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2. Vergangenheit, Öffentlichkeit und Selbstfindung

Leben als Erfahrung (48)  Das Überleben der Vergangenheit (51)  Natürliche und gebaute Umwelt (61) 
Leitbilder der Menschheit (78)  Entscheidungen und Kreativität (88)  Selbstfindung (96)

 

Leben als Erfahrung

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Keine Pflanze, kein Tier, ob klein oder groß, kein lebender Organismus kann als unabhängiges, isoliertes Wesen existieren. Leben bedeutet nicht nur, die vorhandenen Ressourcen zu nutzen, sondern auch von ihnen geprägt zu werden und sie zu verändern und somit einen Zustand engster Verbundenheit mit der gesamten Umwelt zu erreichen. Lebende Organismen können nur begriffen werden, wenn man sie als Teil des Systems, innerhalb dessen sie wirken, betrachtet.

Das trifft in besonderer Weise auf uns Menschen zu, denn alle Aspekte unseres Lebens sind zutiefst von der enormen Vielfältigkeit physischer und kultureller Faktoren beeinflußt, die unseren Körper, unser Verhalten und die sozialen Strukturen formen, auf die wir Bezug nehmen müssen, um völlig menschlich zu werden.

Mnemosyne, die griechische Gedächtnisgöttin, war gleichzeitig ein Symbol für Leben und die Mutter der neun Musen, die die treibenden Kräfte der Kreativität sind. Ihre komplexe Gestalt innerhalb des griechischen Mythos symbolisiert die Tatsache, daß unsere individuellen Lebenswege immer mit Neuschöpfungen verbunden sind; immer und überall werden wir allmählich die, die wir sind, weil wir sowohl bewußte als auch unbewußte Erinnerungen einsetzen, um die Vergangenheit mit den gegenwärtigen Bedingungen zu verknüpfen.

Ich kann über mein eigenes Wesen nicht nachdenken, ohne mir nicht zahllose Umstände und Ereignisse ins Gedächtnis zu rufen, an die ich mich mit einiger Sicherheit erinnere. Gleichfalls sehe ich heute, daß viele Einflüsse, die mir zum damaligen Zeitpunkt verborgen blieben, dauerhaft prägend auf mich wirkten.

Der allgemein verwendete Begriff »lebende Substanz« enthüllt, wie verarmt unser Wahrnehmungsvermögen in bezug auf Reichtum und Finesse des Lebens ist. Es gibt keine lebende Substanz. Ob wir es mit Mikroben, Melonen, Mäusen oder Menschen zu tun haben — diese Wesen können, solange sie leben, nicht als bloße Substanzen oder Objekte betrachtet werden. Auf jeder Ebene setzt das Leben die Integration verschiedenster Substanzen voraus, die, als Einheit fungierend, fortlaufend mit ihrer Umgebung interagieren, häufig sogar in kreativer Weise. Für die Amöbe wie für den Elefanten bedeutet Leben Erfahrung und Aktion.

Je mehr ein Organismus die Freiheit besitzt, zu entscheiden, wohin er sich bewegt, was er tut und wie er auf äußere Reize reagiert, um so komplexer und kreativer ist seine Lebenserfahrung. Einzelne Vertreter einer bestimmten, wildwachsenden Ständerpilzsorte, Morcheln zum Beispiel, sehen überall, wo sie wachsen, gleich aus; auch Schwammspinner bleiben trotz Standortveränderungen überall typische Vertreter ihrer Art. Im Gegensatz dazu verändern Katzen oder Hunde, die als Schoßtiere im Haus gehalten werden und es dann vorziehen, in freier Wildbahn zu leben, völlig ihre äußere Erscheinung und ihr Verhalten. Wir Menschen besitzen den höchsten Grad an Freiheit und deshalb auch die beste kreative Anpassungsfähigkeit.

Es gibt anscheinend keine Möglichkeit, wissenschaftlich nachzuweisen, daß wir diese Freiheit besitzen. Tatsächlich läßt sich aus philosophischen Lehrsätzen glaubhaft schließen, daß es dem menschlichen Gehirn unmöglich ist, ein völliges Verständnis seiner eigenen Arbeitsweise zu erlangen, und daß das Vorhandensein eines freien Willens deshalb, basierend auf der Lebenserfahrung, eine Sache des Glaubens ist. Auf jeden Fall wiegt der wissenschaftliche Beweismangel angesichts der offenkundigen freien Willensäußerungen des menschlichen Lebens und vielleicht auch anderer Lebensformen wenig. Schon Samuel Johnson schrieb vor zwei Jahrhunderten: »Alle Wissenschaften sprechen gegen den freien Willen, der gesunde Menschenverstand spricht dafür.«

* (d-2015:)  wikipedia  Samuel_Johnson   1709-1784 in London

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Der Kenntnisstand der Biologie hat sich seit damals sehr viel weiter entwickelt, aber immer noch nicht genug, um die Behauptung der orthodoxen Behavioristen zu untermauern, ausschließlich rein deterministische Mechanismen seien für jede Art des Verhaltens verantwortlich. Zwei aus den berühmten biologischen Laboratorien von Harvard und Belgien stammende Nobelpreisträger bemerkten hierzu: »Selbst unter perfektesten Laborbedingungen und sorgfältigst geplanten und überwachten Versuchsreihen werden Tiere nur das tun, was sie wollen... kann man mehr freien Willen verlangen?«

Diese beiden Biologen bezweifelten nicht, daß alle Phänomene des Lebens von der Vererbung, durchlebten Erfahrungen und Umweltfaktoren abhängen, aber sie bestätigten mit dieser Erklärung, daß bestimmte Tiere und erst recht menschliche Wesen zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten wählen können und folglich die Schranken des biologischen Determinismus mittels einer Fähigkeit überwinden, die treffend als freier Wille bezeichnet wird.

In der Praxis bedeutet freier Wille ganz einfach, daß Personen und höchstwahrscheinlich viele Tiere — diese jedoch in unterschiedlichem Umfang — in jeder Situation Alternativen sehen und wählen können. Wir unterscheiden uns von den Tieren durch die sehr viel größere Fähigkeit, uns die Zukunft an einem entfernten Ort vorstellen und ihn auf der Grundlage solcher Vorstellungen auswählen zu können.

Für mich ist der freie Wille deshalb erwiesen, weil ich einfach glaube, daß menschliche Wesen beständig wählen und Entscheidungen treffen, was den absoluten biologischen und behavioristischen Determinismus widerlegt. Aber dennoch werde ich zunächst gewisse Aspekte des menschlichen Lebens erörtern, bei denen die betroffenen Personen weder die Umwelt noch ihre Auswirkungen kontrollieren können und daher kaum eine oder gar keine Chance haben, die Freiheit der Reaktion oder Aktion zu bekunden.

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    Das Überleben der Vergangenheit   

 

Bei all unseren Handlungen versuchen wir meist rational vorzugehen, und wir finden es beruhigend, daß wir viele Einflüsse erkennen und kontrollieren können, selbst wenn wir die Mechanismen oder Auswirkungen dieser Einflüsse nicht verstehen. Dennoch entziehen sich viele Aspekte des Lebens unserer Kontrolle, da sie Resultate von Ereignissen aus grauer Vorzeit sind, derer wir uns noch nicht einmal bewußt sind.

Das außerordentliche Maß der Verbundenheit unserer Körperfunktionen mit dem kosmischen Rhythmus liefert ein schlagendes Beispiel der Dauerhaftigkeit von Merkmalen, die vor Jahrmillionen während der stammesgeschichtlichen Entwicklung des Homosapiens entstanden. Wir neigen zum Beispiel zu der Annahme, daß wir von den Naturkräften unabhängig geworden sind, weil wir unsere Behausungen nachts beleuchten, im Winter heizen oder im Sommer kühlen können; wir neigen auch dazu, weil wir uns eine ausreichende und abwechslungsreiche Ernährung über das gesamte Jahr hinweg sichern können.

Aber selbst dann, wenn wir in einer Umwelt agieren, die uns konstant erscheint, weil wir einige ihrer Faktoren kontrollieren können, verändern sich, gemäß einem gewissen Rhythmus, beständig alle unsere Körperfunktionen. Dieser Rhythmus hängt von den Bewegungen der Erde, des Mondes, der Sonne und vielleicht auch noch anderer Teile des Kosmos ab. Wir können zwar Hitze, Feuchtigkeit, Licht, Nahrungsaufnahme und einige andere Komponenten unserer Umgebung, in der wir leben, kontrollieren — unsere Körpermechanismen jedoch entfalten tägliche, jahreszeitliche und vielleicht noch andere Rhythmen, die mit Sicherheit unser physisches und geistiges Wohlbefinden beeinflussen.

Unsere biologischen und psychologischen Reaktionen auf einen beliebigen Reiz sind morgens anders als abends, unterscheiden sich im Frühjahr und Sommer von denen im Herbst und Winter. Es gibt eine einleuchtende biologische Erklärung für die Praktik der Indianer, die Weißen kurz vor Einbruch der Dämmerung anzugreifen, denn dann sind die physiologischen und psychologischen Verteidigungs­mechanismen auf einem Tiefpunkt angelangt.

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Wilde nächtliche Phantasien und Ängste werden indirekt durch die Erdumdrehungen hervorgerufen, zumindest teilweise aufgrund täglicher und jahreszeitlich bedingter Wechsel der verschiedenen Hormonspiegel im Körper. Es ist eine allgemein bekannte Erfahrung, daß sich die Denkvorgänge des menschlichen Organismus unter dem Einfluß der Dunkelheit und insbesondere gewisser Nachtstunden der Vernunftkontrolle entziehen. Als bewiesen gilt auch, daß die Wirksamkeit einer toxischen Substanz oder eines Heilmittels je nach Tages- und Jahreszeit sehr unterschiedlich sein kann.

Wahrscheinlich spiegeln sich Mondphasen ebenfalls in unserer Physiologie und unserem Verhalten wider. Es gibt Hinweise darauf, daß Mondsüchtige wirklich von Mondkräften beeinflußt werden, auf welche die meisten von uns wahrscheinlich in irgendeiner Weise auch reagieren. Bei Affen und höchstwahrscheinlich auch bei Menschen scheinen gewisse physiologische Vorgänge, die mit der Sexualität zusammenhängen, bei Vollmondphasen verstärkt zu werden.

Jahreszeitliche Veränderungen beeinträchtigen uns so heftig, daß sich ihr Einfluß in sozialen Praktiken widerspiegelt, auch dann, wenn Temperatur und Lichtstärke künstlich auf einem gleichbleibenden Niveau gehalten werden. Viele dieser Praktiken entstanden in primitiven sozialen Gruppierungen und haben sich in unterschiedlicher Form, selbst in hochentwickelten Gesellschaften, erhalten. Auch noch heute, in hochmechanisierten, baumlosen städtischen Umgebungen, aus denen sich die Vögel zurückgezogen haben, nehmen Männer und Frauen genau wie in den längst legendären Tagen Arkadiens mit all ihren Sinnen die Überschwenglichkejt des Frühlings und die Traurigkeit des Spätherbstes auf und zeigen dies durch ihr Verhalten.

