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Epilog 

 

422-432

Natürlich ist mit alledem eine zentrale Lebensfrage noch immer nicht berührt. Es ist gut zu wissen, daß unser Dasein einen Sinn hat, der auf die Existenz des Universums und die Geschichte seiner Schöpfungen gegründet ist. Aber das allein kann uns nicht genügen, so groß der Trost sein mag, den wir aus dem Faktum ziehen.

Der »Sinn« dieses Universums schließt zwar auch uns ein. Er wird auch uns dereinst <erlösen>, am Jüngsten Tag, dann, wenn die kosmische Evolution an ihren Gipfel und Endpunkt gelangt ist und alle Fragen ihre endgültige Antwort finden. Die hoffnungsvolle Aussicht auf diesen letzten Weltaugenblick enthebt uns jedoch nicht der Notwendigkeit, die Gegenwart innerhalb der uns zugewiesenen Lebensspanne nach besten Kräften zu bewältigen.

Da scheint nun guter Rat teuer. Denn woran sollen wir uns halten? Etwas wäre schon gewonnen, wenn wir unseren Glauben an die Existenz totaler Lösungs­rezepte für unsere politischen und gesellschaftlichen Probleme endlich als Aberglauben durchschauten und zu Grabe trügen.

Wie groß der Gewinn wäre, lehrt die Geschichte. Ihre blutigsten Kapitel wurden von denen geschrieben, die herausgefunden zu haben wähnten, wovon das Glück der Menschen abhängt, und die, von dieser Gewißheit beflügelt und jeglicher Zweifel und Rücksichten enthoben, darangingen, ihre Heilslehren gegen alle Widerstände durchzusetzen. Wenn auch nicht — noch nicht! — das blutigste, so doch eines der absurdesten Kapitel steuert unsere heutige Gesellschaft zu dieser Wahnsinnschronik bei in ihrer blinden Entschlossenheit, ihren gegenwärtigen materiellen Komfort auf Kosten ihrer zukünftigen Lebenschancen zu vermehren.

Um auf rational konzipierte gesellschaftliche Erlösungsformeln verzichten zu können, muß man die grundsätz­liche Widersinnigkeit derartiger Konzepte eingesehen haben.

Alle diese Entwürfe erscheinen dem kurzsichtigen Blick verlockend, und alle haben sie sich auf lange Sicht regelmäßig als menschen­feindlich erwiesen. Der Entschluß, auf sie zu verzichten, kann daher rechtzeitig (das heißt vor der Belehrung durch die stets schmerzlichen Folgen) nur gefaßt werden, wenn die Einsicht vorhanden ist, daß eine Gesellschaft, die sich aus nichtrationalen Mitgliedern zusammensetzt, prinzipiell außerstande ist, anwendungstaugliche, rational konzipierte Verhaltensmaximen für ihr Verhalten zu entwickeln.

Homo sapiens aber ist ein Narziß, der in der Illusion schwelgt, daß weder seiner Vernunft noch seiner Freiheit Grenzen gesetzt seien. Das wirksamste Antidot* gegen die selbstverliebte Hybris bestände natürlich darin, ihm die biologische Hälfte seines Wesens unter die Nase zu reiben, angesichts derer die grundsätzliche Beschränktheit seiner Vernunft und die unüberschreitbaren Grenzen seines Freiheitsraumes offenbar werden.

*  (d-2008:)  Antidot: Gegengift, Gegenmittel bei Vergiftungen (aus Fremdwörterbuch) 

Aber der Patient sträubt sich bekanntlich, die Medizin zu schlucken. Naturwissenschaftliche Einsichten trügen, so wiederholt unsere Bildungsgesellschaft unbelehrbar seit Jahrzehnten, zur Erkenntnis des menschlichen Wesens nichts bei.

