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1. Die Humanisierung des Homosapiens

 

Die globale Menschenfamilie

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Nach drei anstrengenden Wochen unter dem gleißenden Frühlingshimmel Australiens, gefolgt von einer Woche in der heißen, feuchten und verpesteten Luft von Taipeh in Taiwan, beschlossen meine Frau und ich, vor der Rückkehr nach New York in Hongkong eine Pause einzulegen. Das war 1965. Hongkong war und ist die Metropole mit der höchsten Bevölkerungsdichte der Welt; das Durchschnittseinkommen war, besonders unter den Flüchtlingen aus China, extrem niedrig. 

Es überraschte mich daher, daß alle sozialmedizinischen Abhandlungen, die ich gelesen hatte, das Niveau der physischen und geistigen Gesundheit in fast allen Teilen der Stadt als hervorragend bezeichneten und berichteten, daß Kriminalität und andere Formen ungesellschaftlichen Verhaltens selten seien. Wir wollten unbedingt sehen, ob diese angenehmen Lebensumstände tatsächlich unter solch extremen Bedingungen von Armut und Übervölkerung erreicht werden können.

Wir kannten niemanden in Hongkong und wußten nichts von seinen Strukturen. Da wir ohne Beeinflussung eines Fremdenführers den inneren Teil der Stadt entdecken wollten, gingen wir zuerst aufs Geratewohl herum und reagierten nur auf interessante Reize, die von unseren Augen, Ohren und Nasen aufgenommen wurden.

Überall und zu allen Tageszeiten sahen wir essende Menschen, entweder auf der Straße oder in den vielen Restaurants auf Booten und an Land. Die unzähligen gesunden Kinder, die aus den verschiedensten Schulen herausströmten, waren zu Scherzen aufgelegt und benahmen sich dennoch ordentlich. Am Abend spazierten wir durch sehr ärmliche Stadtviertel, die man aber nicht als Slums bezeichnen konnte, weil die Straßen für endlos abwechslungsreiche, lebendige und fröhliche Schauspiele benutzt wurden.

Obwohl wir in den meisten Situationen die einzigen Europäer waren, empfanden wir zu keiner Zeit Verlegenheit oder gar Angst. Hohe Bevölkerungsdichte und niedriges Einkommen erschienen uns deshalb mit einem fröhlichen und annehmbaren Leben vereinbar. Wahrscheinlich wird die Übervölkerung nur dann zur öffentlichen Gefahr, wenn sich andere soziale Bedingungen dramatisch verschlechtern.

Am frühen Nachmittag wagten wir uns in einen riesigen Gebäudekomplex, der einen Markt und Fachgeschäfte enthielt. Es stellte sich heraus, daß alles von der Volksrepublik China betrieben wurde. Während wir die Auslagen betrachteten, fiel uns ein reizendes kleines Mädchen auf, das sich lebhaft mit einem älteren Herrn unterhielt. Hochgewachsen, mit schmalem Gesicht und weißem Spitzbart, sah er sehr weise und vornehm in seiner einfachen, aber sauberen Kleidung aus. Er und das kleine Mädchen erschienen uns als perfekte Verkörperung der liebenden Beziehung zwischen Großvater und Enkelin. Beide interessierten sich füreinander mehr als für die anderen Menschen oder die Auslagen, aber an der Tatsache, wie sie zu uns blickten, konnten wir erkennen, daß sie unser Interesse und unser Wohlwollen an ihnen bemerkt hatten.

Meine Frau und ich gingen weiter durch die verschiedenen Geschäfte, und ich kaufte mir, da ich irgend etwas aus der Volksrepublik China besitzen wollte, ein halbmilitärisches Mao-Hemd. Das Hemd saß gut, aber als ich es in New York anziehen wollte, gingen von ihm selbst nach der Wäsche noch ein Geruch und eine Ausstrahlung aus, die unvereinbar waren mit meinem New Yorker Lebensstil.

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Wir setzten unseren Weg über den Markt fort. Ungefähr 15 Minuten nach meinem Hemdkauf sahen wir das kleine Mädchen mit seinem Großvater wieder. Wir vier lächelten uns freundlich an, obwohl meine Frau und ich in diesem Moment sehr beschäftigt waren, da wir uns hübsche Möbel ansahen. Uns erstaunte sehr, warum wir uns in Stühlen, die für unsere Körper die richtigen Proportionen besaßen, so linkisch fühlten, so als ob wir Gesten und Posen lernen sollten, die nur chinesischen Menschen angeboren sind.

Endlich wollten wir zu Fuß unseren Weg zum Hotel zurückfinden. Als wir gerade den Markt verließen, kreuzte sich unser Weg noch einmal mit dem des kleinen Mädchens und des alten Herrn. Bei dieser dritten Begegnung aber ging das Lächeln von uns vieren in ein übermütiges und schallendes Gelächter über. Wir hatten den Eindruck, daß wir beide schon seit langer Zeit kannten, und wir fühlten, daß auch sie viel über uns wußten — jedenfalls alles, was für zwischenmenschliche Beziehungen von wirklicher Bedeutung ist. Wir, der chinesische Großvater und seine Enkelin lebten seit unzähligen Generationen in verschiedenen Kulturen und waren geographisch durch einige tausend Kilometer voneinander getrennt, und dennoch konnten wir sofort Kontakt miteinander aufnehmen, da wir Teile einer biologischen Art, der globalen Menschenfamilie, sind.

Ähnlich herzliche Kontakte, die nicht auf verbaler Kommunikation beruhten, erlebte ich auch in anderen Teilen der Welt, so zum Beispiel in den späten vierziger Jahren mit Indianerkindern und ihren Eltern in einer Schule in Neumexiko, als ich in einem Navajo-Reservat arbeitete, oder mit zwei senegalesischen Familien, als ich in den fünfziger Jahren einen Tag lang auf dem Flughafen von Dakar festsaß. 

Das glücklichste Lächeln, das ich je sah, war das eines kleinen australischen Aborigines-Mädchens in einem Film. Es nahm eine riesige, fette Made auseinander, die es gerade aus der Rinde eines Baumes gezogen hatte, um sie zu essen. Ich verstand, wie glücklich sie sich in diesem Moment fühlte, und bin sicher, daß sie meine Mitfreude begriffen hätte, wenn wir uns persönlich gegenüber gestanden hätten. Selbst das ungewöhnlichste Verhalten menschlicher Wesen wird für uns aus dem einen, scheinbar offensichtlichen, in der Realität aber geheimnisvollen Grund erklärlich: Allen Handlungen liegt eine charakteristisch menschliche Eigenart zugrunde.

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Überall auf der Erde sind alle möglichen Menschen ständig in alle möglichen Tätigkeiten verwickelt, die sie in zahllosen Varianten ausführen. Und dennoch entsteht trotz dieser gewaltigen Verschiedenheit menschlicher Typen, gesellschaftlicher Zustände und Verhaltensmuster ein überwältigender Eindruck von Einheit. Ob es nun ein Eskimo ist, der seine Schlittenhunde anschirrt, ein chinesischer Bauer, der sich in einem Reisfeld bückt, ein Tuareg, der sein Kamel durch einen Sahara-Sandsturm führt, ein New Yorker, der ein Taxi heranwinkt, oder ein japanischer Tourist, der im Park von Versailles fotografiert — sie alle offenbaren Verhaltensmuster, die ausgesprochen menschlich sind.

 

Die Standpunkte der Wissenschaftler, die sich mit der menschlichen Natur beschäftigen, gingen in den letzten Jahrzehnten oft weit auseinander. 

Margaret Mead zum Beispiel, die 1928 ihr erstes Buch <Coming of Age in Samoa> (Kindheit und Jugend in Samoa) veröffentlichte, schloß aus ihren Beobachtungen an jungen Mädchen dieser Insel, daß vieles, was wir auf die menschliche Natur zurückführen, in Wirklichkeit das Resultat der sozialen Umgebung ist, in der ein Mensch geboren und aufgewachsen ist. 1978, ein halbes Jahrhundert nach ihrer Veröffentlichung, wurde Prof. E. O. Wilson eine bewunderte und zum Teil gehaßte Berühmtheit, als er in seinem Buch <On Human Nature> (Über die menschliche Natur) feststellte, daß die genetischen Anlagen der menschlichen Spezies alle Aspekte unseres Verhaltens regieren — nicht nur Aggression und Sexualität, sondern auch solche für charakteristisch gehaltenen menschlichen Eigenschaften wie Großzügigkeit, Opfer­bereitschaft und selbst religiöse Empfindungen.

 

In diesem Buch setze ich voraus, daß sowohl die genetische Veranlagung als auch die gesamte Umgebung bestimmend sind für alle Aspekte menschlicher Entwicklung und menschlichen Verhaltens. Ich möchte aber hervorheben, daß diese Determinanten nur unvollständig das gesamte menschliche Leben erklären. Individuen und Gesellschaften unterwerfen sich nicht passiv ihrer Umwelt und Situationen. Sie entscheiden zum Beispiel, wo sie leben und welche Tätigkeiten sie entfalten möchten — Entscheidungen, die darauf basieren, was sie sein wollen, tun wollen, werden wollen. 

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Darüber hinaus ändern einzelne Menschen und Gemeinschaften häufiger ihre Ziele und ihre Ansichten; sie können sogar ihre Entscheidungen rückgängig machen und in eine andere Richtung lenken, wenn sie glauben, auf dem Holzweg zu sein. Während das Tier ein Gefangener der biologischen Evolution ist, die im wesentlichen nicht umkehrbar ist, besitzt der Mensch die wunderbare Freiheit der sozialen Evolution, die schnell umkehrbar und kreativ ist. Wo immer menschliche Wesen betroffen sind, ist der Trend kein Schicksal.

An bestimmten Punkten werde ich die Thematik dieses Buches durch Beispiele aus meinem Leben veranschaulichen. Dabei gehe ich nicht nur auf die Umwelteinflüsse ein, die meine Entwicklung geprägt haben, sondern auch auf die von mir getroffenen Entscheidungen. Das geschieht nicht, weil ich die Umstände meines Lebens überbewerte, ich möchte sie nur als Ausgangspunkt für die Schilderung der Bandbreite menschlicher Erfahrungen in anderen gesellschaftlichen und nationalen Gruppierungen benutzen. Der folgende kurze Überblick über mein Leben soll die umfassende Wahrheit verdeutlichen, daß wir alle unsere umweltbedingte und gesellschaftliche Vergangenheit verkörpern und daß wir ihren Einflüssen auf unsere Natur und unser Verhalten nicht entfliehen können.

 

   Mein Ursprung  

 

Ich wurde zu Beginn dieses Jahrhunderts geboren, am 20. Februar 1901, um genau zu sein, und wuchs in einer ländlichen Gegend, ungefähr 50 Kilometer nördlich von Paris auf. Als meine Familie in die Hauptstadt zog, war ich gerade dreizehn Jahre alt und hatte bis dahin nur eine einzige Kleinstadt gesehen, die einige Kilometer von dem Dorf entfernt war, in dem ich gelebt habe.

Das war Beaumont-sur-Oise, wo meine Großeltern lebten, und es gab dort nicht mehr als 3.000 Einwohner. Ich verließ Frankreich Anfang 1922, lebte zunächst in Italien, ging dann Ende 1924 in die Vereinigten Staaten und hatte seitdem wenig Kontakt zu der Gegend, in der ich aufgewachsen bin. Henonville, das kleine Dorf, in dem ich die überwiegende Zeit meiner Kindheit verbracht hatte, sah ich überhaupt erst sechzig Jahre nach meiner Übersiedlung nach Paris wieder.

