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     Teil 3   Conditio humana    

5.  Freiheit und Verantwortung 

 

  Doppelgänger 

286-298

Daß wir die Ursache des herannahenden Endes der menschlichen Geschichte sind, läßt sich nicht wegdis­put­ieren. Der Tod unserer Art, dessen unüber­sehbare Vorzeichen in den vorangegangenen Kapiteln beschrieben wurden, muß daher genauer eigentlich Artenselbstmord genannt werden. 

Das heißt: 

Sie ist letztlich der Angelpunkt, die unerläßliche Voraussetzung der Möglichkeit einer moralischen Beurteilung der Situation. Ein moralisches Urteil, das mehr ist als Heuchelei, hat die begründete Überzeugung zur Voraus­setzung, daß der Beurteilte auch anders hätte entscheiden können, als er es getan hat. Daß ihm die freie Wahl zwischen verschiedenen Alternativen offenstand.

Wenn wir unsere psychische Selbsterfahrung heranziehen, scheint der Fall klar: Wir alle fühlen uns subjektiv in unseren Entscheidungen frei, in aller Regel jedenfalls, solange wir nicht unter dem Druck übermächtiger Emotionen oder äußerer Zwänge stehen. 

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»Läßt die Freiheit des menschlichen Willens sich aus dem Selbstbewußtsein beweisen?«  Diese Frage stellte die <Königlich-Norwegische Societät der Wissenschaften> Anfang der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts den Gelehrten und Philosophen der damaligen Zeit. Sie alle wurden eingeladen, zur Beantwortung der Frage Arbeiten einzureichen, deren beste mit einem Preis ausgezeichnet werden sollte.

Am 26. Januar 1839 wurde Arthur Schopenhauer als Gewinner bekanntgegeben. Er hatte in seiner Arbeit <Über die Freiheit des Willens> eingehend begründet, warum die von der Wissenschaftlichen Gesellschaft formulierte Frage zu verneinen sei. Eines seiner zentralen Argumente hatte er in die Form einer Parabel gefaßt, in welcher er die Möglichkeit eines beweisenden Charakters des subjektiven Freiheitsgefühls ad absurdum führte. Hier die entscheidenden Passagen: 

»Um die Entstehung dieses für unser Thema so wichtigen Irrtums speziell und aufs Deutlichste zu erläutern .... wollen wir uns einen Menschen denken, der, etwa auf der Gasse stehend, zu sich sagte: 

›Es ist 6 Uhr abends, die Tagesarbeit ist beendigt. Ich kann jetzt einen Spaziergang machen; oder ich kann in den Klub gehn; ich kann auch auf den Turm steigen, die Sonne untergehen zu sehen; ich kann auch ins Theater gehen; ich kann auch diesen, oder aber jenen Freund besuchen; ja, ich kann auch zum Tor hinauslaufen, in die weite Welt, und nie wiederkommen. Das alles steht allein bei mir, ich habe völlige Freiheit dazu; tue jedoch davon jetzt nichts, sondern gehe ebenso freiwillig nach Hause, zu meiner Frau.‹ 

Das ist gerade so, als wenn das Wasser spräche:

›Ich kann hohe Wellen schlagen (ja! nämlich im Meer und Sturm), ich kann reißend hinabeilen (ja! nämlich im Bette des Stroms), ich kann schäumend und sprudelnd hinunterstürzen (ja! nämlich im Wasserfall), ich kann frei als Strahl in die Luft steigen (ja! nämlich im Springbrunnen), ich kann endlich gar verkochen und verschwinden (ja! bei 80° Wärme*); tue jedoch von dem allen jetzt nichts, sondern bleibe freiwillig, ruhig und klar im spiegelnden Teiche.‹ « (127)

* Schopenhauer benutzt hier die heute veraltete Temperaturskala von Réaumur, bei der 80° der Temperatur kochenden Wassers entsprach.

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»Wenn ein geworfener Stein denken könnte«, so soll Baruch de Spinoza das gleiche Argument formuliert haben, »dann würde er, am höchsten Punkt seiner Bahn angekommen, zweifellos denken: ›Und jetzt will ich wieder hinunter­fallen.‹«

Ist also, wie diese Gleichnisse es unterstellen, die subjektiv erlebte Freiheit unserer »bewußt getroffenen« Entscheidungen bloße Illusion? Eine Vorspiegelung, die dadurch zustande kommt, daß wir uns, ohne das zu empfinden, widerstandslos mit Entscheidungen identifizieren, die wir in Wirklichkeit, gelenkt von unserem unmittelbaren Einfluß entzogenen seelischen Motiven, ohne jegliche Wahlmöglichkeit zu treffen gezwungen sind?