Aber selbst dann, wenn es eines Tages doch noch gelingen sollte, die Tatsache in die Köpfe zu rammen, daß Homo sapiens an einem konstitutionellen »Verhältnisblödsinn« leidet (so nannten die alten Psychiater leichtere Grade des Schwachsinns, die sich erst bei besonderen Lebensbelastungen manifestieren), daß sein Verstand also auch von den Problemen überfordert wird, denen er sich heute in der von ihm selbst geschaffenen zivilisatorischen Kunstwelt gegenübersieht, selbst dann wäre die Aufklärungsarbeit noch immer nicht abgeschlossen.

Zwar wäre vielen Formen der Selbstverstümmelung segensreich vorgebeugt, wenn die Einsicht sich durchsetzte, daß es kaum eine verheerendere Kombination gibt als die von eingeschränkter Weltsicht und rastloser Aktivität. Selbstverständlich ist die Empfehlung, behutsamer vorzugehen, als wir es heute zu tun pflegen, rücksichtsvoller und immer eingedenk der grundsätzlichen Unvorhersehbarkeit aller Konsequenzen unserer Handlungen, von überragender Aktualität.

Aber auch ihre Befolgung allein — bisher ohnehin eine Utopie — wäre noch immer nicht genug.

Fehlervermeidung allein genügt nicht. Denn wir können die Hände ja nicht einfach in den Schoß legen. Woran also sollen wir uns halten? Ich will hier, am Schluß dieser »Bilanz«, den Versuch machen, meine Antwort auf diese Frage kurz anzudeuten, wobei mir nur allzu klar ist, daß sie auf vielerlei Weise mißver­standen werden kann.

Der einzige verläßliche Halt scheint mir in den alten biblischen Texten vorzuliegen.

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Auf dem Evangelischen Kirchentag 1981 in Hamburg antwortete der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt Jugendlichen, die seinen sicherheits­politischen Thesen (Stichwort: <Nach>-Rüstung) in einer Diskussion das christliche Gebot der Feindesliebe entgegenhielten: »Schließlich kann man die Welt nicht mit der Bergpredigt regieren.«  

Da scheint mir die Gegenfrage am Platze, ob denn die Ergebnisse des seit 2000 Jahren laufenden Versuchs, ohne die Ratschläge dieses berühmtesten Lehrvortrags der Historie auszukommen, wirklich so ermutigend sind, daß sie eine so apodiktische Ablehnung rechtfertigen.

Ich bin davon überzeugt, daß das Gegenteil richtig ist.
Hier ist einigen naheliegenden Mißverständnissen vorzubeugen.

Mit den »biblischen Texten« meine ich keineswegs etwa allein die des Neuen Testaments. Ich pflichte den Theologen bei, die es für einen der kardinalen Irrwege der christlichen Überlieferung halten, daß sie (unter paulinisch-hellenistischem Einfluß) schon sehr früh einen grundsätzlichen Trennungsstrich zwischen ihrer Lehre und der Tradition des Alten Testaments gezogen hat. Jesus hat das »alte Gesetz« nicht außer Kraft gesetzt (»zerbrochen« oder »überwunden«), er hat es - nach eigenem Eingeständnis - erfüllt, ja erweitert und verschärft.*

Der für die frühchristliche Überlieferung charakteristische <Mirakulismus> (Wunderglauben) schließlich ist als nachträgliche <spätgriechische Über­krustung> (Pinchas Lapide) anzusehen, Ausdruck des propagandist­ischen Bestrebens, der festgefügten Heidenwelt eine möglichst überlegene Lehre entgegen­zustellen. Der taktische Sündenfall hat, wie das bei Sündenfällen zu sein pflegt, eine verheerende Spur in der Geschichte des Christentums hinterlassen.

Bis auf den heutigen Tag ist die Zahl der glaubensbereiten Menschen erschütternd groß, die unter dem Irrtum leiden, daß die Stärke und die Echtheit religiöser Überzeugung an der Menge übernatürlicher Gegebenheiten und Vernunftwidrigkeiten abzulesen seien, die jemand intellektuell zu schlucken bereit ist. Jedoch: »Das Fürwahrhalten der einzelnen Aussagen der traditionellen Bekenntnisse ist nicht mehr das Kriterium echten christlichen Glaubens«, schreibt Fritz Maass in seinem erwähnten Buch. Religiöser Glaube ist nicht gleichbedeutend mit dem Fürwahrhalten von Absurditäten, sondern Ausdruck einer bestimmten Lebenshaltung.

