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Schluß:  
Weil der Mensch ein Mensch ist

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In Berlin treffe ich einen Freund, einen Autonomen. Ich kenne ihn als einen politisch aktiven Menschen. Was macht er zur Zeit politisch? »Nichts. Ich bin in einer Phase der Orientierung.«

Aber Warten treibt nichts voran. Bewußtsein hat keinen Urlaub. Es ist ständigen Einflüssen ausgesetzt. Nichteingreifen, Konflikte vermeiden, Distanz halten wirft Menschen in ihrer politischen Entwicklung zurück, weil der Gegendruck stark ist.

Linkssein scheint für manche eine Kleidung zu sein, die in Schönwetterperioden getragen und die, sobald es stürmisch wird, abgelegt wird. Die Zeiten für Linke sind hart. Aber kann das ein Grund sein, Überzeugungen aufzu­geben und politische Aktivität einzustellen?

Linkssein bedeutet die unbedingte Parteilichkeit für die erniedrigten, gedemütigten, ausgebeuteten Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem kulturellen Hintergrund, ihrem Geschlecht oder ihrer sexuellen Orientierung. Jeder einigermaßen tauglichen linken Analyse der weltweiten ökonomischen Strukturen folgt mit Notwendigkeit die Konsequenz, daß die Verhältnisse, wie sie sind, abgeschafft werden müssen. Das ist ein ernsthaftes Unterfangen und kein Spiel für verwöhnte, gelangweilte europäische Bürgerinnen.

Wir haben ein besonderes Problem: In der politischen Aufklärung war es uns oft möglich, an die subjektiven Interessen von Menschen anzuknüpfen. In unserem Kampf gegen Atomenergie in den siebziger Jahren konnten wir zum Beispiel mit der Aufklärung über die gesundheitlichen Schäden der radioaktiven Niedrigstrahlung und über die Atombombengefahr den Widerstand gegen Atomanlagen verbreitern. Im Kampf gegen Rassismus stoßen wir auf Grenzen.

Der Versuch einiger Linker, in Auseinandersetzungen mit Teilen der Bevölkerung an ein eigenes subjektives Interesse gegen rassistische Einstellungen anzuknüpfen, schlug fehl. Diese Linken sahen sich veranlaßt, etwa so zu argumentieren: Ausländerfeindlichkeit ist schlecht, denn wer soll denn die Dreckarbeit machen, unseren Müll wegräumen ... Ausländerfeindlichkeit ist schlecht, weil auch die deutsche Wirtschaft gesagt hat, daß sie ausländische Arbeitnehmer braucht ... Ausländer sind wertvoll, zum Beispiel als Fußballer oder Showstars ... Anschläge auf Asylbewerberheime machen im Ausland einen schlechten Eindruck ... und so weiter.

Wir finden solche Aussagen in DGB-Anzeigen gegen [!] Ausländerfeindlichkeit, in Veröffentlichungen aus Kirchenkreisen, in einigen traditionellen linken Organisationen und hören sie am Rande von Demonstrationen in Diskussionen mit Passantinnen. Auf diese Weise wird rassistisches Bewußtsein auch noch stabilisiert: Dreckarbeit für AusländerInnen, sonst müssen wir Deutschen ran. Wertvoll ist, wer ökonomische Leistung bringt oder unserer Unterhaltung dient. Das Ansehen des deutschen Staates ist ein höherer Wert als die physische und psychische Unversehrtheit eines Menschen.

Wer als Linke und Linker so denkt und redet, wirft einen Bumerang. Die Absicht, »die Menschen da abzuholen, wo sie stehen«, bedeutet für manche Linke, sich so weit auf vorhandene Einstellungen einzulassen, daß sie zu keiner grundlegenden Auseinandersetzung beispielsweise mit rassistischer Mentalität mehr fähig sind. Damit werden diese Linken zu Sozialarbeiterinnen eines Bewußtseins, das gesellschaftlichen Verhältnissen geschuldet ist, deren radikale Veränderung sie aber aufgegeben haben. Das mag das Gewissen beruhigen. Aber sie begeben sich jeglicher Chance, die politischen Verhältnisse wirkungsvoll zu verändern.

Wir leben in einem der kapitalistischen Zentren, in einem der Täterstaaten und sind verantwortlich dafür, die Verhältnisse zu stören, die dazu führen, daß der größte Teil der Menschheit, sofern er überlebt, ein Leben lang keinen Hauch selbstbestimmter Perspektive kennenlernt. Internationalistische Verantwortung ist keine Frage von kirchlich vermittelten Schuldgefühlen oder mildtätiger Sozialarbeit, sondern die Konsequenz aus einer Einsicht.

