion eines »Volkskörpers« auf eine in Wahrheit längst prekär gewordene Populationsdichte zu betrachten.
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Niemand auch erinnerte daran, daß auf der Restfläche der Bundesrepublik heute alles in allem die gleiche Zahl an Menschen hausen muß, die es seinerzeit innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches der Weimarer Zeit gegeben hatte, in einer Zeit also, in der viele Deutsche die Sorge bedrückte, ein »Volk ohne Raum« zu sein.
Nein, jenes tiefsitzende, unbewußte Vorurteil, das jede Zunahme der eigenen Population als einen Zuwachs an Sicherheit erleben läßt und das bei einer Abnahme dieser Zahl archetypische Ängste mobilisiert, gab den Blick nur auf eine einzige Möglichkeit frei: auf die angsteinflößende Möglichkeit, daß der Schrumpfungsprozeß unaufhaltsam bis zum bitteren Ende fortschreiten könnte. Das aber bedeutete — und einige Bevölkerungswissenschaftler präsentierten die Hochrechnung einer verschreckten Öffentlichkeit in vollem Ernst —, daß es in hundert Jahren auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik keine Deutschen mehr geben würde — nur noch Türken und die Angehörigen anderer »fremder Kulturen«.
Ein namhafter, »völkisch« orientierter deutscher Naturwissenschaftler erhielt gar Beifall für die Behauptung, daß man es mit dem Phänomen einer modernen Völkerwanderung zu tun habe, ausgelöst durch den Niedergang des »nationalen Selbstbehauptungswillens« unseres Volkes. Selbstsucht, egoistisches Genußstreben und die mit ihnen einhergehende Weigerung, für das Aufziehen von Kindern noch persönliche Opfer zu bringen, seien dabei, eine Art »nationalen Selbstmords« herbeizuführen. Die steigende Asylantenzahlen bewiesen, daß »fremde Völkerschaften in den freiwerdenden Raum nachdrängen«115.
Konservative Politiker pflichteten der These bei. Er sehe dem »Verfall der biologischen Leistungsgemeinschaft« mit wachsender Sorge entgegen, ließ Franz Josef Strauß sich vernehmen. »Es hat keinen Sinn, einem sterbenden Volk gesunde Haushalte zu hinterlassen.«116
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Nun werden sich im Verlaufe des in Gang gekommenen Schrumpfungsprozesses und der mit ihm einhergehenden Verschiebung der sogenannten »Alterspyramide« (relative Zunahme der älteren Jahrgänge) unbestreitbar Probleme, auch gravierende Probleme ergeben. Mit ihnen ist aber, einschließlich des in diesem Zusammenhang verständlicherweise regelmäßig beschworenen Rentenproblems (»Generationenvertrag«), nachweislich fertig zu werden.117 Und alle diese Probleme zusammengenommen sind immer noch leichter zu bewältigen als die Gefahren, denen wir uns in sehr kurzer Zeit gegenübersehen würden, wenn unsere Bevölkerung weiter zugenommen hätte.
Von rational nicht mehr zu erklärender Einseitigkeit ist auch der — nach Ansicht derer, die ihn vorbringen, offenbar über jegliche Begründung erhabene — Vorwurf an die Generation der Jüngeren, daß es ihr »hedonistisches (sprich: egoistisch auf den eigenen Lebensgenuß erpichtes) Handlungsmuster« sei, ihre Abneigung, sich für Kinder Einschränkungen aufzuerlegen, etwa auf Urlaubsreisen, Auto und anderen Luxus zu verzichten, die hinter dem Geburtenrückgang ständen.
Spricht nicht vieles dafür, daß es ganz andere Motive sind, die junge Menschen davon abhalten, Kinder in diese Welt zu setzen? Das Bewußtsein unserer erdrückenden ungelösten Gegenwartsprobleme: die Angst vor der Möglichkeit eines Krieges und »das tägliche Erlebnis von Dichte, Enge, fehlendem Raum, nicht nur Wohnraum, die fortschreitende Zerstörung unserer Umwelt, Lärm, Angst vor der Kernenergie und ihren unabsehbaren Folgen« (Hermann Schubnell, in: s. Anm. 117, S. 120). Vielleicht ist es, so möchte ich dem hinzufügen, die Ahnung von einer grundsätzlichen Gefährdung der menschlichen Welt, einer Gefährdung, die größer ist, als wir es uns bewußt einzugestehen wagen.
