103 - Hirn und Wirklichkeit
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Die menschliche Großhirnrinde ist die bei weitem am komplexesten organisierte materielle Struktur auf diesem Planeten. Das gilt auch für das räumliche Ordnungsmuster, als das sie sich dem Hirnanatomen unter dem Mikroskop präsentiert.
In der durchschnittlich vier Millimeter dicken, eine Fläche von nahezu einem viertel Quadratmeter aufweisenden (und daher stark gefältelt in unserem Schädel untergebrachten) Hirnrinde sind mindestens zehn, nach manchen Schätzungen bis zu fünfzehn Milliarden Nervenzellen (Neuronen) konzentriert. Das wären zwei- bis dreimal so viele in jedem einzelnen Schädel, wie es Menschen auf der Erde gibt.
Alle Neuronen sind grundsätzlich miteinander identisch, sie sind so etwas wie die Einheitsbauelemente des ganzen komplizierten Spezialorgans. Nicht nur das: Sie sind in den Einzelheiten ihrer Struktur und ihrer Funktionsweise nicht von den Nervenzellen zu unterscheiden, aus denen das Hirn eines Affen aufgebaut ist oder das eines Hundes oder eines anderen Warmblüters.
Beim Kaltblüter sieht die Sache aus gutem Grunde etwas anders aus: Seine Nervenzellen kommunizieren ausschließlich mit Hilfe elektrischer Signale, der einzigen Übertragungsart, deren Zuverlässigkeit von den Schwankungen der Körpertemperatur dieser »wechselwarmen« Organismen nicht spürbar beeinträchtigt wird. Erst der seine Körpertemperatur aktiv regelnde Warmblüter kann sich zur Nachrichtenverarbeitung in seinem Gehirn zusätzlich auch noch chemischer Überträgerstoffe bedienen - Neurotransmitter genannt -, und sie bereichern die funktionelle Vielseitigkeit seiner Nervenzellen um eine ganz neue Dimension. (Einer der Gründe, weshalb ein Karpfen dümmer ist als ein Delphin.)
Grundsätzlich identische Bauelemente also. Aus dieser Tatsache ergibt sich, daß die im Vergleich zu aller übrigen irdischen Kreatur konkurrenzlose Überlegenheit des menschlichen Gehirns seine Ursache in der Zahl dieser Elemente und in der von dieser Zahl ermöglichten Komplexität des von ihnen realisierten Schaltmusters haben muß. Diese ist unvorstellbar groß. Eine kleine Ahnung davon verschafft die begründete Schätzung der Hirnforscher, daß jede Hirnrindenzelle mit mehreren tausend, wahrscheinlich bis zu zehntausend anderen Zellen Kontakt hat. Der von ihnen insgesamt gebildete Schaltplan ist für uns damit definitiv unentwirrbar. Selbst wenn er uns vom Himmel geschenkt würde, könnten wir nichts mit ihm anfangen: Er würde, mit einem spitzen Silberstift eben noch für scharfe Augen lesbar gezeichnet, eine Fläche von mehreren Quadratkilometern einnehmen.*
Die durch dieses Gedankenexperiment veranschaulichte Kompliziertheit des räumlichen Ordnungsmusters wird noch potenziert durch die Vielfalt der unterschiedlichen Funktionszustände jedes einzelnen Neurons und der Möglichkeiten seines — hemmenden oder aktivierenden — Einflusses auf die Zellen, zu denen es Kontakt hat.
Und schließlich: Selbst wenn es — eine, wie mir scheint, für alle Zukunft (Gott sei Dank?) unerreichbare Utopie — jemals gelänge, alle Abläufe in diesem aus zehn bis fünfzehn Milliarden Elementen zusammengefügten Nervennetz zu entwirren, hätten wir das eigentliche Geheimnis nicht einmal angekratzt. Denn selbst dann bliebe es unerklärt, wie es zugeht, daß die in diesem Netzwerk umherlichternden elektrischen und chemischen Impulse zu »Gedanken« werden, in welcher Weise dieses materielle Signalfeuerwerk vor unseren Augen eine reale Außenwelt entstehen läßt, uns zu alltäglichen, abstrakten oder kreativen »Einfällen« befähigt und dann zuletzt sogar noch dazu, über die Rätselhaftigkeit aller dieser Voraussetzungen unserer geistigen Existenz reflektieren zu können.
Ernst Bloch hat das Rätsel in die großartige Formulierung gefaßt, daß wir selbst dann, »wenn wir in einem Gehirn umhergehen könnten wie in einer Mühle«, nicht leicht auf den Gedanken kommen würden, daß dort »Gedanken erzeugt« werden.
* Die Schätzung stammt von Karl Steinbuch, <Automat und Mensch>, Berlin 1965, S. 17.
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Es darf als ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die Hartnäckigkeit menschlicher Wißbegier gelten, daß sich die Hirnforscher von der mit diesen wenigen Anmerkungen gekennzeichneten grundsätzlichen Hoffnungslosigkeit ihrer Aufgabe keineswegs haben einschüchtern lassen. Sie haben zwar nicht die geringste Chance, dem Kern des eigentlichen Rätsels auch nur um ein Jota näherzukommen. Aber auch die Teileinsichten, die sie mit immer neuen Einfällen und Methoden in den letzten Jahrzehnten Stückchen für Stückchen zutage förderten, haben es in sich.
Was spielt sich im Gehirn eines Warmblüters, hier also in dem eines menschlichen Kleinkindes, in den ersten beiden Lebensjahren eigentlich ab? Auf diese Frage gibt es inzwischen einige handfeste Antworten. Die ersten ergaben sich aus Untersuchungen, die der australische Hirnforscher und Nobelpreisträger John C. Eccles in den fünfziger Jahren durchführte. Mit Hilfe komplizierter Experimente gelang es ihm nachzuweisen, daß bestimmte psychische Leistungen elementarer Art, zum Beispiel Wahrnehmungsprozesse, in diesem frühen Lebensalter im Mikroskop sichtbare anatomische Veränderungen an den für diese Leistungen »zuständigen« Nervenzellen bewirken.
Vereinfacht gesagt: Eccles fand heraus — was niemand bis dahin für möglich gehalten hatte —, daß sich das jugendliche Gehirn in dieser Lebensphase mit psychischen Anforderungen so ähnlich »trainieren« läßt wie die Körpermuskulatur durch ein sportliches Übungsprogramm. Aber nur so ähnlich: Ein besonders auffälliger (und praktisch sehr bedeutsamer) Aspekt der Befunde von Eccles besteht darin, daß sich diese Veränderungen nur während einer mehr oder weniger scharf umschriebenen Frist in diesem ersten Lebensabschnitt »durch Training« hervorrufen lassen und daß sie offenbar bleibender Natur sind.
Und ebenso gilt umgekehrt: Wenn die »sensible Frist« zur Erzeugung dieser Trainingseffekte im Gehirn einmal verpaßt und ungenützt verstrichen war (etwa indem man den Versuchstieren die entsprechenden Sinneseindrücke vorenthielt), dann ließen sie sich nicht mehr erzeugen. Eccles hatte seine Experimente relativ praxisfern, im Laboratorium, angestellt. Er hatte bestimmte Nervenbahnen im Gehirn seiner Versuchstiere elektrisch gereizt, mit Strömen, die den natürlichen Nervenimpulsen entsprachen, und ihnen auf diese Weise »möglichst viel zu tun« gegeben. Bei der anschließenden mikroskopischen Untersuchung der »Zielgebiete« der gereizten Bahnen im Gehirn zählte er darauf die Zahl der »Synapsen«, das heißt der spezifischen Fortsätze, mit denen Nervenzellen untereinander Verbindung aufnehmen können.