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Ich habe es niemals bereut, aus dem Teil der Welt weggegangen zu sein, in dem ich aufgewachsen bin, noch habe ich jemals Heimweh gehabtle mal du pays. Und dennoch erwecken die Namen der Plätze, die mit meiner Jugend verbunden sind, in mir starke Empfindungen. Schon die Erwähnung ihrer Namen trägt mich durch Raum und Zeit. Ich genieße es immer noch sehr, solche Namen wie Le Pays de Thelle oder Le Vexin francais auszusprechen oder zu schreiben. Das sind die beiden kleinen Regionen der Ile de France, in denen meine Heimatdörfer liegen.

Es ist auch immer noch ein schönes Gefühl, den Namen Oise zu lesen, jenes breiten und träge fließenden Flusses, an den ich mit meinem Großvater zum Fischen ging, oder La Troesne, eines schmalen Baches, der von Henonville in die Epte bei Clermont en Vexin mündet und das erste fließende Gewässer war, das ich jemals sah.

Es ist merkwürdig, daß ich mit solcher Intensität auf Namen von Orten reagiere, die ich nur aus meiner frühesten Kindheit kenne und die keine bedeutende Rolle mehr in meinem Leben spielten, nachdem ich sie vor mehr als einem halben Jahrhundert verließ. Ich kann mein Verhalten bestenfalls damit erklären, daß solche Namen die Erinnerung an die Verzauberung und auch Begrenztheit des provinziellen Lebens meiner Vergangenheit in mir erwecken; daß das Wort Ile de France die mannigfaltige und anmutige Landschaft beschwört, die den Hintergrund für die Entwicklung der würdigsten Aspekte der französischen Geschichte und Kultur bildete.

Von konkreterer Bedeutung ist es jedoch für mich, daß durch die Nennung von Gegenden, in denen ich meine Jugend verbracht habe, in mir auch Situationen wach werden, in denen ich mir meines eigenen Lebens bewußt wurde und meine Persönlichkeit entwickelte. Sie erinnern mich an die Landschaft so, wie ich sie wahrnahm, an die Personen, mit denen ich zusammen aufwuchs, und die Handlungen, die ich als Ausdruck natürlicher Lebensweise wertete. 

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Die von meinen Eltern ererbten biologischen Eigenschaften stellten nur das Entwicklungspotential dar, das von der Lebensweise in der Ile de France geformt wurde. So entstanden konkrete geistige und physische Merkmale, die immer noch in mir weiterleben, trotz meiner langen Abwesenheit und zahlloser späterer Erfahrungen.

Leser, die an roots interessiert sind, werden von der Vernachlässigung meines familiären Hintergrundes enttäuscht sein. Dubos, der Name meines Vaters, stammt sicherlich aus dem Südwesten Frankreichs, wo er weit verbreitet ist, aber er und sein Vater wurden nördlich von Paris geboren. Mein Großvater war Anstreicher in der Kleinstadt Beaumont-sur-Oise. Im Alter von 35 Jahren gewann er in einer nationalen Lotterie Geld und gab sofort seinen Beruf auf. Er kaufte drei Häuser in Beaumont, wohnte im schönsten und lebte von der Vermietung der beiden anderen, die weniger als 5 Minuten zu Fuß von seinem neuen Heim entfernt waren. Obwohl ich ihn als Kind häufig sah, kann ich mich nicht erinnern, daß er ausgeprägte Interessen besaß, höchstens Gartenarbeit und Fischen in der Oise — nicht vom Boot aus, sondern fast ausschließlich am Ufer stehend. Von seiner Frau, der Mutter meines Vaters, weiß ich nur noch, daß sie hübsch und energisch war und das absolute Sagen im Haushalt hatte.

Mein Vater wurde Fleischerlehrling in Beaumont und lernte meine Mutter während seiner Militärzeit in Sedan kennen, einer Kleinstadt im Nordosten Frankreichs. Ich hatte wenig Kontakt zu ihm, denn seine ganze Zeit war von der Arbeit in den kleinen Metzgereien, die er besaß, ausgefüllt. 1914, zu Beginn des Ersten Weltkrieges, wurde er eingezogen und starb 1918 im Felde.

Die Geschichten über die Vorfahren meiner Mutter klingen romantischer, sind aber nicht belegt. Laut Aussage ihrer Eltern wurde ihr Vater als sehr kleines Kind in der belgischen Kathedrale von Saint Gudule in Brüssel ausgesetzt. An seiner feinen Kleidung war ein Zettel festgesteckt, auf dem stand, daß er zu einem Bauernhof in der Nähe von Mons nahe der französischen Grenze gebracht werden sollte, wo Geld bis zu seiner Volljährigkeit zur Verfügung stehen würde. Sein Nachname wurde mit De Bloedt angegeben, ein flämisches Wort für Blut.

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Er kam schließlich nach Frankreich, ließ sich als Textilarbeiter in Sedan nieder und heiratete eine einfache Französin; meine Mutter wurde als Adeline De Bloedt geboren. Sie war ziemlich klein, dunkelhaarig, sensibel, lebhaft und übte, wie sich später deutlich herausstellte, einen tiefgreifenden Einfluß auf mein Leben aus, obgleich ich mein Aussehen eher meinem Vater als ihr verdanke. 

Überraschenderweise haben sich die kleinen Dörfer und die bäuerliche Landschaft, in der ich aufwuchs, während der letzten siebzig Jahre kaum verändert. Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich ihr sehr gesittetes Milieu banal oder anziehend finde. Ich weiß nur, daß ich mich dort sehr wohl fühle, höchst­wahrscheinlich, weil dieses Milieu mein ganzes Wesen geprägt hat und ich ihm immer noch verhaftet bin — selbst nach den Jahrzehnten meiner Abwesenheit.

Im Alter von zwanzig Jahren waren meine wichtigsten Wesensmerkmale, die aus dem Zusammenspiel von genetischer Veranlagung und milieubedingter Umwelt entstanden waren, entwickelt. Sie blieben die dominanten Aspekte meiner Persönlichkeit. Ich war damals ungefähr 1,83 Meter groß, ziemlich schlaksig, hatte blau-grüne Augen und — ganz wie ein Wikinger — eine blonde Haarpracht. 

Ich arbeitete hart und wollte unbedingt in der Welt herumkommen, wahrscheinlich aus Abenteuerlust — auch wie ein Wikinger. Es würde mich nicht überraschen, wenn meine genetische Veranlagung sehr stark auf jene nordischen Menschen zurückgeführt werden könnte, die während des frühen Mittelalters in Frankreich siedelten. Aber meine Stimme, meine Gebärden, mein Geschmack und meine Lebensweise waren das Resultat meiner sozialen Konditionierung im Frankreich des 20. Jahrhunderts. Hätte ich meine Jugend in Skandinavien oder in einem anderen Teil Nordeuropas verbracht, wäre ich ein anderer geworden. So weit ich zurückdenken kann, liebte ich Spaziergänge durch die Wälder und noch mehr über die Felder, aber ich habe selten jene romantischen Gefühle dabei besessen, die man im allgemeinen jungen Leuten mit schwedischer, deutscher oder russischer Seele nachsagt.

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Die Seinsäußerungen meiner genetischen Mitgift — nennen Sie es, wenn Sie wollen, meine biologische Natur — wurden weitgehend von der anmutigen Heiterkeit des Himmels über der Ile de France beeinflußt, der meistens strahlend war, bisweilen aber auch finster und etwas bedrohlich wirkte. Hinzu kam der Abwechslungs­reichtum der französischen Landschaft, die mit ihren baumbestandenen Straßen und Gartenanlagen entweder einen strengen und überaus ordentlichen Anblick bot oder aber auch, wie auf einem Gemälde von Camille Corot, einen eigenartig geheimnisvollen und aufwühlenden Eindruck hinterließ. Auch die einfachen Menschen, die ich als fleißig und hart arbeitend kannte, die aber auch gelegentlich sentimental und voll überschäumender Lebensfreude waren, prägten meine Lebensäußerungen.

Der Leser wird nach diesen Abschnitten vielleicht annehmen, daß ich nun ein alter Mann bin, der ausschließlich in der Vergangenheit lebt. In Wahrheit aber bin ich noch sehr aktiv und auf der Höhe der Zeit, bin ein Teil der modernen Zeit. Als ich das <Rene Dubos Center for Human Environments> aufbaute und im Oktober 1980 einweihte, war mein Ziel nicht die Bewahrung von Landschaften und Monumenten. Ich wollte demonstrieren, daß die beste Politik der Bewahrung darin besteht, sparsam und gleichzeitig kreativ in die bestehende Welt der Dinge einzugreifen.

 

    Menschliche Wesen als Tiere    

 

Wir sind Menschen, nicht so sehr wegen unseres Aussehens, sondern wegen unseres Handelns und den Möglichkeiten, wie wir uns für oder gegen etwas entscheiden. Unsere Spezies gewann nicht an Menschlichkeit durch Verlust animalischer Eigenschaften, sondern weil sie Aktivitäten entfaltete und Verhaltens­muster entwickelte, die zu einer fortschreitenden Überlegenheit über das Animalische und somit zur Menschlichkeit führten.

Eine wahrhaft menschliche Sprache und Verhaltensweise wurden in dieser Form nur von den Mitgliedern der Spezies Homo sapiens erreicht. Die Schlußfolgerung aber, ob uns dies qualitativ vom Rest des Tierreichs unterscheidet, ist lange hinterfragt worden und wird heute wieder zunehmend angezweifelt. 

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Alle Anthropologen stimmen darin überein, daß, je mehr wir vom Verhalten der Primaten wissen, desto kleiner der Unterschied zwischen dem Verhalten von menschlichen und nichtmenschlichen Primaten zu werden scheint. Diese Ansicht stimmt offenbar mit den jüngsten Laborbefunden überein, die besagen, daß der genetische Unterschied zwischen Schimpansen und Menschen weniger als ein Prozent beträgt. Es gibt viele Leute, die tatsächlich glauben, daß man Affen beibringen könne, sich wie Menschen zu verhalten, zu bewegen und sogar zu sprechen, wenn sie entsprechenden Bedingungen ausgesetzt und von Geburt an wie Menschenkinder behandelt würden.

Als Europäer vor einigen Jahrhunderten die Großaffen zum erstenmal entdeckten — die Schimpansen in Westafrika, dann die Orang-Utans in Sumatra und Borneo und schließlich die Gorillas in Zentralafrika —, waren sie von einigen menschenähnlichen Eigenschaften dieser Kreaturen zutiefst beeindruckt und betrachteten sie als wilde, behaarte Menschen mit Schwänzen. Der Präsident der Berliner Akademie der Wissenschaften war so sehr von den Forscher­geschichten über Orang-Utans angetan, daß er 1768 verlautbaren ließ, daß er lieber eine Stunde lang mit einem dieser »behaarten Menschen« reden würde als mit den gelehrtesten Geistern Europas. Er wußte vielleicht, daß sich das Wort »Orang-Utan« aus dem malaiischen Wort für »wilder Mensch« ableitet.