Irrational ist schließlich auch die Einseitigkeit, mit der alle diese panischen Reaktionen (»nationaler Selbstmord«, »sterbendes Volk«) ohne weitere Begründung unterstellen, daß der Bevölkerungsrückgang ein beliebig weit extrapolierbarer, unaufhaltsam dem Wert »Null« zustrebender Prozeß sein müsse.
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Ist die Annahme nicht viel wahrscheinlicher, daß es sich um einen vorübergehenden Anpassungsprozeß handeln dürfte, der selbsttätig zum Stillstand kommen wird, wenn er sein Ziel, die Wiederherstellung einer erträglichen, mit dem Erhalt der Umwelt und einer menschenwürdigen Lebensqualität vereinbaren Bevölkerungsdichte, erreicht hat? Läßt sich etwa nicht vorstellen, daß junge Leute wieder auf die Idee kommen könnten, mehr Kinder in die Welt zu setzen, wenn sie feststellen, daß diese Kinder wieder mehr Raum zum Spielen, weniger Gift in ihrer Umwelt und eine weniger bedrohte Zukunft zu erwarten hätten?
Die schrillen Töne, mit der unsere Öffentlichkeit auf die Mitteilung von einem Rückgang der eigenen Bevölkerung reagierte, sind rational nicht mehr zu verstehen. Sie sind charakteristische Symptome dafür, daß hier ein tief im Unbewußten verwurzeltes Wertempfinden verletzt wurde. Ein Wertempfinden, das unbeirrt daran festhält, daß die archaische Anweisung »Seid fruchtbar und mehret euch« unverändert für alle Zeiten gültig ist, auch dann noch, wenn die Bedingungen, unter denen sie erging, die einer längst überholten Vergangenheit sind.118
Auch die Vertreter der Kirchen haben sich dieser Strömung so wenig entziehen können wie die Sprecher der profanen gesellschaftlichen Institutionen. Von einem »alarmierenden Geburtenrückgang« sprach der stellvertretende Leiter des »Kommissariats der [katholischen] deutschen Bischöfe« im März 1983. Er fügte hinzu, daß es sich hier um einen »gesellschaftlichen Schwerpunkt« handele, an dessen Bewältigung die Einlösung des Versprechens von einer geistigen Wende im politischen Raum in den kommenden Jahren konkret gemessen werden müsse.119)
Die Besinnung auf diese ganze Episode kann dazu beitragen, uns vor Hochmut gegenüber den »traditionellen Gesellschaften« der Entwicklungsländer zu bewahren. Es ist eben nicht die Ignoranz einer noch unaufgeklärten, mangelhaft gebildeten und von abergläubischen Vorurteilen beherrschten Bevölkerung, die der erfolgreichen Einführung wirksamer Familienplanung im Wege steht. Es sind die aus den geschilderten Gründen kaum ausrottbaren und nur unter Mühen überhaupt bewußt zu machenden Vorurteile und Wertmaßstäbe, die wir alle als Erbe der bisherigen Menschheitsgeschichte mit uns herumschleppen.
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Es ist auch nicht unser Verdienst, daß wir an ihren Folgen bisher weniger schwer zu tragen hatten als die Völker der Dritten Welt. Es war nicht bessere Einsicht, sondern nur unser Lebensstandard, der das vorübergehend auch bei uns rasante Bevölkerungswachstum rechtzeitig zum Stillstand kommen ließ. Auf die Dauer aber werden auch wir den Folgen nicht entgehen. Da es nur eine Erde gibt, werden auch wir betroffen sein, wenn das alle Vorstellungen übersteigende Wachstum der Bevölkerung global ungebremst anhält.
