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Vorwort 1999

Die Kehrseite der Menschheitsgeschichte

Die Welt ist voll böser Gewalt: auch an der Schwelle zum dritten Jahrtausend

6-8

Die Medien berichten uns täglich aus aller Welt von Gewaltakten, bei denen Unschuldige bedroht und getötet werden. Die Gewalt, so scheint es, wird uns zur Gewohnheit. Sie hat bereits Eingang in unsere Alltagssprache gefunden: Wir reden von "grausamen" Spielen im Sport oder beklagen uns über ein "mörderisches" Arbeitspensum. Gewalt und der Mißbrauch gesellschaft­licher Macht, die beide im Gewand von Gesetzen erscheinen, machen nicht selten sogar die Geschichte des Rechts zu einer Leidensgeschichte der Menschen. Dabei sagt ein französisches Sprichwort: Das Recht ist das Leben. Es sieht eher danach aus, daß Unrecht das Leben sei. Beides ist richtig. Es gibt Menschen, die Geschichte machen – und es gibt Menschen, die Geschichte erleiden.

Von den Letzteren ist hier die Rede.

Eingeschlagene Schädel, aus der Urzeit der Besiedelung der Erde ausgegraben, beweisen uns, daß bereits der Vormensch vor Millionen Jahren seinen andersartigen und andersrassigen Bruder erschlagen hat. Nach ihm taten dies alle seine Nachfahren bis heute, wenn sie mit anderen Stämmen und Rassen zusammentrafen. Überdeckt vom falschen Glanz der Siege und des Ruhmes hat die Geschichte der Menschheit eine dunkle Seite, eine Kehrseite, die allzu häufig in den Geschichts- und Schulbüchern vergangener und unserer Zeiten übergangen wird: eine nie abreißende Kette von Verbrechen gegen die Menschen, von Verfolgungen, Vertreibungen, Massenfluchten, Aus- und Umsiedlungen sowie systematischen Ausrottungen, heute "ethnische Säuberungen" genannt, meist verbunden mit lauttönenden Proklamationen zur Mordhetze unter den verschiedensten Vorzeichen.

Die Geschichte der Menschheit ist also nicht nur eine Folge von Kulturen, die immer höhere Stufen erklimmen. Und der Fortschritt ist nicht einfacher Fortschritt. Daß der Mensch mehr Freiheit und Macht errang, ermöglichte ihm nicht nur, mehr Gutes zu tun, sondern auch mehr Unheil anzurichten, nicht nur schöpferisch tätig zu sein, sondern auch zu zerstören.

Dieses Buch legt Zeugnis ab von der Kehrseite der Menschheitsgeschichte.  

Und weil "ein Augenzeuge so wertvoll wie zehn Berichte aus zweiter Hand" ist, wie bereits der römische Dichter Titus Maccius Plautus vor etwa 2200 Jahren schrieb, sind Augen­zeugen und Zeitgenossen die Berichterstatter in dieser Dokumentation der Verbrechen durch rund fünf Jahrtausende menschlicher Zivilisations­geschichte, vom Pyramidenbau im alten Ägypten bis zum Jahr 1973, die alle im Namen von Königen, von Staaten, von Völkern, im Namen der Freiheit und nicht zuletzt im Namen der Religion geschehen sind.

In dieser Dokumentation des Schreckens enden die Berichte mit Augenzeugenberichten vom Terror religiöser Fanatiker im Nordirland des Jahres 1973. Fünfundzwanzig Jahre später, im Mai 1998, wird für Nordirland ein Friedensabkommen durch eine Volksabstimmung gebilligt. Aber dieser Friede wird seither immer wieder durch weitere Terroranschläge auf eine harte Probe gestellt. Und die Kette der Verbrechen gegen den Menschen ist seit Abschluß dieser Dokumentation bis heute nicht abgerissen, ja, sie hat sich, gemessen an den wohlklingenden Absichtserklärungen der Mächtigen unserer Zeit, sogar noch verschlimmert. Zum Beleg hierfür seien einige Beispiele aus den letzten sechsundzwanzig Jahren chronologisch festgehalten:

Noch im Jahr 1973 errichtet in Chile General Pinochet eine Militärdiktatur (bis 1990), nachdem er den gewählten sozialistischen Präsidenten Salvadore Allende aus seinem Amt gebombt hat und Tausende seiner Anhänger verfolgen und "verschwinden" ließ. 1975 beginnt im Libanon ein Jahrzehnte andauernder Bürgerkrieg mit religiösem Hintergrund, 1976 in Angola ein ebenso blutiger Bürgerkrieg, der bis 1995 andauert. In Kambodscha beginnt 1976 der Terror der Roten Khmer unter Pol Pot, durch den bis zum Jahr 1978 etwa eine Million Menschen ermordet werden. Im Jahr 1979 endet in Nicaragua ein blutiger Bürgerkrieg nach der Entmachtung des Diktators Somoza durch die Sandinistische Befreiungsfront.