* Dazu aus der Sicht eines jüdischen Theologen: Pinchas Lapide, »Er predigte in ihren Synagogen«. Jüdische Evangelienauslegung (Gütersloh 2-1980). Dort auch weitere Literatur. Sehr empfehlenswert ist auch das außerordentlich wichtige kleine Buch des evangelischen Alttestamentiers Fritz Maass, »Was ist Christentum?« (Tübingen 1981; leider vergriffen, aber über Bibliotheken erhältlich).

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Man kann insbesondere der katholischen Kirche den furchtbaren Vorwurf nicht ersparen, daß sie den Gehalt der christlichen Botschaft und die intellektuelle Würde ihrer Mitglieder durch die Anlegung eines »mirakulistischen« Eichmaßes in unchristlicher Weise aufs Spiel setzt. Oder wie anders soll man es nennen, wenn sie einer akademischen Theologin (Uta Ranke-Heinemann) die Lehrbefugnis entzieht, weil diese es ablehnt, ihre Glaubensfestigkeit und Kirchentreue dadurch zu beweisen, daß sie das Dogma von der »jungfräulichen Geburt« bis in anatomische Details hinein wörtlich nimmt.

Eine Institution, die es fertigbringt, die symbolträchtige Metapher von der »Jungfrauengeburt« (die in der Mythologie schon lange vor Christi Geburt auftaucht) auf die krude Ebene eines gynäkologischen Befundes zu reduzieren, um diesen Sachverhalt dann ihren Mitgliedern als unverzichtbaren Glaubens­bestandteil zuzumuten, muß sich die Frage gefallen lassen, was das alles eigentlich noch mit der Botschaft des Jesus von Nazareth zu tun hat.

Ich muß schließlich noch das viele Christen sicher immer noch schockierende Geständnis ablegen, daß für mich auch der Begriff der »Gottessohnschaft« Christi in die eben schon charakterisierte Rubrik des »Mirakulismus« fällt. Es ist mir nicht möglich, das Reden von der »Göttlichkeit« Christi im wörtlichen Sinne für wahr zu halten. Es war für mich eine ungeheure Erleichterung, als ich im Laufe der Jahre dahinterkam, daß ich mit dieser Auffassung in guter Gesellschaft bin. Damit meine ich selbstverständlich nicht den Kreis der respektablen Atheisten und Agnostiker, für die das ohnehin kein Thema ist. Ich meine auch nicht die jüdische Theologie, in deren Verständnis Jesus nie etwas anderes gewesen ist als ein wichtiger und herausragender Prophet (wenn mich diese Auffassung wie viele andere Besonderheiten der jüdischen Lehre auch seit je besonders angesprochen hat).

Erleichtert hat mich die Entdeckung, daß ich mich durch meine Haltung nicht automatisch aus dem christlichen Lager ausgeschlossen habe. Christus sei, so schreibt Fritz Maass, Gottes Stellvertreter auf Erden, Gott habe sich in ihm letztgültig offenbart. Wer hingegen heute noch auf den unserer Sprache fremden Titeln und Bekenntnissen bestehe (»Wahrer Mensch und wahrer Gott«), stelle »Jesus ins Abseits und trägt zur Entchristlichung bei«.

Es sei unwahrscheinlich, daß Jesus sich selbst als »Gottessohn« bezeichnet habe, schreibt der Jesuit Rupert Lay es sei dagegen als ziemlich sicher auszumachen, daß er sich als »Gesandter Gottes« verstanden habe.* Gleichlautende Äußerungen finden sich bei noch vielen anderen modernen Theologen.

* Rupert Lay, »Credo. Wege zum Christentum in der modernen Gesellschaft«, München 1981, S. 35.