Zwei Voraussetzungen müßten erfüllt werden, um diesem Wachstum Einhalt zu gebieten. Keine von beiden würde für sich allein ausreichen. Es müßte, erstens, der Lebensstandard verbessert werden, damit, unter anderem, der durchschnittliche Ausbildungsstand gehoben und den Frauen dieser Länder eine soziale Stellung verschafft werden kann, die ihnen die Chance einräumt, über die Zahl der von ihnen geborenen Kinder verantwortlich mitzuentscheiden. Das bleibt aber unerreichbare Utopie, solange die Zahl der Menschen schneller zunimmt als Nahrungsversorgung und Sozialprodukt.
Also bedarf es als zweiter Voraussetzung zugleich einer den Geburtenüberschuß spürbar verringernden Familienplanung. Deren Wirksamkeit aber hat, wie im einzelnen bereits erläutert, wiederum eine Steigerung des Lebensstandards zur Vorbedingung. So schließt sich der Kreis in fataler Lückenlosigkeit. Geburtenkontrolle ist, darin sind sich alle Entwicklungsexperten einig, mit Sicherheit kein ausreichender »Ersatz« für Entwicklungshilfe. Ohne einen spürbaren Rückgang des Geburtenüberschusses aber, ohne eine erfolgreiche Geburtenkontrolle also, können andererseits noch so sinnvolle Entwicklungsprojekte nicht auf Dauer wirklich greifen.
So, wie die Dinge liegen, sind die Zukunftsaussichten für die Bewohner der Erde daher wenig rosig. Eine Steigerung des Lebensstandards der Menschen in der Dritten Welt hätte eine grundlegende Änderung der bestehenden Weltwirtschaftsordnung zur Voraussetzung, also unseren Verzicht auf die einseitigen Privilegien, auf das Monopol an Vorteilen, die uns die geltende Ordnung zuschanzt.
Das ist der Teil des Lösungsweges, den wir allem Anschein nach nicht gehen wollen.
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Und zur Abbremsung des Bevölkerungswachstums bedürfte es außerdem auch noch der entschiedenen, von Engagement und Überzeugung getragenen Propagierung einer wirksamen Familienplanung in den Entwicklungsländern. Das ist der Abschnitt des rettenden Weges, den wir offensichtlich nicht gehen können. Denn woher sollen wir das Engagement nehmen für eine Initiative, von deren Legitimität und moralischer Zulässigkeit wir in der Tiefe unseres Herzens keineswegs überzeugt sind, der auch unsere eigene Gesellschaft vielmehr grundsätzlich ambivalent, von Zweifel und Skrupeln gespalten, gegenübersteht?
Westliche Entwicklungshilfe finanziert Projekte der Familienplanung in fast allen Ländern der Dritten Welt, das ist richtig. Auch die Kirchen sind auf diesem Felde aktiv. Selbst die katholische Kirche legt Wert auf die Feststellung, daß ihre Mitarbeiter weit über hundert derartige Programme »vor Ort« durchführen.120 Aber ist der absolut unzureichende Erfolg aller dieser Bemühungen nicht mit erdrückender Wahrscheinlichkeit auch darauf zurückzuführen, daß unsere Anstrengungen auf diesem Terrain notwendigerweise halbherzig bleiben? Deshalb halbherzig, weil wir die Zweckmäßigkeit dieses Auswegs aus der Misere rational zwar begriffen haben, weil wir gleichzeitig aber tief in unserem Inneren die Vorurteile selbst teilen, die wir bei den Angesprochenen ausräumen müßten, wenn unsere Initiative Aussicht auf Erfolg haben soll?
Ist es denkbar, daß unsere Überzeugungskraft unbeeinflußt bleiben könnte von dem Wissen, einer Gesellschaft anzugehören, deren katholische Hälfte von ihren kirchlichen Oberen zu hören bekommt, Empfängnisverhütung (nicht Abtreibung wohlgemerkt!) sei als ein »verdammenswertes Laster«, als »vorweggenommener Mord, schwere und unnatürliche Sünde und wegen alles dessen [als] bösartig« anzusehen? 121)
Die Verdammung liegt fast zwei Jahrzehnte zurück. Die Enzyklika <Humanae Vitae> - in deren Vorfeld sie erging - wurde 1968 veröffentlicht. Wer jedoch darauf gehofft hatte, daß zunehmende Einsicht in die irdische Realität das harte Urteil im Laufe der Zeit mildern könnte, sah sich bitter enttäuscht.