Dazu noch einmal Schopenhauer: 

»Ich kann tun, was ich will: ich kann, wenn ich will, alles was ich habe den Armen geben und dadurch selbst einer werden — wenn ich will! —, aber ich vermag nicht, es zu wollen; weil die entgegenstehenden Motive viel zuviel Gewalt über mich haben, als daß ich es könnte. Hingegen, wenn ich einen anderen Charakter hätte, und zwar in dem Maße, daß ich ein Heiliger wäre, dann würde ich es wollen können; dann aber würde ich auch nicht umhinkönnen, es zu wollen, würde es also tun müssen. Dies alles besteht vollkommen wohl mit dem ›ich kann tun was ich will‹ des Selbstbewußtseins, worin noch heutzutage einige gedankenlose Philosophaster die Freiheit des Willens zu sehen vermeinen, und sie demnach als eine gegebene Tatsache des Bewußtseins geltend machen.«

Die Diskussion über diese unser Selbstverständnis und das Problem menschlicher Verantwortlichkeit zentral berührende Frage ist seit Jahrtausenden unentschieden im Gange. Desungeachtet ist sie aber nicht ohne jedes Ergebnis geblieben. In der hier unvermeidlichen Verkürzung — die Geschichte des Streitfalls füllt ganze philosophische Bibliotheken — kann man das wichtigste mit der Feststellung wiedergeben, daß die anfängliche Suche nach einer die Frage ein für allemal entscheidenden Antwort zunehmender Kompromiß­bereitschaft gewichen ist. Nicht als Folge geistiger Erschöpfung angesichts der offenbaren Unabschließ­barkeit des Streits. Sondern aufgrund der sich Bahn brechenden Einsicht, daß die Wahrheit irgendwo zwischen den beiden in Frage kommenden Alternativen liegen muß.

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Daß wir in unseren Handlungen und Entscheidungen absolut unfrei wären, ist eine Auffassung, die heute, soweit ich sehe, nur von einigen »Spinozisten« strengster Observanz noch ernstlich vertreten wird (Albert Einstein übrigens rechnete sich selbst zu ihnen, wie überhaupt, was niemanden wundern wird, die Physiker in diesem Lager überrepräsentiert sein dürften). 

Und daß unser Wille gänzlich frei sei, durch keinerlei Grenzen oder Bedingungen eingeschränkt, kann heute nur noch behaupten, wer die Ergebnisse physiologischer und biologisch-anthropologischer Forschung konsequent ignoriert.

Darüber freilich, wo die Grenze zwischen den beiden Extremen nun zu ziehen wäre, ist ein Konsens sowenig in greifbarer Sicht wie seit eh und je. Neuere Untersuchungen scheinen jedoch den von natur­wissen­schaft­licher Seite lange gehegten Verdacht zu bestätigen, daß wir unter dem Einfluß des schon erwähnten — von Schopenhauer wie von Spinoza ironisch kommentierten — subjektiven Freiheitsgefühls den Grad an Freiheit gewaltig überschätzen, der unseren Entscheidungen objektiv zur Verfügung steht.

  

   Erfahrungen mit dem Doppelgänger   

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Ende 1979 trafen auf dem Flughafen von Minneapolis, USA, im Abstand von wenigen Stunden zwei Männer ein, die sich zum Verwechseln ähnlich sahen: Beide waren korpulent und hatten eine beginnende Stirnglatze, die gleiche Art, sich zu bewegen, die gleiche Stimme, und beide hatten bis in mimische Einzelheiten hinein das gleiche Gesicht. Die Erklärung liegt auf der Hand: Es handelte sich um eineiige Zwillinge.

Beide trugen aber auch den gleichen Schnauzbart, fast die gleiche Brille (Nickelbrillen mit bläulich getönten Gläsern), blaue Sporthemden mit aufgenähten Brusttaschen und Schulterklappen, und beide hatten sich rote Gummibänder über das linke Handgelenk gestreift.128 Das war nun schon weniger leicht zu erklären.