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Hinter allen diesen »Überkrustungen« ist nun ein Aspekt der alten Texte für das Bewußtsein unserer Gesell­schaft so gut wie verschwunden, dessen sie heute dringender bedarf als jemals zuvor. Neben ihrem Charakter als vom Jenseits redender Heilsbotschaften, den sie in den Augen der Gläubigen in erster Linie haben dürften, enthalten sie auch ein in Jahrtausenden menschlicher Kultur angesammeltes Wissen vom Menschen selbst. Altes und Neues Testament bestehen nicht nur aus Glaubenssätzen und historischen Berichten. Sie stellen gleichzeitig auch eine Summe höchst konkreter weltlicher Handlungs­anleitungen dar, die auf dem Boden eines in jahrtausendelanger Erfahrung destillierten Wissens von unserer zwiespältigen und widersprüchlichen Natur erwachsen sind. Ein unvergleichlicher Schatz an wahrer Weltklugheit, dessen wir uns bedienen sollten. 

 

So ist, um auf ein konkretes Beispiel zu kommen, etwa die altbekannte Aufforderung, seine Feinde »zu lieben«, nicht ein Appell zu heiligmachender, aber weltferner Selbstüberwindung, wie die kirchliche Verkünd­igungs­praxis es unglücklicherweise meist nahelegt. Die Formel nennt vielmehr ein handfestes Überlebens­rezept. Ich wüßte nicht, wie wir jemals Aussicht darauf haben könnten, unserer Historie den Charakter einer Schlachthauschronik zu nehmen, wenn wir es nicht fertigbringen sollten, unsere Feinde »zu lieben« — was wir angesichts der Werkzeuge, deren sich die Schlächter heutzutage bedienen können, nicht mehr allzu lange werden hinausschieben dürfen. 

Die Einwände sind bekannt. Das übersteige menschliches Vermögen, sagt man uns. »Die Gnadenverheißungen der Bergpredigt beziehen sich eben gerade nicht auf diese unsere Welt«, schreibt der Münchener Politologe Manfred Hättich.**

** Manfred Hättich, »Weltfrieden durch Friedfertigkeit? Eine Antwort an Franz Alt«, München 1983, S. 19. --- Die nüchterne Erbarmungslosigkeit, mit der Hättich die von Franz Alt in seiner bekannten Broschüre (»Frieden ist möglich - Die Politik der Bergpredigt«, 1983) vertretenen Thesen zerpflückt, findet meine Zustimmung. Alt's Argumentation ist in ihrem emotionalen Pathos zwar bewegend, begrifflich jedoch verschwommen und logisch kaum haltbar. Hättich hat mit seiner Polemik aber eben nur die Mängel der Altschen Beweisführung aufgedeckt und keineswegs etwa die Möglichkeit einer anderen (besseren) politischen Auslegung des biblischen Textes widerlegt.

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»Die Bergpredigt ist kein neues Gesetz, sondern eine Aufforderung zur Heiligkeit. (...) Darum kann es keine Politik der Bergpredigt geben«, heißt es bei Dolf Sternberger, der in dem gleichen Zusammenhang auch von dem »asketisch-übermenschlichen Anspruch« der Bergpredigt spricht.* Ablehnende Stimmen dieses Tenors sind fraglos in der Überzahl, aber es sind keineswegs die einzigen. Daß die Forderungen der christlichen Ethik ins Gottesreich gehörten, sei meist eine faule Schutzbehauptung, schreibt Rupert Lay klipp und klar. 

