203 Die »Deutschen« und die »Nazis«
204 Weltbilder
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Viele Jahre später wurde ich von meinen Kindern gelegentlich gefragt, wie das war, »als die Nazis damals an die Macht kamen«. Ob wir Angst gehabt hätten, und warum wir uns nicht gewehrt hätten. So kann man nur fragen, wenn man schon weiß, wozu diese Machtergreifung binnen kurzem führen sollte. Wir aber wußten davon nichts, überhaupt nichts. Auf die Frage, wie ich damals, als zwölfjähriger und langsam die Pubertät absolvierender Gymnasiast, die auf 1933 folgenden Jahre erlebt habe, kann ich wahrheitsgemäß nur antworten: Der vorherrschende Eindruck war der, daß es uns besserzugehen begann.
Soweit ich zurückdenken konnte, waren wir arm gewesen. Nach 1934 aber begann sich das spürbar zu ändern. Ich bekam endlich das ersehnte Fahrrad, mit dem ich jetzt auch zur Schule fahren durfte. Meine Mutter ging mit uns zu Wertheim nach Potsdam, wenn eine neue Hose fällig war. 1936 wurde sogar ein Auto angeschafft, ein »Adler Trumpf junior« zum Neupreis von immerhin 2700 Reichsmark. Es bürgerte sich ein, daß die ganze Familie im Sommer nach Binz auf Rügen fuhr, »zur Erholung«. Ich ging mit meiner älteren Schwester in die Tanzstunde bei Herrn von Löbenstein in der Großen Weinmeisterstraße, und im anschließenden Sommer erhielt ich Tennisunterricht bei »Blau-Weiß«. Im Jahre darauf zogen wir in ein hübsches kleines Einfamilienhaus, das meine Eltern in Potsdam gemietet hatten. 1938 machte ich als erst Sechzehnjähriger den Führerschein und durfte von da an gelegentlich sogar meine Tanzstundenfreundin mit dem Auto besuchen.
Es läßt sich denken, daß diese Entwicklung einen gehörigen Einfluß auf das Selbstwertgefühl des Sechzehnjährigen ausübte. Daß es die von ihr bewirkte Änderung der alltäglichen Atmosphäre ist, die meine Erinnerung an die Potsdamer Schuljahre bis heute bestimmt, mag der eine oder andere für unentschuldbar halten. Objektiv ist es das sicher auch. Denn diese Jahre stehen unwiderruflich unter dem Verdikt Bertolt Brechts, daß in solchen Zeiten schon ein Gespräch über Bäume ein Verbrechen ist, weil es das Schweigen über so viele Untaten einschließt. Wenn auch grundsätzlich in der Tat unentschuldbar, psychologisch verständlich erscheint es mir heute noch.
Es ging uns nicht deshalb besser, weil mein Vater sich auf irgendeine der mannigfaltigen Formen eines Zusammenspiels mit »der Partei« der neuen Herren eingelassen hätte, wie es viele jetzt taten. Der bloße Gedanke daran widerte ihn an. Nein: Allen ging es mit einemmal besser. Der Aufschwung war allgemein. Innerhalb weniger Jahre waren die meisten der über sechs Millionen Arbeitslosen, die es in der »Systemzeit« zuletzt gegeben hatte, wieder in Arbeit und Brot, und das Heer der Bettler war von den Straßen verschwunden. Die Zeiten hatten sich gebessert, wirtschaftlich, für fast alle. Auch für Heinz Lehmann und seinen seit Jahren arbeitslosen Vater.
Darüber, daß das nicht als ein Argument zur nachträglichen Rechtfertigung nationalsozialistischer Politik herangezogen werden kann, bin ich mir heute so gut im klaren wie andere auch.
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Aber, um es noch einmal zu unterstreichen, damals wußten wir noch nicht, was wir für die Jahre des Aufschwunges von 1933 bis 1939 zu zahlen haben würden. Schwer zu sagen, ob wir es hätten wissen müssen. Was wir aber hätten wissen müssen, war etwas ganz anderes.
Eigentlich hätten schon die Ereignisse des 30. Juni 1934 »unseren Kreisen« (und nicht nur ihnen) die Augen dafür öffnen müssen, in wessen Hände das Reich gefallen war. Aber der Tag war schnell vorübergegangen, und längst lief alles wieder in gewohnten Geleisen. Gründgens inszenierte in Berlin, Furtwängler dirigierte die Symphoniker, und in Bayreuth wurde in Anwesenheit ausländischer Diplomaten und eines im Frack angeregt mit ihnen plaudernden »Führers« Wagner zelebriert. Wer hätte es unter diesen Umständen vermocht, eine Irritation zum Anlaß einer grundsätzlichen Verurteilung zu nehmen?
Es gab noch einen anderen Grund. Ich erinnere mich an einige der sonnabendlichen Runden, in denen er zur Sprache kam, ohne daß ich die moralischen Weiterungen damals schon begriff. Gewiß war es in den Augen des väterlichen Gesprächskreises »eine fürchterliche Schweinerei«, wenn da ohne ordentlichen Gerichtsbeschluß einfach Menschen erschossen worden waren. Aber man müsse, so etwa lief die Diskussion nach dieser prinzipiellen Feststellung weiter, doch auch einmal die andere Seite bedenken. Waren in der deutschen Geschichte Versuche einer gewaltsamen Bereinigung politischer Krisen nicht fast regelmäßig an der zimperlichen Gefühlsduselei der Verantwortlichen gescheitert?