Denn die beiden Zwillingsbrüder waren nicht nur aus verschiedenen Himmelsrichtungen angereist — der eine aus dem Ruhrgebiet, der andere aus Kalifornien. Sie hatten sich auch, seitdem man sie wenige Monate nach ihrer Geburt voneinander getrennt hatte, zuvor nur ein einziges Mal in ihrem Leben getroffen — anläßlich eines mißlungenen Versuchs des »amerikanischen« Zwillings Jack, mit seinem deutschen Bruder Oskar Kontakt aufzunehmen — und sonst keinerlei Verbindung zueinander gehabt. Sie konnten nicht einmal miteinander reden, weil der eine nur deutsch sprach und der andere nur englisch.

Wie waren die eigentümlichen Übereinstimmungen von Barttracht und modischen Vorlieben unter diesen Umständen zu erklären? Ganz zu schweigen von der ausgefallenen Marotte, Gummibänder am Handgelenk zu tragen (»Kann man doch immer einmal gebrauchen«, kommentierten die Brüder diese Angewohnheit fast gleichlautend, als sie getrennt danach gefragt wurden).

Als die beiden im psychologischen Institut der Staatsuniversität von Minnesota, wohin man sie zu vergleichenden Untersuchungen eingeladen hatte, von Thomas Bouchard und seinen wissenschaftlichen Mitarbeitern im einzelnen befragt wurden, stellten sich noch weitere verblüffende Parallelen heraus: Beide Brüder pflegen sich einen Spaß daraus zu machen, in überfüllten Fahrstühlen oder vergleichbaren Situationen laut prustend zu niesen, um sich anschließend an der Betretenheit der Umstehenden zu weiden. Beide spülen die Toilette schon vor der Benutzung, und beide lesen Zeitschriften grundsätzlich von hinten nach vorn.

Thomas Bouchard, der seit Jahren weltweit nach getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen fahndet (zur Kontrolle untersucht er mit der gleichen Konsequenz auch getrennt aufgewachsene zweieiige Zwillings­paare), hat sich an derartige Kuriosa — die notabene nur bei den eineiigen, also absolut erbgleichen, Paaren gefunden worden sind — fast schon gewöhnt. Sie interessieren ihn auch gar nicht sonderlich.

 en.wikipedia  Thomas_J._Bouchard_Jr.

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Sein aufwendiges Forschungsprojekt gilt dem Versuch, einer Entscheidung in dem uralten Streit darüber näher zu kommen, in welchem Grade es die erbliche Veranlagung ist oder aber die soziale Umwelt, die den Menschen vor allem prägt und die damit über seine Persönlichkeitsmerkmale, seine Intelligenz und andere Eigenschaften entscheidet. 

Dieser Frage gehen er und sein Stab mit unüberbietbarer Gründlichkeit nach: mit Blut- und Stoff­wechsel­untersuchungen, mit vergleichenden Analysen der elektrischen Hirnaktivität (EEG), der Farb­tüchtigkeit, mit psycholog­ischen Persönlichkeits-Fragebogen und Batterien von Intelligenztests.129

Vorläufiges Ergebnis nach fünf Jahren und der Untersuchung von mehr als vierzig getrennt aufgewachsenen erbgleichen Paaren: Die Weltanschauung des »eingeschworenen Environmentalisten« Thomas Bouchard ist entgegen seinen festen ursprünglichen Erwartungen in ihren Fundamenten erschüttert worden.130 Ausnahmslos bei allen bisher untersuchten eineiigen Paaren waren die Übereinstimmungen in sämtlichen, insbesondere auch den psychischen, Merkmalen so groß, wie es bei eineiigen Zwillingen sprichwörtlich der Fall zu sein pflegt. Und dies, obwohl die Paarlinge meist wenige Wochen, höchstens Monate, in jedem Falle aber vor Ablauf eines Jahres nach ihrer Geburt durch Adoption von verschiedenen Familien voneinander getrennt worden waren.

In den meisten Fällen bestand danach jahrzehntelang keinerlei Kontakt zwischen ihnen, in vielen Fällen wußten sie nicht einmal etwas von der Existenz eines Zwillingsgeschwisters. In ausnahmslos allen Fällen ähnelte ihr Persönlichkeitsprofil übrigens auch dem ihrer leiblichen Eltern (soweit diese sich noch aufspüren und die Befunde sich vergleichen ließen), die sie nie bewußt erlebt hatten, und nicht etwa dem ihrer Adoptiveltern, die sie von Kindesbeinen an aufgezogen hatten.