 

Vielleicht ist es am besten, den Widerspruch gegen die Ansicht, die Forderungen der Bergpredigt gehörten nicht in diese Welt, mit der Berufung auf einen Philosophen, nämlich Karl Jaspers, einzuleiten, der betont, er spreche »ohne andere Vollmacht als die des Denkens der Vernunft, die jedem Menschen eigen ist«.** Diese rationale Vollmacht läßt ihn unter ausdrücklicher Berufung auf die Propheten des Alten Testaments zu dem Schluß kommen: »Wer weiterlebt wie bisher, hat nicht begriffen, was droht.« Und: »Ohne Umkehr ist das Leben der Menschen verloren.« 

Nichts anderes wird uns in der Bergpredigt gesagt. »Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch.« Es folgt die Erinnerung daran, daß der Rat nicht erst von Jesus stammt, sondern uralt ist: »Das ist das Gesetz und die Propheten« (Matth. 7,12). Das zu betonen, erscheint mir in diesem Zusammenhang wichtig, weil der Sprecher dieser Sätze von der paulinisch-hellenistischen Überlieferung so sehr ins Überirdische entrückt worden ist, daß ohne den Hinweis auf die Propheten sofort wieder das Mißverständnis provoziert werden könnte, auch die ihm bei dieser Gelegenheit in den Mund gelegte Empfehlung gelte nicht für diese Welt. Das Gegenteil ist richtig. Sie stammt aus einer Tradition, für die es selbstverständlich ist, aus unbeirrbarem Gottesglauben handfeste Richtlinien für irdisches Verhalten abzuleiten.

Das gilt auch für die Forderung, man solle seine Feinde lieben. Daß das leicht sei, hat niemand behauptet. Ich selbst bringe es nur in Ausnahmefällen über mich (und die christliche Kirche hat es — Stichwort: Ketzerverfolgung mit Feuer und Schwert — zu keiner Zeit geschafft). Aber ich vermag immerhin einzusehen, daß die Erfüllung dieser Forderung unsere einzige — ganz diesseitige, durchaus geschichtlich und nicht etwa heilsgeschichtlich zu verstehende — Rettung bedeuten könnte. Denn es ist ja nicht Unterwürfigkeit und das Gewährenlassen jedweden Übeltäters gemeint.

 *  Dolf Sternberger, »Über die verschiedenen Begriffe des Friedens«, Stuttgart 1984, S.14
**  Karl Jaspers, »Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Politisches Bewußtsein in unserer Zeit«, München 1958.

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Helmut Schmidt und Manfred Hättich formulierten ihre Ablehnung angesichts einer konkreten sicherheits-politischen Situation im Rahmen der »Nach«-Rüstungsdebatte zu Beginn der achtziger Jahre. Da ist ihnen partiell sogar recht zu geben (aber eben nur partiell): Wenn die Raketen erst einmal aufgebaut sind und wenn die Panzer womöglich schon anrollen, kann keine noch so übermenschliche Feindesliebe die Katastrophe mehr aufhalten.

Aber die Situation, die das tödliche Risiko herbeigeführt hatte, war ja aus einer Atmosphäre entstanden, die sich von der mit dem Stichwort »Feindesliebe« gekennzeichneten Haltung abgrundtief unterschied. Sie war geprägt von wechselseitig sich aufschaukelndem Mißtrauen und Haß und aus ihnen erwachsenden Todesängsten, welche die eigene Bedrohtheit auf ein wirklichkeitsfernes Übermaß vergrößerten und die gleichartigen Ängste des »Feindes« nicht mehr wahrnehmen ließen.

Wäre es denn nicht denkbar, daß die Gefahr gar nicht erst bis zu diesem Ausmaß gediehen wäre, wenn eine der beteiligten Parteien sich schon in einem sehr viel früheren Stadium auf die Strategie der »Feindesliebe« besonnen hätte? Denn bei ihr handelt es sich, wie Pinchas Lapide in einem zweiten wichtigen Buch und in umfassender Kenntnis der einschlägigen Originaltexte überzeugend erläutert, eigentlich um eine »Entfeindungs­liebe«, ganz in dein Sinne, der gemeint ist, wenn man das Wort vom »entwaffnenden Lächeln« gebraucht.*

Die Forderung ist als handfester Ratschlag gemeint. Sie stellt nachweislich nicht »eine Aufforderung zur Heiligkeit« dar, wie Hättich unterstellt, sondern sie erfolgt als Empfehlung angesichts eines anders nicht zu erreichenden wünschbaren (was immer nur heißen kann: für alle Beteiligten wünschbaren) Ergebnisses.

»Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen«, heißt es bei Matth. 5,5, womit der Prediger wiederum eine keineswegs spezifisch christliche, sondern zu seinen Lebzeiten schon um Jahrhunderte ältere Aussage wiederholt: »Aber die Elenden [Lapide übersetzt aus dem Urtext auch hier: die Sanftmütigen] werden das Land erben und Lust haben in großem Frieden«, heißt es schon im 37. Psalm, Vers 11.

* Pinchas Lapide, »Die Bergpredigt - Utopie oder Programm?«, Mainz 1982.   P.Lapide bei detopia

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Welche die Realitäten verändernde Kraft von einer Haltung ausgehen kann, die im Feind nicht einzig und allein die Bedrohung sieht, sondern einen Mitmenschen, der von den gleichen Ängsten erfüllt ist wie man selbst, erleben wir gerade in diesen Jahren in aller Anschaulichkeit. Der sowjetische Parteichef Gorbatschow hat sich auf diese Strategie besonnen. Nicht aus christlicher Nächstenliebe, das ganz gewiß nicht. Das Prinzip der »Entfeindung« durch kalkuliertes Nachgeben entspringt nicht spezifisch christlicher Erfahrung, wenn es vom Christentum auch in seiner vollen Bedeutung erst erkannt und in das Zentrum mitmenschlicher Beziehungen gerückt worden ist. Gorbatschow handelt ohne Zweifel auch nicht etwa der westlichen Allianz zuliebe. Sondern, wie wir Grund haben anzunehmen, in der Einsicht, daß eine Fortsetzung des aufwendigen Rüstungswettlaufs sein rückständiges Riesenreich ruinieren würde. Aber immerhin hat diese Einsicht ihn zu Schritten bewogen, die auf eine freiwillige »Schwächung« der eigenen militärischen Stärke in der Form »einseitiger Abrüstungsvorleistungen« hinausliefen.

 

Gorbatschow hat mithin genau das getan, wozu das Lager des christlichen Westens zum eigenen Schaden niemals den Mut fand. Jahrzehntelang hatte die westliche, im eigenen Lager dafür heftig geschmähte Friedensbewegung für genau diese Möglichkeit als rettenden Ausweg aus der wachsenden Gefahr zunehmender Rüstung plädiert. »Freeze!« war eine ihrer zentralen Parolen, »Einfrieren!«, und zwar den ohnehin unsinnig überhöhten Rüstungsstand, in der Hoffnung, damit zur Entstehung einer Atmosphäre beizutragen, in der zwischen Ost und West endlich ernsthaft über wirkliche Abrüstungsschritte würde gesprochen werden können.

Im westlichen Lager wurde das »als ein Signal der Schwäche« entrüstet abgelehnt. »Für solche Wagnisse ist der Frieden in Freiheit ein zu kostbares Gut«, erklärte Helmut Kohl in der »Nach«-Rüstungsdebatte. Und die Friedensbewegung, die den Vorschlag in der Öffentlichkeit unermüdlich wiederholte, wurde dafür von Alfred Dregger bei der gleichen Gelegenheit als »Unterwerfungs­bewegung« gescholten.

Und nun exerziert uns die unchristliche Gegenseite mit einem Male vor, was sich mit einer solchen »Unterwerfungs­geste« Erstaunliches bewirken läßt. Das unverhohlene Erschrecken der westlichen Generalität über einen in ihren Augen katastrophalen Rückgang des Bedrohungs­gefühls im eigenen Lager belegt den Effekt zur Genüge.