Derartig bedingte Verhaltensmuster mögen ursächlich damit zusammenhängen, daß so fundamentale organische Vorgänge wie die Hormonausschüttung und die Art und Weise, wie die Nahrung im Körper abgebaut wird, sich mit der Jahreszeit ändern, selbst dann, wenn die Umweltbedingungen künstlich kontrolliert werden, so daß sie das ganze Jahr hindurch gleichbleibend erscheinen.

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Obwohl diese physiologischen Phänomene von praktischer Bedeutung sind, werden sie kaum durchschaut und wurden bisher tatsächlich auch kaum analysiert. Es ist zum Beispiel schon lange bekannt, daß Ratten, die 48 Stunden nicht gefüttert werden, zwischen Mai und Oktober einen nahezu dreimal so hohen sogenannten Azeton-Spiegel (Ketone) aufweisen als in den Wintermonaten; die Winterwerte bleiben niedrig, selbst dann, wenn die Tiere in Räumen mit Sommertemperatur gehalten werden. Wahrscheinlich ist auch bei den Menschen die Ursache einiger jahreszeitlich bedingter Stoffwechselveränderungen auf die Unterschiedlichkeit hormoneller Ausschüttungen zurückzuführen. Blutdruck, Stickstoffverbindungen im Urin und niedrige Körpertemperaturen sind einige der zahlreichen physiologischen Vorgänge, die sich als jahreszeitlich bedingt herausgestellt haben.

Komplexere und subtilere biologische Ursachen als bloße Temperaturänderungen beeinflussen zweifellos jahreszeitliche Verhaltensmuster, so zum Beispiel den europäischen Brauch, Karneval und Fastnacht dann zu feiern, wenn die Säfte in den Bäumen steigen, oder auch den Brauch, der Toten am 1. November — dem Allerheiligentag — zu gedenken, wenn die Natur zu sterben scheint. Viele Sagen und Zeremonien des Altertums, die uns als rein kulturelle Traditionen erscheinen mögen, hatten in Wirklichkeit ihren biologischen Ursprung in der jahreszeitlichen Beziehung der Menschen zu ihrer Umwelt. Vieles aus der griechischen Mythologie, insbesondere im Zusammenhang mit Demeter, Persephone und Adonis, aber auch die Korntänze bei amerikanischen Indianern können leicht als frühe lokale, an jahreszeitliche Bedingungen geknüpfte Praktiken interpretiert werden.

Selbst wir modernen Menschen in unseren geheizten und klimatisierten Räumen stehen immer noch so sehr unter dem Einfluß kosmischer Kräfte, als lebten wir nackt und in direktem Kontakt mit der Natur. Wir reagieren auch immer noch auf die Anwesenheit menschlicher Rivalen oder gewisser Tierarten, als ob wir in Gefahr wären, von ihnen angegriffen zu werden. Überall auf der Welt zeigt ein großer Prozentsatz von Menschen im Kindesalter eine tiefsitzende Angst beim bloßen Anblick von Schlangen und Spinnen, obwohl die Eltern sie höchstens sanft auf sie aufmerksam machen.

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Im Gegensatz dazu entwickeln Kinder, die ständig davor gewarnt werden, nicht in die Nähe von Steckdosen und Autos zu geraten oder mit Messern zu spielen, selten Phobien gegen solche Objekte. Eine mögliche Erklärung für dieses Verhalten könnte die Tatsache sein, daß menschliche Wesen vor fernen Zeiten unerfreuliche oder gefährliche Begegnungen mit Schlangen und Spinnen hatten und daß sich diese Erfahrungen in irgendeiner Weise im biologischen Gedächtnis unserer Gattung festgesetzt haben.

Die sogenannte Angriffs- oder Flucht-Reaktion mit all ihren heftigen physiologischen Begleiterscheinungen ist nahezu sicher ein biologisches Überbleibsel aus jenen Zeiten, da es für unsere frühen Vorfahren bei der Begegnung mit einem wilden Tier oder einem fremden Menschen eine Frage von Leben und Tod war, jene Körpermechanismen entwickeln zu können, die einen physischen Kampf oder die Flucht erlaubten.

Viele andere natürliche Situationen der Vorgeschichte lassen sich noch in unseren Reaktionen auf gegenwärtige soziale Situationen erkennen. Zum Beispiel empfinden wir immer noch physiologisch bedingte Angstgefühle, wenn wir uns in der Wildnis verlaufen haben; das gilt nicht nur für den Dschungel oder die Wüste, sondern auch für unbekannte städtische Ballungsgebiete und ihre Menschen, die im allgemeinen in uns ein panikartiges Gefühl erwecken, wenn wir nicht mit ihren Gewohnheiten vertraut sind.

Jedoch können Einstellungen, die einst das Überleben begünstigten, unter modernen Bedingungen nicht länger angemessen sein. Zum Beispiel war das Mißtrauen gegenüber einem Fremden in der Steinzeit biologisch gesehen nützlich, nimmt heute aber in der Regel gefährliche Formen wie Rassismus und Fremdenhaß an. Erscheinungen, die zwischen den Verzerrungen einer Vulgärpsychologie, Störungen des Stoffwechsels oder des Kreislaufsystems schwanken und sich aus Streitigkeiten im Büro oder bei einer Cocktailparty ergeben mögen, können zum großen Teil Überreste von Eigenschaften sein, die einst, zur Zeit der stammesgeschichtlichen Entwicklung, nützlich waren. Unter den heutigen modernen Lebensbedingungen sind sie jedoch irrational, sinnlos und möglicherweise gefährlich.

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Veränderungen des Blutdrucks, der Durchblutung verschiedener Körperteile, der Sekretion von Hormonen, wie solchen aus der Nebennieren- oder Schilddrüse, und die schnellere Verwertung des Blutzuckers gehören zu den physiologischen Reaktionen, die es Tieren und früheren Menschen ermöglichten, zu kämpfen oder wegzulaufen. Man kann es als nahezu erwiesen annehmen, daß sich unter ähnlichen Bedingungen auch Veränderungen in der Sekretion der jüngst entdeckten Gehirnhormone, der Endorphine, ergaben, die unser Schmerzempfinden steuern.

Auch in unserer modernen Zeit regt jede bedrohliche Situation diesen oder jenen Mechanismus an, selbst wenn die Bedrohungen selten zu physischen Konflikten oder Anstrengungen führen. Es wurde beispielsweise festgestellt, daß der Trainer einer Rudermannschaft, der die Leistung seiner Leute vom Ufer aus beobachtet, gleichzeitig ähnliche physiologische Veränderungen durchmacht wie die Sportler, die sich im Wettkampf befinden.

Der Drang, über sein Eigentum zu herrschen und seine Nächsten zu dominieren, ist ebenfalls eine alte biologische Eigenschaft, die man in den verschiedenen Formen von Territorialansprüchen und Vorherrschaft wiederfinden kann. Selbst der Spieltrieb steht im Einklang mit einem wichtigen biologischen Bedürfnis von Tieren und war wahrscheinlich schon immer Teil der menschlichen Natur, weil er dem Kind hilft, die Welt zu entdecken und zu lernen, sich in unterschiedlichen Situationen richtig zu verhalten.

Diese und andere biologische Charakteristika sind Bestandteile des außerordentlichen Gefüges der menschlichen Rasse, und sie regulieren alle Aspekte des menschlichen Verhaltens. In der Mehrzahl sind sie wahrscheinlich im genetischen Erbgefüge verschlüsselt, obwohl einige auch auf kulturell bedingter Weitergabe von Generation zu Generation beruhen. Auf jeden Fall ist es schwierig beziehungsweise sogar unmöglich, angeborenen Reaktionen mittels der orthodoxen analytischen Wissenschaftsmethode, die auf dem Einzelstudium der Bestandteile des Organismus basiert, zu erforschen.

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Ähnlich wie beim freien Willen und dem Verstand verschwinden die meisten biologischen Mechanismen und Reaktionen der Gesamtpersönlichkeit auf komplexe soziale Situationen, wenn sich die Untersuchungen auf einzelne Organe oder Zellen, losgelöst vom lebenden Organismus, beschränken. Die interessantesten Erscheinungen und Erfahrungen des Lebens können nur beobachtet werden, wenn der Organismus als unversehrte integrierte Einheit auf seine gesamte Umwelt reagiert.

Glücklicherweise bewirken die Erforschungen des Lebens im Weltraum und unter Wasser eine gesunde Zunahme des Interesses an biologischen Problemen, die den Organismus als Ganzheit betreffen, wie zum Beispiel die Auswirkungen der Gezeiten, der Jahreszeiten, der Tages-, Mond- und Jahreszyklen — Tatsachen, die bis jetzt von der Biomedizin grob vernachlässigt wurden. So wie Raketen und Satelliten der Himmelsmechanik eine neue Bedeutung gegeben haben, so lenken auch die Aussichten auf längere Aufenthalte im Weltraum oder unter Wasser die Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit besserer Kenntnisse kosmischer Kräfte, die unser Leben auf der Erde geprägt haben und uns noch heute beeinflussen.

Wenn wir den Himmel während einer klaren, wolkenlosen Nacht betrachten, so empfinden selbst wir gehetzten modernen Menschen, daß wir Teil eines grenzenlosen, weit über die Sterne hinausreichenden Universums sind, an dessen Rhythmus wir teilhaben. Unsere Vorfahren empfanden dieses Gefühl der Einheit mit dem Kosmos wahrscheinlich intensiver als wir. Selbst von Schimpansen wird gesagt, daß sie während eines Sonnenuntergangs völlig still sitzen, wie fasziniert von dem Schauspiel.

Seit der Altsteinzeit kannten die Menschen die Bewegungen der Himmelskörper; sie notierten die Mondphasen, indem sie auf Knochen- oder Elfenbeingegenständen Kerben einritzten, und sie notierten ebenfalls die jahreszeitlichen Wanderbewegungen der Tiere und das Wachstum der Pflanzen. Die Beobachtung von astronomischen Vorgängen muß im geistigen Leben unserer Vorfahren also schon früh eine sehr bedeutende Rolle gespielt haben, denn die riesigen megalithischen Monumente wie Stonehenge in England, die Steinreihen von Carnac in Frankreich und die große Pyramide von Gizeh in Ägypten dienten offensichtlich keinem anderen Zweck.

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Philosophen, Schriftsteller und Künstler waren sich immer der Rolle okkulter Vorgänge im menschlichen Leben bewußt. In Platos Dialog »Phaidros« spricht Sokrates von den Schöpferkräften, die durch Besessenheit, die »göttliche Manie«, freigesetzt werden. Der Dialogtext läßt erkennen, daß sich das von ihm benutzte Wort Manie nicht auf einen pathologischen Geisteszustand bezieht, sondern eher auf jene verborgenen biologischen Eigenschaften der menschlichen Natur, die sich der Kontrolle des Verstandes nahezu entziehen und von denen im allgemeinen nicht einmal Notiz genommen wird, es sei denn, von ihren Auswirkungen auf das Verhalten. Diese Eigenschaften können unter den gewöhnlichen Umständen des alltäglichen Lebens verborgen bleiben, aber sie stellen sowohl für den Künstler als auch für den Wissenschaftler mächtige Quellen der Inspiration dar. Kreativität erfordert in der Regel harte Arbeit, aber sie hängt noch mehr von Intuition und Inspiration ab. Auf die »innere Stimme« zu hören versetzt uns in die Lage, in Bereichen der menschlichen Natur Quellen zu erschließen, die bislang noch nicht vollständig erforscht worden sind.