Das Bewußtsein von Menschen ist nie homogen, sondern zunehmend widersprüchlich. Die materiellen Interessen, individuelle Absicherung und Bequemlichkeit, richten sich oft gegen im Ansatz vorhandene oder zu entwickelnde Einstellungen wie soziale Verantwortung oder internationalistische Solidarität. Diese ergeben sich aus einer politischen Moral, einem politischen Bewußtsein, sind Konsequenzen eines bewußten Menschseins.

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In den politischen Auseinandersetzungen, die wir zu führen haben — einige Konfliktfelder wurden in diesem Buch ausführlich beschrieben —, müssen wir ran an die Widersprüche in den Köpfen von Menschen. Wir kleistern die Brüche zu, wenn wir taktisch Zustimmung vortäuschen, anstatt Verschleierungen aufzureißen.

Wir müssen den Schulterschluß zwischen Technokraten und Diktatoren verhindern. Es geht nicht nur darum, das Thema Ökologie zu besetzen, sondern auch linke Wissenschaftskritik auf ein neues Niveau zu heben, damit nicht größere Teile der Gesellschaft einschließlich eines Teils der Linken in eine neue Fortschritts­gläubigkeit wegkippen. Zu diesem Konflikt gehört auch die notwendige Auseinandersetzung mit dem Lager, das sich links empfindet, und sich doch stets sozialdemokratischen Herrschaftsinteressen unterordnet.

Auch Linke geben dem Druck der Verhältnisse nach, haben Angst, nicht genug vom Kuchen abzubekommen. Sind des Kämpfens müde und setzen dem sich in allen Teilen der bundesdeutschen Gesellschaft ausbreitenden rassistischen Bewußtsein nichts mehr entgegen. Auch kritische und links radikale Menschen sind Teil der Gesellschaft und werden von ihr beeinflußt; wenn sie sich diesen Einfluß nicht bewußt machen und aktiv Gegenwehr entfalten, verlieren sie.

 

Ökologie wird als ordnungspolitische Kategorie und als militärischer und rassistischer Kampfbegriff mißbraucht. Sie wurde planvoll demontiert. Die Ursachen der Ausbeutung des Menschen und der Vernichtung der Natur entstammen derselben kapitalistischen Produktionsweise. Die Lösung der sozialen Frage und die der ökologischen Frage sind untrennbar miteinander verbunden. Aus diesem antikapitalistischen, radikalökologischen Verständnis wurde bei den Grünen und in weiten Teilen der Ökologiebewegung ein technokratisches Verständnis. Mensch reduziert politische Vorstellungen auf vermeintliche Reparaturen, sucht den Pakt mit den Tätern, plädiert für die sogenannte Marktwirtschaft alias Kapitalismus, läßt die Zerstörungsmaschinerie rollen und streicht sie grün an. Eine ökologische linke Opposition steckt heute im Würgegriff von technokratischer Idiotie und ökofaschistischem Terror.

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Eine linke Opposition muß sich ein politisches Niveau erarbeiten und erkämpfen, das über einzelne Fragen hinausgeht. Eine künftige außerparlamentarische Opposition (deren mögliche Unterstützung durch oppositionelle Kräfte in Parlamenten nicht unterschätzt werden sollte) wird ihre Sprengkraft daraus beziehen, daß es ihr gelingt, politische Kampffelder miteinander zu verknüpfen. Die Menschen sollten isolierte Arbeitsfelder überwinden und sich aus den Projektbeschränkungen und Elfenbeintürmen, in denen sie sich eingerichtet haben, lösen.

Würden sie ihre Fähigkeiten und Erfahrungen miteinander verbinden und auf dieser Basis praktisch handeln, wäre das ein Element dieser neuen Qualität. Die Bereitschaft der einen, sich irgendwie links zu fühlen, und die derjenigen, die sich die Mühe der Organisierung machen, klaffen auseinander. Die, die keine Praxis (mehr) haben, werden dieses <Linksfühlen> unter dem Druck der kommenden Verhältnisse kaum durchhalten.