Es ist höchst unwahrscheinlich, daß jemals eine wirkliche Unterhaltung zwischen Menschen und anderen Primaten stattfinden wird. Einige Primaten verschiedener Gattungen sind von Geburt an in Menschenfamilien groß geworden und bekamen alle möglichen Anreize, eine Art menschlicher Sprache und menschlichen Verhaltens zu entwickeln. Unter diesen Bedingungen haben sie es tatsächlich gelernt, einige wenige Begriffe zu verstehen und auf sie zu reagieren. In begrenztem Umfang mögen einige sogar dazu übergegangen sein, wenige und einfache Bezüge zur Außenwelt und zu ihren Bezugspersonen abstrakt darzustellen, obwohl das mehr als fraglich ist. Aber keiner dieser Primaten hat wirklich eine menschliche Sprache oder menschliches Verhalten erlernt.

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Das mag in der Tat auch eine unbegründete Erwartung bleiben. Selbst wenn es uns gelänge, die Kommunikationstechniken zu meistern, die Affen oder andere Tiere untereinander anwenden, müßten wir unsere eigene soziale Natur ändern, um in einer Topik denken zu können, die eine wirkliche Konversation nach sich zöge. Während die Sprache das hauptsächliche, wenn nicht einzige Kommunikationsmittel zwischen Tieren ist, stellt sie darüber hinaus zwischen den Menschen den Mechanismus zur Formulierung und Anwendung von Symbolen dar, die fundamental für die Schöpferkraft des menschlichen Lebens sind.

Ich füge schnell hinzu, daß menschliche Wesen, zumindest seit der Cro-Magnon-Zeit, wahrscheinlich aber schon immer, ihre tiefe Verwandtschaft mit den anderen Mitgliedern des Tierreichs gesehen haben. Zum Beispiel wiesen viele Jägergesellschaften, so primitiv sie auch waren, Anzeichen von Verehrung gegenüber Tieren auf, die sie jagten, auch wenn sie häufig mehr töteten, als es ihren Bedürfnissen entsprach. Darüber hinaus haben Schriftsteller seit Jahrtausenden die Schilderung von Tieren dazu benutzt, religiöse Anschauungen und ethische Probleme des Lebens zu versinnbildlichen. 

Mit der Zeit wurden die Themata dieser Tierbücher zunehmend weltlicher, und die Tiere wurden dazu benutzt, die verschiedenen Aspekte des normalen Erdenlebens darzustellen. So schildert eine französische Darstellung aus dem 13. Jahrhundert die Liebesspiele der Menschen. Dante versinnbildlichte in der <Göttlichen Komödie> anhand von Tieren die Laster, Leidenschaften und Tugenden seiner Zeit. Machiavelli wählte in <Der Fürst> die Gestalten von Fuchs und Löwe, um die Rollen von Macht und List in der Politik zu veranschaulichen.

Die auf dem Tierleben beruhenden volkstümlichen Allegorien mögen einiges von ihrer Anziehungskraft verloren haben, nachdem Descartes in seinen philosophischen Abhandlungen die Behauptung aufgestellt hatte, daß Tiere nichts anderes als Maschinen seien. Aber diese Zurückdrängung, falls es sie wirklich gab, war nie vollständig oder von langer Dauer. In Fabeln, wie zum Beispiel denen La Fontaines, erhielten Tiere bald wieder ihre Symbolkraft. 

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Der französische Philosoph Hippolyte Taine widmete diesem Thema viele Seiten. In unserer Zeit beweisen die Erfolge von Orwells <Farm der Tiere> und Bachs <Die Möve Jonathan>, daß auch moderne Menschen eine Gemeinsamkeit zu Tieren, zumindest zu gewissen Formen sozialen Verhaltens, sehen. Auf der ganzen Welt neigen die Menschen tatsächlich dazu, durch das eine oder andere Tier gewisse Aspekte der menschlichen Natur zu personifizieren — Intelligenz oder Dummheit, Aggressivität oder Ängstlichkeit, Verschwendungssucht oder Genügsamkeit, Sorglosigkeit oder Umsichtigkeit.

Die symbolische Darstellung menschlichen Lebens anhand von Tieren findet ihre Entsprechung in der einen, aber universellen Gewohnheit, das Tierverhalten mit Begriffen aus dem menschlichen Verhalten zu beschreiben — so als ob Tiere ein Leben führten, das vergleichbar wäre mit dem charakteristischen Verhaltens­repertoire der Menschen. Im 18. Jahrhundert befolgte Buffon in seiner Naturgeschichte weitgehend diese Praxis. In unserem Jahrhundert wandte Julian Huxley dieses Verfahren in seinen frühen Schriften über die Erforschung des Tierlebens an. Zum Beispiel ist der Begriff »Ritualisierung« stark mit anthropomorphen und historischen Werten besetzt, dennoch übernahm ihn Huxley, um die symbolischen Kampfhandlungen zu kennzeichnen, mit denen Tiere ihre Dominanz über andere Tiere derselben Gattung und innerhalb einer bestehenden Gruppe durchzusetzen versuchen, so als ob die symbolischen Kämpfe unter männlichen Wölfen mit den Turnieren mittelalterlicher Ritter vergleichbar wären.

Obgleich wir Menschen uns immer unserer Verwandtschaft zu Tieren bewußt waren, hat die große Mehrheit von uns das menschliche Leben — aufgrund gewisser intellektueller und ethischer Merkmale — für höherwertiger gehalten als das tierische Leben. Aber die Meinungen scheinen sich diesbezüglich bei unseren Zeitgenossen zu ändern. Die neue intellektuelle Richtung stellt die Behauptung auf, daß sich die menschliche Gattung nur kaum von anderen Tiergattungen unterscheidet, und führt menschliches Verhalten und menschliche Geschichte auf rein biologische Determinanten zurück.

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John Locke, Jean-Jacques Rousseau und andere Verfechter der Erziehungstheorie von der menschlichen Entwicklung lehrten, daß ein Neugeborenes einem unbeschriebenen Blatt gleiche, das erst durch das Lernen und die Erfahrungen während des Lebens fortlaufend »beschrieben« werde. Ein Jahrhundert später lieferte Thomas Huxley eine mehr biologisch geprägte Sicht dieser These, als er erklärte, daß ein neugeborenes Kind »nicht als Straßenkehrer, Krämer, Bischof oder Fürst etikettiert zur Welt kommt, sondern als ziemlich homogener roter Breiklumpen geboren wird«, dessen Entwicklungs­möglichkeiten erst durch die Erziehung zutage treten. 

Die Erziehungstheorie hat in unserer Zeit viele Formen angenommen. 

Sigmund Freud und seine Anhänger glaubten, daß die besonderen Eigenarten jeder menschlichen Seele auf frühkindliche Einflüsse zurückzuführen sind, einschließlich und insbesondere auf jene aus der Zeit vor und während der Geburt. Die meisten Widrigkeiten, die das menschliche Dasein quälen, wären demnach auf die frühen Umweltbedingungen zurückzuführen. Das war auch Margaret Meads allgemeine Überzeugung und die der Schule für Sozialanthropologie an der Columbia-Universität, deren Mitglied sie war. Gegenwärtig vertritt Burrhus Frederic Skinner immer noch die extremste Position hinsichtlich der Einflüsse der Umwelt auf die Verhaltensdeterminanten, die er mit seinen Labortests zur Konditionierung von Versuchstieren sowie durch seine Werke, wie » Waiden II« untermauert. In diesen versucht er uns weiszumachen, daß wir jedes gewünschte menschliche Verhalten erzeugen könnten, wenn wir das entsprechende soziale Milieu für die Menschheit gestalten würden.

Auf der anderen Seite besagen die Werke Carl Gustav Jungs aus dem frühen 20. Jahrhundert, daß die Menschheit nur mit Hilfe der Erforschung der zahlreichen Faktoren verstanden werden kann, die in grauer Vorzeit an der Genesis des menschlichen Geistes Anteil hatten; nach ihm wird das individuelle Verhalten überwiegend von Archetypen beeinflußt, die so alt wie die menschliche Rasse selbst sind.

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Zeitgenössische Vertreter des genetischen Determinismus sind präziser. Ihrer Ansicht nach sind wir nichts als nackte Affen; unsere Beziehungen zu anderen menschlichen Wesen und zum Rest des Kosmos werden durch territoriale Sachzwänge und andere aggressive, sogar destruktive Merkmale beherrscht, die wir von unseren steinzeitlichen Vorfahren erbten, die »Killer« sein mußten, weil sie von der Jagd lebten. 

Laut Prof. Edward O. Wilson, dem gegenwärtig wichtigsten Kopf dieser soziobiologischen Schule, sind sogar Altruismus und religiöse Gefühle die Folgen genetischer Mechanismen, die einst und im allgemeinen auch heute noch selektive Überlebensfaktoren darstellen. Nach seiner Ansicht fällt im Falle der in Gesellschaften lebenden Insekten der Nachweis nicht schwer, daß »die natürliche Selektion dahin gehend erweitert wurde, daß sie die Artauslese einschließt«. Der Termitensoldat schützt zum Beispiel den Rest der Kolonie durch Selbstopferung und trägt somit dazu bei, daß seine fruchtbareren Brüder und Schwestern weiterleben. Die Beweisführung gestaltet sich im Falle menschlicher Wesen sehr viel komplexer und kann nur wenig überzeugend untermauert werden. Ich möchte mich daher darauf beschränken, den Anfang und das Ende des Kapitels zu zitieren, das der Autor in seinem Buch »On Human Nature« (Über die menschliche Natur) dem Altruismus widmet:

»Das Blut der Märtyrer ist die Saat der Kirche. Mit diesem brutalen Sprichwort gab der aus dem dritten Jahrhundert stammende Theologe Tertullian zu, daß der Zweck der Selbstopferung darin besteht, eine Menschengruppe mittels einer anderen zu züchten... Menschliches Verhalten... kann als Regeltechnik verstanden werden, mit deren Hilfe das menschliche genetische Material intakt gehalten wurde und wird. Die Moral hat keinen anderen beweisbaren Endzweck.«

Obwohl Behaviorismus und Soziologie von den biologischen Mechanismen, auf die sie sich berufen, durch wissenschaftliche Welten getrennt sind, nehmen sie zum menschlichen Leben eine ähnliche Haltung ein. Bei beiden Begründungen verliert der Mensch seine Identität als Subjekt, sobald er von Faktoren geformt und beherrscht wird, über die er keine Kontrolle hat. Die Person wird zum bloßen Objekt, dessen Verhalten und Schicksal keiner bewußten Entscheidung mehr unterliegen. Die Menschen werden zu Produkten von Zufall und Zwang, für die Freiheit und Würde leere Worte sind.

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Es muß eigentlich nicht nochmals mit aller Entschiedenheit festgestellt werden, daß der Homo sapiens ein dem Primaten in anatomischer Hinsicht sehr ähnliches Tier ist; das gilt ebenfalls für die physiologischen Mechanismen, die die Körperfunktionen aufrechterhalten, und für die instinktiven Reaktionen auf Umwelteinflüsse. Aber die Kenntnis animalischer Aspekte unserer Natur reicht nicht zur Begründung unserer Menschlichkeit. Das meinte wohl auch der deutsche Psychologe Benno Erdmann, als er vor nahezu einem Jahrhundert schrieb: »In meiner Jugend pflegten wir uns neugierig zu fragen: Was ist der Mensch ? Heute scheinen die Wissenschaftler mit der Antwort zufrieden zu sein, daß er ein Affe war.« 

Wenig später drückte Paul Valery ebenfalls seine Unzufriedenheit mit der orthodoxen wissenschaftlichen Definition des menschlichen Lebens aus. Seine Aussage »Der Mensch ist nicht so einfach, daß es genügt, ihn zu erniedrigen, um ihn zu verstehen« besagt, daß Menschlichkeit nicht nur mit Begriffen von biologischen Strukturen und Mechanismen erfaßt werden kann. Da ich diese Auffassung teile, möchte ich die Aufmerksamkeit im folgenden auf die Eigenschaften lenken, die menschliche Wesen von Tieren unterscheiden. Dabei will ich besonders betonen, daß diese Charakteristika nicht auf die biologischen Merkmale zurückzuführen sind, sondern auf die Seinsäußerungen menschlichen Lebens, die zum größten Teil die Auswirkungen bewußter Entscheidungen sind.