Nietzsche bezog sich auf angeborene Kräfte analog zur »göttlichen Manie«, als er in »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« schrieb, daß die dionysische Inspiration ein wichtiges Komplement der apollinischen Eigenschaft sei, welche Vernunft und Maß als die höchsten Werte betrachte. Wie E. R. Dodds aufzeigte, besaßen die antiken Zivilisationen ein Bewußtsein davon, daß mächtige biologische Triebe, die nicht ohne weiteres von der Vernunft beherrscht werden können, die menschliche Natur beseelen. Die okkulten Leidenschaften wurden im allgemeinen mittels eines wilden Stiers, der gegen die Vernunft kämpft, symbolhaft dargestellt.

Erfahrungsgemäß sind überall auf der Welt soziale Praktiken entstanden, um diesen okkulten Kräften unter einigermaßen kontrollierbaren Bedingungen Ausdrucks­möglichkeiten zu erlauben.

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Die Dionysos-Feste, die Eleusinischen Mysterien und viele andere Rituale dienten als Befreiungsmechanismen für biologische Triebe, die innerhalb der normalen griechischen Lebensform sonst keine befriedigende Ausdrucksform finden konnten. Selbst so vernunftbetonte Menschen wie Sokrates nahmen an den Korybantischen Ritualen mit ihrer Musik und ihren ekstatischen Tänzen teil. Auf Jahreszeiten bezogene antike Praktiken haben sich auch in den entwickeltsten Ländern der westlichen Welt, wenn auch häufig verzerrt, erhalten, was man an den seltsamen Kostümen und Verhaltensweisen während des Karnevals in vielen Ländern der Welt sehen kann. Der paläolithische Stier überlebt selbst im Großstadtbewohner, der, wann immer er mit einer bedrohlichen Haltung konfrontiert wird, auf seine Weise mit den Füßen stampft, oder auch dann, wenn jahreszeitliche Veränderungen die verschiedenen hormonellen Vorgänge aktivieren.

Wir stehen also nicht nur zu unserer physischen, biologischen und sozialen Umwelt in Beziehung, sondern zum gesamten Kosmos, auch wenn wir uns dieser Beziehung nicht bewußt sind. Unabhängig vom sozialen Organisierungsgrad und davon, wie primitiv uns Menschen erscheinen, haben alle menschlichen Gesellschaften Mythen und Riten entwickelt, um ihre Einbeziehung in das kosmische System mit Hilfe von Handlungen zu veranschaulichen, die ihre rein biologischen Bedürfnisse überlagern.

Auf Glockengeläut reagiert man zum Beispiel nicht so sehr aufgrund seiner Schallwellen, sondern aufgrund seiner symbolisch mitschwingenden Töne. Weil sich der Schall so endlos in alle Richtungen des Weltraums fortpflanzt, ist das Glockengeläut für mich ein Symbol dafür, daß wir alle mit allem im Kosmos verbunden sind. Diese endlosen Schallwellen reichen bis in das wunderbare Jenseits, wo sie an die Küsten des allerletzten Mysteriums plätschern, das die Wissenschaft niemals lösen wird.

Ich glaubte, daß meine stark emotional gefärbte Reaktion auf Glockengeläut daher rührte, daß ich ihm aufgrund meiner christlichen Erziehung in Frankreich eine religiöse Bedeutung zu geben gelernt hatte, aber das erklärt nicht alles. Die nahen Rufe des Muezzins im arabischen Teil Jerusalems erweckten in mir Gefühle, die ich in sehr ähnlicher Weise auch beim Glockengeläut christlicher Kirchen empfinde.

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Das trifft in gleicher Weise auch auf andere rituell bedingte Klänge zu, die ich in vielen Erdteilen hörte — wie zum Beispiel die Gongs in den buddhistischen Tempeln Japans und Taiwans, die Gesänge der Navajo bei einer Stammeszeremonie, die rhythmischen Gesänge während eines polynesischen Tanzes auf Tahiti, die Trommeln schwarzer Menschen in Zentralafrika. Selbst der überzeugteste Atheist kann bei dem Klang von Glocken, dem Nachhallen von dumpfen Gongs, dem hypnotisierenden Effekt von Gesängen in Neumexiko oder der Trommeln in Afrika die Einheit mit dem Kosmos empfinden.

Das auf Glockentöne oder andere rituelle Klänge zurückführende kosmische Erleben trug zur Entwicklung des Animismus primitiver Völker bei. Der Animismus besteht als Unterströmung in allen großen Religionen weiter, die in ihrer höchsten Ausformung die Person in ihrer Ganzheit auf das Universum in seiner Ganzheit reagieren lassen. Auf die ein oder andere Weise werden wir bald unsere Beziehung zum Kosmos mit jener Theorie in Einklang bringen müssen, die besagt, daß alles im Kosmos vor gut zwanzig Milliarden Jahren zu einem bestimmten Zeitpunkt aus einer riesigen Explosion, einem Bündel von Licht und Energie — dem Urknall —, entstand. Der Astronom Robert Jastrow stellte bei der Darstellung der emotionalen Reaktionen theoretischer Physiker auf die Urknall-Theorie der Schöpfung fest, daß diese Reaktionen »aus dem Herzen kommen und nicht, wie erwartet, vom Verstand gelenkte Beurteilungen sind«. Wenn Wissenschaftler an die Grenzen ihrer Erkenntnisfähigkeit gelangen, werden sie, nach Jastrows Worten, immer noch »von einer Theologenschar begrüßt, die dort seit Jahrhunderten sitzt«.

Tatsächlich waren die Theologen aber nicht die einzigen, die abwarteten und beobachteten. Aufnahmefähige und sensible Menschen haben schon immer nach dem Ursprung und dem Sinn des Kosmos sowie nach ihrem Platz in der Welt der Dinge gefragt. Die ewig gültigen Fragen lauteten schon immer so, wie sie Paul Gauguin auf eines seiner Tahiti-Bilder schrieb: »Woher komme ich? Wer bin ich? Wohin gehe ich?«

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Die Kirchenglocken, die eine christliche Feier ankündigen, und der Muezzin, der die Moslems zum Gebet ruft, versinnbildlichen die Tatsache, daß wir ungeachtet unseres persönlichen Glaubens im menschlichen Leben mehr als nur chemische Reaktionen sehen, die der Aufrechterhaltung anatomischer Strukturen und physiologischer Funktionen dienen. Zum menschlichen Wesen gehört nicht nur die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, sondern auch der Versuch, unsere Existenz mit der gesamten Schöpfung zu verbinden.

Die DNS-Moleküle unseres genetischen Erbgefüges bestimmen die Invarianten unserer biologischen Natur. Sie schließen Verhaltensmuster ein, die unsere Vorfahren während der Altsteinzeit oder unsere etwas jüngeren Vorgänger entwickelt haben und die unsere Reaktionen auf umweltbedingte und soziale Reize lenken. Form und Intensität dieser Reaktionen werden jedoch zu jeder Zeit von unseren individuellen Erfahrungen stark beeinflußt. Wir können unserer vergangenen individuellen Prägung, insbesondere jener, die aus sehr frühen Erfahrungen resultiert, niemals entfliehen. In Sekundenbruchteilen beispielsweise läßt uns ein bestimmter Duft in die tiefsten Schichten unseres Seins absinken; selbst der schwächste Geruch kann uns auf diese Weise mit einem anderen Ort und einer anderen Zeit wieder verbinden.

So erinnere ich mich an die intensive Freude eines jungen Mädchens, das, nachdem es zum erstenmal außerhalb ihres Zuhauses in einer idyllischen ländlichen Gegend gewesen war, in das Elend ihrer heimatlichen Kohlenstadt in den Appalachen zurückkehrte. Es atmete die verschmutzte, schweflige Luft tief ein und rief freudestrahlend: »Oh, zu Hause!« Ich verstand ihre Reaktion, weil ich eine ähnliche Freude empfunden hatte, als ich nach einem halben Jahrhundert der Abwesenheit den Gestank einer Zuckerrübenbrennerei in jenem französischen Dorf in die Nase bekam, in dem ich aufgewachsen war.

In einem seiner während der Schulzeit verfaßten Briefe nach Hause beschrieb der junge Louis Pasteur die große Sehnsucht nach einem Dufthauch aus der Gerberei seines Vaters, obwohl die alten Gerbmethoden Übelkeit erregende Gerüche verursachten.

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Auch ich bin noch immer ein Teil der Welt, in der ich aufwuchs, und sie ist noch immer so sehr ein Teil meiner selbst, daß die Erinnerungen an die Landschaft der Ile de France genügen, mich geistig in die Dörfer zurückzuversetzen, um mich als kleinen Jungen im Kinderkittel zu sehen, der auf den Feldern Pflanzen und Wurzeln für die Kaninchen gesammelt hat und sie auf einer Schubkarre nach Hause schob. Ich spüre unter meinen Füßen noch immer die federnden Feldwege; ich rieche den Rotdorn in den Hecken, ich höre das Muhen der Kühe und das Zwitschern der Vögel, insbesondere der Lerchen über den Weizenfeldern; ich erwarte jeden Moment, die Kirchturmspitze im Dorf zu erblicken.

Obwohl der kleine Junge mit der Schubkarre noch in mir lebt, unterscheide ich mich nun natürlich sehr von ihm, und nicht nur, weil ich alt bin. Ich habe an vielen verschiedenen Orten gelebt und mich zufällig oder bewußt mit vielen verschiedenen Menschen zusammengetan. Nur wenige Teile von Paris, Rom, London oder Manhattan rufen in mir nicht sofort unvermindert lebhafte Erinnerungen an Situationen wach, an denen ich beteiligt war und die mich für immer von dem unterscheiden, was ich vor diesen Ereignissen war. Ich lebe nicht in der Vergangenheit, die Vergangenheit lebt in mir.

 

     Natürliche und gebaute Umwelt  

 

Die verschiedenen menschlichen Rassen weisen deutliche körperliche Unterschiede auf, eine Folge der Tatsache, daß sie über ungezählte Generationen hinweg unterschiedlichen Umgebungen und Lebensweisen ausgesetzt waren. Einige dieser Unterschiede sind erblich, weil sie in den DNS-Molekülen verschlüsselt sind, die die für jede menschliche Rasse eigentümliche genetische Konstitution bestimmen. Das betrifft die Rassen kennzeichnende Hautpigmentierung, den kleinen Wuchs der afrikanischen Pygmäen und australischen Aborigines und wahrscheinlich auch einige kleinere anatomische Unterschiede zwischen Japanern und Europäern.