In bezeichnendem Unterschied zu vergleichbaren Situationen in England oder in Frankreich etwa, wo man — siehe Oliver Cromwell oder Französische Revolution — keineswegs davor zurückgeschreckt war, notfalls auch einmal ein blutiges Exempel zu statuieren? Kursierte nicht im Ausland, wo man uns ohnehin verachtete, die höhnische — leider aber treffende — Bemerkung, daß Deutsche, wenn sie bei einer Revolution einen Bahnhof zu erstürmen gedächten, erst einmal eine Bahnsteigkarte lösen würden? Die alten »Offizierskameraden«, die an diesen Gesprächen teilnahmen, verfehlten an dieser Stelle nicht, in ohnmächtigem Zorn daran zu erinnern, daß man auch bei der Meuterei des Jahres 1918 aus »Humanitätsduselei« den unverzeihlichen Fehler begangen habe, nicht, »wie es jede andere Nation in der gleichen Lage ohne mit der Wimper zu zucken getan hätte, kurzerhand jeden zehnten Mann an die Wand zu stellen«.
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Nicht wenige von ihnen glaubten allen Ernstes, daß sich die »Schande der Niederlage« durch solch »hartes Durchgreifen« hätte abwenden lassen.*
Daß die Nationalsozialisten sich frei gezeigt hatten von dieser typisch deutschen Schlappheit, war imponierend, wie man widerwillig zugeben mußte. Und gerade als Militärperson dürfe man schließlich nicht vergessen, wer den Schaden bei der ganzen Abrechnung davongetragen habe: die SA, die Privatarmee Hitlers aus der »Kampfzeit«. Daß er sie so energisch in ihre Schranken verwiesen und damit klargestellt habe, daß er neben der Reichswehr keine pseudomilitärische Konkurrenz dulde, sei ebenso zu begrüßen wie der Umstand, daß seine Leute diese Klärung selbst besorgt hätten. Der eigene Stand habe sich die Finger bei dieser Geschichte nicht schmutzig gemacht. Dies etwa war die Version, mit der man sich »in unseren Kreisen« gegen Skrupel immunisierte. Daß sie meinem Vater nicht so recht schmecken wollte, lag wahrscheinlich daran, daß er von der »Säuberungsaktion« dank der Treviranus-Affäre — über die allen Außenstehenden gegenüber weiterhin absolutes Stillschweigen bewahrt wurde — eine etwas konkretere Vorstellung hatte als seine Gesprächspartner.
Natürlich gab es noch andere Symptome, Anzeichen, die uns aus dem verführerischen Rausch nationaler Euphorie und neugewonnener wirtschaftlicher Zuversicht hätten aufschrecken müssen. Unser Hausarzt, Dr. Michaelis aus Neubabelsberg, war Jude. Anläßlich seiner Hausbesuche, bei denen er dann mit meiner Mutter meist auch eine Tasse Kaffee zu trinken pflegte, wurde darüber ganz unbefangen gesprochen. Ebenso über seine preußisch-patriotische Einstellung und die Tatsache, daß er als Offizier im Weltkrieg das Eiserne Kreuz I. Klasse bekommen hatte. Aus seiner Abneigung und seinem Mißtrauen Hitler gegenüber machte Dr. Michaelis keinen Hehl. Ich erinnere mich noch, daß er Hitler einen unberechenbaren Neurotiker nannte, der hoffentlich bald abgewirtschaftet haben werde, und daß meine Mutter diesem Wunsch — den ich auch von meinem Vater schon gehört hatte — beipflichtete. Eines Tages aber mußten wir uns nach einem neuen Hausarzt umsehen, weil Dr. Michaelis ziemlich plötzlich »ins Ausland gegangen war«. Meine Eltern bedauerten das, fanden es aber »sehr vernünftig«.
* Ganz abgesehen von der moralischen Qualität dieses Vorschlags, stellt er ein überwältigendes Beispiel für den alle Diskussionen der damaligen Zeit kennzeichnenden Realitätsverlust dar: Der Waffenstillstand war keineswegs unter dem Einfluß meuternder Einheiten, sondern auf den ausdrücklichen Wunsch der Obersten Heeresleitung abgeschlossen worden, die Ende September 1918 endgültig zu der verspäteten, aber richtigen Überzeugung gekommen war, daß der Krieg militärisch nicht mehr zu gewinnen sei.
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In der Wannseestraße, einen Block vor der Straße, in der Schleicher erschossen worden war, wohnten Herr Hirschfeld und seine Frau in einer uns luxuriös erscheinenden Villa mit großem Garten. Beide waren, wie jedermann wußte, ebenfalls Juden. Sie kauften häufig in Potsdam ein, wobei sie meist nicht mit dem eigenen Auto fuhren (das sie selbstverständlich hatten), sondern mit dem Bus, was damals noch nicht als Armutszeugnis galt, sondern als Ausdruck eines preußisch-zurückhaltenden Lebensstils. Daher fuhr ich oft mit ihnen zusammen, wobei sie sich lebhaft mit mir unterhielten.
Das kinderlose Ehepaar lud mich und andere Kinder mehrmals zu Gartenfesten mit Kaffee und Kuchen zu sich ein, einfach so, aus purer Freundlichkeit. Auch Hirschfelds waren eines Tages verschwunden, und ihr Haus stand monatelang leer mit der ganzen Einrichtung, Möbeln und allem. Sie seien nach England gezogen, hieß es im Ort. Auch unser Musiklehrer Huldschinsky trat seine Stelle im Viktoria-Gymnasium ein wenig unvermittelt an einen Nachfolger ab, den wir nicht mochten. Sie alle sind damals, in den ersten Jahren nach 1933, gewiß mit dem Leben davongekommen, wenn auch nicht mit ihrer Habe. Man fand das bei uns zu Hause zwar »nicht in Ordnung«, regte sich aber nicht sonderlich darüber auf.