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In langwierigen Untersuchungsreihen zeigte sich, daß die Zahl dieser Kontakte, also die Perfektion des von den Zellen realisierten Schaltmusters, regelmäßig zugenommen hatte in Abhängigkeit davon, wie intensiv die vorangegangene Reizung der zugehörigen Leitungsbahnen gewesen war. Damit war erstmals bewiesen worden, daß anatomische Veränderungen im jugendlichen Gehirn als Folge von Nervenreizen auftreten.
Angeregt von diesen Befunden des berühmten australischen Hirnforschers, setzte einige Jahre später ein kanadischer Hirnanatom dessen Untersuchungsansatz unter »natürlichen« Bedingungen fort. Er begann damit, daß er frisch geborene Katzen für einige Wochen, etwa für den Zeitraum der »sensiblen Phase«, teils im Dunkeln und teils im Hellen aufwachsen ließ. Als er danach die Zahl der Synapsen in den Sehzentren der Gehirne seiner Versuchskatzen auszählte, fand er dramatische Unterschiede: In den Gehirnen der unter normalen Umständen, im Hellen, aufgewachsenen Tiere gab es bis zu hundertmal mehr Kreuz- und Querverbindungen zwischen den einzelnen Sehzellen als in den Hirnen der Tiere, denen er die zur Ausreifung dieses Hirnteils offensichtlich unentbehrlichen Wahrnehmungsreize durch den Aufenthalt im Dunkeln während der entscheidenden Entwicklungsphase vorenthalten hatte.
Daß dieser quantitative Unterschied mit einem entsprechend einschneidenden qualitativen Unterschied hinsichtlich der Leistungsfähigkeit des jeweiligen Nervenschaltmusters einhergeht, konnten andere Forscher inzwischen mit ebenso dramatischen wie anschaulichen Experimenten nachweisen. Bei ihnen griff man nicht mehr zurück auf den groben Unterschied zwischen dem Einfluß einer normalen »Sehwelt« und deren Gegensatz, völliger Dunkelheit. Jetzt bot man den beiden Versuchsgruppen neugeborener Katzen eine von subtileren Unterschieden bestimmte optische Diät an. Die Kätzchen wuchsen zum Beispiel während der entscheidenden Phase in Räumen auf, deren sonst völlig weißen Wände im Falle der einen Gruppe mit senkrechten, bei der anderen Gruppe dagegen ausschließlich mit waagerechten Strichen versehen waren. Vereinfacht gesagt: Die Tiere wuchsen während der ersten Wochen nach der Geburt in einer Umgebung auf, in der es nur querverlaufende oder aber nur horizontale Konturen gab. Anschließend wurde das Verhalten der Tiere in einer normalen Umwelt genau beobachtet.
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Es zeigte sich, daß die Prägung durch den Einfluß der optischen Kunstwelten einschneidende und hochspezifische Konsequenzen hatte. Die Kätzchen, deren frühkindliche Welt keine waagerechten Konturen enthalten hatte, erwiesen sich als nahezu unfähig, eine gewöhnliche Treppe herauf- oder herunterzulaufen (weil sie offensichtlich blind waren für die querverlaufenden Kanten der einzelnen Stufen). Die Kätzchen der anderen Gruppe versagten dafür bei einem Spiel, das ihre normalen Geschwister mit Lust betreiben. Sie erwiesen sich als außerstande zu begreifen, daß man als Katze einen senkrechten Baumstamm ohne sonderliche Mühe hinaufklettern kann. Wenn ihre Altersgenossen ihnen beim Spiel auf diesem Wege davoneilten, blieben sie reglos am Fuß des Stammes sitzen und sahen ihnen verständnislos nach, unfähig, es ihnen gleichzutun.
Das ganze Gewicht dieser Untersuchungsergebnisse geht daraus hervor, daß die experimentell erzeugten Unterschiede sich in allen Fällen als im nachhinein absolut unkorrigierbar erwiesen haben. Wenn die abnorme Prägung einmal erfolgt ist, wenn die optischen Umweltreize einen ihren Besonderheiten angepaßten Schaltplan im Sehzentrum des Gehirns erst einmal haben entstehen lassen, bleibt dieser unwiderruflich lebenslang unverändert bestehen. »Was das Kätzchen nicht gelernt hat, lernt die Katze nimmermehr.« Diese Versuche liefern mit anderen Worten also die Grundlage für ein genaueres Verständnis der Unterschiede zwischen dem Grad der Lernfähigkeit eines jungen und der eines älteren Gehirns. Wir dürfen sie schließlich auch betrachten als unübersehbare Hinweise auf die außerordentliche, die wahrhaft lebensentscheidende Bedeutung, die bestimmten frühkindlichen Umwelteinflüssen auch im Falle eines menschlichen Neugeborenen zukommen dürfte.
Eine Schwester meiner Frau heiratete in eine seit Generationen streng anthroposophisch orientierte Familie. Ohne daß die neue Verwandtschaft erkennbare Bekehrungsversuche angestellt hätte, nahm meine Schwägerin den ihr bis dahin fremden Glauben zu unserer Überraschung bedingungslos an. Zu den uns als Außenstehenden befremdlich erscheinenden Riten, die wir als Folge davon beobachteten, gehörte die Gepflogenheit, im Gesichtsfeld eines neugeborenen Kindes eine Blume oder einen kleinen Ast mit grünen Blättern anzubringen. Ich erkundigte mich nach dem Grund für den Brauch. Es sei wichtig, daß das Kind von Anfang an Verbindung mit der Natur habe, so etwa lautete die mich wenig überzeugende Auskunft. Mein Hinweis darauf, daß ein wenige Tage alter Säugling nachweislich noch gar nichts sehen könne, machte keinen Eindruck.
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Wir haben meine Schwägerin wegen ihres »offenkundigen Aberglaubens« damals weidlich aufgezogen. (Aufgrund eines besonders herzlichen Verhältnisses war die notwendige Toleranz beiderseits vorhanden.) Heute bin ich meiner Sache nicht mehr so sicher. Damals kannte ich die Untersuchungen über die Bedeutung von Sinneswahrnehmungen für die Reifung des frühkindlichen Gehirns noch nicht. Aber meine Schwägerin und ihre anthroposophische Verwandtschaft hatten davon ebensowenig eine Ahnung. Wahrscheinlich ist sogar, daß sie bis heute nichts darüber »wissen«.
Das erscheint mir als das eigentlich Merkwürdige an dieser Episode: daß hier Menschen das — möglicherweise — Richtige (und Wichtige) taten, ohne über die rationale Begründbarkeit ihres Tuns etwas gewußt zu haben und wissen zu können. Diese Erfahrung ist für mich — neben vielen anderen von der gleichen Art — ein Indiz für die in bestimmten Überlieferungen und kulturellen Traditionen enthaltene Weisheit.
Ein Beispiel für die Weitergabe einer Form von Wissen, das nicht individuellen Gehirnen entsprungen ist, das uns vielmehr zur Verfügung steht aufgrund unserer Zugehörigkeit zu einer kulturellen Gemeinschaft, in deren Überlieferung es sich als die Quintessenz der Erfahrungen vieler Generationen herauskristallisiert hat. Als das Ergebnis einer Form des Wissenserwerbs folglich, die dem einzelnen gar nicht offensteht. Der österreichische Ökonom und Staatsphilosoph Friedrich-August von Hayek hat den Sachverhalt in seinem — was diesen Punkt betrifft — bewundernswerten Aufsatz »Die drei Quellen der menschlichen Werte« (Tübingen 1979) analysiert und belegt. Die gleiche Erfahrung läßt es auch als besorgniserregend erscheinen, mit welcher Selbstverständlichkeit heute so manche überlieferten Bräuche und Riten allein deshalb verworfen werden, »weil sie nicht rationalisierbar«, sprich: rational begründbar, sind.