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Die Haltung des Vatikans in diesem Punkt scheint eher noch rigider geworden. Während seiner häufigen Reisen in zahlreiche Entwicklungsländer hat Papst Johannes Paul II. keine Gelegenheit versäumt, die absolute Unzulässigkeit und Sündhaftigkeit jeder Form einer »künstlichen« Geburtenkontrolle öffentlich zu betonen.122 Wobei der Pontifex Maximus bedauerlicherweise fast regelmäßig Empfängnisverhütung, Abtreibung und manches Mal sogar auch noch Euthanasie in denselben Topf warf, was die Diskussion über das Thema unnötig erschwert.
Es muß auch einen Gutwilligen irritieren, wenn er Zeuge wird, wie der Papst die »hohe Verantwortung der Entscheidung, wie viele Kinder sie haben wollen«, ausdrücklich und immer wieder den Ehepaaren selbst zuspricht (so wieder Ende Januar 1985 vor mehreren hunderttausend Gläubigen in Caracas), die Träger dieser Verantwortung gleichzeitig aber auf »natürliche« Methoden der Geburtenregelung festlegt. Denn was von deren »Wirksamkeit« zu halten ist (erst recht unter den Bedingungen eines Entwicklungslandes), das pfeifen die Spatzen von den Dächern.123)
Totale Ratlosigkeit löst es vollends aus, wenn derselbe Oberhirte neuerdings sogar dazu übergeht, auch die »natürlichen« Methoden mehr oder weniger unverhüllt in den kirchlichen Bann einzubeziehen.
Am 5. September 1984 rief Papst Johannes Paul II. anläßlich einer Generalaudienz die Katholiken auf, die von der Kirche gebilligten »natürlichen« Methoden nicht dazu auszunutzen, die Zahl ihrer Kinder zu reduzieren. Es sei ein Mißbrauch, wenn Eheleute diese Möglichkeit dazu benutzen sollten, die Zahl ihrer Kinder unterhalb der »für ihre Familie moralisch richtigen [?] Geburtenrate« zu halten oder gar dazu, die Fortpflanzung ganz zu verhindern.
Der in der Enzyklika <Humanae Vitae> enthaltene Verweis auf diese natürlichen Methoden dürfe nicht als Hinweis auf eine zulässige Möglichkeit zur Begrenzung oder gar Verhinderung von Nachwuchs mißverstanden werden. Er versinnbildliche vielmehr gerade »den Wunsch nach einer noch zahlreicheren Nachkommenschaft«.
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Angesichts von Verlautbarungen wie dieser bleibt der rationalen Verständnisbereitschaft nur die totale Kapitulation.
Man kann nur den einen Schluß ziehen, daß selbst die im Vatikan versammelte Auslese an menschlicher Intelligenz nicht genügt, um das als Erbe der bisherigen Menschheitsgeschichte auf uns überkommene Vorurteil abzuschütteln.
Der Verdacht ist zulässig, daß wir in der ganzen, rational nicht mehr zugänglichen Diskussion auch nur wieder einer, diesmal in die Verkleidung einer klerikalen Sprache gehüllten Variante des unbelehrbaren, möglicherweise sogar angeborenen Urteils begegnen, demzufolge jegliche Vermehrung einer menschlichen Population per se als »gut« anzusehen ist und jegliche Abnahme, ohne Rücksicht auf die Umstände, unter denen sie erfolgt, als »schlecht«.124
Ererbte Vorurteile entfalten ihre Kraft gegen alle Vernunft. Individuelle Einsicht vermag sie aufzuspüren, mitunter sogar zu durchschauen. Aus dem Wege räumen kann sie die psychischen Fossilien nicht. Darum wird alles bessere Wissen an ihnen zuschanden.