Es hilft nichts, selbst wenn es schwerfällt, darf ich nicht verschweigen, daß der »in unseren Kreisen« damals wie selbstverständlich grassierende latente Antisemitismus es auch meinen Eltern erleichtert haben dürfte, über derartige Vorkommnisse hinwegzusehen. Die Eltern fanden Dr. Michaelis und Hirschfelds zwar sympathisch und unterhielten sich gern mit ihnen. Sie wären als Augenzeugen irgendwelcher konkreten Schikanen ihnen gegenüber ehrlich entrüstet gewesen. Andererseits aber fand mein Vater überhaupt nichts dabei, in geselliger Runde »Judenwitze« mit deftig antisemitischer Tendenz zu erzählen und sich köstlich darüber zu amüsieren. Nicht die wenigsten aus seinem Repertoire stammten noch aus kaiserlicher Zeit. Eine typische Kostprobe: »Zwei Juden fielen in den Rhein / man hörte sie entsetzlich schrei'n / ob sie wohl ersoffen? / Wir woll'n das Beste hoffen!« Die Doppeldeutigkeit der Schlußzeile erheiterte meinen Vater ungemein. Gleichzeitig galt einer meiner besten Schulfreunde im damaligen Sprachgebrauch als Mischling 2. Grades.
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Er besuchte wie wir alle das Viktoria-Gymnasium bis zum Abitur. Er meldete sich dann allerdings, als wir anfingen, zu studieren, »freiwillig« zum Militär, weil er sich davon einen gewissen Schutz für seinen als Landrat schon 1933 »aus dem Amt entfernten« Vater versprach. Ich würde niemandem widersprechen, der mir vorhielte, mit diesen Stichworten hätte ich eine Situation beschrieben, die als schizophren anzusehen sei.
Alle diese Indizien bröckelnder Rechtsstaatlichkeit und Humanität wurden von uns hingenommen - ein beschämendes und daher wenigstens heute einzugestehendes Versagen. Sie gingen unter in der Euphorie allgemeiner nationaler Begeisterung. Die deutschen Patrioten hatten jahrzehntelang so sehr unter der Erniedrigung des Vaterlandes gelitten, daß sie sich jetzt kaum zu fassen wußten vor Freude über die rasch und mit geradezu befreiender Entschiedenheit von der neuen Regierung unternommenen Schritte zur Wiedererlangung der nationalen Würde. An der Spitze stand dabei die in direktem Widerspruch zu den Bestimmungen des »Schanddiktats von Versailles« eingeleitete Wiederaufrüstung — endlich brachte jemand den Mut auf dazu!
In dieser Phase des Ablaufs, in der die Katastrophe heranreifte, konnte von einer »Machtergreifung durch die Nazis« keine Rede mehr sein. Die Formel unterstellt ja — und manchem ist das nachträglich vermutlich nicht unlieb —, daß die Nazis wie Fremdlinge, quasi wie eine von außen kommende Besatzungsmacht, den Staat in ihren Besitz gebracht hätten, gegen den »Willen der Deutschen«, um mit ihm nach Gutdünken zu verfahren. Diese aus naheliegenden Gründen heute bevorzugte Sprachgewohnheit weist implizit »den Nazis« die alleinige Verantwortung für alles Unrecht zu, während sie zugleich »die Deutschen« als von den braunen Usurpatoren erkennbar zu unterscheidende überrumpelte Opfer erscheinen läßt. So habe ich das aber keineswegs in Erinnerung. *
* Am 2. August 1934 starb Reichspräsident von Hindenburg. Noch am selben Tage ernannte Hitler sich zum »Führer und Reichskanzler«. Er war damit offiziell alleiniges Staatsoberhaupt und Oberbefehlshaber der Wehrmacht, wobei er, um dem verstorbenen Hindenburg »seinen besonderen Respekt zu erweisen«, auf den Titel »Reichspräsident« ostentativ verzichtete (was ihn nichts kostete). Zwei Wochen später wurde eine Volksabstimmung durchgeführt, bei der die Wähler sich durch ein »Ja« mit Hitlers Ernennung einverstanden erklären oder ihr durch Ankreuzung eines »Neins« widersprechen konnten. Nach Ansicht maßgeblicher Historiker hat es sich noch um eine (die letzte) freie und geheime Wahl gehandelt. Bei dieser Gelegenheit stimmten nun fast neunzig Prozent aller Wähler mit »Ja«.
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Für das erste Jahr nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler mag das Szenario eine gewisse Berechtigung haben, für die Zeit also, in der Göring als preußischer Ministerpräsident unter Mitwirkung der braunen Statthalter in den Ländern des Reiches rücksichtslos für die Besetzung aller Behördenpositionen mit Gesinnungsgenossen sorgte. Es gelingt mir rückblickend jedoch immer schwerer, auch in den anschließenden Jahren noch mit solcher Eindeutigkeit zwischen »den Deutschen« und »den Nazis« zu unterscheiden.