Aber der alte Streit um das klassische »Nature-versus-Nurture-Problem«, um die Frage nach den anteiligen Rollen von Anlage und Umwelt bei der Ausprägung der menschlichen Persönlichkeit, liegt, so interessant er auch ist, außerhalb unseres eigentlichen Themas.131 Was uns hier interessiert, das sind die seltsamen »Kuriosa« der Übereinstimmungen, die bei Bouchards Untersuchungen gleichsam nebenbei anfallen.

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Die Liste ist umfänglich und in gewisser Hinsicht »spooky«, unheimlich, wie nicht nur Thomas Bouchard meint. Im September 1981 untersuchte er ein erbgleiches Brüderpaar, das er bei seiner systematischen Suche mit der Hilfe einer Fernsehanstalt in England aufgespürt hatte. Tommy Marriott und Eric Boocock wurden als eineiige Zwillinge 1943 in Yorkshire geboren und vier Monate später getrennt: Eric blieb bei seiner Mutter, Tommy wurde in eine Adoptivfamilie gegeben. Beide wuchsen getrennt auf, ohne jeden Kontakt miteinander, und fanden sich erst 1981 nach mühsamer Suche — die durch einen Zufall ausgelöst worden war — wieder.

Daß die beiden inzwischen 38jährigen Männer einander zum Verwechseln ähnlich sahen, läßt sich, so bemerkenswert auch das ist, noch am leichtesten verdauen. Aber sie trugen, als sie unvorbereitet zusammentrafen, auch die gleiche ausgefallene Frisur: halblange Haare, tief in die Stirn hineingekämmt. Sie trugen die gleiche Brille mit fünfeckiger Silberdrahtfassung. Und beide hatten den gleichen Kinnbart, mit dem einzigen Unterschied, daß Eric sich dazu noch einen spärlichen Backenbart hatte sprießen lassen. Ihre Stimmen und ihre Sprechweise — Betonung, Pausen, Artikulation — waren so ähnlich, daß sie beim Abspielen des Tonbands einer gemeinsam geführten Unterhaltung selbst nicht imstande waren, herauszufinden, ob gerade der eine oder der andere redete. Aber auch darüber hinaus reichten die Parallelen, bis hinein in biographische Details und ausgefallene »Angewohnheiten«: Beide tranken schwarzen Kaffee in großen Mengen. Beide hatten eine Vorliebe für Wetten und angelten gern in ihrer Freizeit. Und bei beiden bestand eine ausgeprägte Spinnenphobie.

Zwei englische Zwillingsschwestern - die sich im Alter von 37 Jahren kennenlernten - stellten verblüfft fest, daß sie beide das gleiche Parfüm benutzen, gern Schlittschuh laufen, passioniert nähen und häkeln und eine Scheu vor Wasser haben, die sie beide dieselbe, ausgefallene »Angewohnheit« entwickeln ließ: Wenn überhaupt, dann gehen beide im Sommer nur bis zu den Knien ins Wasser — und das grundsätzlich rückwärts!

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Ich selbst habe in den USA zwei Zwillingsschwestern besucht, die eine in Tampa, Florida, die andere in Marietta, Georgia, die sich, 42 Jahre alt, erst wenige Monate zuvor zum erstenmal getroffen hatten, nachdem man sie vier Tage nach der Geburt voneinander getrennt hatte. Noch wenige Jahre zuvor hatte die eine von ihnen nicht einmal von der Existenz einer Zwillingsschwester gewußt. 

Wenn ich es nicht an Ort und Stelle nachgeprüft hätte, würde ich zögern, wiederzugeben, was die Untersuchung der beiden Schwestern in Minneapolis kurz vor meinem Besuch an biographischen Gemeinsamkeiten zutage gefördert hatte:

Beide wurden als Kleinkinder wegen Schielens behandelt und leiden zeitlebens unter Rückenschmerzen. Beide lieben Hunde — große Hunde müssen es sein —, die eine hat die Tiere vorübergehend professionell trainiert, die andere macht das »aus Liebhaberei« nebenbei für Freunde. Beide sind zum zweitenmal verheiratet. Beide arbeiten neben dem Haushalt als Sekretärinnen. Und schließlich: Beide haben Kegeln (»Bowling«) als Wettkampfsport betrieben, bis sie — im selben Jahr! — wegen Gelenkbeschwerden aufhören mußten, beide mit der identischen »Leistungszahl«, einem »155 bowling average«.