So sehr wir die Notwendigkeit auch immer einsehen mögen, unsere Fruchtbarkeit global zu verringern, es hilft uns nichts. Denn in den archaischen Tiefen der menschlichen Psyche sitzt eine Instanz, die immer neue Einwände erfindet, um uns daran zu hindern, das Notwendige auch zu tun.
Daher werden wir den rettenden Ausweg, so offen er auch vor unseren Augen liegt, nicht benutzen. Wir werden, angesichts der Gefahr, die wir sehr wohl erkannt haben, untätig bleiben und warten, bis die Katastrophe uns ereilt.
Glaube doch niemand, daß wir uns in isolierten »Wohlfahrtsinseln« abschotten können, wenn vier Fünftel der Menschheit aus akuter existentieller Not in Panik und Verzweiflung geraten werden.
Anfang des kommenden Jahrhunderts wird es auf der Erde mindestens ein Dutzend, vielleicht sogar zwei oder drei Dutzend Länder geben, die im Besitz von Kernwaffen sind. Den Verzweifelten werden dann auch die Waffen der Verzweiflung zur Verfügung stehen. Die Armen dieser Erde werden die Reichen mit ins Jenseits nehmen können.125 Wir dürften es daher, von allen moralischen Gründen ganz abgesehen, schon aus eigenem Überlebensinteresse nicht darauf ankommen lassen, andere Völker der Verzweiflung anheimzugeben. Genau das ist es aber, was zu tun wir im Begriff sind.
Wer vermag sich auszumalen, wie die Folgen aussehen werden? Hans Jonas hilft unserer Phantasie auf die Sprünge:
»Die Bevölkerungsexplosion - als planetarisches Stoffwechselproblem gesehen - nimmt dem Wohlfahrtsstreben das Heft aus der Hand und wird eine verarmende Menschheit um des nackten Überlebens willen zu dem zwingen, was sie um des Glückes willen tun oder lassen konnte: zur immer rücksichtsloseren Plünderung des Planeten, bis dieser sein Machtwort spricht und sich der Überforderung versagt.
Welches Massensterben und Massenmorden eine solche Situation des <Rette sich, wer kann> begleiten werden, spottet der Vorstellung.
Die so lange durch Kunst hintangehaltenen Gleichgewichtsgesetze der Ökologie, die im Naturzustand das Überhandnehmen jeder einzelnen Art verhindern, werden ihr um so schrecklicheres Recht fordern, gerade wenn man ihnen das Extrem ihrer Toleranz abgetrotzt hat.
Wie danach ein Menschheitsrest auf verödeter Erde neu beginnen mag, entzieht sich aller Spekulation.«126
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Zwischenbilanz und Überleitung
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Die Menschheit hat sowenig eine Überlebensgarantie wie jede andere biologische Art. Ein zum Optimismus entschlossener Artgenosse könnte hier einhaken:
Die Feststellung gelte - so etwa könnte er einwenden - eben allein für biologische Arten. Auch wenn er nicht bestritte, daß der Mensch immer noch auch ein biologisches Wesen sei, so setze er doch auf den Teil unseres Wesens, der den biologischen Rahmen »transzendiere«, wie man zu sagen pflegt. Könnte uns dieser, der geistige Teil unserer Konstitution, nicht auch in der Frage der Lebensdauer womöglich zu einer Ausnahmestellung verhelfen? Indem er uns etwa die Erkenntnis beschert, wie deren Begrenztheit sich durch die wissenschaftlich gezielte Manipulation ihrer physischen Voraussetzungen aufheben ließe?
Der oft gehörte Einwand trägt nicht weit.
Selbst wenn es jemals gelänge — eine auch vom obersten Gipfel unseres heutigen Wissens aus betrachtet utopische Perspektive —, in die molekularen Strukturen planmäßig einzugreifen, von denen die Dauer unserer individuellen Existenz oder gar unsere Lebensdauer als Art abhängt, wären wir dem »Ziel« - wenn es denn eines ist - um keinen Millimeter näher gekommen. Auch mit dem geeigneten Werkzeug in der Hand müßten wir vor der Aufgabe kapitulieren.