 

    Soziale Vielfalt der Menschheit  

 

Die meisten, wenn nicht alle sozialen Merkmale der einen oder anderen menschlichen Gesellschaft findet man auch im Leben der einen oder anderen Primatenart. Zum Beispiel kennt die soziale Organisation nichtmenschlicher Primaten praktisch alle möglichen sexuellen Beziehungen: das Einzelgängertum der Orang-Utans, das Hordenleben der Schimpansen, die Monogamie der Gibbons, die Polygamie der Paviane, die feste Kleinsippe der Gibbons, die lose Verbindung der Paviane und Schimpansen, die Zusammenarbeit und Gleichheit der Geschlechter bei den Gibbons, die männliche Dominanz und Trennung der Geschlechter bei den Pavianen, Schimpansen und Gorillas.

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Diese Varianten sexueller und sozialer Ordnungen gibt es auch bei den Menschen und gilt vergleichsweise auch für alle anderen menschlichen Organisations­formen und Handlungsweisen. Folglich sind Intentionen und Entscheidungsfreiheit im menschlichen Leben zumindest genauso wichtig wie die biologischen Determinanten — ob nun genetisch oder umweltbedingt. Menschen können weitgehend die Zwänge überwinden, die sich aus ihren genetischen Anlagen und ihrer Umwelt ergeben. Im allgemeinen besitzen sie sogar ziemlich viel Freiheit in der Wahl dieser Umweltbedingungen und ihrer persönlichen Lebensweise.

Obwohl zum Beispiel angenommen wird, daß menschliche Wesen den amerikanischen Kontinent von Asien aus vor über 20.000 Jahren, eventuell sogar schon vor 50.000 Jahren, erreichten, unterschieden sich die Sozialstrukturen der verschiedenen indianischen Gruppen, auf die die Europäer bei ihrer Ankunft in der Neuen Welt stießen, sehr stark von denen der Europäer. 

Noch verblüffender waren die Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen Amerikas. Die ersten Ankömmlinge aus Asien brachten eine Art Steinzeitkultur und den Gebrauch des Feuers mit. Mit der Zeit lernten einige von ihnen, Metalle zu benutzen, andere hingegen kamen nicht über das Stadium von Steinwaffen und -werkzeugen hinaus. Der Indianer kannte den Pflug oder das Rad nicht. Die Sprachen waren so unterschiedlich, daß einige Stämme, die nur wenige Kilometer voneinander entfernt lebten, die Zeichensprache benutzen mußten, um sich zu verständigen.

Große, mit dem Glanz Europas und Asiens vergleichbare Kulturen entwickelten sich in den Dschungeln Zentralamerikas, dem Tal von Mexiko und dem peruanischen Hochland; aber die vergleichbaren Maya-, Azteken- und Inkareiche dehnten sich nirgendwo in die weiten, nahezu leergefegten Territorien aus, die später zu den Vereinigten Staaten und Kanada wurden. Hier betrug die indianische Bevölkerung 1492 ungefähr eine Million, verglichen mit den schätzungs­weise 15 Millionen in Zentral- und Südamerika.

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Noch erstaunlicher war jedoch die extreme Verschiedenheit und Zersplitterung der nordamerikanischen Indianer. Es gab ungefähr 500 verschiedene Stämme in der präkolumbischen Zeit Nordamerikas, und jeder besaß seinen eigenen Lebensstil. Der trockene Südwesten hatte eine agrarische Siedlungsform hervorgebracht, mit einem hochentwickelten Netz von Bewässerungskanälen zwischen Gila und Salt River. Im Gegensatz dazu fristeten die primitiven Shoshoni, die in verhältnismäßiger Isolation auf der rauhen Ebene nördlich von Pueblo lebten, ihr Dasein mit der Jagd und dem Sammeln wilder Gräser und Pinienkerne; ihr sozialer Organisierungsgrad ging kaum über die Sippe hinaus

Die Indianer der Nordwestküste besaßen eine kapitalistische Struktur, sie waren ein seefahrendes Volk, das zudem in bemerkenswerter Weise den großen Nadelholzbestand nutzte. Sie fischten Lachs in den breiten Flüssen, fuhren in ihren Einbäumen die Küste entlang und hielten mit hohen Totempfählen ihre Geschichte fest. Ihr vielschichtiges Gesellschaftssystem kannte Häuptlinge, Adlige und Sklaven.

Auf den Great Plains westlich der Rocky Mountains ging es bis zur Einführung der Pferde durch die Spanier anscheinend sehr friedlich zu. Diese Idylle aber wurde gestört, als nomadisierende Stämme, wie zum Beispiel Comanchen, Apachen, Blackfoot und Sioux, mit ihren Mustangs vordrangen und das Weideland zum Austragungsort ihrer Stammeskriege und der Büffeljagd machten.

Östlich der Great Plains gab es zahlreiche kleine, zu größeren Verbänden lose organisierte Stämme. Bei den Algonkin gingen die Männer auf Pirschjagd, befuhren die Flüsse und Seen mit ihren Birkenrindenkanus, während die Frauen auf kleinen Feldern Getreide, Kürbisse und Bohnen anbauten. Die Menschen lebten in stolzen Wigwam-Dörfern, die von Palisadenbefestigungen geschützt waren. Die Algonkin benötigten diese Schutzmaßnahmen, denn sie wurden ständig von anderen Indianern bedroht, die meist zum Stammesverband der Irokesen gehörten. Andere kriegerische Stämme mit anderer Lebensweise, aber ebenfalls in losen Verbänden zusammengeschlossen, lebten im Südosten.

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Die bekanntesten waren die Natchez, die eine Hügelbauweise übernahmen, die sehr früh im Ohio-Tal aufgetreten war und dann zu kunstvollen und großzügigen Erdwällen weiterentwickelt wurde — zu einer Art abgeflachter Pyramide, die als Sockel für Tempel und Paläste diente. Noch in einer anderen Hinsicht erhoben die Natchez Anspruch auf Besonderheit: Ihre komplexe Klassengesellschaft besaß die einzige jemals bei nordamerikanischen Indianern bekanntgewordene absolute Monarchie.

Diese Beispiele extremer Verschiedenartigkeit amerikanischer Indianer beweisen, daß die Biologie nicht die sozialen Aspekte des menschlichen Verhaltens determiniert. Alle Mitglieder der Gattung Homosapiens sind mit ähnlichen biologischen und geistigen Entwicklungsmöglichkeiten ausgestattet: Wir alle sind in unseren Handlungsmöglichkeiten ähnlichen Zwängen ausgesetzt, aber im konkreten Leben bewegen wir uns zu den Klängen völlig verschiedener Trommeln. 

Ich leugne keineswegs die Banalität dieser Feststellung, die Ausdruck des gesunden Menschenverstands ist. Aber wir leben in einer Zeit, in der viele Menschen, und nicht nur Wissenschaftler im Elfenbeinturm, von den jüngsten biologischen Erkenntnissen so berauscht sind, daß sie nicht mehr den Umfang sozialer Verschiedenartigkeit der Menschheit, die zu unseren wesentlichsten Kennzeichen zählt, schätzen. Die theoretische Biologie ist einfacher zu erfassen als die Komplexität des menschlichen Lebens, und sie fördert die Formulierung simpler dogmatischer Theorien vom Leben. 

Deshalb ist es notwendig geworden, gewisse sehr elementare Wahrheiten neu zu formulieren, weil sie durch die Übernahme unvollständiger und dürftig angepaßter wissenschaftlicher Erkenntnisse verwässert wurden.

 

    Vom Homo sapiens zum menschlichen Wesen  

 

Viel Verwirrung entsteht aufgrund der allgemein verbreiteten Auffassung, daß die Begriffe »menschliches Wesen« und »Homo sapiens« dieselbe Bedeutung haben, obwohl sie tatsächlich in ihren Begriffsinhalten fundamental voneinander abweichen.

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Wir werden nicht mit den für ein wahrhaft menschliches Leben wesentlichen Eigenschaften geboren, sondern nur mit Anlagen, die es uns ermöglichen, menschlich zu werden. Diese Anlagen können nur dann zum Vorschein kommen, wenn das neugeborene Homo-sapiens-Wesen von Anfang an die Gelegenheit erhält, unter anderen menschlichen Wesen aufzuwachsen und zu agieren, was auf jede der zahlreichen unterschiedlichen menschlichen Gesellschaftsformen zutrifft. Wir werden nur in dem Umfang menschlich, wie wir diese Gelegenheiten nutzen.

Vergangene und gegenwärtige Erfahrungen beweisen, daß die Menschen aller Rassen und Hautfarben sehr schnell und effektiv lernen, unter anderen Menschen zu leben und zu arbeiten, wenn sie in ihrer Kindheit sozialisiert wurden, gleichgültig, in welcher Gesellschaft dies geschah. Menschen verschiedener gesellschaftlicher Gruppierungen denken, fühlen und sprechen unterschiedlich über unterschiedliche Dinge, aber sie können alle denken, fühlen und sprechen — das sind die Eigenschaften, die den Homo sapiens zum menschlichen Wesen werden lassen.

Auf unser rein biologisches Dasein zurückgeführt, sind wir nur Tiere, eng verwandt mit den höheren Affen. Unsere biologische Natur kann nicht ausschließlich unsere sozialen und kulturellen Muster und Vorstellungen erklären, noch weniger gilt das für die individuelle Persönlichkeit, die wir in jedem erkennen und die wir mittels eigener Entscheidungen weitgehend selbst bilden. Der Unterschied zwischen Humanität und Animalität kann durch den einfachsten, aber verblüffendsten Verhaltensunterschied zwischen Tieren — selbst den edelsten und eindrucksvollsten — und Menschen — selbst den »primitivsten« — bewiesen werden.

Theoretisch können Löwen, Tiger, Polarbären, Orang-Utans, Gorillas und andere mächtige Tiere ihre Lebensräume ohne weiteres durch Verdrängung anderer Lebewesen ausweiten. Aber in der Praxis wechseln sie so gut wie nie ihre natürliche Umgebung, in der sie aufgewachsen und an die sie biologisch angepaßt sind. 

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Sie bleiben sogar in einem sehr begrenzten Revier innerhalb dieser Umgebung. Das gilt praktisch für alle anderen Tiergattungen auch, ob schwach oder stark. Zugvögel sind keine Ausnahme dieser Regel. So weit sie auch fliegen, folgen sie doch immer einem festgelegten Kurs und der Jahreszeit, der sie sich anpassen müssen. Ein angenehmes Leben zu führen heißt für ein in Freiheit lebendes Tier, daß es diejenigen besonderen Tätigkeiten gemäß jener Instinkte ausübt, die während seiner stammesgeschichtlichen Entwicklung innerhalb des natürlichen Lebensraumes programmiert wurden.