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Einige Erforscher des kindlichen Verhaltens behaupten, daß Säuglinge verschiedener Rassen wenig Unterschiede im Wachstum, der Körperhaltung und des Temperaments, die genetisch bestimmt sind, aufweisen. Tests haben kürzlich ergeben, daß zum Beispiel der motorische Entwicklungsstand bestimmter afrikanischer Kinder weit über dem europäischer Kinder gleichen Alters lag und begleitet wurde von einem Vorsprung in der Anpassungsfähigkeit, der sprachlichen Lernfähigkeit und des individuellen und sozialen Verhaltens. Dieser Entwicklungsvorsprung der afrikanischen Kinder verschwand in der Regel im dritten Lebensjahr und wurde nur von einigen derjenigen beibehalten, die den Vorteil einer Kindergartenerziehung genossen.

Jedoch sind die meisten eine ethnische Gruppe kennzeichnenden physischen und verhaltensmäßigen Merkmale in Wirklichkeit nicht genetisch bedingt, sondern die Auswirkungen unterschiedlicher soziokultureller Bedingungen. Zum Beispiel waren die Emigranten aus Sizilien, als sie um die Jahrhundertwende in New York ankamen, oft von kleiner Statur; aber ihre Kinder und insbesondere ihre in den USA geborenen und aufgewachsenen Enkelkinder sind nun nahezu so groß wie die Nachkommen der ersten Siedler aus Nordeuropa.

In ähnlicher Weise besaßen die Juden, die vor dem Krieg in mitteleuropäischen Gettos lebten, eine Vielzahl kennzeichnender Merkmale, die als Ausdruck »semitischer Gene« gewertet wurden. Ihre in israelischen Kibbuzim geborenen und aufgewachsenen Kinder sind hingegen hochgewachsen, schlank, und ihr Verhalten bewegt sich weitab jener traditionellen Muster, die vor dem Krieg für die Juden Mitteleuropas maßgebend waren. Viele Nachkriegsjapaner sind ebenfalls größer als ihre Vorkriegseltern und Großeltern. Das menschliche Wachstum wird folglich von Umweltfaktoren und Lebensweisen beeinflußt, die sich so rasch wandeln — innerhalb einer oder sehr weniger Generationen —, daß ihre Auswirkungen unmöglich auf genetische Veränderungen zurückgeführt werden können.

Die Prägung gewisser menschlicher Eigenschaften durch die natürliche Umgebung wurde schon vor mehr als 2000 Jahren von chinesischen und griechischen Ärzten völlig klar erkannt, wobei es allerdings unwahrscheinlich ist, daß diese Gelehrten schon deutlich zwischen genetisch weitergereichten oder individuell erworbenen Merkmalen unterschieden.

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Der griechische Arzt Hippokrates gehörte zu denjenigen, die hervorhoben, daß sowohl die physischen und geistigen Eigenschaften der verschiedenen Bevölkerungsgruppen Europas und Asiens als auch deren militärische Tüchtigkeit von der Topographie ihrer Lebensräume und insbesondere von der ortsüblichen Luft-, Wasser- und Lebensmittelqualität bestimmt wurden. Er lehrte zum Beispiel, daß »die Bewohner felsiger, gebirgiger und gut bewässerter Landschaften zu großgebauten, Mut und Ausdauer angemessenen Körpern neigen, während die Bewohner flacher, warmer und sumpfiger Landschaften meist untersetzt, feist und träge« seien. Wir wissen heute, daß die von ihm beobachteten Unterschiede auf bestimmte, jeweilig vorherrschende Infektionskrankheiten und Ernährungsmängel in den Gebieten, wo er seine Beobachtungen machte, zurückzuführen waren.

Im 18. Jahrhundert war der Abbe Jean Baptiste Dubos (ich bin nicht mit ihm verwandt) einer der meistzitierten französischen Vertreter der Doktrin, daß wir alle weitgehend von geographischen und insbesondere klimatischen Faktoren geprägt werden; in diesem Sinne war er ein geistiger Verwandter Hippokrates' und ein Vorgänger Montesquieus.

Dubos unterstrich nicht nur die Auswirkungen des Wetters auf das menschliche Wachstum, sondern auch auf die Entstehung und die Äußerungen intellektueller Eigenschaften. Seine Worte, »Das Klima ist mächtiger als Blut und Herkunft«, können dahin gehend verstanden werden, daß die Auswirkungen des Klimas auf Körper und Geist mächtiger sind als persönliche Veranlagung und Herkunftsland. Er war der Meinung, daß die Qualität der Luft die Zusammensetzung des Bluts und damit alle physischen und geistigen Merkmale beeinflussen würde. Ihm zufolge lieferten klimatische Einflüsse die Erklärung dafür, weshalb die ungehobelten und wilden fränkischen und normannischen Barone, die sich in den Mittelmeerländern niedergelassen hatten, »weibisch, hinterhältig und kleinmütig« wurden und weshalb die Araber soviel an Vitalität einbüßten, nachdem sie sich in Spanien niedergelassen hatten.

Obwohl die Tatsachen historisch korrekt wiedergegeben werden, führen seine Interpretationen mit Sicherheit in die Irre.

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Nordländer und Moslems wurden in der mediterranen Umgebung nicht deshalb schwächlich, weil das Klima sie in genetischer Hinsicht veränderte, sondern weil Luxus und Müßiggang sie davon abhielten, physische Widerstandskraft und geistige Tugenden zu kultivieren, die zu ihren militärischen Erfolgen geführt hatten.

Trotz ihrer wissenschaftlichen Primitivität sind diese Ansichten wertvoll, denn sie enthüllen die grundlegende Wahrheit, daß die Umwelt und die Lebensweise tiefgreifende Einflüsse auf viele Aspekte des menschlichen Charakters und der Entwicklung ausüben; seine Vermutung hingegen, daß das Klima die intellektuellen Fähigkeiten stark prägt, hat unseligerweise zur Untermauerung rassistischer Auffassungen gedient.

Zu Beginn unseres Jahrhunderts hat der Geograph Ellsworth Huntington in mehreren Auflagen seines überaus erfolgreichen Buches <Civilization and Climate> (Kultur und Klima) die Lehre vom klimatischen Determinismus aufrechterhalten. Er war der Ansicht, daß das Klima nicht nur die Nahrungsmittel­produktion und die menschliche Gesundheit beeinflußt, sondern auch Intelligenz und Ethos. Auf diesen Behauptungen baute er eine rassistische Theorie auf, die er folgendermaßen begründete: »Das Klima vieler Länder scheint eine der wichtigsten Ursachen für das Vorherrschen von Faulheit, Unehrlichkeit, Sittenlosigkeit, Dummheit und Willensschwäche zu sein.«

Weil er glaubte, daß ein gemäßigtes Klima dem Fortschritt dienlicher sei als ein tropisches, verstieg er sich sogar zu der Behauptung, »daß der Neger sich nicht nur hinsichtlich seines Charakters und seines Aussehens vom Weißen unterscheidet, sondern auch aufgrund der Funktionsweise seines Verstandes«. Seiner Meinung nach entwickelten sich die schwarzen Menschen während ihrer biologischen Evolution unter dem Einfluß des tropischen Klimas in Afrika zu minderwertigen menschlichen Wesen. Es wäre, nebenbei bemerkt, sehr interessant, zu wissen, wie er wohl auf die jüngste, schon erwähnte Entdeckung des bemerkenswerten Entwicklungsvorsprungs bestimmter afrikanischer Kinder reagiert hätte.

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Die Ansicht, daß angemessene Variabilitätsgrade das Leistungsvermögen und die Entwicklung des Menschen stimulieren, stellt bekanntlich auch einen speziellen Aspekt der Toynbeeschen Kulturtheorie dar. Da aber Huntington seine Auffassung von der Bedeutung des Klimas mit wenig stichhaltigen physiologischen Beobachtungen untermauert, entsteht eine sehr unvollständige und daher im wesentlichen falsche Darstellung des Einwirkens von Naturkräften auf den Charakter und die Entwicklung des Menschen.

Vor allem erklärt diese Theorie nicht, weshalb einige Hochkulturen der Vergangenheit in natürlichen Umgebungen, die sich hinsichtlich jahreszeitlicher und anderer natürlicher Bedingungen sehr von den im östlichen Neuengland oder Europa vorherrschenden Faktoren unterscheiden, entstehen und aufsteigen konnten — wie zum Beispiel die ägyptische Kultur im Nil-Tal zwischen ausgedehnten Wüstenflächen, die Inka-Kultur in den schwindelnden Höhen der peruanischen Anden, die Maya- und Khmer-Kulturen zwischen den undurchdringlichen Wäldern der feuchten Tropen. Die Geschichte hat gezeigt, daß die Menschen selbst unter höchst unterschiedlichen Naturbedingungen zu großartigen kulturellen Leistungen fähig waren, und sie beweist ebenfalls, daß es in Regionen, die nach Huntington für das menschliche Leben und die Kultur ideal waren, wiederholt zu Phasen geistigen Verfalls kam.

Einer der Gründe dafür, daß die menschliche Entwicklung in so vielen unterschiedlich gearteten natürlichen Umgebungen erfolgreich sein kann, ist die Tatsache, daß der Homo sapiens im wesentlichen immer noch ein subtropisches Tier ist, mit der Folge, daß die meisten Menschen im Verlaufe der Geschichte und selbst der Vorgeschichte biologisch gesehen in den Regionen der Erde, in denen sie siedelten, fehl am Platze waren. Um uns die Erde Untertan zu machen, mußten wir, die wir aus der Wildnis kamen, nahezu überall auf künstliche Weise menschengerechte Behausungen schaffen, die uns in die Lage versetzten, uns in natürlichen Umgebungen, an die wir biologisch nicht angepaßt waren, zu betätigen und zu vermehren. Wir könnten selbst in den sogenannten gemäßigten Klimazonen nicht lange überleben, gäbe es nicht die von uns entwickelten sozialen Praktiken, die uns gegen die Unbilden der Witterung und gegen Nahrungsmittelknappheit schützen.

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Unter normalen Bedingungen arbeiten und verbringen wir die meiste Zeit nicht in der Wildnis, noch nicht einmal in der freien Natur, sondern in stark vom Menschen geprägten Landschaften, großstädtischen Anballungen, Städten, Dörfern und Zimmern unterschiedlicher Größe und Gestalt. Diese Umgebungen üben tatsächlich die tiefgreifendsten Einflüsse auf unsere physische und geistige Natur aus.

Wie jüngste Messungen ergaben, ist das Lebenstempo auf dem Lande im allgemeinen langsamer als in großen Städten. Menschen in europäischen Dörfern oder Kleinstädten schlendern, wie die Untersuchungen gezeigt haben, mit einer ungefähren Schrittgeschwindigkeit von 92 Zentimetern pro Sekunde, während die Durchschnittsgeschwindigkeit in Städten mit mehr als einer Million Einwohnern 153 bis 183 Zentimeter pro Sekunde beträgt — gleichgültig, ob es sich um europäische Städte wie Prag (CSSR) oder amerikanische Städte wie Brooklyn (New York) handelt. Im Zentrum Manhattans, auf der Park Avenue, wo es ziemlich wenig Schaufensterauslagen gibt, ist die Schrittgeschwindigkeit auffallend höher als in den Seitenstraßen, wo es mehr zu betrachten gibt. Dieser Tempounterschied muß nicht unbedingt bedeuten, daß das Leben auf dem Lande weniger anstrengend als in der Stadt ist.