Was ist unter einem Nazi zu verstehen? In brauner Uniform liefen von den Erwachsenen unter unseren Nachbarn und Bekannten die wenigsten herum. Es waren fast ausnahmslos die Primitivsten und Vulgärsten ihrer jeweiligen Umgebung, die es taten. So in unserer Schule, an der es nur zwei Lehrer gab — Pietsch und Soroker —, die in SA-Uniform zum Unterricht erschienen. Der eine war in unseren Schüleraugen ein ordinärer Spießer, der andere, Hilfsturnlehrer, ein dümmlicher Kraftprotz. Respekt hatten wir vor keinem von beiden. Aber Nazi seiner Gesinnung nach konnte man auch ohne Uniform sein und ohne die bewußte oder bekundete Bereitschaft, sich über Recht und Moral hinwegzusetzen
Da war etwa unser langjähriger hochgeachteter Klassenlehrer Dr. Catholy, »Cato« genannt, Altphilologe und begnadeter Pädagoge. Keiner von uns hat ihn je in brauner Uniform gesehen. Als Nazi aber würde ich ihn aus der Erinnerung, aller menschlichen Zuneigung ungeachtet, auch dann noch diagnostizieren, wenn er niemals ein Hakenkreuz am Revers getragen hätte. Der Typ des Nazis, den er verkörperte, ist aus ebenso verständlichen wie dubiosen Gründen von den meisten freilich längst vergessen worden. Man stellt sich die Nazis heute lieber martialisch und unverhüllt brutal vor — nicht so normal und scheinbar harmlos liebenswert, wie »Cato« es war —, ein zierliches Männlein, das uns kaum bis zur Schulter reichte. Er erhängte sich nach Kriegsende in russischer Haft, und ich gedenke seiner heute noch mit mitleidiger Anhänglichkeit. Aber Leute wie er, da gibt es für mich keinen Zweifel mehr, bildeten die wirkliche Gefahr. Mit der Hilfe ihrer braun- oder schwarzuniformierten Gesinnungsgenossen allein hätten Hitler und seine Komplizen es niemals geschafft, ganz Europa zu verwüsten.
Mit leuchtenden Augen und fast religiöser Inbrunst stimmte »Cato« uns darauf ein, das »Dulce et decorum est, pro patria mori« als Glaubensinhalt zu verinnerlichen: »Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben« — wenn er das in seinem geliebten Latein deklamierte, bebte seine Stimme vor Ergriffenheit.
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Er lehrte uns das antike Rom in solcher Anschaulichkeit kennen, daß ich seine Überreste bei einem späteren Besuch ohne Stadtplan aufzufinden in der Lage war. Aber mit der gleichen Inbrunst und Suggestivität pries er auch die Spartaner dafür, daß sie ihre schwachsinnigen und mißgebildeten Kinder auszusetzen pflegten, anstatt das Gemeinwesen in falsch angebrachter Sentimentalität mit ihrer Pflege zu belasten.
Die Repräsentanten völkischer Begeisterung und chauvinistischen Überschwangs pflasterten dem Unheil nicht weniger gründlich die Aufmarschstraßen als die primitiven oder auch zynisch-opportunistischen Nachbeter der braunen Ideologie. Beides ging nahtlos, ohne definierbare Trennungslinie, ineinander über. Den offiziellen Mythos, demzufolge unter anderem unsere germanischen Vorfahren samt und sonders heldische Übermenschen voller Edelmut gewesen seien, fanden die meisten von uns komisch. Aber daß es auf der ganzen Erde kein einziges Volk gab, das es an Tüchtigkeit, Mut und Seelengröße mit uns Deutschen aufnehmen konnte, das hielt die gleiche Mehrheit für glaubhaft. Ich muß an meine Patentante Elisabeth denken, unverheiratete Schwester meines Vaters. Sie haßte und verachtete die »braunen Kerle« von ganzem Herzen. Aber sie brachte es auch fertig, am Heiligen Abend, den sie regelmäßig bei uns verbrachte, nach einem langen verträumten Blick auf den brennenden Tannenbaum mit umflorter Stimme zu erklären, daß die Innigkeit, die ein deutsches Weihnachtsfest auszeichne, keinem anderen Volk auf der Welt gegeben sei.
Ich muß in diesem Zusammenhang sogar an meinen Vater denken, der doch als erster in der Verwandtschaft klar erkannte, wohin die Reise ging, und an seinen Kommentar zu einer kleinen Episode in unserer Schule. Wir hatten einen Französischlehrer, der im Auftrag des V.d.A., des »Vereins für das Deutschtum im Ausland«, mehrere Jahre in Ostasien gewesen war (was ihm in unserer Klasse prompt den Spitznamen »Erwin aus Japan« eingetragen hatte). Dieser brave Mann schilderte uns eines Tages in strahlendem Stolz die Bewunderung der Japaner für die Qualität deutscher Produkte, die denen aller anderen Länder haushoch überlegen seien. Ich erzählte das zu Hause und fügte hinzu, es komme mir einfach unwahrscheinlich vor, daß die Deutschen auf schlechterdings allen Gebieten führend seien. Die prinzipielle Unwahrscheinlichkeit des Sachverhalts stritt mein Vater gar nicht ab, gleichzeitig setzte er aber hinzu, so sei es erwiesenermaßen nun einmal.
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Man macht es sich zu leicht und das, was nach 1933 in Deutschland geschah, wird unerklärlich, wenn man es nur als Folge des Einbruchs einer speziellen Ideologie zu verstehen versucht, die damals unversehens vom Himmel fiel. Ob jemand Nazi gewesen ist oder nicht, darüber entscheidet nicht allein die Mitgliedschaft in der NSDAP, der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei. Auch wer damals an keiner einzigen verbrecherischen Handlung teilnahm, hat in meinen Augen nicht schon deshalb das Recht, heute zu behaupten, er sei »nie Nazi gewesen«. Der sozusagen normale Nazi der Vorkriegsjahre war im juristischen Sinne keineswegs ein Verbrecher. Er war nur jemand, dessen Kopf von Idealen und Vorurteilen beherrscht wurde, deren kollektive Vervielfältigung zu jener gespenstischen Atmosphäre beitrug, der die Greuel und Abstrusitäten des Dritten Reichs entsprangen.