Da gibt es die »Jim-Twins« (beide bekamen von ihren Adoptiveltern zufällig auch noch denselben Vornamen), die beide vorübergehend als Tankstellenwärter arbeiteten, danach als Hilfssheriffs, die — ohne voneinander zu wissen — mehrere Jahre lang im Urlaub mit ihren Familien dasselbe, von ihren Wohnsitzen weit entfernte Seebad aufsuchten. Beide sind zwanghafte Nägelkauer und Kettenraucher (derselben Zigarettenmarke), beide basteln passioniert mit Holz und haben sich in den Kellern ihrer Häuser nahezu professionelle Tischlerwerkstätten eingerichtet. Das alles, ohne das geringste voneinander zu wissen. Schließlich stellte sich auch noch heraus, daß beide sich um einen Baum in ihrem Vorgarten eine runde, direkt am Stamm montierte Bank gebaut hatten.

Eine weitere Reihe von Gemeinsamkeiten getraut man sich kaum zu nennen, weil sie die Glaubwürdigkeit unbestreitbar bis auf das äußerste strapazieren. 

Es handelt sich um Parallelen der in beider Umfeld vorkommenden Namen. Beide hatten als Jungen einen Hund, den sie Toy tauften (ein in den USA verbreiteter Hundename). Beide sind zum zweitenmal verheiratet. Beider erste Frauen hießen Linda. Danach heirateten beide Frauen mit dem Namen Betty. Der eine taufte seinen ältesten Sohn James Alan, der andere den seinen James Allan. 

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Wenn ich die Familienpapiere nicht selbst überprüft hätte, würde ich nicht wagen, es hinzuschreiben. 

Hier ist der Punkt erreicht, an dem auch Thomas Bouchard es rundheraus ablehnt, eine erklärende Hypothese auch nur versuchsweise zu formulieren. Auf die naheliegende Frage, ob es sich nicht einfach um Zufälle handeln könne, antwortet er mit »Ich weiß es nicht«. Er fügt aber hinzu, daß es unter seinen eineiigen Paaren eine ganze Zahl derartiger »Zufälle« gebe, nicht dagegen unter den zur Kontrolle mit der gleichen Gründlichkeit untersuchten zweieiigen Paaren.

Während ich die Protokolle im psychologischen Institut der Universität von Minnesota durchsah, stieß ich wieder und wieder auf getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge, die das gleiche Rasierwasser benutzten, die gleiche Zahnpasta oder das gleiche Parfüm, die die gleichen Frisuren hatten, Zigaretten derselben Marke rauchten, dieselben Lieblingsschriftsteller lasen, sich im selben Alter freiwillig zum Militär meldeten, dieselben Sportarten schätzten (oder ablehnten), die in ihrer Freizeit dieselben Steckenpferde pflegten (darunter so ausgefallene wie das Basteln von Schußwaffen), die ihre Kinder auf ähnliche oder sogar dieselben Namen getauft und ähnliche Berufswege hinter sich gebracht hatten.

Sind das alles womöglich nur »Geschichtchen«? Als solche hat der namhafte Heidelberger Anthropologe Friedrich Vogel diesen Teil der Befunde Bouchards abzutun versucht (dessen Untersuchung er gleichzeitig aber immerhin bescheinigte: »Ja, sie scheint sorgfältig geplant zu sein und sachgemäß durchgeführt zu werden, soweit die bisher unvollständigen Angaben das erkennen lassen«).131 Vogel weiter: 

»Zwillingsschwestern tragen gern viele Ringe an den Fingern, zwei Brüder bauen die gleiche runde Bank um einen Baum, sie verwenden die gleiche Zahnpasta und das gleiche Rasierwasser. Ich finde, das alles sollte man nicht so ernst nehmen. Wer hat nicht schon merkwürdige Koinzidenzen erlebt? Nun ja, man weiß, daß Zwillinge oft gleiches Geruchsvermögen haben. Vielleicht ist das der Grund, daß sie das gleiche Gesichtswasser mögen. Aber ist das wichtig?«

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Das allerdings ist die Frage, an der die Geister sich scheiden. Es mag verständlich sein, wenn ein Wissen­schaftler angesichts derartiger »Geschichtchen« aus professionell anerzogener Zurückhaltung unverhohlen mit Ablehnung reagiert. Es ist ihm sogar zuzugestehen, daß es legitim ist, wenn er diesen Teil der Befunde durch seine rhetorisch gemeinte Frage für unwichtig erklärt. Denn was soll er — und das geht dem Gespann Bouchard/Lykken um keinen Deut anders — schon mit Phänomenen anfangen, zu deren Erklärung — wenn es sich nicht um Zufälle handeln sollte — nicht einmal eine sinnvolle Fragestellung ausgedacht werden kann?