Als Fluchthelfer aus der Wirklichkeit bieten sich viele an. Kälte, Einsamkeit, materielle Ängste machen Menschen anfällig für Ersatzbefriedigungen und Traumwelten. Sekten aller Art — und Hand in Hand mit ihnen rechtsextremistische und neofaschistische Organisationen — profitieren davon. Menschen entziehen sich dem Widerstand gegen die Barbarei oder wechseln auf die andere Seite. Wir brauchen den Konflikt mit denen, die meinen, sie könnten esoterische Elemente konsumieren, Mystikbücher, Tarotkarten, astrologischen Müll, ohne die dahinterstehende menschenverachtende Ideologie auch nur zur Kenntnis zu nehmen.

Die Gegnerinnen der Befreiung der Menschen, Rassistinnen und Kriegshetzerinnen begegnen uns nicht bloß im kahlrasierten Knobelbecher-Outfit. Das ist nur die eine Abteilung, über die sich auch jene Aktenkoffer­trägerinnen scheinheilig entsetzen, die oft kein bißchen weniger rassistisch und rechts­extremistisch sind als Skinheads.

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Brandanschläge oder Abschiebung, Knüppel oder geschlossene Grenzen, Sammellager oder Bevölkerungs­politik — die Art, wie sich Rassismus äußert, die spezifische Form barbarischer Gewalt — hängen von der sozialen Lage und dem gesellschaftlichen Einfluß der Täterinnen ab.

Ob aus ökonomischer Abhängigkeit oder aus ideologischer Blindheit, die vielseitigen Empfehlungen, praktische antifaschistische Aktionen auf der Straße einzustellen, wollen die Befriedung lebensnotwendigen Widerstandes. Sie sind zutiefst unmoralisch, weil dann niemand mehr Flüchtlinge schützt, wie dies beispielsweise antirassistische Notruftelefone und Aktionsgruppen tun. Und sie sind unverantwortlich, weil nur eine auch aktionsorientierte linke Opposition in der Lage ist, das gesellschaftliche Klima zu beeinflussen, diese rasende Rechtsentwicklung zu bremsen.

Ich plädiere dafür, sich klug und strategisch zu überlegen, welche Aktionsformen heute die geeignetsten sind, gerade angesichts der ökologischen Modernisierung des Faschismus. Unsere Aufgabe ist der Schutz von Menschen. Wir müssen das Klima in diesem eiskalten Land aufbrechen, dafür brauchen wir die Beeinflussung der öffentlichen Meinung.

Wir dürfen dabei nicht stehenbleiben. Der Kampf gegen die patriarchale Unterdrückung von Frauen, gegen Ausbeutung und Vernichtung, gegen Rassismus und Faschismus und gegen die Zerstörung der Natur ist nicht damit getan, daß wir gegen Auswüchse kämpfen, aber den Kapitalismus als Ursache und Voraussetzung des Faschismus nicht beachten.

Ein erweitertes Verständnis antifaschistischen Widerstandes versteht sich internationalistisch und schließt zum Beispiel den Widerstand gegen die gentechnologische Manipulation des Lebens, den Kampf um sexuelle Selbstbestimmung, soziale Existenzsicherung und, nicht zuletzt, menschenwürdige Arbeitsbedingungen mit ein: Ein menschenwürdiges Leben ist nur in einer Gesellschaft ohne Lohnarbeit, Geld und Waren vorstellbar, eine Gesellschaft, die Gebrauchsgüter herstellt, ohne diese Herstellung asketisch-zwanghaft zu regulieren, aber auch ohne das grenzenlose Wachstum des kapitalistischen Wirtschaftens mit seinem Zwang zu Konkurrenz, Egoismus und Ellenbogengesellschaft.

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Politisches Bewußtsein verlangt eine radikale Analyse der Verhältnisse und theoretische Qualifikation. Zur Entwicklung der Linken gehört selbstverständlich die Klarheit der Sprache und der Begriffe. Aber wir brauchen die Trennung von selbstverliebten Kategorienschlachten in abstrakten akademischen Sphären, die Universitätskarrieren befördern mögen, aber Handlungsfähigkeit lähmen (sollen).

Wir brauchen andererseits Aktionen, nicht blinde, sondern kluge, solche, die ihre jeweiligen Formen aus dem Charakter des Problems, um das es geht, ableiten. Was wir nicht brauchen, ist theoriefeindlicher blinder Aktionismus, der irgendwann im Suff oder in staatlichen Gewaltfallen landet oder in beidem. Zu linker Politik gehört neben der »action« auch Disziplin, neben den Büchern auch die Lust an der Provokation.