Allgemein steckt dahinter aber die Wahrheit, daß nahezu alle Aspekte der gebauten Umwelt, in der wir leben, unsere Lebensweise entscheidend beeinflussen und damit wahrscheinlich auch die Art unserer physischen und geistigen Entwicklung.

Die weitverbreitete und heftige Abenteuerlust junger Menschen deckt sich in erster Linie mit der Suche nach neuen Erfahrungen. Obwohl der Forscherdrang und das Bedürfnis nach einem gewissen Reizminimum bei allen Primaten und wahrscheinlich im gesamten Tierreich vorhanden sind, scheinen diese Eigenschaften bei der menschlichen Gattung am stärksten ausgeprägt zu sein. In der Vergangenheit konnte der Erlebnishunger Jugendlicher häufig durch die Erforschung der häuslichen Umwelt auf einfache Weise befriedigt werden — entweder auf dem eigenen Bauernhof mit seinen abwechslungsreichen Tätigkeitsfeldern oder in der Stadt, in der die Straßen sich voneinander unterschieden und jeder Block ein anderes Gesicht hatte.

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In den modernen urbanen Ballungsgebieten vermindert die Eintönigkeit der Umgebung die Gelegenheiten zu solch unschuldigen Abenteuern — eine Tatsache, die auf den naheliegenden Gedanken bringt, daß viele rastlose und energische Pioniere unter den Lebensbedingungen unserer Städte und Großstädte vielleicht zu jugendlichen Verbrechern geworden wären.

Das Verhalten wird auch von der Architektur und dem Design der Einrichtungsgegenstände beeinflußt. Man gibt sich in der klaren Nüchternheit eines japanischen Hauses anders als in der strengen Eleganz eines klassischen europäischen Wohnzimmers oder in der saloppen Behaglichkeit einer modernen überladenen Einrichtung. Die mit Tatami (Reisstrohmatten) bedeckten Fußböden und die leichten Papierwände verleihen den japanischen Häusern einzigartige akustische Eigenschaften, die die Formgebung der Musikinstrumente und selbst die Tonhöhe und Klangfarbe japanischer Stimmen beeinflußt haben könnten. Der Klang eines Klaviers verliert in traditionellen japanischen Häusern sehr an Brillanz, andererseits büßt eine japanische Shamise (dreisaitiges Zupfinstrument) viel von ihrer subtilen Qualität in einer der widerhallenden Schachteln ein, die ein Charakteristikum der meisten amerikanischen und europäischen Gebäude sind.

Im August 1977 veröffentlichte das Lokalblatt eines New Yorker Vorortes den Plan eines Hauses, dessen Entwurf die Energieeinsparung stark berücksichtigte. Eine Komponente des architektonischen Konzepts beruhte auf der Kombination von Küche, Wohn- und Eßzimmer mit einem Kaminplatz, der so angeordnet war, daß diese Untereinheit vom Rest des Hauses während der kalten Jahreszeit abgetrennt werden könnte. Der Architekt versicherte, daß die Familie viele Stunden an diesem »Zufluchtsort« verbringen, das Zusammensein am warmen Kamin genießen und somit die für den Rest des Hauses erforderliche Energiemenge einsparen würde.

Einem Leser dieses Artikels gefiel der Entwurf jedoch nicht. »Zu enges Zusammenleben ist für die Katz«, schrieb er in einem Leserbrief an die Zeitung. »Ein gestörter Familienfriede ist ein zu hoher Preis für das bißchen Energieeinsparung.«

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Ihm zufolge besteht gerade die größte Leistung amerikanischer Häuser darin, die Trennung der verschiedenen familiären Aktivitäten ermöglicht zu haben, damit alle ihr Sonderleben führen können, indem sie das Wohnzimmer, das Spielzimmer, das Eßzimmer und das Schlafzimmer unabhängig voneinander, wann immer sie wollen, benutzen können.

Einige Jahre zuvor hatte Dr. A. L. Parr, ehemaliger Direktor des New Yorker Museums für Naturgeschichte und um die Jahrhundertwende in einer norwegischen Kleinstadt geboren und aufgewachsen, eine Auffassung vertreten, die im völligen Gegensatz zu jener eben erwähnten Lesermeinung stand. Die Zimmer des Hauses, in dem er aufgewachsen war, wurden einzeln durch Kamine oder Öfen beheizt. Zur Beleuchtung dienten anfangs Kerzen, später Petroleum-, Azetylen- oder Gaslampen. Da diese Heiz- und Beleuchtungstechniken ein wenig unbequem und gefährlich waren, konnten Kinder nicht mit ihnen betraut werden und schufen selbst für Erwachsene einige Probleme.

Als Folge davon mußte die gesamte Familie — Kinder, Erwachsene, Großeltern — die meisten Abende zusammen verbringen und die Geselligkeit genießen oder zumindest tolerieren. Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen in einem französischen Dorf zu Beginn dieses Jahrhunderts stimme ich mit ihm überein, daß die Notwendigkeit, sich mit einer Gruppe unterschiedlichster Menschen für einige Stunden auf engstem Raum bewegen zu müssen, die Entwicklung sozialer Toleranz fördert oder zumindest andersgeartete soziale Beziehungen erleichtert.

Das Verhalten und die Entwicklung des Menschen werden sicherlich auch von der allgemeinen Planung menschlicher Ansiedlungen geprägt.

Das Erscheinungsbild der Straßen in den französischen Dörfern, in denen ich meine frühe Jugend verbrachte, ist grau und eintönig, ohne optischen Reiz. Die meisten Amerikaner sehen in ihnen, und dazu neige ich nun auch häufiger, langweilige, monotone Mauern, die an eine Anstalt erinnern, in der die Menschen keinen Kontakt zur Außenwelt haben. Diese Sichtweise vieler französischer Straßen hat einiges für sich.

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Die Leute, die ich während meiner Kindheit kannte, betraten selten ein fremdes Haus, nicht einmal das Haus ihres Nachbarn, außer auf besondere Einladung. Ich kann mich nicht erinnern, in den beiden Dörfern und der Kleinstadt, in denen ich meine ersten Jahre verbrachte, jeweils mehr als nur eine knappe Handvoll Häuser von innen gesehen zu haben, obwohl meine Eltern und Großeltern mit den Leuten, die sie kannten, auf gutem Fuße standen.

Wenn auch die Mauern entlang der französischen Straßen im allgemeinen grau und wenig einladend wirken, so besaßen die hinter ihnen liegenden Häuser jedoch eine heimelige Atmosphäre, die am besten mit dem Wort foyer (heimatlicher Herd) umschrieben werden kann. Schon in der Frühgeschichte stellte der Herd das physische und geistige Zentrum der sozialen Ureinheit — entweder Groß- oder Kleinfamilie — dar. Die Häuser hinter den wenig ansprechenden Mauern waren in meiner Jugend der Hort eines so privaten Familienlebens, daß die von ihm geschaffenen emotionalen Bindungen niemals zerstört werden konnten, noch nicht einmal durch kulturelle oder familiäre Entfremdung.

Die Worte eines französischen Bauern, die ich kürzlich las, klingen sehr vertraut: »Wir sind mißtrauisch wie unsere Väter. Draußen ist es kalt, und drinnen ist es warm ...An der Türschwelle grüßt man. aber man läßt keinen herein... Das Leben spielt sich drinnen ab, zwischen Wohnzimmer und Stall... Die Großmutter hebt den Vorhang, prüft das Wetter... Der Großvater legt dann noch ein Holzscheit in den Küchenherd.«

Zu meiner Jugendzeit in Frankreich gehörte zu allen mir bekannten Häusern hinter der schwer zu beschreibenden Mauer und dem Haus ein recht großer Garten, in dem es nicht allein Blumen gab, sondern auch Gemüse, Hühner und Kaninchen für den täglichen Hausbedarf. Nach meinem Geschmack ist dagegen der amerikanische Garten fast unangenehm öffentlich. Ich kann mir als Hintergrund sozialer Beziehungen keinen krasseren Gegensatz vorstellen als zwischen den abgeschlossenen, intimen Heimen und Gärten hinter den langweiligen, aber schützenden Mauern französischer Straßen und den für die Öffentlichkeit einsehbaren Rasenflächen und Panorama-Fenstern, die eigentlich die Regel in amerikanischen Siedlungen darstellen.

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Die mir bekannten Franzosen waren nicht so unsozial, wie die Bauweise der Gemeinden vermuten läßt. Ihr soziales Leben fand in der Öffentlichkeit statt, in Cafes, Restaurants, Geschäften, öffentlichen Park- und Gartenanlagen. Auf der anderen Seite sind die Amerikaner selbst heute noch in sozialer Hinsicht nicht so offen, wie ihre nicht umzäunten Wohnhäuser, Rasenflächen und Gärten suggerieren. Ihre Geselligkeiten finden für jedermann sichtbar, aber dennoch in vielen isolierten Formen statt, die manchmal subtil, aber immer wirkungsvoll sind. Ein Akademiker weiß, daß er nicht ganz dazugehört, wenn er aufgefordert wird, zu einer Gruppe von Automobilverkäufern oder zu Leuten der vornehmen Gesellschaft von Los Angeles zu reden. Ein Christ fühlt sich unter Juden nicht völlig ungezwungen und umgekehrt. Offiziell wird die Hautfarbe ignoriert, aber ich erinnere mich an eine sehr freundliche Diskussion mit einem hochgebildeten Schwarzen, der mir während einer geselligen Zusammenkunft versicherte, daß es mir als Weißem unmöglich sei, die Gefühle der Schwarzen zu verstehen.

Der Typ der französischen Gemeinschaft, in der ich aufwuchs, führte zu einem ziemlich begrenzten Bekanntenkreis, aber zu allgemein tiefen und dauerhaften Beziehungen. Das galt sowohl für feindselige als auch für freundschaftliche Verhältnisse. Der amerikanische Siedlungstyp führt in einem weit größeren Umfang zu zwischenmenschlichen Kontakten, die aber zur Karikatur werden können, wie mir am Beispiel der Ehefrau eines Armeeoffiziers klar wurde, der weniger als zwei Jahre in einer Kleinstadt in Connecticut stationiert war. Kurz bevor ihr Mann und sie die Stadt verlassen sollten, äußerte sie ihr Entsetzen angesichts des Gedankens, mehr als 500 neue »Freunde« verlieren zu müssen, die sie in weniger als zwei Jahren gewonnen hatte. Ohne Zweifel hat sie bald wieder 500 andere Freunde im neuen Stationierungsort ihres Mannes gefunden.