Voraussetzung eines »gezielten« Eingriffs in diese in den Kernen unserer Zellen existierenden molekularen Muster wäre nämlich nichts weniger als die Kenntnis aller für die Dauer unserer leiblichen Existenz bedeutsamen Faktoren. Nicht eine »sehr weitgehende« Kenntnis, sondern wirklich das lückenlos vollständige Wissen über alle Faktoren, die hier ins Spiel kommen, und das ebenfalls lückenlose Wissen über die zwischen ihnen allen bestehenden Zusammenhänge in Gestalt der sie alle auf vielfältig rückgekoppelte Weise verbindenden Wirkungen.
Fehlte in unserer Kenntnis auch nur ein einziges Detail des Gesamtgefüges, dann würde jeder Eingriff nur Schaden stiften. Die ruinösen Konsequenzen in bester Absicht geplanter Entwicklungsprojekte — zurückzuführen auf die prinzipielle Unvollständigkeit unseres Wissens über die von ihnen ausgelösten ökologischen Ursachenketten — belegen das Argument mit einem noch vergleichsweise simplen Beispiel.
Angesichts der von einer äonenlangen Entwicklung perfektionierten Anpassung unserer leiblichen Verfassung an die Eigenschaften und Eigengesetzlichkeiten der Natur, die unsere Existenz trägt, muß diese unerläßliche Vorbedingung als unerfüllbar gelten. Sie hätte ein Totalwissen über die Natur zur Voraussetzung, das uns unerreichbar ist.
Wir wissen einfach nicht — und werden auch in Zukunft nicht mit hinreichender Genauigkeit wissen können —, welche unserer psychischen und körperlichen Eigenschaften die Dauer unserer Lebensfähigkeit auf welche Weise beeinflussen.
Und wenn es uns klar wäre, würde auch das noch nicht genügen. Denn dann müßten wir außerdem noch wissen, welche Folgen dieser oder jener Eingriff in eines der molekularen Details für den riesigen Rest des in anderen Teilen des Erbmoleküls gespeicherten Bauplans hätte und welche äußerlich wirksame Eigenschaftsänderung aus der Änderung des Gesamtmusters resultierte.
Aber selbst wenn wir - äußerstes Zugeständnis - den utopischen Fall zugrunde legten, daß der Tag kommen wird, an dem wir alle mit diesen Hinweisen knapp angedeuteten Probleme gelöst haben, steht fest, daß dieser Tag in einer so fernen Zukunft liegt, daß wir von ihm in unserer heutigen Lage keine Hilfe erhoffen können.
Es bleibt folglich dabei:
Wir besitzen keine Überlebensgarantie mit unbeschränkter Geltungsdauer, als Individuen ohnehin nicht, aber auch nicht als Art. Auch die Menschheit wird deshalb eines Tages von der Erdoberfläche wieder verschwinden, wie das ausnahmslos Schicksal aller von der Evolution hervorgebrachten Arten ist. Auch sie muß »aussterben«. Die Frage ist allein, wann dieser Tag kommen wird. In den bisherigen Kapiteln dieses Buchs wurden die Argumente für die These zusammengetragen, daß dieser Tag bereits angebrochen ist.
Dies ist eine Schlußfolgerung, die niemanden erfreuen kann. Die meisten, denen man sie vorträgt, reagieren denn auch ungläubig oder mit Entrüstung. Es sind dies - wie psychologische Selbsterfahrung und kritische Beobachtung belegen - die typischen ersten Reaktionen auf die sich anbahnende Erkenntnis, daß es »soweit ist«. Daß die bis dahin von der gesunden Vitalität des normalen Menschen verdrängte - in eine vage Zukunft hinausgeschobene, einzig gewisse - Konstante eines jeden Lebenslaufs, nämlich sein Ende, konkrete Gestalt anzunehmen beginnt.