Ich finde trotzdem, man sollte »das alles« ernst nehmen. Es handelt sich um Befunde, die nur so lange als »merkwürdige Koinzidenzen« (die es weiß Gott gibt) vom Tisch gewischt werden können, wie man hartnäckig verdrängt, daß Bouchards Team sie ausschließlich bei den eineiigen Zwillingen, nicht jedoch bei den genauso gründlich untersuchten zweieiigen Paaren gefunden hat.

Etwa 50.000 »Struktur-Gene« — fadenförmige Riesenmoleküle in den Chromosomen unserer Zellkerne — enthalten die »Bauanleitung« für die Gesamtheit unserer körperlichen Strukturen. In ihnen ist auf eine von uns noch immer erst höchst unvollständig verstandene Weise der komplizierte Plan zum Bau einer Niere ebenso »gespeichert« wie die spezifische »Verdrahtung«, die unentwirrbar komplizierte Vernetzung der zehn oder mehr Milliarden Nervenzellen unserer Großhirnrinde, die den »körperlichen Ermöglichungsgrund« der Freiheit unseres Verhaltens bilden, die dieser Freiheit aber auch artspezifische und individuelle Grenzen setzen.

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Dazu kommt nach heutiger Schätzung noch einmal das Zehnfache (vielleicht sogar das Zwanzigfache) an Regulator-Genen, die nicht direkt über irgendeines unserer körperlichen Details bestimmen, sondern die Beziehungen der Struktur-Gene untereinander regeln. Unter ihrem Einfluß entsteht im Zellkern ein in undurch­schau­baren »Superordnungen« strukturiertes Raummuster, und dieses erst bildet den eigentlichen Bauplan, der also nicht etwa so simpel wie eine Schriftzeile längs des DNS-Fadens »linear« abgelesen werden kann.132

Das konkrete Gen-Muster eines bestimmten Individuums entsteht im Augenblick der Empfängnis durch die Verschmelzung der aus Samen- und Eizelle stammenden Anteile des väterlichen und mütterlichen Genoms. Diese Anteile sind ihrerseits das Produkt einer ganzen Reihe aufeinander­folgender, Zufalls­ereignissen unterliegender Teilungs- und Auswahl­vorgänge. Da das molekulare Gesamt­muster des Genoms über die rückkoppelnde Wirkung der Regulator-Gene zudem in vielen Teilbereichen von der kleinsten seiner Einheiten, also von einzelnen Genen, mitbestimmt wird, ist jedes dieser zufällig entstehenden Muster von individueller Einmal­igkeit. 

Es ist aus rein statistischen Gründen von »überastro­nomischer« Unwahrscheinlichkeit, daß sich in der Aufein­ander­folge der Generationen einer Art auch nur ein einziges dieser Muster jemals identisch wiederholen könnte.

Hierauf beruht die Einmaligkeit jedes Menschen. 

Hierauf beruht es, daß die absolute, unwiederholbare individuelle Einzigartigkeit jedes einzelnen von uns nicht nur eine philosophische Behauptung ist, sondern objektive, mathematisch beweisbare Realität. 

Hierauf auch beruht die Unwiderleglichkeit der Feststellung, daß die Menschen nicht gleich, sondern daß sie unaufhebbar verschieden sind voneinander, nicht nur in ihren körperlichen, sondern auch in ihren seelischen Anlagen und Merkmalen. 

Hier liegt die Wurzel für den endlosen Streit über die Verteilung der Rollen zwischen Anlage und Umwelt bei der Ausprägung der menschlichen Persönlichkeit (denn selbstverständlich legen die Gene den Spielraum dieser Anlagen nicht etwa unverrückbar fest, wie es, um nur die einfachsten Fälle zu nennen, die Trainierbarkeit körperlicher Anlagen und die normale menschliche Lernfähigkeit belegen).

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Dieser Streit aber ist es nicht, der uns hier interessiert. 