Die Zeit der Nischen, der Wohlfühlkleingruppen, der unverbindlichen Netzwerke, in denen wir alles tolerieren, was sich links fühlt, und in denen wir zum Dank selbst nie herausgefordert werden, dieser Opportunismus sollte vorbei sein. Sich untereinander ernst nehmen heißt, sich ernsthaft auseinander­zusetzen. Anders entwickeln wir uns nicht weiter. Wir dürfen, auf der einen Seite, politische Organisationen nicht zum Familienersatz herunterwirtschaften, und auf der anderen Seite töten Herrschafts­strukturen und dogmatische Rituale jedes Leben in einer Opposition. Es ist eine vertrackte Gratwanderung, auf die wir uns einlassen. Niemand wird uns die Arbeit abnehmen, wir werden uns dieser Aufgabe ganz einfach selbst stellen.

detopia: Was sind <dogmatische Rituale>? - Wahrscheinlich ist das nur ein Buch für ihre 183 Kumpels - mit einer eigenen Geheim-Sprache.

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Die Rechte und Freiheiten, die wir heute haben, sind das Resultat von historischen Kämpfen. Ohne die Arbeiterinnenbewegung — trotz ihrer späteren Einbindung in sozialdemokratisches Regierungsinteresse —, ohne die sozialen und ökologischen Bewegungen sähe unser Leben ganz anders aus. Eine gut organisierte gesellschaftliche Gegenmacht kann, selbst wenn sie in der Umsetzung ihrer großen Ziele in einer bestimmten historischen Phase scheitert, auf dem Weg Teilerfolge erringen, die das Leben der Menschen erträglicher machen und die Bedingungen linker Opposition verbessern.

Wir brauchen verbindliche Organisationen, aber keine zentralistischen Strukturen. Wir brauchen Solidarität, aber keine vermeintlich hierarchiefreien Kleingruppen, die sich so abschotten, daß sie dumm machen. Um uns von den Auseinandersetzungen, die auf uns zukommen werden, nicht platt walzen zu lassen, brauchen wir ein solidarisches, theoretisch qualifiziertes, wildes, konflikterprobtes politisches Milieu.

 

Unser Ziel ist klar: Wir wollen nicht weniger als die Abschaffung des Kapitalismus mit seinen patriarchalen Herrschaftsstrukturen. 

Das heißt nicht, daß der Streit darüber, wie denn eine sozialistische Gesellschaft aussehen könnte, auch nur annähernd beendet wäre.

OD: Das war also der einzige Satz ganzen Buch über ein anstrebenswertes Ziel.

Eine Gesellschaft, in der die Menschen befreit und selbstbestimmt leben und arbeiten, ihre vielfältigen Fähigkeiten frei entfalten können, ein schonendes Verhältnis zur Natur entwickelt haben, frei sind von Ausbeutung, Rassismus und Sexismus, wo sie sich nicht mehr vertreten lassen, sondern vielleicht in basisdemokratischen Räten organisieren und eine völlig andere Technologie und Wissenschaft entwickelt haben als die, die wir heute kennen.

Um die Auseinandersetzung zu beginnen, brauchen wir kein festgefügtes dogmatisches Bild einer Modell­gesellschaft.

Unsere Vorstellungen, wie wir leben wollen, verändern sich mit den Erfahrungen aus unseren Kämpfen.

Unser politisches Lernen ist ein Prozeß, kein Lauf auf einer abgesteckten Strecke, der uns nicht mehr erkennen läßt, was sich hinter der Ziellinie oder neben der Strecke noch alles befindet.

Wir haben nicht weniger vor, als die herrschende Weltordnung zu stürzen. Erst dann haben alle Menschen, unabhängig davon, wo sie leben, welche Hautfarbe sie haben und welches Geschlecht, die Chance auf ein menschenwürdiges Leben. Wir leben im Land der TäterInnen, historisch und gegenwärtig. Radikale, ökologische linke Opposition bedeutet, diese Verantwortung zu übernehmen. Unser politischer Ansatzpunkt ist hier.

Internationalistische Solidarität heißt nicht Mystifikation und Projektion eigenen Versagens auf Befreiungs­bewegungen im Trikont, sondern Unterstützung ihrer Kämpfe, indem wir die Zerstörungs­maschine, die Kapitalismus genannt wird und die sich auch gegen uns richtet, behindern, wo immer wir können, und sie zerstören. Wir brauchen Konfliktbereitschaft, Verbindlichkeit und Solidarität in stabilen Oppositionsstrukturen. Wir brauchen Leidenschaft und Kritik, wir brauchen Feuer in die Herzen in einem eiskalten Land- für eine soziale Revolution. 

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Ende

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