Ich frage mich oft, ob meine frühen Jahre in einem abgeschlossenen Teil Frankreichs dafür verantwortlich sind, daß ich trotz vieler interessanter und lukrativer Stellenangebote in anderen Teilen der Vereinigten Staaten praktisch mein gesamtes Berufsleben auf dem Rockefeller-Campus von New York verbracht habe und die meiste Zeit so wohnte, daß ich innerhalb von 20 Minuten mein Büro zu Fuß erreichen konnte.

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Natürlich verändern sich Verhaltensweisen und der Geschmack. Die Mauern der Hauptstraße von Saint Brice-sous-Foret, meinem Geburtsort, sehen immer noch so grau und wenig einladend aus wie zur Zeit meiner Geburt. Auf der anderen Seite der Eisenbahnstrecke wurde jedoch Sarcelles, ein ähnliches Dorf, nach dem Krieg zum Bauplatz für Hochhäuser. Obwohl die neuen Häuser in Sarcelles mehr Annehmlichkeiten als im alten Dorf aufwiesen, begünstigten die durch sie hervorgerufenen Änderungen der Gewohnheitsstrukturen das Auftreten verschiedener Krankheiten, die im Verlauf so untypisch waren, daß die Ärzte sie als »Sarcellitis« bezeichneten.

Heute, drei Jahrzehnte später, haben sich die Bewohner von Sarcelles an ihre neue Umgebung gewöhnt und sie darüber hinaus so verändert, daß sie mit der traditionellen französischen Lebensweise besser zu vereinbaren ist. Die »Sarcellitis« verschwand spontan, nachdem dieser Zustand erreicht worden war. Mein Heimatdorf, Saint Brice, ist in letzter Zeit auch gewachsen, aber sehr viel behutsamer. Die neuen Häuser sind niedrig, die sie umgebenden Rasenflächen und Gärten eingezäunt, aber die Zäune sind von so geringer Höhe, daß der Eindruck einer weiträumigen Landschaft entsteht. Es handelt sich jedoch nicht um die Freiheit einer amerikanischen Landschaft, sondern nur um eine Großzügigkeit, die noch dem bestehenden französischen Wunsch nach einem zurückgezogenen Familienleben innerhalb eines abgesteckten Rahmens entspricht, selbst wenn es nur ein symbolischer Rahmen ist.

Auch die Konstanten der menschlichen Natur spielten eine Rolle bei der Gestaltung von Ansiedlungen. Das Leben in der Savanne, unserem biologischen Ursprung, und nahezu auf der gesamten Erde während der Eiszeit schuf duale und gegensätzliche visuelle Bedürfnisse bei allen menschlichen Wesen. Von der Cro-Magnon-Höhle in Les Eyzies schweift der Blick in weite Fernen. Von hier aus konnten die Steinzeitmenschen die Bewegungen des Wilds verfolgen, während die Höhle Zuflucht bot, in die sie sich zum Schutz vor wilden Tieren oder unfreundlichem Wetter zurückziehen konnten.

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Seit prähistorischen Zeiten dienten Planungstechniken und Entwurfsstile dazu, diesen beiden komplementären Bedürfnissen entgegenzukommen — nämlich dem Bedürfnis nach der schützenden Gemütlichkeit einer Zuflucht und auch nach einer unbegrenzten Sicht auf die Außenwelt.

Zuzüglich zu diesen Aspekten unserer Umwelt kommen noch biologische Faktoren, die physische und psychologische Merkmale einschneidend beeinflussen. Der Reifeprozeß junger Menschen hat sich beispielsweise in den Ländern, die sich dem westlichen Lebensstil angepaßt haben, in wenigen Jahrzehnten enorm beschleunigt. Nicht nur die Kinder sind im Vergleich zu früheren Jahrzehnten größer, auch die endgültige Körpergröße und das endgültige Gewicht der Erwachsenen haben zugenommen und werden früher erreicht. Vor einem Jahrhundert noch wurde die maximale Körpergröße im allgemeinen nicht vor dem 25. Lebensjahr erreicht, während sie heute von Jungen ungefähr im Alter von neunzehn und bei Mädchen von siebzehn Jahren erreicht wird. Auch die Sexualreife hat sich nach vorn verschoben. Während die Menstruation 1850 durchschnittlich im Alter von siebzehn Jahren auftrat, findet sie heute ungefähr im Alter von zwölf Jahren statt.

Die Faktoren, die für die heute zu beobachtenden dramatischen Verschiebungen der körperlichen und sexuellen Reife verantwortlich sind, werden noch nicht völlig durchschaut. Fortschritte in der Ernährungsweise und der Kontrolle von Infektionskrankheiten — sowohl bei Mutter und Kind — haben sicherlich eine große Rolle bei der Beschleunigung der frühkindlichen Entwicklung gespielt; dieser Wandel trug seinerseits wahrscheinlich zum höheren Wuchs der Erwachsenen bei.

Obwohl man wenig über die weitreichenden verhaltensmäßigen Folgen weiß, die sich aus dem Wandel der biologischen Entwicklungsgeschwindigkeit ergeben, kann man die Vermutung aussprechen, daß die frühere anatomische und physiologische Reife einen erleichternden Einfluß auf das Auffinden des eigenen Platzes in der gesellschaftlichen Ordnung ausübt. Diese Entwicklungsrate mag ebenfalls gewisse psychologische Eigenschaften und selbst Kulturformen berühren.

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Da die Japaner zum Beispiel größer und schwerer werden als früher, müssen sie wahrscheinlich auch ihre Möbel, Häuser und Grundstücke verändern — selbst die Landschaftsgestaltung und die Durchführung ihrer zeremoniellen Handlungen. Die Teezeremonie ist mit dem Verhalten stämmiger Teenager, die die meiste Zeit in Bluejeans herumlaufen, nicht mehr länger zu vereinbaren.

In einem Aufsatz bemerkte R. W. Emerson, »daß zu jeder Bevölkerung und zu jeder Generation Laster und Torheiten gehören. Die Menschen gleichen darin ihren Zeitgenossen noch mehr als ihren Vorfahren.« Das entsprechende arabische Sprichwort, »Die Menschen gleichen ihrer eigenen Zeit mehr als ihren eigenen Vätern«, drückt übereinstimmend die allgemeine Wahrheit aus, daß die Mehrzahl unserer biologischen und verhaltensmäßigen Grundzüge zutiefst von der Umwelt und Ereignissen beeinflußt werden. Wir ähneln unseren Vorfahren, weil wir unsere genetische Veranlagung von ihnen erhielten, darüber hinaus jedoch ähneln wir unseren Zeitgenossen in diesem Umfang, weil wir denselben Umweltbedingungen unterliegen wie sie und folglich von den sozialen und physischen Besonderheiten unserer Zeit konditioniert werden.

 

Die Mannigfaltigkeit der gebauten Umwelt spiegelt im großen Umfang die Geschmacksänderungen der verschiedenen menschlichen Gesellschaften wider. Eine Fotografie des Woolworth-Hauses, das damals das höchste und berühmteste Wahrzeichen New Yorks war, vermittelte mir, dem Teenager in Frankreich, den ersten Eindruck von der modernen Architektur. Nach seiner Errichtung im Jahre 1913 galt dieser Wolkenkratzer überall auf der Welt sofort als architektonisches Wunder — nicht nur als kühnes Meisterwerk der Ingenieurkunst, sondern noch mehr als Ruf nach einer neuen, dem technologischen Zeitalter angepaßten Architektur. Gotische Zierbänder schmückten das Gebäude vom Keller bis zum Dach, um die moderne Version einer mittelalterlichen Kathedrale zu vermitteln, einer Kathedrale jedoch, die nicht mehr der Ehre Gottes, sondern der Macht des Geldes dienen sollte. Der Name »Kathedrale zum Kommerz«, der dem Woolworth-Haus vom Volksmund verliehen wurde, versinnbildlichte die Tatsache, daß diese Art von Architektur den Ausdruck einer kommerziellen Gesellschaft darstellte.

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Das Woolworth-Haus blieb bis 1929 der höchste Wolkenkratzer. Trotz seiner sechzig Stockwerke sieht es heute im Vergleich zu den 107 Stockwerken der Doppeltürme des Welthandelszentrums, das kürzlich in seiner Nähe errichtet wurde, winzig aus. Darüber hinaus erscheinen die Komplexität der Fassade und die dekorativen Elemente, die auf überholte religiöse und soziale Anspielungen zurückgreifen, in unseren Augen als altmodisch, da wir uns an die Nüchternheit des »funktionalen« Stils gewöhnt haben.

Die untadeligen, eleganten Schöpfungen des Mies van der Rohe in Chicago, New York und anderen amerikanischen Städten, das Trade Center in New York, der noch höhere Sears Tower, das aufsehenerregend schicke und arrogante Hancock-Haus in Boston und das unglaublich kühne Pennzoil-Zapata-Haus in Houston sind nicht als »Kathedralen« des modernen Lebens konzipiert worden, sondern als Arbeits- und Wohnplätze einer unromantischen Gesellschaft, die erbittert um die ihr wesensgemäße Art von Kultiviertheit ringt.

Im späten 19. Jahrhundert und im frühen 20. Jahrhundert bekräftigten die Vorkämpfer des internationalen funktionalen Stils ihre Architekturtheorien mit wenigen, aber packenden Formulierungen. Der dem amerikanischen Architekten Louis Sullivan zugeschriebene Ausspruch »Die Form folgt der Funktion« sollte den Standpunkt verdeutlichen, daß das äußere Erscheinungsbild eines Gebäudes alle inneren Teilfunktionen aufzeigen und nicht unnötig aufgesetzte Verzierungen enthalten sollte. Mies van der Rohes »Weniger ist mehr«, das so bewundernswert in seinen eigenen Entwürfen zum Ausdruck kam, beinhaltete den Glauben, daß die äußerste Einfachheit der Form zur ästhetischen Qualität beiträgt. Als Le Corbusier Mietshäuser und Einfamilienhäuser als Wohnmaschinen bezeichnete, meinte er, daß der architektonische Entwurf in erster Linie auf die effiziente Durchführbarkeit häuslicher Funktionsabläufe zielen sollte, wie es der Fall bei den spezialisierten Funktionen anderer Maschinen mit moderner Technologie ist.

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All diese Absichtserklärungen, so vernünftig sie auch klingen mögen, haben eigentlich nur dann Sinn, wenn der Begriff »Funktion« eindeutig definiert werden kann. Unter den modernen Architekten gab es die Tendenz, die Beziehung zwischen Form und Funktion zugunsten konstruktiver Entwurfsaspekte zurückzustellen. Diese Ansicht besagt, daß sich die Form des Hauses zu seinen tragenden Elementen und seinen verschiedenen Versorgungstechniken bekennen sollte — aber die wichtigste Funktion eines Hauses ist seine menschliche Benutzbarkeit. Der Funktionalismus sollte daher hauptsächlich das physiologische und psychologische Wohlbefinden der Bewohner, aber auch den Symbolwert, den es für den äußeren Betrachter darstellt, berücksichtigen. Praktische Benutzbarkeit und Behaglichkeit fallen beim Funktionalismus monumentaler Kirchen, Paläste, Befestigungen, Gefängnisse, Triumphbögen und Grabmälern wichtiger Persönlichkeiten kaum ins Gewicht; bei solchen Bauten kommt es auf die tiefere psychologische Bedeutung an. Natürlich sollte sich der Funktionalismus auch bestimmten sozialen Bedürfnissen und ökologischen Zusammenhängen zuwenden.