Die psychische Verfassung, in der wir uns vor der Gefahr einer kriegerischen Selbstausrottung zu schützen versuchen (der wir eben der Besonderheiten dieser Verfassung wegen auf die Dauer erliegen müssen), und die unbelehrbare, egozentrische Verblendung, in der wir nicht davon ablassen können, uns durch die rücksichtslose Unterwerfung aller irdischen Natur die unverzichtbaren Lebensgrundlagen selbst unter den Füßen wegzuziehen, sind aus objektiver Perspektive markante Symptome nachlassender Anpassungsfähigkeit an sich rasch ändernde Umweltbedingungen.
Mit dieser Feststellung ist das klassische Versagen beschrieben, das in allen bisherigen Fällen dem Aussterben ganzer Arten ursächlich zugrunde lag.
Es ist also soweit.
Ich brauche sicher nicht zu betonen, daß es mir sehr recht wäre, wenn jemand mich davon überzeugen würde, daß die Argumentationskette fehlerhaft ist, die zu dieser Folgerung führt. Bisher sehe ich jedoch nicht, wie der Diagnose widersprochen werden könnte, daß unser die ökologischen Krankheitserscheinungen verursachendes zivilisatorisches Verhalten und die wahnähnliche, phobische Entartung der global praktizierten »Sicherheits«-Politik als Symptome des beginnenden Aussterbens unserer Art anzusehen sind.
Daß es möglich ist, diese Einsicht durch Wunschdenken und andere Formen der Verdrängung zu vernebeln, wird dabei nicht bestritten.
In unserer Wirklichkeit schälen sich bei nüchterner Betrachtung jedoch diese beiden Todesursachen heraus, die in einer Art »Idealkonkurrenz« nebeneinanderstehen. Ihr Wirksamwerden ist eine reine Frage der Zeit. Wenn wir der einen Ursache entgehen sollten, dann nur, weil die andere ihr zuvorgekommen wäre.
Da sie aber keineswegs unabhängig voneinander existieren — ein Beleg mehr dafür, daß sie Ausdruck derselben »Krankheit« sind —, ist es auch denkbar, daß sie unseren erdgeschichtlichen Abgang sozusagen mit vereinten Kräften bewerkstelligen werden. Etwa in der Form, daß die durch einen weltweiten ökologischen Zusammenbruch ausgelöste Verzweiflung in einer finalen Orgie atomarer Selbstausrottung kulminiert.
Mit der bloßen Feststellung der Ausweglosigkeit unserer Lage kann es aber nicht sein Bewenden haben.
Wer eine so radikale Diagnose stellen zu müssen glaubt, darf der Frage nicht ausweichen, wie es sich mit dieser Einsicht denn leben läßt. Er ist verpflichtet zur Auskunft darüber, ob es angesichts des unabweislich scheinenden Endes möglich ist, ein Leben zu führen, das frei bleibt von Angst und Resignation. Und schließlich auch darüber, ob sich dem bevorstehenden Ende vielleicht sogar ein Sinn abgewinnen läßt, der über die bloße Aussage hinausreicht, daß es die Menschheit in absehbarer Zeit nicht mehr geben wird.
Diesen Fragen gilt der letzte Teil des Buchs. Beginnen müssen wir mit einer näheren Untersuchung unserer Verantwortung an der Entwicklung. Daß wir ihre Ursache sind, ist eingehend begründet worden. Das läßt jedoch vorerst noch die Frage offen, ob diese Rolle vermeidbarem Versagen entspringt oder ob wir vielleicht unter Zwängen handeln, die stärker sind als wir.
Wir müssen uns, mit anderen Worten, mit den Grenzen beschäftigen, die unsere menschliche Konstitution unserem vermeintlich freien Verhalten setzt. Dabei wird sich zeigen, daß diese Konstitution einer Situation entspricht, auf die wir uns zu unserer Entlastung berufen dürfen. Aus dieser spezifischen Situation aber, aus der »Conditio humana«, läßt sich schließlich auch ein Sinn ableiten, der angesichts des Bevorstehenden vor Resignation und Verzweiflung bewahrt.
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Hinsichtlich der Rolle von Papstes+Kardinal siehe auch in Löbsack-1983-Register