Damit zurück zum roten (biographischen) Faden dieses Berichts. Wir bekommen sein loses Ende sofort wieder in die Hand, wenn wir danach fragen, was alle diese Untersuchungen und Erfahrungen nun hinsichtlich der ersten Weltkontakte des frühkindlichen, noch unreifen Menschenhirns bedeuten mögen. Denn diese Kontakte stellen sich ja nicht etwa nur im Laboratorium ein, unter den vom Experimentator zur Beantwortung ausgeklügelter Fragen kunstvoll hergestellten unnatürlichen Bedingungen.
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Es ist rückblickend einigermaßen erstaunlich, wie spät die Hirnforscher begannen, der naheliegenden Frage nachzugehen, welche Vorgänge sich aufgrund der erstaunlichen und unerwarteten Beziehungen, die sie mit ihren Experimenten entdeckt hatten, unter normalen Umständen in einem heranwachsenden Gehirn abspielen.
Das ist zum Teil durch die enormen Schwierigkeiten zu erklären, die sich bei der Untersuchung eines Organs ergeben, mit dessen Besitzer man nicht unbekümmert experimentieren kann. Es dürfte aber zu einem weiteren, nicht geringen Teil auch damit zusammenhängen, daß der Fragestellung ein uns allen gemeinsames Vorurteil im Wege stand. Für uns alle ist das Gehirn, insbesondere unser eigenes Gehirn, doch so etwas wie das oberste aller Sinnesorgane: eine Art Spiegel, mit dem wir die Welt in unseren Kopf holen, um sie dort nach allen Regeln der Verstandeskunst zu analysieren und zu bewerten. Diese Modellvorstellung aber enthält stillschweigend zwei Grundannahmen, die beide total falsch sind.
Ein Spiegel bleibt unverändert, während er die vor ihm liegenden Objekte wiedergibt. Und er ist leer, wenn nichts in seinem Gesichtsfeld liegt. Wie gänzlich falsch wir gewöhnlich das Verhältnis zwischen unserem Gehirn und der Welt beurteilen, läßt sich daraus ersehen, daß beide Sachverhalte im Falle unseres Denkorgans und seiner Beziehung zur Welt nicht zutreffen. Die Befunde der kurz geschilderten Tierversuche wirken auf uns deshalb so verblüffend, weil sie dem von uns favorisierten Spiegelmodell in diesen beiden Punkten diametral widersprechen. Daß wir in dieser Hinsicht auch in puncto unseres eigenen Gehirns von Grund auf umlernen müssen, haben aktuelle neurobiologische Untersuchungen in jüngster Zeit gezeigt.*
Auch unser Gehirn ist alles andere als ein Spiegel, der unberührt bleibt von dem, was ihm begegnet. Dem wahren Sachverhalt kommt man mit einer anderen Modellvorstellung näher: Während der allerersten Lebensphase »erkundigt« sich unser noch erfahrungsloses Gehirn schrittweise nach den in der Außenwelt vorliegenden Strukturen und Bedingungen, soweit sie die Überlebenschancen seines Besitzers berühren.
* Die hier kurz wiedergegebenen Tierversuche habe ich ausführlicher bereits in meinem Buch »Der Geist fiel nicht vom Himmel« (Hamburg 1976) beschrieben, auf das ich die Leser verweisen möchte, die sich für nähere Einzelheiten der Entwicklungsgeschichte unseres Gehirns interessieren. Bei den folgenden Textabschnitten stütze ich mich vor allem auf neuere Arbeiten des namhaften Hirnforschers Otto D. Creutzfeldt (»Cortex cerebri. Leistung, strukturelle und funktionelle Organisation der Hirnrinde«, Berlin 1983).
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Weit davon entfernt, sich auf die passiv-statische Rolle eines »Spiegels der Welt« zu beschränken, organisiert das Gehirn vielmehr die Muster unerwartet vieler seiner Schaltpläne (die man noch vor wenigen Jahren sämtlich als erblich vorgegeben angesehen hatte) in dieser für alle spätere Erfahrung entscheidenden Entwicklungsphase nach Maßgabe der Eigenschaften der Welt, mit der es sich konfrontiert sieht.
Die Konsequenzen sind beträchtlich: Wir erleben die Welt keineswegs etwa so, wie sie »ist«, sondern so, wie ein Gehirn sie uns sehen läßt, das sich gleichsam opportunistisch an bestimmte, nach biologischen Kriterien ausgewählte Eigenschaften der Welt angepaßt hat. Als legalem Sproß einer nach biologischen Kriterien wertenden Evolution geht es diesem Gehirn keineswegs etwa um »Wahrheit«, ja nicht einmal um objektiv gültige Erkenntnis der Welt, sondern vor allem anderen um das Überleben des Individuums, in dessen Schädel es steckt -ein Faktum, das all unser Wissen-Können im voraus und unwiderruflich begrenzt.
Schon bei der Maus gebe es etwa 30.000 hirnspezifische Gene, lese ich bei Creutzfeldt, und weiter: Es sei unwahrscheinlich, daß ihre Zahl beim Menschen wesentlich größer sei. (Größer ist sie sicher, nur eben nicht annähernd so viel größer, wie man es angesichts des Rangunterschieds zwischen Menschen und Mäusen erwarten würde.) Wie kann das zugehen? Der Befund entspricht der Tatsache, daß beim neugeborenen Menschen wesentliche Teile der den höheren Hirnfunktionen zugrundeliegenden Schaltmuster auf Jahre hinaus nicht festgelegt sind (weshalb es keiner Gene für diesen Zweck bedarf) im Unterschied zu allen ihm unterlegenen Kreaturen.
Die Überlegenheit der von diesen Schaltmustern ermöglichten Funktionen beruht nicht zuletzt darauf, daß sie ihre endgültige Ausreifung erst erfahren im aktuellen Kontakt mit den Umweltbedingungen, mit denen das Individuum im weiteren Verlaufe seines Lebens dann zurechtzukommen hat.
In diesen Zusammenhang gehört eine weitere höchst überraschende Entdeckung, nämlich die, daß der Embryo vor der Geburt Nervenzellen im Überschuß produziert. Vergleichende anatomische Untersuchungen haben die eigentümliche Tatsache ans Licht gebracht, daß im menschlichen Gehirn vom Augenblick der Geburt an Nervenzellen en masse zugrunde gehen.
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Mindestens dreißig, nach manchen Schätzungen sogar bis zu fünfzig Prozent der im Augenblick der Geburt im Kopf eines Säuglings vorhandenen Gehirnzellen sterben in den folgenden Monaten und Jahren ab und lösen sich auf. Am raschesten verschwinden sie in den ersten zwei bis drei Lebensjahren. Danach verlangsamt sich der Prozeß. Verschiedene Indizien sprechen dafür, daß er sich mindestens bis in die beginnende Pubertät hinein fortsetzt. Das bemerkenswerte an der Sache ist der Umstand, daß es sich dabei um einen völlig normalen Vorgang zu handeln scheint. Um einen Vorgang zudem, der paradox erscheint, denn: Während gegen Ende des Lebens, in höherem Alter, der Schwund von Gehirnzellen erwartungsgemäß einhergeht mit einem Nachlassen des Gedächtnisses und anderer psychischer Leistungen, wird der gleiche Vorgang in der Frühzeit des individuellen Lebens bekanntlich begleitet von dem Gewinn ebendieser Fähigkeiten und ihrer stetigen Vervollkommnung. Welchen Vers könnte man sich darauf machen?