Der Vater meiner damaligen Tanzstundenflamme, ein überkorrekter preußischer Beamter höheren Ranges, von schüchternem Wesen, ein regelrechter »Spitzweg-Charakter«, erläuterte mir bei einem meiner Besuche in seinem Hause leuchtenden Auges, warum die Einrichtung der Arbeitsdienstpflicht für alle deutschen Jugendlichen eine so herrliche Sache sei. Er glaubte fest daran, daß die Verpflichtung aller jungen deutschen Menschen zu einem halben Jahr anstrengender körperlicher Arbeit in »frischer freier Luft« unweigerlich dazu führen müsse, daß die Deutschen von nun ab von Generation zu Generation immer schöner würden, von »edlem Körperbau, der sich immer mehr dem griechisch-klassischen Ideal annähern« werde.
Auch er war mit Sicherheit nicht das, was man sich heute unter einem Nazi vorzustellen pflegt. Die schwärmerische Entschiedenheit jedoch, mit der er sich auf seine naive Weise für eine Unterordnung des Individuums unter das »völkische Gemeinwohl« aussprach, förderte ebenfalls die Entwicklung des kollektiven Wahnsinns um ein winziges Quentchen.
In diesem weiteren Sinne waren selbstverständlich auch die meisten von uns Schülern damals Nazis, nämlich Unterstützer und Träger des Systems. Wir mochten noch so sehr über die Partei lästern (das war in den Klassen des Potsdamer Viktoria-Gymnasiums an der Tagesordnung und wurde auch von den meisten Lehrern geflissentlich überhört).
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Nur die allerwenigsten von uns widerstanden jedoch der Versuchung, sich für die Panzer, Kriegsschiffe und Flugzeuge zu begeistern, die man jetzt in Deutschland, nach »Wiedergewinnung der Wehrhoheit«, zu bauen begann. Im Gegenteil, wir waren stolz darauf. Ich erinnere mich gut der erwartungsvollen Aufmerksamkeit, mit der ich eines Sonntags im Park von Sanssouci eine Gruppe englischer Touristen beobachtete, als zufällig eine Staffel der neuen Messerschmitt-Jagdflugzeuge über unsere Köpfe hinwegdonnerte. (Eine Me 109 hatte kurz zuvor gerade mit über 700 Stundenkilometern einen sagenhaften neuen Geschwindigkeitsweltrekord aufgestellt!) Ich hoffte, daß die unüberhörbare Demonstration überlegener deutscher Technik einen mimisch erkennbaren Ausdruck des Erstaunens auf die Gesichter dieser Ausländer zaubern werde, die bisher über Deutschland immer nur verächtlich gelächelt hatten, wie ich sicher zu wissen glaubte. Damit war jetzt Schluß! Kein Zweifel, die Zeiten hatten sich gebessert, ganz entscheidend sogar.
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Was uns in diesen Vorkriegsjahren so sicher und optimistisch stimmte, war nicht allein die unübersehbare Besserung der materiellen Situation, die sich freilich dramatisch genug abhob vor dem Hintergrund der Not und Hoffnungslosigkeit, die in aller Gedächtnis noch lebhaft gegenwärtig waren. Unsere Zuversicht wurde noch von einem anderen Gefühl bestärkt, das die meisten von uns gegen alle Zweifel und Bedenken abschirmte. Das war die instinktive Gewißheit, daß unser Vaterland, das »neue Deutschland«, im Recht war und sich sieghaft durchsetzen würde, wenn wir sein Schicksal von jetzt ab entschlossen unserer neu gewonnenen Kraft anvertrauten.
In unseren Köpfen begann der Gedanke Fuß zu fassen, daß das Recht eines Staates letztlich eine Frage seiner Stärke sei. Die Deutschen waren, jedenfalls in unseren Augen, von jeher gottesfürchtig und rechtschaffen gewesen, fleißig und beseelt von den besten Absichten, gutmütig und stets darauf bedacht, mit ihren Nachbarn in Frieden auszukommen. Und was hatte ihnen das eingebracht? Erst war Ludwig XIV. bei uns eingefallen — die Ruine des Heidelberger Schlosses zeugte davon —, dann waren wir von Napoleon unterjocht worden.
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Und während die deutschen Duodezfürsten* in weltfremder Schwärmerei Künste und Wissenschaften kultivierten und ihre braven Untertanen betulich die Vorgärten pflegen ließen, hatten die Engländer ein koloniales Imperium zusammengerafft, auf das gestützt sie die Welt und ihre Märkte zu beherrschen gedachten. Deutschland dagegen hatte sich kleinstaatlicher Selbstgenügsamkeit hingegeben und alle Chancen verschlafen. Als sich das Bismarck-Reich dann endlich, spät genug, seiner legitimen Ansprüche als gleichberechtigte Großmacht entsann, war eine von Mißgunst und Neid beseelte »Welt von Feinden« über das Vaterland hergefallen. Die Oberhand gewonnen hatte diese Übermacht, weil man 1918 nicht entschlossen reagiert und die Flinte zu früh ins Korn geworfen hatte.
* detopia: Duodezfürst: Chef eines Zwergstaates => wikipedia Zwergstaat
Nach dem Krieg hatte sich das nationale Trauerspiel im gleichen Stil fortgesetzt: Deutschland hatte die Bestimmungen des Versailler Diktats folgsam wie ein Musterschüler erfüllt und total abgerüstet. Die ehemaligen Feindnationen dagegen hatten sich, während sie im Völkerbund alle Welt mit heuchlerischen Bekundungen ihrer angeblichen Verständigungsbereitschaft einlullten, bis an die Zähne bewaffnet und ihre Überlegenheit skrupellos dazu benutzt, Deutschland wirtschaftlich nach Herzenslust auszuplündern.