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Ich muß noch kurz auf einen anderen Irrtum Hättich's eingehen, weil er ein Beispiel für ein weitverbreitetes Mißverständnis darstellt. Politik könne nicht »von der Fiktion ausgehen, die Menschen würden sich im Schnitt aus dem Geist der Bergpredigt heraus verhalten«, heißt es bei ihm, und ferner: »Es läßt sich auf der Basis der Bergpredigt eben gerade keine korrespondierende Sozialmoral aufbauen.« — Was spricht aus diesen beiden Sätzen doch für eine fundamentale Verkennung des Textes!

»Korrespondierend« in dem von Hättich gemeinten Sinne wäre eine Moral, die auf einer von den Beteiligten im voraus getroffenen Vereinbarung beruhte. »Wenn du mir versprichst, mir nichts Übles anzutun, werde ich dir gegenüber auch davon Abstand nehmen.« Daß diese Art einer »korrespondierenden Vereinbarungs­moral«, wie sie in der sozialen und politischen Praxis seit je gang und gäbe ist, dann, wenn es wirklich darauf ankommt, erfahrungsgemäß fast immer auf der Strecke bleibt, ist ja aber gerade die Erfahrung, die hinter den Empfehlungen der Bergpredigt steht. 

Hättich moniert: »Wenn ich mich vor der Opfergabe versöhnen soll, dann konstituiert dies keinen Rechtsanspruch für mich auf Versöhnung seitens des anderen.« Das ist zwar unbestreitbar richtig. Solche quasi kaufmännisch kalkulierende Rechenhaftigkeit aber ist dem Geist der Bergpredigt fremd. Sie informiert nicht über »Rechtsansprüche« und die Wege, auf denen man sie erwerben oder geltend machen könnte. Worauf zu rechnen sie ermutigt, ist allein die Hoffnung darauf, daß die eigene friedenstiftende Haltung auch in der Seele des Widerparts etwas bewegt.

Eine Gewißheit auf solch eine positive Reaktion wird freilich nicht versprochen. Daran stört sich Dolf Sternberger (der im übrigen Hättich zustimmend zitiert). Selbst die »goldene Regel« könne nicht in »risikofreiem Sinne« ausgelegt und angewendet werden, heißt es bei ihm wörtlich. Denn »wer den anderen tut, wie er will, daß ihm die anderen tun sollen, der riskiert, daß es ihm nicht mit gleichem vergolten wird«. (Hervorhebung von mir) Sternbergers Schlußfolgerung daraus: »Darum läßt sich aus der Bergpredigt keine wie immer geartete Strategie, Diplomatie oder Praxeologie herleiten noch mit ihrer Hilfe irgendeine Politik stützen oder weihen.« 

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Ich muß gestehen, daß mich Sternbergers Anspruch auf eine risikofreie Erfolgsgarantie in diesem Falle verblüfft. Zumindest hätte ich erwartet, daß der namhafte Politologe hier eine vergleichende Abschätzung der mit der herkömmlichen Strategie, Diplomatie und »Praxeologie« einhergehenden Risiken in die Erörterung einbeziehen würde.

 

Da es so wichtig ist, noch ein Beispiel zur Erläuterung dessen, was mit »Feindesliebe« gemeint ist. Es handelt sich um den nicht ohne weiteres verständlichen Satz der Bergpredigt: »Und so dich jemand nötigt eine Meile, gehe mit ihm zwei.« (Matth. 5, 41)

An dieser Stelle wird die handfeste Diesseitigkeit der Empfehlungen des Predigers besonders deutlich, denn Jesus bezieht dieses Fallbeispiel aus dem römischen Besatzungsrecht seiner Zeit. Jeder römische Legionär, so erfahren wir von Pinchas Lapide,* hatte damals das Recht, einen beliebigen Juden auf der Straße herauszugreifen und von ihm zu verlangen, seine Ausrüstung eine Meile weit für ihn zu schleppen. Dann konnte der also Genötigte dem Besatzer sein Zeug wieder vor die Füße schmeißen und dieser sich einen neuen Juden als Lastesel suchen. Daß die immer wieder in blutigen Auseinandersetzungen zwischen Besatzungs­macht und Unterjochten kulminierenden Haßgefühle durch diese rüde, einen jeden Juden entwürdigende Praxis zusätzlich angeheizt wurden, versteht sich von selbst.