Es sieht so aus, als ob das Säuglingsgehirn der Außenwelt, mit der es fertig werden muß, zunächst ein »Angebot« macht: in Gestalt des erwähnten beträchtlichen Überschusses an Zellen, dem eine entsprechende Vielfalt beliebiger Verknüpfungsmöglichkeiten entspricht. Aus diesem Angebot wird bei der Begegnung mit der Welt dann in der Weise ausgewählt, daß jene Zellen und Zellverbindungen gleichsam bestätigt werden und erhalten bleiben, die durch die Verarbeitung regelmäßig auftretender (also für die Außenwelt offenbar typischer) Umweltreize und Signalkonstellationen wieder und wieder beansprucht werden. Nervenzellen, für die das nicht zutrifft, verkümmern dagegen allmählich und sterben ab. Man könnte diesen Prozeß anschaulich mit der Entstehung eines Scherenschnitts vergleichen. Aus der einheitlich schwarz gefärbten Fläche des Papiers tritt eine Silhouette dadurch hervor, daß Schnitt für Schnitt alles entfernt wird, was zu dem angestrebten Muster nicht paßt.
Prozesse dieser Art dürften es folglich gewesen sein, die sich in meinem Gehirn in den beiden Jahren abspielten, die vor dem Beginn meiner im eigentlichen Sinne bewußten Existenz liegen. Erst mit dieser beginnt im üblichen Verständnis ein Lebenslauf. Ich hoffe jedoch, daß es mir gelungen ist, begreifbar zu machen, warum mir das als eine unzulässige Verkürzung des Tatbestandes erscheint.
Wie auch immer: Auf den skizzierten — und sicher vielen anderen, uns noch unbekannten — Wegen fanden die für meine Lebensfähigkeit wesentlichen Eigenschaften der Welt Eingang in meinen Kopf, um mir fortan als Modelle der Außenwelt zur Orientierung auf dem Schauplatz der Realität zu dienen.
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Der Rahmen, innerhalb dessen ich mich zukünftig frei würde bewegen können, war damit definitiv abgesteckt. Angeborene Denk- und Verhaltensmuster gewährleisteten seine Unübersteigbarkeit mit der gleichen Zuverlässigkeit wie die in diesen frühen Jahren von meinem Gehirn in der Auseinandersetzung mit der Welt erworbenen Modellvorstellungen. Von jetzt ab kam es darauf an, wie ich diesen Rahmen ausfüllen würde — mit der Unterstützung meiner Umwelt, aber ebenso auch in der Behauptung gegen sie.
104 - Die Welt der Eltern
Der inneren Zäsur entsprach eine äußere. Die Kontinuität meiner Erinnerungen setzt ein mit einem Wechsel des Schauplatzes: Im Sommer 1924 zogen meine Eltern mit uns nach Lensahn in Holstein. Mein Vater trat in die Dienste des dort residierenden Erbgroßherzogs von Oldenburg. Es wird sogleich zu erläutern sein, warum man sich die Umstände dieses beruflichen Wechsels keinesfalls pompös-feudalistisch vorstellen darf. Zuvor aber einige Anmerkungen zur Vorgeschichte und zu unserer damaligen familiären Situation.
Mein Vater, Jahrgang 1893, war aktiver Offizier gewesen, so wie sein Vater, sein Großvater und alle seine anderen männlichen Vorfahren auch. Ohne Ausnahme, soweit sich die Sache in die Vergangenheit zurückverfolgen läßt (und die dokumentierte Familiengeschichte reicht immerhin bis ins 13. Jahrhundert zurück), hatten sie ihren jeweiligen Lehnsherren, ihrem König und zuletzt ihrem Kaiser loyal gedient. Mein Vater war, mit anderen Worten, Sproß einer »Offiziersfamilie«, worauf man sich selbst noch in der Weimarer Zeit nicht wenig zugute hielt und wie es für die meisten Adelsfamilien der damaligen Zeit (jedenfalls in Norddeutschland) galt.
Eine andere Berufswahl kam vor dem Hintergrund einer solchen Tradition überhaupt nicht in Betracht. Genauer: Eine Wahl gab es in Wirklichkeit gar nicht. Zwar war gerüchteweise, hinter vorgehaltener Hand, gelegentlich die Rede davon, daß es auch »in bekannten Familien« hin und wieder geschehen sei, daß Söhne ausbrachen.
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Sei es, daß sie zur Universität gingen (was als nicht gerade ehrenrührige, aber doch einigermaßen exotische Alternative angesehen wurde), sei es, daß sie gar Kaufleute wurden und als solche womöglich »ins Ausland gingen« (ein schon zu wesentlich maliziöseren Spekulationen Anlaß gebender Casus: Was mochte der Betreffende wohl für »Dreck am Stecken« haben?).
Die eiserne Regel aber war, daß man nach dem Abitur — und das hieß damals im Alter von durchschnittlich achtzehn Jahren — als Offiziersanwärter in das vom Vater ausgewählte Regiment eintrat. Sie wurde keineswegs als Zwang erlebt, sondern als Selbstverständlichkeit mit jugendlicher Begeisterung akzeptiert. Manchmal hatte das Elternhaus den Sohn schon vorher, mit vierzehn oder gar mit zwölf Jahren (wie man es mit meinem Großvater gemacht hatte) in Uniform gesteckt, indem es ihn in einer Kadettenanstalt ablieferte, wo dem Knaben bereits im zartesten Jugendalter neben dem Schulunterricht die karrierefördernden Segnungen einer vormilitärischen Ausbildung zuteil wurden.
Ich kann nicht umhin, ein Gefühl der Trauer zu empfinden bei dem Gedanken an die Fülle der Begabungen, die dieser Tradition im Laufe der Jahrhunderte zum Opfer gefallen sind. An all die ungenutzten Talente und geistigen Anlagen, die keine Chance bekamen, sich auch nur zu erkennen zu geben, weil ihre Besitzer sich schon als Heranwachsende einer Lebensweise unterwarfen, die intellektuellen Neigungen keine Spielräume ließ.
Wir haben es hier mit einer nicht geringen Zahl von Fällen zu tun, die in die Kategorie des »nicht gelebten Lebens« hineingehören. Zwar gab es unstreitig von Zeit zu Zeit überdurchschnittliche Köpfe, deren Talent sich selbst unter so ungünstigen Umständen zu entfalten und durchzusetzen vermochte. Tradition und soziales Umfeld aber haben auch diese Ausnahmen unvermeidlich standesspezifisch kanalisiert. Was herauskam, waren nicht Philosophen, Wissenschaftler oder Künstler, sondern unvermeidlich Strategen, und sei es vom Range eines Moltke oder Clausewitz.
Begabungen unterhalb der Schwelle des Genies hatten nicht die geringste Chance. Dafür sorgte die Präokkupation mit den facettenreichen Varianten dienstlicher Verpflichtungen, zu denen nicht zuletzt ein strikt einzuhaltendes gesellschaftliches Rollenspiel gehörte, das weder durch »Feierabende« noch durch »freie Wochenenden« auch nur die kürzeste Unterbrechung erfuhr. Und dafür sorgten auch aktiv immunisierende Tendenzen innerhalb des beruflichen Umfeldes.
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Das Faktum wird durch eine Fülle verräterischer Witze belegt und ebenso durch die bekannten Karikaturen etwa in den zeitgenössischen Jahrgängen des »Simplicissimus«: Wer von seinen Offizierskameraden beim Kauf oder gar der Lektüre anspruchsvoller Literatur oder bei anderen Regungen geistiger Interessen ertappt wurde, setzte sich unweigerlich dem allgemeinen Spott aus. Die Reaktion erfolgte so unfehlbar, daß der Verdacht naheliegt, hier habe man durch ironische Abwehr instinktiv der Wahrnehmung eines Verzichts vorbeugen wollen, die eine schmerzliche Stelle getroffen hätte.