Was folgte aus alledem? Welche Lehre war es, die man aus diesen Erfahrungen zu ziehen hatte? Die Frage ließ nur eine Antwort zu: »Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.« Nun ist gegen diese Maxime grundsätzlich nichts einzuwenden. Das deutsche Selbstverständnis der postweimarer Epoche ergänzte den Spruch jedoch stillschweigend zu dem Gebot: »Hilf dir selbst — und zwar mit allen Mitteln.« Offensichtlich genügte es nicht, wenn man legitime Ansprüche vorweisen konnte. Es kam darauf an, sie durchzusetzen. Und das mußte man selbst besorgen (geschenkt wurde einem in dieser Welt nichts), und dies »mit rücksichtsloser Entschlossenheit«, wie eine Lieblingswendung der Nazis es ausdrückte.
Rücksichtslosigkeit war eine positive Eigenschaft, das galt es endlich zu begreifen. Sie war in Wahrheit so etwas wie das Gütezeichen offener, ehrlicher Stärke, letztlich also eine »germanische Tugend«. Wer zuließ, daß seine Tatkraft durch moralische Skrupel gehindert wurde, den vollen Umfang ihrer Möglichkeiten auszuschöpfen, der war nicht etwa, wie sentimentale Kritiker es einem weismachen wollten, ein »besserer Mensch«. Der war bloß ein Schwächling, nichts anderes.
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Und ein Dummkopf obendrein, denn er war damit auf einen Trick seiner Widersacher hereingefallen, die ihn daran hindern wollten, sich sein Recht zu nehmen (was sie ihrerseits keinen Augenblick zögern würden zu tun, sobald man ihnen die Möglichkeit dazu lieferte). Auf die kürzeste Formel gebracht: Wenn man bei der Durchsetzung seiner legitimen Ansprüche nur rücksichtslos genug vorging, konnte der Erfolg nicht ausbleiben.
Das alles ließ sich sogar beweisen. Indem der »deutsche Mensch« sich - spät genug - auf das »Recht des Stärkeren« besann, übernahm er nämlich bloß das Gesetz der seit Ewigkeit siegreichen Natur, so lehrte man es uns jetzt im Biologieunterricht. Diese verdankte die Unerschöpflichkeit der Kraft, mit der sie alles Leben hervorgebracht hatte und erhielt, allein der Tatsache, daß sie dieses Prinzip seit dem Anfang der Zeiten zur obersten Richtschnur ihres Wirkens gemacht hatte. Gnadenlos hatte sie ausgemerzt, was schwach war. Überlebt hatte unter ihrem »ehernen Gesetz« nur das Starke. Alles, was der Mensch an Lebenswertem in der Natur vorfand, existierte allein deshalb, weil es den niemals endenden »Kampf ums Dasein« erfolgreich bestanden hatte, der unerbittlich nur die »Tüchtigsten« überleben ließ. Alles, was sich schwächlich oder krank gezeigt hatte, war als lebensunwert auf der Strecke geblieben. Diesem Gesetz zuwiderzuhandeln war reine Dummheit. Ihm zu gehorchen bedeutete, sich einem Prinzip anzuvertrauen, das den Erfolg garantierte.
Nun vermag nichts ein menschliches Kollektiv stärker zu beflügeln als die berauschende Überzeugung, im Einklang zu sein mit einem übergeordneten Gesetz, das über alle Fallstricke menschlicher Fehlbarkeit erhaben ist — sei es nun das Gesetz der Geschichte oder eines der Natur. Ein solcher Rausch hatte eine Mehrheit von uns damals erfaßt (ohne daß wir uns unserer psychischen Verfassung bewußt gewesen wären). Er erfüllte uns mit einer Sicherheit, vor der alle Realitäten und Zweifel verblaßten. Das Rezept schien ebenso einfach wie unwiderlegbar: Der Entschluß, die »völkischen Interessen« mit allen Mitteln durchzusetzen, ohne sich durch irgendwelche neben der Sache liegenden Skrupel oder Einwände beirren zu lassen, war nicht nur legitim, nämlich im buchstäblichsten Wortsinn »die natürlichste Sache der Welt«, sondern deshalb auch das Erfolgsrezept schlechthin.
Räusche sind immer gefährlich, weil sie die Realität - scheinbar - außer Kraft setzen. Das zieht früher oder später unvermeidlich schmerzhafte Erfahrungen nach sich, ob nun im Straßenverkehr oder bei der Bestimmung des gesellschaftlichen Kurses. Unser damaliger Rausch erwies sich bekanntlich als tödlich.
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Wie ist es zu erklären, daß ein ganzes Volk ihm anheimfiel? Der Hinweis auf den tiefsitzenden nationalen Minderwertigkeitskomplex, der ihm fraglos mit den Boden bereitete, genügt allein nicht. Die unheimliche, intuitive Sicherheit, mit der dieser Mann namens Adolf Hitler seine kollektive Wucherung vorantrieb — von »nachtwandlerischer Sicherheit« hat er selbst gesprochen —, setzt die besondere Virulenz dieses Wahns voraus.