Wichtig für unseren Gedankengang ist vielmehr die Tatsache, daß es von der Regel der genetisch begründeten Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen eine (einzige) Ausnahme gibt: die eineiigen Mehrlinge. Sie sind die Folge des Ausnahmefalls, bei dem sich nach der ersten Teilung einer bereits befruchteten Eizelle aus den beiden genetisch identischen Teilungsprodukten zwei neue Individuen entwickeln, die auch ihrerseits dann selbstverständlich genetisch identisch sind. Das ist das »Geheimnis« der »eineiigen« Zwillinge (während »zweieiige« Zwillinge aus zwei verschiedenen [und eben auch genetisch verschiedenen], nur zufällig zur selben Zeit befruchteten Eizellen hervorgegangen sind, weshalb sie einander auch nicht mehr ähneln als andere von denselben Eltern stammende Geschwister).

 

Wie gesagt, aus den als Beispiele (keineswegs auch nur annähernd vollständig) aufgezählten Überein­stimm­ungen läßt sich heute (noch) keine sinnvolle wissenschaftliche Fragestellung ableiten. 

Wie es zu erklären sein könnte, daß etwa die englischen Zwillingsschwestern Dorothy und Bridget ihren Kindern die Namen Richard Andrew und Catherine Louise (so Dorothy) beziehungsweise Andrew Richard und Karen Louise (so Bridget) gegeben haben — viele Jahre, bevor sie in Verbindung kamen —, ist unausdenkbar. Vor dem Hintergrund unseres heutigen Wissens führt kein auch nur als hypothetische Vermutung annehmbarer Weg von der Erbausstattung zur Bevorzugung bestimmter Vornamen.133 Deshalb muß die konkrete Forschung Phänomene wie dieses wohl oder übel ausklammern. Das geschieht dann eben auch in der Form, daß sie als »Geschichtchen« abgetan oder zu bloßen »Koinzidenzen« herabgestuft werden.134

Anders nehmen sie sich in unserem Zusammenhang aus. Ohne daß wir sie zu erklären brauchten, können sie uns als Erklärung dienen. So scheinen sie mir nicht zuletzt eine erstaunlich präzise Bestätigung der von Schopenhauer formulierten Vermutung zu liefern. 

Fürwahr, unser aller Bewußtsein von subjektiver Freiheit beweist die »Freiheit unseres Willens« mitnichten.

Wer von uns würde bezweifeln, daß Jim Springer fest davon überzeugt war, einem völlig freien Entschluß zu folgen, als er daran ging, sich in seinem Keller eine komplette Tischlerwerkstatt einzurichten? Und daß es ebenso war, als er beschloß, de Baum in seinem Garten mit einer Rundbank zu versehen? Und wer könnte, nachdem er erfahren hat, daß der damals noch unbekannte Zwillingsbruder in einer fernen Stadt fast zu selben Zeit just das gleiche tat, noch daran zweifeln, daß beide mit diesen von ihnen als »frei« erlebten Entschlüssen in Wahrheit einen Teil des in ihren Genen niedergelegten Programm realisierten?

Die Natur muß uns mittels ihres eigentümlichen Experiment des »eineiigen Zwillings« erst mit der Nase darauf stoßen, eh wir anfangen, den Fall wirklich ernst zu nehmen. Denn selbst verständlich sind wir alle grundsätzlich in der gleichen Lage wie Jim Springer. Wir können die Illusion vom Ausmaß unsere Freiheit nur leichter aufrechterhalten als er, weil uns im Unterschied zu ihm die Begegnung mit einem erbgleichen Doppelgänger in aller Regel eben erspart bleibt.

»Wir sind nicht die Sklaven unserer Gene.«131/3  Natürlich nicht. Niemand hat das je behauptet. Auch in der Biographie der »Jim Twins« und aller anderen getrennt aufgewachsenen eineiigen Paare gibt es Unterschiede, welche die Freiheit der Betroffenen beweisen, in großer Zahl. 

Nur: Alles spricht dafür, daß wir da Ausmaß der Freiheit — über die wir im Unterschied zu den Tieren fraglos verfügen — unter dem irreführenden Eindruck unsere subjektiven Freiheits­gefühls gewaltig überschätzen.  

Wie groß die Täuschung ist, der wir uns damit tagtäglich hingeben, da können uns die in Minneapolis erhobenen Befunde lehren. Darin liegt, wie mir scheint, ihre eigentliche Bedeutung.

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