Böse gesagt und in aller Deutlichkeit:
Bordellbesuche oder Spielschulden, selbst Alkoholismus (in der kaiserlichen Armee wenig verbreitet) oder notorische »Weibergeschichten« (einzige Einschränkung: »Bitte nicht mit den Damen vom eigenen Regiment!«) wurden in diesem Milieu eher toleriert als Ansätze zu geistigen Interessen. Mein Vater hat mir später, sehr viel später, aus eigener Erfahrung bestätigt, daß dieses Bild nicht überzeichnet ist. Er räumte es übrigens auch im Abstand von Jahrzehnten nur mit merklicher Überwindung ein, obwohl sein späterer Lebenslauf längst unübersehbar deutlich gemacht hatte, daß er selbst zu den Opfern gezählt werden mußte. Von den Einflüssen seiner Jugend bis ins Mark geprägt, hat er noch als Altphilologe nie gänzlich aufgehört, ein kaiserlicher Offizier zu sein.
1911, noch siebzehn Jahre alt, trat mein Vater bei den Oldenburger Dragonern in die Fußstapfen seiner Vorfahren. Die Uniform dieses Regiments (»Nr. 15«) war hellblau, abgesetzt mit schmalem schwarzen Samtkragen. Sie soll bildschön ausgesehen haben. Zwar habe ich den Anblick nur nachträglich auf alten Schwarzweißphotographien genießen können. An die Farbe habe ich dennoch eine lebhafte Erinnerung, da ich als Volksschüler jahrelang mit einem hellblauen Wintermantel herumgelaufen bin, der, ersparnishalber, aus einem alten Uniformrock meines Vaters zusammengeschneidert worden war.
Mit neunzehn Jahren wurde er zum Leutnant befördert. Er besaß nun drei eigene Reitpferde (mein Großvater war, was man damals »gutsituiert« nannte, und stattete den einzigen Sohn entsprechend aus), mit denen er der einem Kavallerieoffizier wohl anstehenden Passion des Turniersports oblag — nicht ohne Erfolg, davon zeugen einige »Silberpötte«. Als der jubelnd begrüßte — da Ehre und Auszeichnungen verheißende — Krieg ausbrach, den man später den »Ersten Weltkrieg« nannte, war er knapp einundzwanzig Jahre alt.
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Acht Wochen später war die ganze Herrlichkeit dahin. Alle Aussichten auf Ehre, Auszeichnungen und gesellschaftliches Renommee verflogen zu nichts. Schon Ende September 1914 geriet mein Vater in französische Kriegsgefangenschaft. Als er über vier Jahre später aus ihr entlassen wurde, gab es die Welt nicht mehr, für die man ihn erzogen hatte. Mein Großvater war gestorben, das Vermögen von Kriegsanleihen aufgezehrt.
Das war noch lange nicht alles.
Darüber hinaus litt er, wie alle ehemaligen Offiziere seiner Generation, unter der Niederlage wie unter einer persönlichen Schmach. Er trug an ihr wie an dem Stigma eines seinen Stand desavouierenden Versagens. Und etwas noch Gravierenderes hatte sich ereignet. Das Fundament, auf dem er wie alle seine Ahnen Sinn und Inhalt seines Lebens gegründet hatte, war verschwunden.
Die heute kaum mehr vorstellbare, geschweige denn verständlich zu machende Bedingungslosigkeit der Bereitschaft »zu dienen«, die wie selbstverständlich auch den Einsatz des eigenen Lebens einschloß als jederzeit durch Befehl abrufbare Möglichkeit, sie hatte ihren Bezugs- und Angelpunkt verloren.
Die Monarchie existierte nicht mehr. Jetzt wurde in aller Deutlichkeit offenbar, daß die Loyalität dieser Offizierskaste in Wirklichkeit nicht etwa dem Staat, nicht einmal in erster Linie der Nation und auch nur in einem durchaus eingeschränkten Sinne dem »Vaterland« gegolten hatte. Sie war auf den jeweiligen Monarchen fixiert wie davor auf den Lehnsherrn. Daß Wilhelm II. als Regent eine alles andere als überzeugende Figur abgegeben hatte, war den intelligenteren unter ihnen keineswegs verborgen geblieben. Es hatte sie aber nicht im geringsten gestört. Denn nicht auf die Person des Herrschers kam es für sie an, sondern allein auf die Institution, die er verkörperte. (So, wie sich auch ein guter Katholik nicht irritieren läßt, wenn vorübergehend einmal ein »schwacher« Papst auf dem Stuhle Petri Platz nimmt.)
Nun aber gab es beides nicht mehr, weder die Person noch die Institution.
Damit lag die in Jahrhunderten kultivierte Vasallentreue dieser Männer, die ihnen längst zum existentiellen Bedürfnis geworden war, mit einem Male brach. Es muß ein Gefühl gewesen sein vergleichbar dem, das einen Artisten hoch oben in der Zirkuskuppel befiele, wenn man ihm bei dem Gang über das Drahtseil auf halbem Wege seine Balancierstange wegnähme.
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Die Verachtung und Ablehnung der neuen Republik gegenüber entsprang zuerst dem die Gemüter dieser Kaste dumpf beherrschenden Gefühl, daß »Rote« und andere dem Plebs zuzurechnende »Kreaturen« nunmehr den Platz usurpierten, der in ihrem Verständnis nach wie vor allein ihrem »obersten Kriegsherrn« zustand. (Obwohl diese »Kerle« sich nicht einmal richtig bei Tisch benehmen konnten, wie man hinzuzufügen pflegte, weil die mangelhafte Ausbildung der Fähigkeit zu einer selbstkritisch-analytischen Betrachtung der Situation auch in diesem Falle die Neigung förderte, den Kontrahenten persönlich zu verunglimpfen.)
Ich rekonstruiere das alles aus der Erinnerung des kindlichen Ohrenzeugen, für den es nichts Spannenderes gab, als den ständig um dieses Thema kreisenden politischen Diskussionen der Erwachsenen zuzuhören (auch wenn ich das meiste damals natürlich nicht oder nur halb verstand). Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich mich bei solchen Gelegenheiten auf dem Fußboden still in den Schatten eines Sessels verkroch in der Hoffnung, »vergessen« zu werden, damit man mich nicht ins Bett schickte.
Viel später ging mir dann in Bitterkeit auf, warum es mit Notwendigkeit verheerende Folgen haben mußte, als diese gleichen Männer zwei Jahrzehnte später noch einmal zu Macht und Einfluß kamen. In der Erinnerung an unzählige derartige Gespräche kann ich nachträglich sogar verstehen (nicht entschuldigen!), wie es zuging, daß so viele von ihnen, die sich auf ihre Ehre und Würde doch so viel zugute hielten, ihre Ehre und ihre Würde alsbald in den Wind schlugen, als sie bloß mit dem Teufel ein Bündnis einzugehen brauchten, um wieder in den Besitz der Droge zu gelangen, die man ihnen in den erniedrigenden Jahren des republikanischen Zwischenspiels vorenthalten hatte.
105 - Jahre der Geborgenheit
Als mein Vater aus der Gefangenschaft entlassen wurde, stand er vor dem Nichts. Er war 25 Jahre alt, praktisch mittellos und hatte keinerlei Ausbildung oder berufliche Erfahrungen vorzuweisen. Genauer: lediglich die Qualifikationen eines Berufs, der nicht mehr gefragt war. Natürlich hätte er versuchen können, als Rittmeister — zu dem man ihn anläßlich der Entlassung schnell noch befördert hatte — im 100.000-Mann-Heer der Republik unterzukommen. Aber auch da waren die Chancen nicht sonderlich groß. Als er im Frühjahr 1919 endlich zurückkam, waren die wenigen Planstellen längst vergeben.
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Er machte auch gar nicht erst den Versuch, sich »reaktivieren« zu lassen, wie man das nannte. Die Vorstellung, Offizier in einer republikanischen Armee zu werden, dürfte dem ehemaligen kaiserlichen Kavalleristen ähnlich unakzeptabel erschienen sein wie einem ehemaligen Berliner Philharmoniker der Eintritt in ein Kurhausorchester. Nach einem Jahr des Suchens und des Nichtstuns (»eine furchtbare Zeit«, wie er mit später sagte) fand er durch die Vermittlung eines Vetters eine Stelle als Banklehrling in Berlin. Vor dem Umzug heiratete er noch meine Mutter, Tochter einer Offiziersfamilie und arm wie eine Kirchenmaus.