Mir scheint, daß zum Verständnis des Phänomens politisch-historische Erklärungen allein — und ihrer gibt es mehr als genug — nicht ausreichen. Sie bedürfen der Ergänzung durch eine wissenschaftsgeschichtliche Erfahrung. Gemeint ist hier die fast immer ignorierte Tatsache, daß das von der Summe naturwissenschaftlicher Einzelerkenntnisse gebildete Wissen einer bestimmten Epoche ohne jegliches Zutun der Zeitgenossen seinen Niederschlag in einem »Weltbild« findet, das als unbewußte Handlungsanleitung wirksam wird. Dieser Zusammenhang zwischen dem Stand unseres Wissens über die Welt und der Beschaffenheit der Maßstäbe, mit deren Hilfe wir uns in dieser Welt zurechtzufinden versuchen, wird nicht nur meist ignoriert. Er wird auch heute noch nicht selten rundheraus bestritten.
Wer versucht, seinen Mitmenschen die fundamentale Bedeutung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse nahezubringen — für das Selbstverständnis eines Wesens, das sich in diesem Kosmos vorfindet und nach dem Sinn der eigenen Existenz zu fragen begonnen hat —, wird diese Erfahrung immer wieder machen.
»Das mag ja alles recht interessant sein«, so etwa bekommt er dann zu hören, »aber was hat das mit meinen persönlichen Sorgen zu tun, was nützt mir dieses Wissen im Umgang mit meinen Kindern oder bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme?« Ob und auf welche Weise dieses Wissen im Alltag »helfen« kann, sei hier nicht erörtert. Wer so fragt, ist offensichtlich blind für das Ausmaß, in dem seine alltäglichen Ansichten und Entscheidungen vom Stand und von der Qualität dieses Wissens beeinflußt sind, und zwar gänzlich unabhängig davon, ob er dieses Wissen bewußt zur Kenntnis genommen hat oder nicht — und das ist das eigentlich Bedeutsame daran.
Das anschaulichste Beispiel für diesen Sachverhalt bietet in meinen Augen nach wie vor der gewöhnliche Blitzableiter. Seine Erfindung setzte die Entdeckung elektrischer Felder in der Atmosphäre voraus und die Einsicht, daß Blitze nichts anderes sind als der bei ihrer Entladung auftretende Funkenschlag.
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Der Blitzableiter ist lediglich die technische Nutzanwendung dieses Resultats naturwissenschaftlicher Grundlagenforschung und keineswegs etwa die wichtigste Neuerung in ihrem Gefolge. Die wirklich revolutionierende Veränderung hat sich in diesem Falle nicht auf den Dächern unserer Häuser abgespielt, sondern in den Köpfen ihrer Bewohner: Sie hat im Bewußtsein der Menschen den Dämon, der aus den Wolken auf sie zielte und vor dem ihre Vorväter sich seit unvordenklicher Zeit gefürchtet hatten, auf ein Naturgesetz reduziert, das nichts von ihnen weiß.
So ist es in allen Fällen naturwissenschaftlicher Entdeckungen: Sie verändern die Art und Weise, in der die Welt sich in unseren Köpfen spiegelt. Und mit einer solchen Veränderung ändern sich auch die Maßstäbe und Vorstellungen, die wir unserem Umgang mit der Welt zugrunde legen. Die Folgen sind mitunter dramatisch und beeinflussen den Gang der Geschichte. Ein Beispiel dafür — das von den Historikern gleichwohl ignoriert wird — liefern die gesellschaftlichen Konsequenzen der eben in mehr als einem Sinne revolutionierenden Entdeckungen der Astronomie im 16. und 17. Jahrhundert. Es ist keine Übertreibung, sie »weltbewegend« zu nennen.
Das wird in manchen Ohren unglaublich klingen, denn die Astronomie gilt zu Recht als Schulbeispiel »zweckfreier« Grundlagenforschung. Also bewirkt sie auch nichts, folgern viele daraus. Das Gegenteil ist der Fall. Auch die Astronomie kann, weil sie naturwissenschaftliche Grundlagenforschung betreibt, auf eine alle technischen Konsequenzen an Radikalität weit übertreffende Weise die Welt verändern: in den Köpfen der Menschen nämlich. Ich denke an die Tatsache, daß die Entdeckung der »Revolutionen« (Umläufe) der altbekannten Planeten um die erst damals als Zentralgestirn erkannte Sonne soziale Revolutionen in der auf der Oberfläche der Erde hausenden menschlichen Gesellschaft nach sich zog.*
* »De revolutionibus orbium coelestium« (»Über die Umläufe der Himmelskörper«) hatte Nikolaus Kopernikus sein 1543 erschienenes sechsbändiges Hauptwerk genannt. Das im Text gewählte Beispiel habe ich schon mehrfach behandelt, unter anderem in: »Evolutionäres Weltbild und theologische Verkündigung« (1983); abgedruckt in: »Unbegreifliche Realität«, Hamburg 1987.
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Man braucht sich bloß klarzumachen, daß der scheinbar hierarchische Aufbau des Kosmos für die Menschen bis dahin die hierarchische Struktur der Feudalgesellschaft, in die sie hineingeboren wurden, getreulich widerspiegelte. So, wie sie durch den Zufall ihrer Geburt ihren festen Platz in dieser Gesellschaft gefunden hatten, irgendwo innerhalb der ständischen Ordnung, die sich vom Bettler und Leibeigenen als niedrigsten Mitgliedern über Handwerker, freie Bürger und den niederen Adel bis zum regierenden Fürsten als krönender Spitze des Systems spannte, so schien auch der Himmel über ihren Köpfen in einer festen Rangordnung organisiert: In der sublunaren Sphäre, »unter dem Mond«, hatte die Erde ihren Platz, niedrigstes Element der kosmischen Ordnung, immerhin aber im Mittelpunkt des Universums und damit im Zentrum der göttlichen Aufmerksamkeit gelegen.