Die Ursache dieser »Spießigkeit« wilder Tiere besteht nicht darin, daß sie unter anderen Bedingungen, die sich von ihren angestammten Lebensräumen unterscheiden, nicht überleben könnten. Wie Zoo-Erfahrungen beweisen, können die meisten Gattungen mit geringen Hilfsmaßnahmen in Bereichen leben und sich fortpflanzen, die weit entfernt von ihrer natürlichen Umgebung sind, in der sie aufwuchsen. Die Tiere im sehr beliebten Zoo des Central Park inmitten Manhattans erfreuen sich allgemein bester Gesundheit; ihre Lebenserwartung ist gewöhnlich höher als in der Wildnis, und die meisten pflanzen sich erfolgreich fort. Ein denkwürdiges Ereignis im Stadtleben New Yorks war beispielsweise die Geburt des Gorillababys Patty Cake. Seine Mutter Lulu zeigte ein ideales mütterliches Verhalten; die Anwesenheit zahlloser bewundernder, lauter und aufgeregter New Yorker schien ihre liebevolle Fürsorge und Aufmerksamkeit nicht zu stören.

Tiere bleiben wohl auf ihre ursprünglichen Lebensräume einzig und allein deshalb beschränkt, weil sie kein Bedürfnis danach haben, nach anderen Bedingungen außerhalb ihres begrenzten Bereichs zu suchen, an den sie sich aufgrund der Evolution, der Zufälle der Geburt und der Aufzucht biologisch und verhaltensmäßig angepaßt haben. Es ist zweifelhaft, ob sie sich überhaupt eine Existenz vorstellen können, die von den Bedingungen abweicht, unter denen sie sich entwickelt haben. Und selbst dann würden sie auf die natürlichen Bedingungen ihrer evolutionären Vergangenheit reagieren, auch wenn sie diese Bedingungen niemals selbst erlebt haben. 

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Ich erinnere mich an die Schnelligkeit und Intensität, mit welcher eine Hauskatze ihre Augen an die Zimmerdecke richtete, als sie zum erstenmal Tonband­aufnahmen von Vogelstimmen hörte, obwohl sie in einer New Yorker Stadtwohnung geboren und aufgewachsen war und niemals zuvor einen Vogel gesehen hatte.

Für das wilde Tier ist der natürliche Lebensraum der Garten Eden. Wir fühlen uns schuldig, wenn wir irgendein wildes Tier an einen anderen Ort verpflanzen, sogar dann, wenn die neuen Bedingungen sein Leben verlängern und erleichtern — wahrscheinlich, weil wir uns selbst gelegentlich nach einem animalischen Dasein im Garten Eden sehnen.

Unsere biologische Wiege, unser Eden, war eine subtropische Savanne mit wenigen großen Bäumen, aber einer mannigfaltigen Vegetation und jahreszeitlichen Veränderungen. Anders als die wilden Tiere haben wir Menschen uns jedoch über die ganze Erde verbreitet, und die meisten von uns leben nun in einer Umgebung, an die sie biologisch nicht angepaßt sind. Aus bisher nicht ganz geklärten Gründen zogen die Vertreter des Homo erectus, des unmittelbaren Vorgängers des Homo sapiens, vor mehr als einer Million Jahren aus ihrem Ursprungsgebiet heraus. Seitdem unterschied sich das menschliche Dasein immer mehr von dem der Tiere. Anstelle eines Lebens in der Natur verändern wir natürliche Umgebungen zu künstlichen Lebensräumen, die den biologischen Attributen, die wir während der Steinzeit erwarben, entgegenkommen und die wir überall auf der Erde beibehalten — selbst dann, wenn wir uns in den Weltraum begeben.

 

     Die Ursprünge der Menschheit  

 

Einige Erdteile nehmen für sich die Ehre in Anspruch, die Wiege der Menschheit gewesen zu sein — aber die Entscheidung darüber wird wahrscheinlich immer unsicher bleiben, weil sie davon abhängt, was wir eigentlich meinen, wenn wir das Adjektiv menschlich anwenden. Wenn sich dieser Begriff ausschließlich auf die uns ähnlichen anatomischen und physiologischen Merkmale bezieht, dann ist es wahrscheinlich, daß die Gattung vor einigen Millionen Jahren in den subtropischen Savannen Ostafrikas entstand oder, was weniger wahrscheinlich ist, in einer vergleichbaren Region im westlichen Asien.

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Das Gehirn dieser hypothetischen Vorgänger der Menschheit war viel kleiner als das unsrige, es betrug ungefähr 600 cm3 beim Homo-habilis im Gegensatz zu den 1000 bis 1400 cm3 beim Homo-sapiens.

Die Frage nach dem Ursprung wird weniger eindeutig und die Antwort folglich viel schwieriger, wenn sich das Adjektiv menschlich auf die sozialen, technischen, verhaltensmäßigen, künstlerischen und anderen kulturellen Charakteristika bezieht, die wir mit zeitgenössischen Männern und Frauen verbinden. Einige dieser Eigenschaften waren sicherlich schon bei dem Wesen Homo-erectus vorhanden, das — oder besser gesagt, der — nicht nur einen aufrechten Gang besaß, sondern auch einfache Werkzeuge herstellte und vor mindestens 500.000 Jahren den Gebrauch des Feuers lernte. 

Er scheint der erste Vertreter der Gattung gewesen zu sein, der aus Afrika wegwanderte und somit das menschliche Abenteuer begann, das uns über den gesamten Erdball verstreute. Der Homo erectus trat fast in ganz Europa auf und gelangte bis nach Asien. Hier kennen wir ihn als Peking-Mensch, der in den berühmten Höhlen von Choukoutien eindeutig und unter großer Begeisterung identifiziert wurde. Sein Gehirnvolumen war wahrscheinlich um einiges kleiner als das unsrige, aber auch dieser Unterschied ist fraglich. Bei einer Größe zwischen 730 bis 1 230 cm3 war es vergleichbar mit dem Gehirn Anatole Frances, eines der anerkanntesten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, dessen Gehirnvolumen nur 1100 cm3 betrug! Darüber hinaus besaß er ein ziemlich umfangreiches, genügend spezialisiertes und entwickeltes Arsenal an Werkzeugen, das ihm ein Leben in Erdteilen ermöglichte, an die er biologisch nicht angepaßt war.

Praktisch können wir alle Eigenschaften, die als kennzeichnend für den heutigen Menschen gelten, bei den Angehörigen des Neandertal- und Cro-Magnon-Typs erkennen, die vor über 100000 Jahren lebten. Sie waren uns so ähnlich und hatten sich in so deutlicher und vielfacher Weise vom Rest der Schöpfung abgespalten, daß sie den Namen Homo sapiens verdienen. 

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Ihre Artefakte — Werkzeuge, Waffen, Plastiken und Malereien — beeindrucken uns nicht nur in ästhetischer Hinsicht, sondern auch, weil sie Gedanken und Tätigkeiten offenbaren, die wichtige Aspekte unseres Lebens sind, wie zum Beispiel eine Handwerkskunst, die weit über das reine Nützlichkeitsprinzip hinausgeht, oder Stammeszeremonien und Totenbestattungen, die bisweilen auf blumengeschmückten Betten durchgeführt wurden. Gleichfalls bemerkenswert sind die Genauigkeit und der Umfang des kognitiven Wissens, das diese sogenannten »Höhlenmenschen« von der Außenwelt besaßen und das die Wahrnehmung ihrer rhythmischen Abläufe und Naturgesetze einschloß.

Wir wissen zu wenig über die Urgeschichte, um uns auf einen exakten Zeitpunkt oder Ort dieser Entwicklung einigen zu können; darüber hinaus gibt es einige Anzeichen dafür, daß verschiedene Gruppen des Homo sapiens den menschlichen Zustand unabhängig voneinander und in verschiedenen Regionen der Erde vor mehr als 100.000 Jahren erreichten. Vor kurzem ist sogar vermutet worden, daß der Homo sapiens einen hohen Entwicklungsstand nicht in der Alten Welt, sondern zuerst in Kalifornien erreichte, von wo aus Menschen über die Beringstraße nach Asien wanderten.

Die Neandertaler scheinen zumindest 100.000 Jahre lang die einzigen menschlichen Bewohner Europas gewesen zu sein. Man pflegte sie lange Zeit für »viehisch« und »primitiv« zu halten, in Wirklichkeit aber war ihr Gehirn sogar etwas größer als unseres. Darüber hinaus schufen sie charakteristische Werkzeuge — jene der Mousterien-Kultur. Innerhalb ihrer Horden scheint es einen hohen Prozentsatz alter Menschen gegeben zu haben; die Tatsache, daß jeder fünfte derjenigen, die identifiziert werden konnten, über fünfzig Jahre alt war, ist erstaunlich für jede primitive Jägergesellschaft. Zwei der alten Neandertaler, die in der Shanidar-Höhle im Irak gefunden wurden, waren so stark verkrüppelt, daß sie von den Mitgliedern ihrer Horde über lange Zeit völlig abhängig gewesen sein müssen. Zudem praktizierten die Neandertaler rituelle Totenbestattungen und legten Blumen in die Gräber: Sie waren eindeutig und wahrhaftig menschlich.

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Die meisten Fachleute glauben, daß die Cro-Magnon von Afrika aus, wo die frühesten Überreste von ihnen gefunden wurden, nach Europa wanderten. Aber das geschah nicht eher als vor ungefähr 35.000 Jahren. Zu dieser Zeit konnten sie komplexe Werkzeuge herstellen, jene der Aurignac-Kultur. Sie schufen ebenfalls wunderbare Artefakte wie zum Beispiel die Figürchen, die als paläolithische Venus bekannt wurden, oder die sublimen und geheimnisvollen Höhlenmalereien in Frankreich und Spanien.

Vor 35.000 Jahren trafen sich diese beiden Rassen des Homo sapiens irgendwo in Europa, und die Neandertaler verschwanden schnell von der Bildfläche. Der Grund dafür ist immer noch ein Geheimnis. Es kann vielleicht durch eine schnelle Evolution des Neandertalers zum Cro-Magnon-Typ bewirkt worden sein — eine unwahrscheinliche Annahme; durch einen Rassenkrieg, für den es keinen Beweis gibt; durch eine Kreuzung der beiden Rassen — eine mögliche Erklärung; durch eine Nichtanpassung der Neandertaler an die sich wandelnde Umwelt oder durch andere bislang unbekannte Prozesse.

Diese Fragen haben eine der großen Debatten über die menschliche Vorgeschichte ausgelöst, und da ein überzeugender Beweis nicht vorliegt und vielleicht niemals vorliegen wird, hat einer der gelehrtesten Evolutionspaläontologen Europas, Björn Kurten aus Helsinki, alle verfügbaren Informationen, einschließlich seiner eigenen Theorie, in einem aufregenden Roman mit dem Titel <Dance of the Tiger> (Der Tanz des Tigers) zusammengestellt. Ich kann die Stichhaltigkeit seiner Darstellung über das Verschwinden der Neandertaler nicht beurteilen, aber sein Roman hat meine Auffassung bestärkt, daß die verschiedenen Vertreter der Spezies schon sehr früh Eigenschaften und Verhaltensweisen entwickelten, die sie zu wirklichen menschlichen Wesen machten.