Vier Jahre später, nach Abschluß der Ausbildung, brach er die Banklaufbahn ab. Die Aussicht auf eine feste Anstellung und (bescheidene) Karriere, die man ihm an der Bank offerierte, konnte für ihn selbst in dieser Epoche allgemeiner Unsicherheit und Arbeitslosigkeit nicht mit einem Angebot ganz anderer Art konkurrieren: Der Erbgroßherzog von Oldenburg, einst Ehrenkommandeur der »Oldenburger Dragoner«, fragte ihn, ob er Lust habe, als Beamter in seine Vermögensverwaltung einzutreten.
Den alten Stallgeruch noch in der Nase, sagte mein Vater augenblicklich zu — eine »Riesendummheit«, wie er Jahrzehnte später zutreffend befand. Den Ausschlag gaben die Möglichkeit, den ungeliebten Beruf mit einer Position vertauschen zu können, deren Rahmen dem der zugrunde gegangenen Welt seiner Jugend wenigstens äußerlich glich, und nicht zuletzt die Tatsache, wiederum einem »Landesherrn« dienen zu können, und wenn es bloß ein ehemaliger war.
Wir Kinder — ein Jahr nach mir war eine Schwester geboren worden — hatten den Gewinn. Anstatt einer Berliner Etagenwohnung bewohnten wir jetzt ein Stockwerk in einem der Verwaltungsgebäude, die auf dem weitläufigen Gelände des herzoglichen Schloßguts verstreut waren. Vor unserer Haustür lag der langgestreckte Pferdestall, aus dem sich auch mein Vater bedienen konnte. Hinter dem Hause dehnte sich eine große Entenwiese, der offizielle Spielplatz für uns Kinder. (Als eine der ganz wenigen unerfreulichen Erfahrungen aus diesen Jahren in Lensahn habe ich noch das unangenehme Gefühl in lebhafter Erinnerung, das vom frischen Entenschiet hervorgerufen wird, wenn er, weil man beim Rennen nicht aufgepaßt hat, zwischen den nackten Zehen nach oben hindurchquillt.) Auf der einen Schmalseite des Hauses begann der von uns als inoffizielles Spielrevier angesehene Schloßpark.
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Auf der anderen lag ein Reitplatz mit buntbemalten Hindernissen. Dazwischen gab es reichlich Buschwerk und Gestrüpp, in dem man sich verstecken und vor den Erwachsenen unsichtbar machen konnte, wenn die Situation es erforderte.
Lensahn war das Paradies meiner Kindheit. Niemals mehr in allen Zeiten danach schien die Sonne so hell, rochen die Äpfel so verlockend, waren die Blumen so bunt und die Tage so fröhlich wie in dieser kurzen Zeitspanne zwischen meinem dritten und meinem sechsten Lebensjahr. Selbstverständlich kamen auch danach noch »schöne« Jugendjahre. Aber das Paradies totaler Sorglosigkeit und ungetrübter alltäglicher Lebenslust, das gab es nur in den Jahren in Lensahn.
Für meine Eltern sah die gleiche Szenerie bald schon anders aus. Wir Kinder ahnten davon nichts. Aber selbst dann, wenn seine Tätigkeit im Dienste des »Herrn Erbsgroßherzogs«, wie wir Kinder ihn unbefangen nannten — und Hoheit ließ sich die Anrede gnädigst gefallen —, für meinen Vater ersprießlicher gewesen wäre, als sie sich tatsächlich entwickelte, wäre das von uns am selben Ort und zu derselben Zeit erlebte Paradies den Eltern unzugänglich geblieben. In seinem Falle verhelfen weder räumliche noch zeitliche Koinzidenz zum Einlaß. Die entscheidende Voraussetzung seiner Wahrnehmbarkeit ist jene die ersten Lebensjahre nicht überdauernde psychische Verfassung, in der wir noch unfähig sind zum Zweifel oder zur Nachdenklichkeit.
Der Charme, den ein kleines Kind in seiner noch ungebrochenen Lebensfreude ausstrahlt, wirkt auf uns als Erwachsene so unwiderstehlich, weil sein Anblick uns daran erinnert, daß auch wir im Paradies einmal zu Hause gewesen sind. Erst im Rückblick erkennen wir seine Einzigartigkeit und Unwiederbringlichkeit. Seine Gegenwart zu genießen sind wir so unfähig, wie eine Schwalbe unfähig ist, die von uns neidvoll beobachtete Eleganz ihrer Flugmanöver bewußt auszukosten. Auch mischt sich in unsere Freude angesichts eines sorglos spielenden Kindes immer schon das Wissen darum, wie wenig diese Welt ein so grenzenloses Vertrauen rechtfertigt, der Gedanke an die Gnadenlosigkeit, mit der das Vertrauen schon wenig später enttäuscht werden wird.
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Bevor es dazu kommt, bleibt für das Kind viel zu tun. Denn sosehr angeborener Spieltrieb und der ebenfalls angeborene Trieb zur Befriedigung seiner unersättlich scheinenden Neugier subjektiv auch auf wahrhaft paradiesische Weise darüber hinwegtäuschen mögen, objektiv, »von außen« betrachtet, dient die Unermüdlichkeit des kindlichen Spiels der Aneignung eines gewaltigen Lernpensums.
Es genügt nämlich zum erfolgreichen Umgang mit der Welt nicht, daß in den Jahren zuvor eine an existentiellen Prioritäten orientierte Auswahl der grundlegenden Strukturen und Modelle der Außenwelt Eingang in den kindlichen Schädel gefunden hat.
Die dem kindlichen Gehirn angeborenen und die in den anschließenden »Jahren der Bewußtlosigkeit« dauerhaft eingeprägten Denkstrategien (von Algorithmen zur Weltbewältigung ist man in unserem Computerzeitalter zu sprechen versucht) ersparen es dem Individuum, zu Beginn seiner Existenz die Auseinandersetzung mit der Welt ohne jegliche Erfahrung aufnehmen zu müssen. Schon wenn das kindliche Bewußtsein zum erstenmal der Welt ansichtig wird, geht es wie selbstverständlich davon aus, daß sich alle Vorgänge in einem dreidimensional strukturierten Raum abspielen, daß sie in zeitlichem Nacheinander aufeinanderfolgen und daß es kausale Zusammenhänge zwischen ihnen gibt (um nur die wichtigsten Fälle zu nennen). Darin liegt eine ungeheure natürliche Ökonomie. Und darin liegt ebenso eine phantastische Minderung des Lebensrisikos in einer von Gefahren strotzenden Umwelt.
Auch dieser Sachverhalt trägt — was meist ignoriert wird — seinen entscheidenden Anteil bei zu der Geborgenheit, in der das Kleinkind seine Lebenslust ohne allzu große Irritationen entfalten kann. Daß für eine auf solche Weise erworbene existentielle Bequemlichkeit der entsprechende Preis zu entrichten ist, sei hier vorerst nur am Rande notiert. Erfahrungen, die man nicht — unter Inkaufnahme der mit ihrem Erwerb verbundenen Risiken — selbst zu machen braucht, die einem vielmehr mit Hilfe des Vererbungsprozesses als Quintessenz der Erfahrungen zahlloser Vorfahrengenerationen von der Evolution buchstäblich geschenkt werden, sind nur in Form generalisierter Abstraktionen zu haben. Quasi als »existentielle Faustregeln«, die auf alle »typischen« Fälle passen — auf die meisten der Fälle also, mit denen ein einer bestimmten Art angehörendes Individuum es im Verlaufe seiner individuellen Lebensgeschichte aller Wahrscheinlichkeit nach immer wieder zu tun bekommen wird.