Die achtziger Jahre beginnen mit einem Bürgerkrieg in El Salvador, der bis zum Jahr 1992 viele Opfer fordert. Noch im Jahr 1980 fordert der Sprengstoffanschlag einer rechtsradikalen Organisation im Hauptbahnhof Bologna 84 Tote und rund 200 Verletzte. Über tausend Tote werden nach einem Massaker an Palästinensern durch christliche Milizen in den Beiruter Flüchtlings­lagern Sabra und Schatila im Jahre 1982 gezählt. 1983 werden erste blutige Unruhen zwischen hinduistischen Tamilen und buddhistischen Singhalesen auf Sri Lanka gemeldet. In Indien gipfeln 1984 Kämpfe zwischen Hindus und Sikhs nach dem Sturm der Hindus auf den Sikh-Tempel in Amritsar mit Hunderten von Toten in der Ermordung der Premierministerin Indira Gandhi. 

Im selben Jahr beginnt im Sudan ein bis heute andauernder blutiger Bürgerkrieg zwischen dem christlich-afrikanischen Süden und dem muslimisch-arabischen Norden. Die achtziger Jahre enden mit dem schrecklichen Blutbad auf dem Tiananmen-Platz ("Platz des himmlischen Friedens") in Peking im Jahr 1989, bei dem rund 3600 Tote und 60.000 Verletzte gezählt werden. Und während des Zusammenbruchs des Ostblocks fordert der gewaltsame Umsturz in Rumänien Tausende von Toten in Temesvar und Arad durch die Armee und die Securitate, Ceausescus Geheim­polizei.

Die neunziger Jahre beginnen nach jahrzehntelangen Gewaltakten gegen die schwarze Mehrheit der Bevölkerung Südafrikas mit der Abschaffung der Apartheid­gesetze, der Aufhebung des Verbots des ANC und der Freilassung ihres Führers, Nelson Mandela, nach 28jähriger Haft. 1991 zählt man in Somalia im Bürgerkrieg und durch Hungersnöte rund 20.000 Tote und rund 2 Millionen Flüchtlinge, gleichzeitig geht in Äthiopien ein nahezu dreißigjähriger Bürgerkrieg um die Sezession Eritreas zu Ende, dem seit 1961 rund 100.000 Soldaten und 150.000 Zivilisten sowie etwa 600.000 Menschen durch den Hungertod zum Opfer fielen. 

Mit dem Zerfall Jugoslawiens zählt man allein in Bosnien anfangs rund 250.000 Tote und Zehntausende von Vertriebenen. 1994 werden in der Kirche von Ntarama in Ruanda (Zentralafrika) während des Völkermords zwischen Hutus und Tutsis 5000 Menschen abgeschlachtet. 1995 werden durch einen Sprengstoffanschlag rechtsradikaler Attentäter auf ein Bürogebäude in Oklahoma City 168 Menschen getötet und über 500 verletzt. 1996 hat der Völkermord in Burundi, Ruanda und Zaire bereits 1,75 Millionen Tote erreicht. 1997 häufen sich Meldungen von Gewaltakten zwischen Palästinensern und Israelis, in Algerien beginnen islamische Terroristen mit Massakern an Hunderten von Dorfbewohnern, meist Frauen und Kindern, und im Kosovo, in Restjugoslawien, fangen die "ethnischen Säuberungsaktionen" mit Morden durch Serben an Albanern einerseits und albanischen Aufständischen an Serben andererseits an. 

Nach einer Bilanz von <Amnesty International> aus dem Jahr 1998 wird in 117 von 193 souveränen Staaten der Erde immer noch gefoltert, außerdem nehmen danach die Morde und das "Verschwindenlassen" von Menschen zu.

Heute, Anfang 1999, droht in Zentralafrika ein beispielloser Regionalkrieg mit vielen Opfern unter der Zivilbevölkerung: Hutu-Rebellen dringen in Uganda vor, die Tutsi-orientierte Regierung antwortet mit drakonischen Maßnahmen. Ugandische Truppen marschieren im Kongo ein, wo ihnen die von Truppen aus Angola, Simbabwe, Namibia, dem Tschad und Sudan unterstützte Regierungsarmee gegenübersteht. Und im westafrikanischen Sierra Leone sterben täglich Unschuldige in einem neuen Bürgerkrieg, aus Indien kommen Nachrichten von Christenverfolgungen durch fanatische Hindus, die Krise im Kosovo eskaliert zum Krieg der NATO gegen Serbien, Hunderttausende fliehen aus dem Kosovo nach Albanien und Mazedonien. Kein Ende des Schreckens ist abzusehen ...

Blicken wir an der Schwelle zum dritten Jahrtausend auf die bisherige Geschichte der Menschheit zurück, scheint Nietzsche recht zu haben, wenn er behauptet: "Die ganze Geschichte ist ja die Experimental-Widerlegung vom Satz der sogenannten sittlichen Weltordnung." Aber, wie Lessing schon sagte, "soll die Geschichte nicht das Gedächtnis beschweren, sondern den Verstand erleuchten".

Wir müssen uns Gedanken machen für den Aufbau einer menschlicheren Welt, in der nicht ewig der Mensch des Menschen Feind ist, in der nicht mehr das schreckliche Wort von Jakob Burckhardt gelten darf: "Alle politische Größe ist mit den furchtbarsten Verbrechen erkauft worden. Der Friede ist nur eine kleine Atempause bis zum nächsten Völkermorden."

8

Hans Dollinger,
München, im Frühjahr 1999

 

 

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 Dollinger Schwarz­buch der Welt­geschichte