Über ihr erhoben sich die Sphären der Wandelsterne, dann die der unbeweglich am Firmament angehefteten Fixsterne, hinter denen erst das eigentliche himmlische Reich begann. Auch dieses war in der Vorstellung der Menschen hierarchisch aufgebaut, beginnend mit den Gefilden der Seligen über die der Heiligen, der Engel und Erzengel bis hin zu Gottvater selbst als oberstem Herrscher an der Spitze des Ganzen.
Die Menschen des Mittelalters verstanden die ihr Leben bestimmende Gesellschaftsordnung als eine Abbildung der Ordnung, die am Himmel herrschte. Sie wurde in ihren Augen damit — auch wenn sie sich dessen kaum bewußt gewesen sein dürften — als selbstverständliche, da naturgegebene, ja »gottgewollte« Ordnung legitimiert. Diese scheinbare Legitimation aber verlor ihre Grundlage, als kluge Köpfe mit wissenschaftlichen Argumenten nachzuweisen begannen, daß die himmlische Hierarchie in Wirklichkeit nicht existierte. Daß es sich bei ihr um eine perspektivische Illusion handelte.
Auch auf einem anderen Stern würden wir uns im Mittelpunkt des Universums glauben und von dort aus den Eindruck gewinnen, daß nunmehr die Erde an seinem Rande stände, lehrte der abtrünnige Dominikanermönch Giordano Bruno 1586 in Paris.* Er war auch der erste, der in einem genialen Akt der Abstraktion den Gedanken faßte, daß die Sterne am Himmel nichts anderes seien als ungeheuer weit entfernte Sonnen von der Art unserer eigenen. Das ganze Universum war, soweit der Mensch blicken konnte, gleichmäßig von ihnen erfüllt, verkündete Bruno, und sie würden vermutlich ebenfalls von Planeten umkreist, so daß »mit einer Unendlichkeit bewohnter Welten« zu rechnen sei.
* Die Argumente Brunos und seine bis heute unterschätzte geistesgeschichtliche Rolle (auf ihn geht die revolutionäre »Wende« in Wahrheit zurück, die wir mit dem Namen des Kopernikus zu verbinden pflegen) habe ich ausführlicher in dem Aufsatz »Giordano Bruno — der unbekannte Revolutionär« abgehandelt; abgedruckt in: »Unbegreifliche Realität«, Hamburg 1987.
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Als »Homogenität des Universums« bezeichnet die moderne Kosmologie diese Einsicht: Kein Punkt (oder Ort) im Weltall ist vor den anderen ausgezeichnet, und überall im Kosmos sind die grundsätzlich gleichen astronomischen Objekte statistisch gleichmäßig verteilt. Wir halten das längst für selbstverständlich. Vor 400 Jahren aber wurde man für solche Aussagen von der weltlichen Obrigkeit noch mit Billigung der Kirche verbrannt. Man darf sich den Schock nicht zu gering vorstellen: Mit der hierarchischen Ordnung am Firmament brach ein scheinbar sichtbarer Beweis für die himmlische Ordnung in sich zusammen und mit ihm die am Himmel »sichtbare« Legitimation der feudalen Struktur der menschlichen Gesellschaft.
Kein Zeitgenosse dürfte das seinerzeit so klar gesehen haben, wie es sich uns heute im historischen Rückblick zu erkennen gibt. Aber nachträglich ist kaum ein Zweifel daran möglich, daß die in den folgenden Jahrhunderten auf der Erde ablaufenden sozialen Revolutionen auch durch die damals am Himmel der Astronomen erfolgten Revolutionen ausgelöst worden sind. Die Demokratisierung des Himmels zog ganz unvermeidlich die Demokratisierung auch der gesellschaftlichen Verhältnisse auf der Erde nach sich. Die Erkenntnis der Gleichheit aller Himmelskörper erweist sich im nachhinein als Voraussetzung der Möglichkeit, den bis dahin unerhörten Gedanken von der Gleichheit aller Menschen fassen zu können. Ein Fortschritt naturwissenschaftlicher Grundlagenforschung hatte das Bild der Welt in den Köpfen der Menschen verändert. Entsprechende Veränderungen innerhalb der Welt der Menschen waren die unausbleibliche Folge.
Wenn man sich darüber klargeworden ist, erhebt sich natürlich sofort die Frage, in welcher konkreten Weise unser modernes Lebensgefühl, die Voraussetzungen der Art und Weise, in der wir mit der Welt und unseren Mitmenschen umgehen, von dem Weltbild beeinflußt sein mögen, das sich als Reflex des heutigen Erkenntnisstandes der Wissenschaft in unseren Köpfen niedergeschlagen hat. Ich will den Versuch einer Beantwortung am Schluß dieses Buches unternehmen. Hier kommt es nur darauf an festzustellen, daß der Zusammenhang besteht und welche Konsequenzen er haben kann. Nachträglich, im Rückblick, ist die Antwort immer relativ leicht.
Und so liegt auch offen zutage, welche naturwissenschaftliche Lehre es war, die dem Weltbild der Nationalsozialisten zugrunde lag und damit die Skala ihrer Wertvorstellungen bestimmte: Es war die Lehre Darwins. Diese Feststellung erfordert einen ergänzenden Zusatz: Es ist ein total verballhornter »Darwinismus« gewesen, der als vermeintlich gültige wissenschaftliche Erkenntnis Eingang in die nazistische Ideologie fand und zu ihrer Legitimation herhalten mußte. Eine »sozialdarwinistisch« verkommene Variante der ursprünglichen wissenschaftlichen Theorie auf einem Niveau, das der Halbbildung der braunen Ideologen würdig war.
Weltbilder haben beklagenswerterweise auch dann den Charakter von Handlungsanleitungen, wenn sie auf noch so falschen Annahmen beruhen.
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