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Nicht nur aus biologischen, auch aus einsichtigen logischen Gründen ist eine »Vererbung von Welterfahrung« anders gar nicht möglich. Das hat unvermeidlich zur Folge, daß, wie es der Wiener Evolutionsforscher Rupert Riedl formulierte, in allen nichttypischen Fällen aus dem Sinn der angeborenen Standardantwort rasch angeborener Unsinn werden kann. Es schließt, mit anderen Worten, die beunruhigende Möglichkeit ein, daß das Individuum auch dann noch den »angeborenen Ratgebern« (Konrad Lorenz) blindlings folgt, wenn von der Evolution nicht vorgesehene — etwa zivilisatorisch entstandene — Bedingungen ganz andere Reaktionen notwendig machen.
Daß ein beträchtlicher Teil der Probleme, mit denen sich unsere fortgeschrittene Industriegesellschaft seit einigen Jahrzehnten herumzuschlagen hat, auf diesen Umstand zurückzuführen sein dürfte, kann im einzelnen erst zur Sprache kommen, wenn die Chronologie dieser »objektiven Biographie« bis zu dem entsprechenden Zeitabschnitt gediehen ist. Noch befassen wir uns mit den »Jahren der Geborgenheit«. Unter ihren Bedingungen funktioniert der angeborene Sinn ganz vorzüglich. (Wie könnte sonst von Geborgenheit die Rede sein?) Aber er allein genügt eben nicht. Das angeborene Wissen um zeitliche und kausale Strukturen in der Welt bleibt, für sich genommen, leer. Seine Anwendung auf isolierte Fakten und Objekte würde zu grotesken Mißverständnissen führen. Nutzbar machen läßt die angeborene Erfahrung sich erst in Verbindung mit einem möglichst vollständigen Inventar aller in Frage kommenden Sachen und Sachverhalte. Benötigt wird, anders gesagt, so etwas wie ein umfassendes Vokabularium der in der Welt konkret vorkommenden Dinge.
Ein Vergleich — es ist in Wahrheit sogar mehr als das — mit einem typischen Problem, das den Informationstheoretikern die Entwicklung sogenannter »künstlicher (technischer) Intelligenz« soviel schwerer macht, als sie ursprünglich erwartet hatten, läßt sofort verstehen, worum es geht. (Wie denn die bisherige Arbeit auf diesem Gebiet der Forschung uns alles in allem viel mehr über die Besonderheiten unserer natürlichen Intelligenz verraten hat als über die Möglichkeiten, Computern Intelligenz einzubleuen.)
Der namhafte englische Kybernetiker Christopher Evans hat die Angelegenheit in einem sehr witzigen Gedankenexperiment (mit ernstem Hintergrund) auf den Punkt gebracht. (Daß ernst zu nehmende wissenschaftliche Argumentation strikte Humorlosigkeit voraussetze, ist ein teutonischer Gelehrsamkeit vorbehaltener Irrtum.)
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Stellen wir uns doch einmal vor, sagte Evans, wir hätten einen menschenähnlichen (»androiden«) Roboter konstruiert, der über ein prinzipiell vollständiges Sprachverständnis verfügte, im übrigen hinsichtlich der konkreten Welt aber gänzlich erfahrungslos wäre. Wie würde ein derart einseitig begabtes Kunstwesen mit der Welt wohl zu Rande kommen? Ganz miserabel, antwortete Evans auf die selbstgestellte Frage, und belegte das mit einer ebenfalls erdachten alltäglichen Situation.
Stellen wir uns vor, unser Androide gerät auf eine Baustelle und liest dort ein Schild mit der Aufschrift: »Auf dieser Baustelle sind Helme zu tragen«. Gestehen wir ihm großzügig zu, daß er die Aufforderung nach einigen Erkundigungen versteht und schließlich sogar korrekt befolgt. Gerade dieser Erfolg wird ihn im weiteren Verlauf nun unvermeidlich in hoffnungslose Mißverständnisse verstricken. Nehmen wir an, er steht anschließend unversehens vor einer Rolltreppe und liest dort ein Schild: »Auf dieser Rolltreppe sind Hunde zu tragen.«
Gerade weil er den wörtlichen Sinn der ersten Inschrift auf der Baustelle zu guter Letzt herausbekommen hat (ohne deren Hintergründe begreifen zu können!), ist mit Sicherheit davon auszugehen, daß er jetzt so lange vor der Rolltreppe suchend hin- und herlaufen wird, bis er eine Frau entdeckt, die ein Schoßhündchen auf dem Arm hat. Diese wird er dann mit aller einem Androiden zu Gebote stehenden Höflichkeit bitten, ihm den Hund für einen Augenblick zu leihen, um durch dessen Besitz die Befugnis zu erwerben, die Rolltreppe zu benutzen. Und je genauer er seine erste Erfahrung in Erinnerung behalten hat, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß er während seiner Fahrt mit der Rolltreppe auch noch versuchen wird, sich den geliehenen Hund auf den Kopf zu setzen.
Die »Moral von der Geschicht« liegt auf der Hand: Um auch nur die einfachsten sprachlichen Aussagen richtig verstehen — und das heißt eben auch: über die bloße Wortbedeutung hinaus in ihrem vollen Sinn erfassen — zu können, muß man weit mehr über die Welt wissen, als »gesunder Menschenverstand« sich träumen läßt. Um wirklich verstehen zu können, weshalb beim Betreten einer Baustelle das »Tragen« von Helmen verlangt wird, muß man neben vielem anderen wissen, daß fallende Gegenstände bei ihrem Auftreffen mechanische Energie übertragen, die eine Verformung oder Zerstörung der Objekte bewirkt, die den Fall abbremsen. Man muß ferner wissen, daß Baustellen Plätze sind, in deren Bereich mit dem Fallen von Gegenständen häufiger zu rechnen ist als anderenorts. Man muß weiter wissen, daß die menschliche Schädeldecke verhältnismäßig leicht zerbricht und daß unter ihr ein Organ steckt, dessen Schutz absolut vordringlich ist.
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Und um verstehen zu können, weshalb Hunde auf Rolltreppen »zu tragen« sind, muß man eine Vorstellung von der Mechanik einer solchen Treppe haben und davon, daß Hundepfoten Krallen haben, daß diese leicht eingeklemmt werden können in den sich öffnenden und schließenden Ritzen zwischen den Stufen einer solchen Treppe, daß dies wahrscheinlich schlimme Folgen hat für den Hund und so weiter und so fort. Und man muß eine Vorstellung haben von den je nach den Umständen höchst verschiedenen Bedeutungen des Wortes »tragen« und so weiter in nahezu unabschließbarer Reihe. Kurzum: Zum Verständnis auch der einfachsten sprachlichen Aussagen ist eine erstaunlich umfangreiche, eine in allen praktischen Belangen nahezu vollständige Kenntnis der menschlichen Umwelt notwendig.
Die um die Entwicklung »intelligenter Maschinen« bemühten Kybernetiker haben diese Barriere bisher nicht nehmen können. Es ist ihnen aus leicht einsehbaren Gründen bis auf den heutigen Tag nicht gelungen, ein mehr oder weniger vollständiges Inventar aller weltlichen Sachverhalte in den Speicher eines elektronischen Geräts zu praktizieren. Lösbar wird die Aufgabe wahrscheinlich erst dann — und so weit sind die Experten noch lange nicht —, wenn Computer existieren, die selbsttätig Erfahrungen zu machen in der Lage sind, indem sie sich mit ihren Sensoren aktiv der Umwelt zuwenden, um sie nach und nach, in unzähligen einzelnen Erkundungsschritten, kennenzulernen. Das jedenfalls ist die Methode, mit der die Natur das Problem gelöst hat. Das ist der Weg, auf dem wir alle in unserer frühkindlichen Entwicklung mit der gleichen Aufgabe fertig geworden sind.