Seit der Cro-Magnon-Zeit Findet die evolutionäre Entwicklung des Menschen nicht mehr auf biologischer, sondern fast ausschließlich auf soziokultureller Ebene statt. Die Menschheit hat die Animalität überwunden. Der vollkommene menschliche Status war in dem Moment erreicht, als vor mehr als 2500 Jahren die großen Religionen formuliert wurden. Jedoch haben einige unserer Zeitgenossen, wie zum Beispiel Joseph Krutch, die Ansicht vertreten, daß die biologische Gattung Homosapiens zwar weiterhin Bestand hat, die Humanität hingegen irgendwann im späten 19. Jahrhundert zu degenerieren anfing, als die Wünsche der Konsumgesellschaft die Überhand über die kulturellen und geistigen Bestrebungen der Menschheit gewannen.

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In einer Hinsicht jedoch hat sich der Homo sapiens seit der Steinzeit nicht sonderlich verändert. Ob er nun in einem gemäßigten Klima, in der Polarzone, in glühenden Wüsten oder unter feuchten tropischen Bedingungen lebt, so hat er sich doch jene genetische Konstitution bewahrt, die am besten an die savannenartige Landschaft angepaßt ist, in der unsere Gattung vor Jahrmillionen ihre kennzeichnenden biologischen Merkmale erwarb. Wo wir auch siedeln, schaffen wir um unsere Körper eine subtropische Umgebung — entweder durch schützende Bekleidung oder mittels Heiz- oder Kühlanlagen in unseren Behausungen; wenn wir in dichtbewaldeten Gegenden Siedlungen errichten, geschieht dies auf natürlichen oder künstlich geschaffenen Lichtungen; praktisch gehören auch alle Pflanzen, die wir als Nahrungsmittel verwenden, zu den Arten, die viel Sonne brauchen. Tatsächlich sind wir so sehr an savannenartige Bedingungen angepaßt, daß wir sogar in gemäßigten Zonen nicht lange überleben könnten, würden wir nicht die natürliche Umgebung so verändern, daß sie unseren biologischen Bedürfnissen entspricht.

Ganz gleich, welche Hautfarbe, welchen Geburtsort oder Beruf die Menschen haben, alle verbringen die meiste Zeit in von ihnen selbst geschaffenen zooähnlichen Bereichen, in denen sie versuchen, die natürlichen Bedingungen ihrer biologischen Wiege, der subtropischen Savanne, aufrechtzuerhalten. Jedoch modifiziert jede menschliche Gruppe auf die ihr eigene Weise die natürliche Umgebung; das Resultat ist eine enorme Vielfältigkeit der physischen Umwelt und der sozio-kulturellen Charakteristika.

Wir leben heute out of nature, und zwar in zweifacher, höchst gegensätzlicher Hinsicht. Auf der einen Seite leben wir außerhalb der Natur, weil unsere zivilisierte Umwelt wenig gemein hat mit dem natürlichen Ökosystem, aus dem sie hervorging. Auf der anderen Seite kommt alles, was wir benutzen, letzten Endes aus der Natur, auch wenn vieles verändert werden muß, ehe es für das menschliche Leben von Nutzen ist.

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Nach einem Zitat des Apostels Paulus leben wir zwar noch in der Natur, aber nicht mehr länger völlig mit der Natur. Da diese tiefgreifende Veränderung einer der wichtigsten Schritte auf dem Wege der Menschwerdung des Homo sapiens und zur Schaffung der menschlichen Bedingtheit gewesen ist, können Zeitpunkt und Ort dieses Ereignisses eigentlich mit der wahren Entstehung der Menschheit zusammengefallen sein.

 

   Die Sozialisation des Homo sapiens   

 

Es gibt kein überzeugendes Beispiel dafür, daß Tiere lernen könnten, sich wie ein Mensch zu verhalten oder zu kommunizieren; nicht einmal der klügste Schimpanse erreicht annähernd dieses Ziel. Im Gegensatz dazu liefert die Geschichte zahllose Beispiele von Menschen aus allen Erdteilen, die niemals Kontakt zu Europa hatten, aber dennoch schnell die Verhaltensmuster und die Sprache der Europäer annahmen, mit denen sie es zu tun hatten. Zu den berühmtesten Fällen zählen Malinche und Pocahontas, zwei junge Indianerinnen, die eine entscheidende Rolle bei der Besiedlung des amerikanischen Kontinents durch Europäer spielten.

Malinche war eine junge Aztekin, die Hernando Cortez kurz nach seiner Landung in Mexiko zu seiner Sklavin machte. Sie wurde seine Geliebte und entwickelte offenbar eine starke emotionale Beziehung zu ihm. Sie lernte Spanisch und konnte ihm als Dolmetscherin bei den Indianern und auch als politische Ratgeberin dienen. Auch als ihm das Kriegsglück nicht mehr hold schien, blieb sie seine unzertrennliche Begleiterin und politische Verbündete.

Pocahontas war die Tochter von Powhatan, einer kämpferischen Indianerin aus Virginia, die einen Algonkin-Powhatan-Bund gegründet hatte, der 1750 aus ungefähr 9000 Mitgliedern bestand. Als die Engländer versuchten, die zweite Kolonie von Jamestown zu errichten, bekam Pocahontas Kontakt zu ihnen. Sie war damals sechs bis acht Jahre alt und interessierte sich sehr für die Gebäude und das Treiben der fremden weißen Menschen. 

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Im Alter von elf Jahren scheint sie sich in einen ihrer Anführer, nämlich Captain John Smith, verliebt zu haben, der damals 25 Jahre alt war. Smith berichtete, daß sie sein Leben rettete, als er von Indianern hingerichtet werden sollte. Zweifellos hat sie den Mitgliedern der Kolonie von Jamestown, die kurz vor dem Hungertod standen, Lebensmittel und andere Hilfe geschickt und sie vor den Angriffen der Indianer gewarnt.

Nachdem sie als Geisel auf ein englisches Schiff gebracht worden war, wo man sie gut behandelte und sie das neue Leben offensichtlich genoß, heiratete Pocahontas schließlich einen englischen Kaufmann, der sie auf eine Geschäftsreise nach London mitnahm. In England wurde sie wie eine Prinzessin behandelt, wobei sie wohl kaum den Sinn der Feiern, an denen sie teilnahm, verstanden hat. Nach einigen Monaten erkrankte sie, und ihr Zustand verschlechterte sich, als sie erfuhr, daß die Rückkehr nach Virginia bevorstand. Sie wollte in London bleiben. Tatsächlich starb sie auf der Themse, als ihr Schiff ablegte, und sie wurde in der Nähe Londons begraben. Die Legende sagt, daß sie »an gebrochenem Herzen« starb; viel wahrscheinlicher ist aber, daß sie sich eine Tuberkulose oder Lungenentzündung zugezogen hatte.

Es gibt auch viele Beispiele von Menschen aus entwickelten Gesellschaften, die Mitglieder sogenannter primitiver Gesellschaften wurden, in einigen Fällen aufgrund eigener Entscheidungen, häufiger aber durch Zufall oder Zwang. Die voyageurs (»Wanderer«) oder coreurs des bois (»Waldläufer«) gehörten zum Beispiel zu den geschicktesten und furchtlosesten Menschen der amerikanischen Wildnis. Auf der Jagd nach Fellen manövrierten sie ihre zerbrechlichen Kanus durch reißende Stromschnellen und trieben ihre Hundegespanne durch subarktische Schneestürme. An den häufig auftretenden Stromschnellen trugen sie schwere Lasten über zerklüftete und oft glitschige Felsen. Viele dieser wagemutigen Männer kamen aus den Dörfern entlang des Saint Lawrence; sie kamen gut mit den Indianern zurecht, deren Lebensweise sie annehmen mußten, und in vielen Fällen heirateten sie auch indianische Frauen.

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Die Polynesier, die im 18. Jahrhundert von Kapitän Cook und Sieur de Bougainville von ihren Forschungsreisen in die pazifische Inselwelt nach England und Frankreich zurückgebracht worden waren, wurden das gesellschaftliche Ereignis von London und Paris. Selbst die Menschen von Tierra del Fuego, die ungehobeltste und primitivste Bevölkerung, auf die Darwin im Verlauf seiner Fahrt auf der <Beagle> stieß, lernten Englisch und nahmen einige europäische Gewohnheiten an, als sie nach England gebracht wurden.

 

Kinder, denen menschliche Kontakte entzogen wurden, zeigen, in welchem Ausmaß eine frühe soziale Konditionierung notwendig ist, um den Homo sapiens zu befähigen, jene Sprach-, Verhaltens- und Kulturmuster anzunehmen, die ihn so offenkundig vom Tier unterscheiden.

Trotz des häufig gebrauchten Begriffs Wolfskind ist es niemals wirklich bewiesen worden, daß Wölfe Menschenkinder aufgezogen hätten. Im Hinblick auf jüngere Berichte, daß Wölfe Menschenkinder mit vorgekauter Nahrung füttern können, wie sie es bei ihren eigenen Welpen tun, mag dieser Begriff einen wahren Hintergrund haben. Darüber hinaus laufen Kinder gerne auf allen Vieren und könnten einem Rudel folgen. Es gibt einige gut dokumentierte Fälle von Jungen und Mädchen, die bis ins Jugendalter in der Wildnis lebten und wenig oder so gut wie keinen Kontakt zu Menschen hatten. Diese Kinder besaßen im allgemeinen eine gute körperliche Verfassung, wenn sie entdeckt und in eine menschliche Umgebung zurückgebracht wurden. Ihr Verhalten aber war dem ihrer Altersgenossen, die mit anderen Menschen zusammen aufgewachsen waren, so unähnlich, daß man sie in sozialer Hinsicht als nackt bezeichnen konnte.

Der am ausführlichsten beschriebene Fall ist der des wilden Jungen von Aveyron, der, als er fast dreizehn Jahre alt war, im extrem strengen Winter von 1799 aus einem Wald in den Bergen Zentralfrankreichs herauskam. Damals konnte er sich schnell auf allen Vieren bewegen, auf Bäume klettern, sich in der Vegetation verbergen, bittere Kälte aushalten und sich von wilden Früchten und rohen Kartoffeln ernähren, die er auf den Feldern fand. Nachdem man ihn entdeckt hatte, konnte er aufgrund seiner Zähigkeit und körperlichen Geschicklichkeit noch mehrere Male entkommen.

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Als er schließlich in einem Haus eingesperrt wurde, schaukelte er wie ein Affe im Zoo hin und her, benahm sich widerlich und obszön, riß sich sämtliche Kleidungs­stücke vom Körper, kratzte und biß diejenigen, die versuchten, mit ihm Kontakt aufzunehmen oder ihn zu füttern.

Auf der anderen Seite zeigte er eine große, von Lachsalven und nahezu konvulsiver Freude begleitete Aufregung, wenn ihn die Natur mit einem ihrer eindrucksvollen Schauspiele berührte, wie zum Beispiel bei Sonnenschein mit gleichzeitigem Südwind. In schönen Nächten mit Vollmond pflegte er zu erwachen und bewegungslos in einer Art kontemplativer Ekstase zu verharren, die von tiefen Seufzern und schwachen klagenden Lauten unterbrochen wurde.