Hier erteilt Jesus seinen jüdischen Zuhörern nun einen im ersten Augenblick wieder paradox erscheinenden Rat: Wenn der Legionär dich auffordert, sein Gepäck für ihn zu schleppen — ein Verlangen, dem du dich nicht entziehen kannst, ohne eine drakonische Strafe zu gewärtigen —, dann trage sein Gepäck nicht nur eine, sondern freiwillig noch eine zusätzliche Meile weiter. Wer sich die Szene anschaulich vorstellt, begreift sofort, was sich dadurch »gewaltfrei« ändert. 

Der entwürdigende Charakter der aufgebürdeten Schlepperei verliert sich angesichts der freiwilligen Zugabe wie von selbst, und die Reaktion des überraschten Römers dürfte Neugier sein auf den Charakter des Mannes, an den er da geraten ist. Alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß das zwischen den beiden Beteiligten anfänglich herrschende feindselige Schweigen im Verlaufe der zweiten Meile allmählich einem Gespräch Platz macht, an dessen Ende beide die ihre Feindseligkeit verringernde Erfahrung gemacht haben werden, daß der andere eigentlich ja »auch nur ein Mensch ist«.

* Pinchas Lapide, »Die Bergpredigt...«, a.a.O., S.116 f  

Das also ist ein von Jesus geschilderter Fall von konkreter Feindesliebe. Keine »Aufforderung zur Heiligkeit«, sondern ein durchaus praktischer, wenn auch Selbstüberwindung erfordernder Ratschlag zur Lösung eines anders kaum lösbar erscheinenden menschlichen Problems unter Besatzungsverhältnissen. 

Auch in diesem Fall bezieht der biblische Lehrer sich übrigens allem Anschein nach auf eine sehr viel ältere — und vielen seiner Zuhörer zweifellos bekannte — Quelle. »Mögen auch zwei miteinander wandeln, sie seien denn eins unter­einander?« heißt es beim Propheten Amos. Eine Erfahrung, aus welcher der Bergprediger die Nützlichkeit der zweiten, freiwillig mitgegangenen Meile ableitet.

Letzter Einwand: Die in der Bergpredigt vorgetragene Aufforderung zur Feindesliebe stoße an die Grenzen des Menschenmöglichen und könne allenfalls von einzelnen Heiligen befolgt werden. 

Vielleicht ist es so. Es handele sich um einen Anspruch, der die menschliche Natur vergewaltige. Auch das mag zutreffen. 

Aber desungeachtet gilt auch, was Leszek Kolakowski dazu in seiner Rede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises am 16. Oktober 1977 in der Frankfurter Paulskirche sagte: »Daß es nur sehr wenige gibt und jemals geben wird, die dieser Aufforderung wirklich gewachsen sind, ist sicher. Auf den Schultern dieser Wenigen aber ruht das Gebäude unserer Zivilisation, und das Geringe, zu dem wir fähig sind, verdanken wir ihnen.«

Noch einmal Dolf Sternberger: Die Bergpredigt ... »ist eine äußerst kritische, eine dialektische Ethik, sie kehrt alles um, was das gewöhnliche menschliche Verhalten kennzeichnet.« Richtig. Genau eine solche »Umkehrung« wird in dem Text des Evangelisten von uns verlangt.

Wird es nicht höchste Zeit, daß wir ihre Unumgänglichkeit einsehen?  Jaspers 1958: »Ohne Umkehr ist das Leben der Menschen verloren.« Vielleicht sind wir verloren. Niemand kann die Möglichkeit heute mehr ausschließen. 

Wenn es aber einen Ausweg gibt, dann ist er hier, in den alten Texten, vorgezeichnet. Der Versuch, ihn zu benutzen, ist noch niemals ernstlich unternommen worden. Viel Zeit bleibt uns nicht mehr, das Versäumnis nachzuholen.

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Ende

 

 

 

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