Eine kleine Episode aus den Lensahner Jahren kann das belegen, wie mir scheint. Es handelt sich um ein im Grunde banales Erlebnis, das mir lebhaft in Erinnerung geblieben ist, weil ich in diesem Falle ebenso grotesk scheiterte wie der Androide in dem Gedankenversuch von Christopher Evans, und das aus den gleichen Gründen. Eines Morgens beobachteten wir beim Frühstück, daß Arbeiter einen hohen Holzmast auf »unserer« Entenwiese aufzurichten begannen. Die Eltern äußerten Ärger über die Verschandelung der Aussicht.
Vor allem aber wußte niemand von uns, sich einen Reim auf den Sinn des Unternehmens zu machen. Bis dann, nachdem der Mast einen festen Stand gefunden hatte, einer der Arbeiter mit Steigeisen an ihm hochkletterte, um an der Spitze das eine Ende eines gut zehn Meter langen Kupferseils zu befestigen, dessen anderes Ende anschließend an der Schloßfassade verankert wurde. Ein dünnerer Draht wurde dann von dort zu einem der Fenster des herzoglichen Wohnzimmers verlegt.
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Jetzt durchschaute mein Vater den Fall. Er erklärte uns, daß es sich um eine neue Erfindung handele, mit der man »durch die Luft« über große Entfernungen hinweg Musik hören könne. Uns Kindern erschien das einigermaßen unvorstellbar. Einige Tage später bekamen wir jedoch Gelegenheit, uns aus eigener Anschauung von der Richtigkeit der väterlichen Auskunft zu überzeugen. Der »Erbsgroßherzog« lud uns zu Kaffee und Kuchen ein. Das geschah zwar des öfteren. Diesmal aber lieferte die neumodische Erfindung den Anlaß. Hoheit bereitete es offensichtlich Vergnügen, uns seine Neuerwerbung vorzuführen.
Der erste Anblick enttäuschte sehr: Auf einem kleinen Tischchen stand ein braunes Holzkästchen mit ein paar Knöpfen, daneben ein großer Trichter. Dann aber drückte unser Gastgeber auf einen Hebel und begann, an den Knöpfen zu drehen. Zunächst gab die geheimnisvolle Apparatur jaulende und quietschende Töne von sich. Plötzlich jedoch geschah ein Wunder: Laut und deutlich ertönte aus dem Trichter eine menschliche Stimme. Wir waren überwältigt. Unser kindliches Geschnatter wurde jedoch sofort unterbrochen. Mit erhobenem Zeigefinger gebot der Erbgroßherzog mit der knappen Begründung Stillschweigen: »Ruhe, Tauber singt!«
Mein Respekt vor dem Gastgeber genügte, um mich verstummen zu lassen. Was die kurze Aussage allerdings bedeuten sollte, blieb mir unklar. Ich glaubte, sie als »Tauber sinkt« verstehen zu sollen, aber ich war meiner Sache nicht sicher. Ein halblauter Kommentar der Herzogin beseitigte meine Zweifel: Es handele sich um etwas Trauriges, ergänzte sie die knappe Verlautbarung ihres Gemahls. Jetzt schien mir der Fall klar. Und während die Runde der Erwachsenen in andächtigem Schweigen dem nun einsetzenden Gesang lauschte, sah ich vor meinem geistigen Auge ein Schiff, das den Namen »Tauber« trug, mit Mann und Maus langsam in den Fluten versinken, begleitet von dem traurigen Gesang eines Mannes, der offensichtlich Augenzeuge der Katastrophe war.
Ganz geheuer war mir die Sache dennoch nicht — sicher der Grund, weshalb ich sie im Gedächtnis behielt, bis ich Jahre später endlich begriff, wie groß mein Mißverständnis gewesen war. Ich hätte, um den Vorfall verstehen zu können, eben schon im Alter von vier oder fünf Jahren wissen müssen, daß es einen Tenor mit Namen Richard Tauber gab, dessen Berühmtheit so groß war, daß alle Welt in andächtiges Schweigen verfiel, wenn er sang. Und ich hätte, neben anderem, außerdem auch noch wissen müssen, daß Erwachsene dazu fähig sind, sich an »etwas Traurigem« musisch zu delektieren.
Der sich in diesen Jahren in der Verkleidung permanenter spielerischer Erkundigungen über die Welt vollziehende Lernprozeß — dessen ich so wenig bewußt war wie irgendein anderes Kind im gleichen Alter — wurde von meinem Vater tatkräftig unterstützt. Er hatte zu unserem Glück in den Lensahner Jahren viel Zeit für uns, und er benutzte sie dazu, uns stundenlang vorzulesen und Geschichten zu erzählen. Schier unerschöpflich war seine Geduld, vor allem bei der Beantwortung unserer Fragen. Ich erinnere mich noch heute an lange Spaziergänge, während deren er mir auf meine Bitten das Funktionieren eines Fernglases erklärte — oder das einer Kanone, eines Automotors oder des Telephons. Seine Erläuterungen waren selbstverständlich auf das Fassungsvermögen eines Fünfjährigen zu rechtgeschnitten. Aber ich erinnere mich an manche von ihnen bis auf den heutigen Tag, weil ich sie in späteren Jahren niemals gänzlich zu verwerfen brauchte — sie gaben das Wesentliche ungeachtet aller Vereinfachungen fast immer treffend wieder.
Eine der Ausnahmen betraf seine Auskunft auf meine Frage, wie es denn komme, daß die in Australien lebenden Menschen, die doch »auf dem Kopf stehen«, nicht von der Erde herunterfielen. (Ein Globus im Wohnzimmer führte mir die »unmögliche« Position der unglücklichen Bewohner dieses Erdteils anschaulich genug vor Augen, um die Frage zu provozieren.) In diesem Falle wußte mein Vater sich nicht anders zu helfen als durch eine kleine Schummelei. Er besorgte sich eigens zu diesem Zweck einen Magneten und beantwortete die schwierige Frage durch die Demonstration von dessen Anziehungskraft auf Nägel und seinen Hausschlüssel.
Mir scheint dieser kleine Betrug verzeihlich. Selbst wenn mein Vater die aktuelle wissenschaftliche Erklärung für die Erdanziehung gekannt hätte — was damals, gerade ein Jahrzehnt nach der Veröffentlichung der »allgemeinen« Relativitätstheorie durch Albert Einstein, ganz sicher nicht der Fall war —, hätte er etwa den Versuch machen sollen, seinem fünfjährigen Sohn etwas von der nichteuklidischen Natur des Raumes zu erzählen oder von der »Verbiegung« der Struktur dieses Raumes in der Nähe von Massezentren?
Auch die Möglichkeit, die Frage durch den Hinweis auf den bedeutsamen Kern der Einsteinschen Entdeckung zu beantworten, schied aus. Sie hätte nämlich in der Vermittlung der Einsicht bestanden, daß wir in einer Welt existieren, deren fundamentale Eigenschaften unserem Vorstellungsvermögen entzogen sind.
Das ist wahrhaftig eine Erkenntnis moderner naturwissenschaftlicher Forschung, die das menschliche Selbstverständnis und das Verständnis von unserer Rolle im Kosmos und damit die uralte Frage nach den Grundlagen unserer Existenz im Kern berührt. Aber was soll ein Kind im Vorschulalter mit ihr anfangen? Haben wir uns doch mit der desillusionierenden Tatsache abzufinden, daß die Mehrzahl selbst der sich als gebildet ansehenden Erwachsenen an diesen fundamentalen Aspekten unseres irdischen Daseins gänzlich, mitunter gar demonstrativ uninteressiert ist.
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