 

Ein junger Arzt, Jean Marc-Gaspard Itard, interessierte sich für den Jungen und adoptierte ihn unter dem Namen Victor. Er verpflichtete sich, ihn zu sozialisieren und zu unterrichten, und beobachtete und notierte jeden Aspekt seines Verhaltens, insbesondere jedes Anzeichen von Sozialisation. Er lehrte ihm, Französisch zu verstehen und einige Wünsche in einer einfachen Sprache auszudrücken, aber es gelang ihm nie, ihn zu einer richtigen Konversation zu bewegen. Er brachte ihn dazu, ein paar Kleidungsstücke zu akzeptieren, konnte ihm aber keine Verhaltensweisen beibringen, die ein Leben in einer »normalen« Gemeinschaft ermöglicht hätten. Obwohl Victor mit der Zeit ein wenig sozialer wurde und sogar der Frau, die ihn versorgte, sowie dem Arzt Zuneigung entgegenbrachte, versuchte er wiederholt zu fliehen und konnte nicht dazu bewegt werden, sich einem gesellschaftlichen Leben entsprechend zu verhalten. Er mußte schließlich in einer Anstalt untergebracht werden, wo er im Alter von 33 Jahren an irgendeiner Infektionskrankheit starb.

Einige andere Untersuchungen über barbarische Kinder und über solche, die in ungeheuerlicher Weise vernachlässigt worden waren, haben bestätigt, daß die Auswirkungen einer Isolation in den frühen Lebensjahren immer verheerend und nicht mehr umkehrbar sind.

Von besonderer Bedeutung ist hier der Fall eines amerikanischen Mädchens. Ihr Pseudonym Genie (von »genie« = Geist, Kobold) soll sowohl ihre Identität schützen als auch der »Tatsache Ausdruck verleihen, daß sie erst nach Ablauf ihrer Kindheit in der menschlichen Gesellschaft auftauchte, während sie zuvor als Wesen existiert hatte, das nicht völlig menschlich war«.

* (d-2014:)  wikipedia  Victor_von_Aveyron  1788-1928      wikipedia  Der_Wolfsjunge  1970, Spielfilm

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Genaue Einzelheiten über ihre Familie und ihr Schicksal sind von Susan Curtiss festgehalten worden, die damals an der Universität von Kalifornien in Los Angeles arbeitete und sich der Sozialisation von Genie widmete, nachdem sie 1970 als beispiellos deprivierte und isolierte Jugendliche entdeckt worden war.

Genie war das Produkt einer unglücklichen Ehe. Als sie im Alter von fünf Monaten einem Kinderarzt vorgestellt wurde, beschrieb dieser sie als normalgewichtig und munter. Im Alter von elf Monaten wurde sie wieder untersucht. Sie war dieses Mal leicht untergewichtig, aber munter, konnte alleine sitzen und wies eine normale altersgemäße Zahnentwicklung auf. Mit sechzehn Monaten erkrankte sie an einer akuten Lungenentzündung und wurde von einem anderen Kinderarzt untersucht, der sie als fiebernd, teilnahmslos und nicht ansprechbar beschrieb. Genies Vater, der überaus eifersüchtig auf die Zuwendung reagierte, die Genie von ihrer Mutter erhielt, benutzte den Befund des Kinderarztes als Rechtfertigung der anschließenden Isolierung und Mißhandlung des Kindes.

Genie wurde in einem kleinen Schlafzimmer eingesperrt, angeschnallt auf einem Kindertöpfchenstuhl, unbekleidet bis auf ihre Fesseln. Außer ihren Händen und Füßen konnte sie nichts bewegen; so lebte sie mehrere Jahre. In der Nacht wurde sie manchmal von den Gurten befreit, wurde aber dann in ein anderes einengendes Kleidungsstück — einen Schlafsack — gesteckt, den ihr Vater eigens für sie angefertigt hatte, um ihre Arme unbeweglich zu halten. In dieser Verschnürung wurde sie in ein Kinderbett gelegt, das an den Seiten und über ihrem Kopf aus Maschendraht bestand.

Als Genie dreizehneinhalb Jahre alt war, gelang es ihrer blinden Mutter, Verbindung zu ihren eigenen Eltern herzustellen, die sie und Genie für drei Wochen bei sich aufnahmen. Ein Sozialarbeiter erfuhr von dieser Situation, und Genie wurde wegen extremer Unterernährung im November 1970 in ein Krankenhaus eingewiesen. Die Polizei wurde benachrichtigt, und der Vater beging am Tage der Gerichtsverhandlung gegen ihn Selbstmord.

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Im Krankenhaus verhielt sich Genie auch angesichts größter emotionaler Erregungen völlig ruhig. Videoaufnahmen ihres Verhaltens während der ersten Monate im Krankenhaus belegen, daß sie, obwohl sie einige Worte verstand, »keinen englischen Satz auf der Grundlage seines linguistischen Inhalts allein verstehen konnte, sondern ziemlich entscheidend von Gebärden und anderen nonverbalen Ausdrucksformen abhing, um den Sinn der an sie gerichteten Worte zu verstehen«. 

Ihre Leistungen bei verschiedenen Tests zur Messung ihrer kognitiven Fähigkeiten entsprachen denen eines zweijährigen Kindes. Im Dezember 1970 wurde sie in ein Rehabilitationszentrum verlegt, das bessere Möglichkeiten der Sozialisation, der Beschäftigungstherapie und des Kontakts zur Außenwelt bot als die Krankenhausstation. Ihr körperlicher Zustand besserte sich schnell, und im April 1971 zeigten Intelligenztests, daß sie auf dem Stand eines vier- bis sechsjährigen Kindes war. Als Susan Curtiss, die Autorin des Buches über Genie, im Juni 1971 mit ihr zu arbeiten begann, konnte Genie einige Worte verstehen und benutzen, ihr Verhalten hingegen war in sozialer Hinsicht vollkommen untragbar.

Im Juni 1971 kam sie zu Pflegeeltern in einen liebevollen Haushalt mit zwei halbwüchsigen Söhnen und einer erwachsenen Tochter, einem Hund und einer Katze. In den ersten zwei Jahren bestanden ihre Äußerungen in Ein-Wort-Sätzen, in den folgenden zwei Jahren reihte sie zwei Begriffe aneinander; sie lernte zunehmend, sich verständlicher auszudrücken und eine gewisse Kontrolle über ihre Emotionen und ihr Verhalten zu erlangen. Obwohl sie im Jahre 1976, als das Buch geschrieben wurde, noch nicht lesen konnte, stellte Susan Curtiss fest, daß »Genie sich weiterhin verändert, eine vollkommenere Persönlichkeit wird und mehr aus ihren menschlichen Anlagen macht. Wenn diese Arbeit gelesen wird, hat sie sich vielleicht schon weit über das hinaus entwickelt, was hier beschrieben ist.«

Die Zugehörigkeit zur Gattung Homo sapiens genügt also nicht, um all die Eigenschaften zu besitzen, die unsere wirkliche Menschlichkeit ausmachen. Wir werden menschlich, wenn wir in den entscheidenden Jahren der Kindheit die menschliche Sprache hören und menschliches Verhalten beobachten können.

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Allen Mitgliedern der Spezies sind gewisse fundamentale biologische und geistige Merkmale eigen, die ihre Veranlagung ausmachen, aber diese Veranlagung kann nur eine menschliche Form gewinnen und eine menschliche Lebensweise schaffen, wenn sie geeigneten Bedingungen — dem Nährboden für ihre Entwicklung — ausgesetzt wird.

 

   Die Invarianten der Menschheit  

 

Wir entwickeln nur eine von den vielen Persönlichkeiten, die wir fähig wären zu werden. Jeder von uns wird mit einem breiten Spektrum von Anlagen geboren, die uns theoretisch in die Lage versetzen, eine enorme Mannigfaltigkeit von Eigenschaften zu entwickeln. Praktisch aber entwickeln wir nur diejenigen Aspekte unseres Lebens, die nicht nur mit den Bedingungen, denen wir ausgesetzt sind, im Einklang stehen, sondern noch mehr mit den Entscheidungen, die wir im Verlaufe unseres Lebens treffen. Das Wunder besteht darin, daß Veranlagung und Nährboden eine so vollständige Einheit bilden können, daß sich aus dem biologischen Organismus ein einzigartiges Sozialwesen — das menschliche Individuum — entwickelt.

Jeder Mensch ist beispiellos, unwiederholbar und einzigartig.

Nicht einmal homozygote — sogenannte identische — Zwillinge sind im wirklichen Leben identisch. Sie besitzen zwar dasselbe genetische Erbgefüge, werden aber trotzdem zu unterschiedlichen Persönlichkeiten, weil sie unterschiedlichen Umweltbedingungen ausgesetzt werden, zuerst im Uterus und dann verstärkt nach ihrer Geburt. Auf der anderen Seite: Sosehr wir uns voneinander unterscheiden, so besitzen wir doch übereinstimmende Merkmale und Eigenschaften, die man als die biologischen und verhaltensmäßigen Invarianten bezeichnen kann. Sie spielen bei allen soziokulturellen Äußerungen des menschlichen Daseins eine wesentliche Rolle. Diese Konstanten sind durchgehend bei allen Mitgliedern unserer Gattung anzutreffen, ungeachtet des ökonomischen, sozialen, ethnischen oder nationalen Status.

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Eine der größten wissenschaftlichen Leistungen der letzten Jahrzehnte stellt die Beweisführung dar, daß die biologischen Erbmerkmale — das heißt ihre Invarianten — aller lebenden Organismen von DNS-Molekülen, die Träger der Gene sind, weitergegeben werden. Ich hatte das besondere Glück, Zeuge der ersten Phasen dieser Entdeckung zu sein. Das war 1940 in den mikrobiologischen Laboratorien des Rockefeller-Instituts für medizinische Forschung, in denen ich damals arbeitete.

Anfang 1944 veröffentlichten meine Kollegen Avery, McLeod und McCarthy in der Zeitschrift »Journal of Experimental Mediane« einen Aufsatz, mit dem sie bewiesen, daß sie nach Belieben eines der erblichen Merkmale der Lobärpneumonie übertragenden Mikrobe — des Pneumokokkus — verändern konnten, indem sie diese Mikrobe in einer Nährlösung züchteten, die Desoxyribonukleinsäure eines anderen Pneumokokkus enthielt, der das gewünschte oder künstlich übertragene Merkmal besaß.

Bei allen lebenden Organismen — von den kleinsten bis zu den größten, Tieren oder Pflanzen, Menschen oder Bakterien — sind die DNS-Moleküle der Gene die Träger der erblichen Merkmale. Alle DNS-Moleküle besitzen grundsätzlich dieselbe chemische Zusammensetzung; geringe Unterschiede zwischen ihnen und in ihrer Ankoppelung an die Chromosomen sind jedoch für die phänomenale Mannigfaltigkeit lebender Gattungen und die individuellen Eigenheiten jedes Lebewesens in der jeweiligen Spezies verantwortlich. Auf der einen Seite bestimmen die Grundmuster der DNS-Moleküle und ihre Ankoppelung, ob das Lebewesen ein Hase, Pferd oder Mensch wird. Auf der anderen Seite bestimmen feine Unterschiede innerhalb der DNS-Strukturen die erblichen Merkmale jedes individuellen Hasen, Pferdes oder Menschen. Einige Beispiele sind vielleicht hilfreich, um aufzuzeigen, wie die fundamentale Uniformität des Homo sapiens — das heißt die Konstanten der menschlichen Natur — sich in der unerschöpflichen Mannigfaltigkeit des menschlichen Lebens unter dem Einfluß eines Nährbodens — das heißt der geistigen und soziokulturellen Umweltbedingungen — äußert.