Da es schwierig ist und bleiben wird, allen Funktionen, denen ein bestimmtes Haus dienen soll, Rechnung zu tragen, folgt die Form im allgemeinen der besonderen Funktion, die der Entwerfer oder Benutzer hervorheben wollte. Die öffentlichen Klagen über die moderne Architektur ergeben sich weitgehend aus der Tatsache, daß viele Architekten der funktionalen Schule mehr an den technischen Aspekten der Funktion als an ihren menschlichen oder sozialen Aspekten interessiert zu sein scheinen.

Einige Funktionen, denen der architektonische Entwurf entgegenkommen muß, stehen im Einklang mit den verschiedenen Gemütszuständen der menschlichen Seele: Erhabenheit, Schönheit, Gemütlichkeit, Traurigkeit, Angst, Ehrfurcht, Respekt, Bewunderung usw. Die moderne Architektur dagegen hat oft anonyme Wohn- und Arbeitsmaschinen hervorgebracht, als ob die Menschen keine anderen Beschäftigungen hätten und als ob die Architekten damit zufrieden wären, beliebig verwendbare Zellen für jederzeit austauschbare Menschen zu errichten.

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Darüber hinaus existiert heute das weitverbreitete Gefühl, daß die moderne Architektur, ungeachtet ihrer Bemühungen um neue optische Reize und ihrer vorgeblichen Rationalität, auf ihre Weise vom Formalismus verdrängt wird wie die Jugendstilarchitektur vor nahezu einem halben Jahrhundert. Modernen Gebäuden wird nachgesagt, daß sie physiologisch unbefriedigende Lebens- und Arbeitsbedingungen hervorrufen, daß sie eine sterile und deprimierende Atmosphäre für diejenigen Menschen schaffen, die in ihnen agieren, und für diejenigen, die sie von außen betrachten; daß sie das Bedürfnis nach mit Geselligkeit und Liebe verbundenen nahen und warmherzigen Beziehungen mißachten; daß sie Auge, Ohr und Orientierungssinn beleidigen und daß sie die Qualität ihrer natürlichen Umgebung ruinieren. Schließlich und endlich vergeuden moderne Häuser im allgemeinen Energie und Grund und Boden.

Das gegenwärtige Abrücken vom modernen Stil stellt den Versuch dar, wieder menschliche und ökologische Faktoren in die architektonische Gleichung einzuführen. Einige kürzlich erschienene Lehrbücher der Architektur widmen den Auswirkungen von Umweltfaktoren auf physiologische Vorgänge viele Seiten. Die Autoren erachten diese Herangehensweise als wesentlich, weil sich die klassischen Baumeister und Planer hauptsächlich mit der optischen Wirkung auseinandersetzten, als ob andere sinnliche Erfahrungen nicht so wichtig wären. Tatsächlich kann die bildnerische Darstellung eines Gebäudes oder einer Landschaft, selbst wenn sie optisch genau ist, irreführend sein. Das beste Gemälde, die beste Fotografie, die beste künstlerische Wiedergabe oder Modellvorlage fangen nur gewisse optische Erscheinungen unter einem begrenzten Bedingungsfeld ein, scheitern aber an der Darstellung, wie ein Gebäude klingt, riecht und wie es sich anfühlt. Die Totalität des sinnlichen Eindrucks ist der wahre Maßstab architektonischer Leistung. Im Parthenon, in Epidauros oder in einem Bauernhaus auf Cape Cod zählt schließlich und endlich nur die totale sinnliche Erfahrung. Der Entwurf sollte alle Aspekte der menschlichen Physiologie und der Ökologie miteinbeziehen.

Wir lieben Gebäude und fühlen uns in ihnen nicht nur aufgrund ihrer rationalen Entwürfe und Konstruktionen wohl, sondern noch mehr, weil ihre gesamte Atmosphäre und ihre Symbolkraft sich unseren emotionalen Sehnsüchten anpaßt.

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Es ist schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, diese sinnlichen, die Wahrnehmung betreffenden Werte der Architektur zu verbalisieren, geschweige denn zu quantifizieren. Aus diesem Grund gehören sie eher in die Domäne des Architekten als Künstler, als daß sie ein Teil seiner Wissenschaft werden. Ihre Rolle als Planer kann an einem Beispiel demonstriert werden.

 

Plätze, die irgendwie geheimnisvoll wirken, und Räume von ungewöhnlicher Form üben eine Anziehungskraft aus, die irrational erscheint, aber rational ist. Besonders Kinder, aber auch Erwachsene, bevorzugen im allgemeinen Dachböden, Keller und andere abgelegene Bereiche, in denen sie ihren Hobbys nachgehen können; der Wunsch nach solch geheimnisvollen Plätzen mag in dem menschlichen Entdeckerund Schutzinstinkt biologisch begründet sein. Auf jeden Fall aber übt der Abwechslungsreichtum alter menschlicher Ansiedlungen, wie zum Beispiel mediterraner Bergdörfer und Städte, eine Anziehung auf Besucher und Touristen aus, die zwar in bequemeren und besser funktionierenden Häusern wohnen, in denen es aber nichts Überraschendes und Geheimnisvolles mehr gibt. Pascals »Das Herz hat seine Gründe, die unser Verstand nicht kennt« mag der Tatsache Rechnung tragen, daß die Rationalität des Planens und Bauens einige unserer tiefsten emotionalen Bedürfnisse nicht befriedigt.

Heute stellt die Erkenntnis, daß die äußere Form unserer geschaffenen Umgebung einige Aspekte unseres inneren psychologischen Zustands widerspiegelt, den wichtigsten Beitrag zur Entwurfstheorie dar. Gesellschaften schaffen nur in dem Maße große Kulturen, wie sie gewisse Lebensformen schätzen. Die gegenwärtige Kälte und Häßlichkeit vieler moderner Städte sind der konkrete Ausdruck unserer sozialen Übel. Einige Finanz- und Industriebauten sind in architektonischer Hinsicht phantasievoller als jene, die wir zu sozialen und sakralen Zwecken errichten — und zwar aus dem einfachen Grunde, daß wir den materialistischen Aspekten des Lebens oft mehr Wert beimessen als den geistigen Gesichtspunkten.

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Es gibt jedoch Anlaß zu der Hoffnung, daß wir uns zunehmend der Tatsache bewußt werden, daß soziale und kulturelle Überlegungen wichtige Werte bei der Gestaltung einer wünschenswerten Umwelt darstellen. Die bewußte Gestaltung unserer gebauten Umwelt — der menschlichen Landschaft — mag unter Umständen der konsensfähige Faktor sein, der den Humanismus des Maschinenzeitalters hervorbringen wird.

 

    Leitbilder der Menschheit    

 

Die menschliche Entwicklung bedeutet also sehr viel mehr als nur die biologischen Prozesse, durch die sich das Neugeborene nach und nach zum Erwachsenen und alten Menschen entwickelt. Menschwerdung setzt den Übergang des Homo sapiens von der Natur zur Kultur voraus. Dieser Übergang basiert für jede Person auf einer Evolution, die durch ein Bündel von Vorstellungsmustern der sozialen Gruppe, der das Individuum angehört, geleitet, wenn nicht gar festgeschrieben wird — Vorstellungen, die praktisch jeden Aspekt des individuellen Lebens beeinflussen.

Die Auffassungen und Verhaltensmuster einer gegebenen Gesellschaft bilden in der sozialen Gruppe ein zusammenhängendes Leitbild heraus; ein Leitbild, das Konzepte integriert, die so vielfältig wie der Ursprung und der Zweck des Lebens selbst sind: die Beziehungen zwischen Menschen, Tieren, Pflanzen, Land, Wasser und Himmel — Regeln des Zusammenlebens für alle Bereiche des Menschen in seiner gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt. Die verschiedenartigen Vorstellungsmuster führen folglich zu ebenso vielen verschiedenen Leitbildern der Menschheit und von ihrem Platz in der Welt der Dinge. Diese Vorstellungen spiegeln sich unweigerlich in den Landschaften, Gebäuden und Sozialstrukturen wider. Sie scheinen, so eigenartig es auch klingen mag, von der natürlichen Umwelt nicht viel beeinflußt zu werden. In der Tat können sehr verschiedene Gesellschaftsformen, die auf unterschiedlichen Leitbildern der Menschheit basieren, unter denselben natürlichen Bedingungen gleichzeitig nebeneinander bestehen.

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Im Südwesten Amerikas haben zum Beispiel die Pueblos vor langer Zeit eine hochentwickelte kommunale Lebensform entwickelt. Innerhalb des differenzierten kommunalen Systems galten Ordnung und Mäßigung als Tugenden. In allen wesentlichen sozialen Belangen wurde Einstimmigkeit erwartet. Die Anerkennung solch starrer Verhaltensregeln führte zu einer friedfertigen Gemeinschaft, ließ jedoch dem einzelnen nicht viel Raum für Originalität und Individualität. Im Gegensatz dazu stand die Gesellschaftsform der Spanier, die im Südwesten Amerikas während des 17. Jahrhunderts siedelten und eine Kultivierung des Individualismus betrieben, der jedoch nicht im Widerspruch zu Staat und Kirche stehen durfte. Spätere Einwanderer in den Südwesten Amerikas, die aus allen Teilen Europas kamen, bauten ihre Gesellschaften auf sehr viel individualistischeren Konzepten auf. Bei ihnen wurde von jedem einzelnen erwartet, daß er sich seinen Platz in der Gesellschaft im erbitterten Wettstreit mit anderen Menschen und auch der Natur erkämpfte. Jeder barg in sich selbst die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und des materiellen Erfolges. So kam es, daß sich drei grundverschiedene menschliche Leitbilder in einem kleinen Teil des amerikanischen Kontinents Seite an Seite etablieren konnten.

Unter normalen Umständen erfolgt die soziale Konditionierung hauptsächlich durch die Erziehung der Kinder — wie sie getragen wurden, was ihnen vorgesungen wurde, wie sie gebändigt wurden und welche Geschichten ihnen erzählt wurden; ob von ihnen erwartet wurde, daß sie sich in der Nähe des Hauses aufhielten, oder ob es ihnen erlaubt wurde, aus Abenteuerlust loszuziehen; und als Allerwichtigstes, was ihnen über die Gegenwart und die auf sie zukommenden Dinge beigebracht wurde. Kinder, die ständig einer Atmosphäre steigender Erwartungshaltungen und den Bildern einer schillernden Elektronikwelt ausgesetzt sind, erfahren zwangsläufig eine andere Konditionierung als Kinder, die in traditionellen Kulturen erzogen wurden, in denen die Vermittlung von Verhaltensmustern über Geschichten einer intakten Vergangenheit und Fabeln erfolgt, in denen Tiere Tugenden und Laster symbolisieren.