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Die Ernährungsgewohnheiten der Vegetarier stehen auf den ersten Blick vollkommen im Gegensatz zu denen, die Fleisch verzehren. Viele afrikanische Völker und ein hoher Prozentsatz der Asiaten ernähren sich fast ausschließlich von Gemüse, Knollengewächsen und Früchten. Im Gegensatz dazu ernähren sich die Massai in Ostafrika nahezu nur von dem, was ihnen die Rinderherden liefern, sogar von dem Blut, das sie ihren Tieren täglich abzapfen. Trotz dieser großen Unterschiede in den Ernährungsgewohnheiten haben jedoch alle Menschen, ob nun Vegetarier oder Fleischverzehrer, denselben Bedarf an Kalorien, Kohlehydraten, Fetten, Aminosäuren, Mineralen, Vitaminen und anderen wichtigen chemischen Nährstoffen. Trotz großer Unterschiede enthält doch jede menschliche Kost ähnliche Zusammensetzungen dieser chemischen Nährstoffe, mit der Einschränkung, daß die gesamte Aufnahme mit dem Alter und dem Lebensstandard variiert.

Vom Ernährungsstandpunkt aus macht es wenig Unterschied, ob die wichtigen Substanzen von Tieren oder Pflanzen stammen oder sogar von synthetisch hergestellten Produkten; sie können eine ausreichende Ernährung bieten, wenn sie in angemessener Menge und Zusammenstellung verzehrt werden, wobei vorausgesetzt werden muß, daß sie nicht mit gefährlichen Mikroben oder Chemikalien vergiftet sind. Die erforderliche Zusammensetzung der Nährstoffe ist also eine Konstante der menschlichen Natur, während die Art der Nahrungsmittel, die wir zu uns nehmen, eine sozio-kulturelle Ausdrucksform darstellt. So gehören gerade die Kochrezepte zu den kennzeichnendsten Merkmalen nationaler, regionaler, sozialer und kultureller Gruppen.

Eine andere Konstante der menschlichen Natur stellt die Tatsache dar, daß alle Menschen geschlossene Räume oder zumindest geschützte Bereiche benötigen, in die sie sich zurückziehen können, um Schutz, Annehmlichkeit oder einfach Alleinsein zu genießen. Den Steinzeitmenschen standen im allgemeinen Höhlen zur Verfügung, oder sie bauten einfache Hütten; endlos viele Behausungen wurden seit Urzeiten benutzt oder gebaut. Auf der anderen Seite erfreuen sich die Menschen an weiten Ausblicken und haben wahrscheinlich auch ein psychologisches Bedürfnis danach. 

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Vor nicht allzulanger Zeit bestrafte man das Fehlverhalten eines Kindes, indem man es in die Ecke stellte, mit dem Gesicht zur Wand, was als unerfreuliche Erfahrung galt. Die lebenswichtigen visuellen Bedürfnisse der Menschen werden verschieden befriedigt: durch Lichtungen bei Ansiedlungen in gemäßigten oder tropischen Wäldern, durch einen Rasen vor dem Haus, durch weitreichende Ausblicke von Hügeln, Bergspitzen oder auch Hochhäusern.

Ob wir unser Nahrungsbedürfnis mit einem Gemüsegericht oder einem Steak befriedigen, ob wir unserem Bedürfnis nach einem Obdach durch Zurückziehen in eine natürliche Höhe oder hinter die geschlossenen Fensterläden eines gemütlichen Zimmers nachkommen, ob wir unsere Sehnsucht nach weiten Räumen durch versunkenes Betrachten des Meeres, eines wogenden Kornfeldes oder eines schlichten Blumenbeets stillen — immer handeln wir auf kulturell unterschiedliche Weise, aber gemäß den fundamentalen und universellen Konstanten der menschlichen Natur. Das trifft auch auf andere Beispiele zu:

Genetisch bedingt befinden sich zum Zeitpunkt der Geburt im Gehirn aller Menschen spezielle Strukturen, die die Fähigkeit verleihen, jede der vielen existierenden Sprachen zu erlernen. Einige Menschen eigneten sich mehr als zwanzig Sprachen an, aber die meisten Menschen lernen nur die Sprache der sozialen Gruppe, in der sie geboren und aufgewachsen sind.

Während die Grundlage unseres Verhaltens seit Jahrtausenden unverändert blieb, sind ihre sozialen Äußerungen kulturell bestimmt und haben im Verlauf der Geschichte Veränderungen gezeigt. Die Helden Homers interessieren uns immer noch, weil wir ähnlich wie sie von vergleichbaren Leidenschaften bewegt werden; aber die Götter und Abenteuer der Erzählungen Homers sind heute abgelöst worden.

Seit undenklichen Zeiten hat das menschliche Leben durch Tanz, Musik, Poesie, Literatur, Malerei, Plastik, Paraden, Tatauierung und Feste — durch Überhöhung naheliegender biologischer Bedürfnisse — an Farbigkeit gewonnen; aber diese Ausdrucksformen und Feierlichkeiten waren je nach Epoche und sozialer Gruppierung immer sehr unterschiedlich. Der Wunsch nach Prachtentfaltung bewirkte so ver-

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schiedene Höhepunkte wie zum Beispiel die Höhlenmalereien von Lascaux, den Steinkreis von Stonehenge, die Buddha-Tempel, die griechischen Märktplätze, die gotischen Kathedralen, die Renaissance-Paläste, die viktorianischen Zeremonien, die überall verbreiteten Triumphbögen und die Konfettiparaden auf dem Broadway. Das alles sind Lebensäußerungen, die für Mitglieder der Gattung Homo sapiens allerdings eine andere oder gar keine Bedeutung haben, falls sie in anderen Kulturkreisen aufgewachsen sind.

Die biologische Uniformität kann rasch mit der Feststellung erklärt werden, daß alle Mitglieder der Spezies denselben Ursprung haben. Im Gegensatz dazu hat die soziale Vielfältigkeit mehrfache Ursachen, die meist nur wenig überzeugend definiert sind. Sie ergibt sich aus geringfügigen genetischen Unterschieden zwischen Gruppen und Personen, aus dem Einfluß geistiger Kräfte auf die Entwicklung, aus der Einmaligkeit individueller Erfahrungen, aus den von jeder Gesellschaft geschaffenen Kunstwerken und Institutionen, aus Traditionen, Vorstellungen und Erwartungen — das alles sind Resultate unzähliger bewußter Entscheidungen.

Zusätzlich zu den Einflüssen, die auf uns von außen wirken — der Außenwelt —, gibt es andere Einflüsse, die in der Seele jedes einzelnen Individuums existieren und unsere private Ideenwelt darstellen. Jeder von uns — ob primitiv und unwissend, geistreich und gelehrt — lebt so, als ob ihm die Welt allein gehöre. Und tatsächlich scheint die Innenwelt einflußreicher als die Außenwelt zu sein, weil sie alle Aspekte unseres Lebens berührt — unseren Umgang mit alltäglichen Erfahrungen, unsere Ansichten vom Platz des Menschen in der Welt der Dinge, wie wir uns das Wirken der Naturgesetze vorstellen und sogar unsere Vorstellungen, die wir mit dem Begriff Gott verbinden. Unsere direkten Kontakte zur Wirklichkeit haben vielleicht weniger Einfluß auf die Gestaltung unserer Persönlichkeit und unseres Lebens als unsere individuellen und kollektiven Träume.

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Die sozialen Gegensätze von Athenern und Spartanern, Wikingern und Troubadoren, Zuni und Apachen hängen offensichtlich von stärkeren und komplexeren Faktoren ab als von rassischen Merkmalen, klimatischen, topographischen und geologischen Unterschieden der Regionen, in denen diese Menschen lebten und sich entwickelten. Ebensowenig erklären ökonomische Strukturen die kulturellen Unterschiede zwischen den Europäern. Stadtstaaten und Nationalstaaten verschwanden nicht auf natürliche Weise, sondern aufgrund historischer und sozialer Ereignisse, die verschiedene Vorstellungswelten bei den verschiedenen Bevölkerungen schufen.

Aufgrund der universellen Tendenz, alles, was wir erfahren, zu symbolisieren, werden Umwelteinflüsse immer verkompliziert und häufig auch völlig verzerrt, wir reagieren auf diese Zerrbilder, als wären sie Realität. In den überwiegenden Fällen schaffen wir diese Symbole nicht selbst, wir empfangen sie aus der sozialen Atmosphäre, in der wir leben. Ein grauer Himmel am 1. November ist schlicht deprimierend und langweilig für jemanden, der in New York aufwuchs, aber in mir ruft er eine poetische Stimmung hervor, weil er mich an die sanfte Melancholie eines Allerheiligentages in Paris erinnert. Der 1. Mai besitzt für viele Europäer eine gewaltige politische Bedeutung, für andere hingegen ist er der Tag im Jahr, an dem junge Paare die Wälder durchstreifen, unter dem Vorwand, Maiglöckchen pflücken zu wollen. Ein bestimmtes Gericht kann Bauchschmerzen hervorrufen oder die Verdauung angenehm unterstützen — je nachdem, unter welchen Bedingungen es das erstemal gegessen wurde.

Unser physikalisches und soziales Weltbild wird durch Riten und Mythen, Tabus und elterliche Einflüsse, Traditionen und Schulbildung geprägt — Mechanismen, die uns die grundlegenden Prämissen verleihen, nach denen wir unsere Innen- und Außenwelt begreifen und entwerfen. Der Erwerb kollektiver Symbole mit all den damit verbundenen Werten, die in der jeweiligen sozialen Gruppe vorhanden sind, macht genau den Sozialisationsprozeß aus, durch den der Homo sapiens wirklich menschlich wird. 

Zugegebenermaßen verändern sich die meisten Symbolsysteme im Laufe der Zeit. Der Sabbat und die Speisevorschriften werden bei den reformierten Juden nicht mehr so streng wie bei den orthodoxen Juden befolgt, Scheidung und Fleischverzehr am Freitag gelten nicht mehr länger wie früher bei Menschen römisch-katholischen Glaubens als Sünde. Im allgemeinen jedoch bleiben Symbolsysteme innerhalb der jeweiligen Kulturen über Generationen hinweg bestehen, selbst dann, wenn sie ihre Form ändern. Weltbilder und Verhaltensmuster werden folglich als soziales Erbe weitergegeben und vermindern oder maskieren individuelle Unterschiede und geben damit der Gruppe eine größere Übereinstimmung nach außen.

Praktisch stehen alle Faktoren, die für die menschliche Mannigfaltigkeit verantwortlich sind, in Wechselbeziehungen zueinander, aber ich möchte sie der Einfachheit halber getrennt erörtern. Dabei ist mir bewußt, daß jede analytische Einzelbetrachtung dieser Faktoren ein falsches Bild vom menschlichen Leben ergibt. Ungeachtet ihrer Verschiedenartigkeit besteht die Menschheit aus endlos variierten Lebensäußerungen, die auf den verschiedenen Erscheinungsformen basieren, die der Homo sapiens unter dem kombinierten Einfluß von Kosmos, Biologie und kulturellen Kräften angenommen hat, und die das scheinbar endlose Spektrum menschlicher Gesellschaften geschaffen haben.

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Dubos 1981