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Da meine eigenen Erfahrungen mit der Erziehung von Kindern stark begrenzt sind, beschränke ich mich darauf, von einigen meiner Kindheitserlebnisse zu berichten. Anhand ihrer werde ich darstellen, wie sie mein Leitbild vom Menschen und mein folgendes Leben geformt haben.

 

Ich habe angenehme Erinnerungen an meine frühe Kindheit, auch wenn sie meistens recht vage sind. Ein wesentlicher Aspekt ist, daß ich im Alter von sieben Jahren an einem schmerzhaften akuten Rheumafieber erkrankte. Ein bleibendes Herzleiden als Folge dieser Erkrankung behindert oder schränkt auch heute noch bestimmte körperliche Aktivitäten ein, die mir ansonsten zusagen würden. Diese frühe körperliche Einschränkung hat sicherlich mein weiteres Verhalten beeinflußt und mich möglicherweise genötigt, die meiste Befriedigung aus emotionalen Erfahrungen und intellektuellen Beschäftigungen zu ziehen. Wahrscheinlich würde ich meine Zeit nicht damit verbringen, dieses Buch zu schreiben, wenn mein Herz es mir erlaubt hätte, Tennis zu spielen oder zu joggen.

Ich verbrachte meine ersten dreizehn Lebensjahre in kleinen ländlichen Dörfern. In meiner Nähe befanden sich immer Pferde und die verschiedenen anderen Tiere, die auf unserem Grundstück versorgt wurden, bis sie in einem Nebengebäude des Metzgereigeschäftes meines Vaters geschlachtet wurden. Tiere waren für mich ganz eindeutig zum Verzehr bestimmte Wesen. Sie beobachten und bei der Fütterung zu helfen war ein Teil meines alltäglichen Lebens. Das mag eine Erklärung dafür geben, warum ich mich nicht erinnern kann, jemals mit einem Teddybären gekuschelt zu haben, auf einem Steckenpferd geritten zu sein oder irgendeinen anderen Ersatz für wirkliche Tiere gebraucht zu haben.

In unserem Haushalt gab es zwar einen großen Hund, aber obwohl ich mit ihm spielte, entwickelte sich niemals eine so tiefe Zuneigung, wie sie sich üblicherweise zwischen Haustier und Kind zeigt. Ich mag immer noch mit Hunden und Katzen für kurze Zeit spielen, aber ich besaß niemals ein richtiges Haustier und finde es unterhaltsamer, Tiere in freier Wildbahn zu beobachten. Einige meiner frühesten und innigsten Erinnerungen beziehen sich auf den elterlichen Gemüsegarten mit seinen einfachen und duftenden Blumen. Meine ersten gefühlsmäßigen Bindungen bezogen sich also mehr auf von Menschenhand bestellte Natur als auf Spielzeuge oder ausgefallene Dinge als Ersatz für die Wirklichkeit.

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Ich kann mich nicht erinnern, daß mir jemals Märchen erzählt wurden. Mein Vater und meine Mutter waren so sehr damit beschäftigt, den Laden zu führen, daß sie zum Geschichtenerzählen keine Zeit fanden. Die beiden Großeltern, mit denen ich regelmäßig Kontakt hatte, waren sehr bodenständige Leute und hatten keine Märchen im Kopf. Die lebhaftesten Erinnerungen an die Tage, die ich im Hause meiner Großeltern verbrachte, beziehen sich auf die Gelegenheitsarbeiten im Garten und Haus, auf das Ausgraben von Würmern, die zum Fischen an den Ufern der Oise dienten, auf die nach dem Abendbrot auf der Veranda verbrachten Stunden, auf das sorgfältige allabendliche Schließen der Fensterläden.

Meine Schwester und mein Bruder sind jünger als ich. Meine Beziehungen zu ihnen waren freundlich, spielten aber keine wesentliche Rolle in meinem Leben. Ich sehe mich noch als ungefähr Neunjährigen während eines Umzugs, verkleidet als kleiner Marquis, neben mir meine fast gleichaltrige Schwester in ähnlicher Verkleidung, zusammen mit anderen Kindern anläßlich eines besonderen Dorffestes. Die Erinnerung an dieses Ereignis hat mich zu der Überzeugung gebracht, daß gemeinschaftliche Aktivitäten auf Nachbarschaftsebene einen großen Wert besitzen, aber ich habe sie eher als Beobachter denn als Teilnehmer genossen. Meine Frau und ich sind zu Weihnachten und Neujahr immer »irgendwo anders«, und wenn es sich ermöglichen läßt, auch bei Familien- oder offiziellen Feierlichkeiten. Mit fünf Jahren wurde ich eingeschult, und nahezu jeder Aspekt meiner Schulzeit ist in mir so lebendig, als wenn ich sie noch einmal durchlebte.

Lesen und Schreiben lernte ich rasch und war besonders gut in Geschichte und Erdkunde, bis auf die Tatsache, daß ich nie in der Lage war, eine genaue Karte zu zeichnen, wie es damals von Kindern in einer französischen Schule erwartet wurde.

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Ich mußte Märchen lesen, hatte daran jedoch wenig Freude, weil sie vermutlich im Vergleich zu der Bodenständigkeit meines Alltags zu unwirklich waren. Paradoxerweise fesselten mich hingegen die Geschichten über Ritter, ihre Fräuleins und ihre verwegenen Abenteuer. Das abenteuerliche und romantische Mittelalter bot mir die Traumwelt, in der ich am intensivsten lebte, bis ich den amerikanischen Wilden Westen in den wöchentlichen Ausgaben von »Die Abenteuer des Buffalo Bill« in französischen Zeitschriften entdeckte. Einige Zeit später erfaßte mich, ebenfalls über französische Zeitschriften, das erregende amerikanische Großstadtleben über die Detektivgeschichten von Nick Carter und Nat Pinkerton.

Die Schule führte mich sehr früh in eine andere Welt ein, die der Wirklichkeit sehr viel näher war als das Mittelalter oder Amerika. Das Dorf, in dem ich den Großteil meiner Jugend verbrachte, hatte nur zwei einräumige Schulhäuser, eins für die Jungen, das andere für die Mädchen, jedes mit vierzig bis fünfzig Schülern — aber durch Welten voneinander getrennt, obwohl auf demselben kleinen Dorfplatz gelegen. Während wir von einer Klasse in die nächsthöhere wechselten, wurde uns die Verantwortung übertragen, die niedrigeren Klassen mit zu unterrichten. Diese Tatsache erwies sich für mich als ein ausgezeichnetes Lernsystem, teils weil es mich immer wieder darauf stieß, wie wenig ich eigentlich wußte, aber wichtiger noch, weil es mir ein Gefühl der Verantwortung gab und die Fähigkeit, mich anderen Kindern gegenüber in angemessener Weise zu verhalten.

Ein weiterer Punkt meiner Erziehung war, daß ich von dem Tage an, an dem ich rechnen konnte und zuverlässig war (ungefähr mit acht Jahren), meiner Mutter während der Hauptgeschäftszeit im Metzgerladen half. Ich saß hinter der einfachen Registrierkasse, nahm das Geld entgegen und gab Wechselgeld heraus.

Ich habe lange Zeit geglaubt, daß, vom menschlichen Standpunkt aus betrachtet, der nützlichste Teil meiner Erziehung darin bestand, meiner Mutter zuzusehen, wie sie aus dem Verkaufsgespräch um ein Lammkotelett ein freudiges, gesellschaftliches Ereignis machte.

In der Schule folgte der Unterricht selbstverständlich dem strengen französischen Lehrplan der damaligen Zeit.

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Aber es gibt zwei Aspekte, die es wert sind, hervorgehoben zu werden, weil ich heute merke, daß sie immer noch mein Leben beeinflussen. Jeden Morgen diktierte uns der Lehrer einen klassischen Text mit steigendem Schwierigkeitsgrad, der unserem Alter angemessen war. Auf diese Weise entdeckte ich, ohne mein Dorf zu verlassen, nach und nach Welten, die sich sehr von jener unterschieden, in der ich lebte. Über diese Diktate habe ich durch Flaubert das Leben eines Dieners in einem Provinznest kennengelernt, durch Tolstoi das Verhalten von Bauern, die in Rußland Weizen ernten, durch Chateaubriand die Erfahrung einer in einem furchteinflößenden Wald verbrachten Nacht in der Neuen Welt.

Darüber hinaus mußten wir jeden Tag ein Stück klassischer Literatur auswendig lernen und aufsagen. La Fontaines Fabeln nahmen in dieser Vorschrift einen wesentlichen Platz ein, und ich erinnere mich an viele. Jede dieser Fabeln vermittelte eine Botschaft, die darauf abzielte, uns, die Kinder, in Lebensfragen klüger werden zu lassen.

Ich bezweifle, daß wir großes Interesse zeigten — weder an den Geschichten noch an den Botschaften. Aber möglicherweise haben diese Fabeln unsere Einstellungen mehr beeinflußt, als wir wahrnehmen wollten.

Selbst heute, siebzig Jahre nachdem ich sie auswendig lernte, zitiere ich für mich auf französisch einige dieser Fabeln oder Sinnsprüche, die gerade auf die Situation zutreffen, in der ich mich befinde.

Da es so klingen könnte, als ob ich Vorwände suchte, meine Jugend zu romantisieren, möchte ich an dieser Stelle drei Fabeln erwähnen, die direkt in Bezug zu meinem jetzigen Leben stehen.

 

Seit 35 Jahren habe ich jedes Frühjahr eigenhändig Bäume auf einer abgelegenen Farm gepflanzt, die ich in den Hudson Highlands, 50 Meilen nördlich von New York, besitze. Während ich sie pflanze, liegt mir der Anfang von La Fontaines Fabel »Der Greis und die drei Jünglinge« auf den Lippen. Die Geschichte handelt von drei jungen Männern, die einen alten Mann beim Bäumepflanzen beobachten und ihn damit verspotten, daß sie ihm sagen, er solle nicht so schwer arbeiten, denn er würde nicht lang genug leben, um die Früchte seiner Arbeit zu ernten. Der alte Mann erwidert darauf freundlich: »Schon das ist eine Frucht, die heut Genuß mir beut; sie wird das Morgen mir und manchen Tag versüßen« (Übersetzung Dohms 1877).

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Schließlich stirbt jeder der drei jungen Männer durch irgendeinen Unfall, und der alte Mann betrauert sie, indem er ihre Lebensdaten auf ihre Grabsteine meißelt. Ich pflanze weiterhin meine Bäume und sage mir, wie es jener alte Mann tat, daß sich eines Tages, wenn ich nicht mehr bin, jemand an ihrem Schatten erfreuen wird, den sie spenden.

Jedesmal wenn ich höre, daß die natürlichen Ressourcen dieser Welt knapp werden, zitiere ich für mich die ersten Zeilen aus »Der Bauer und seine Kinder«. Die Fabel handelt von einem alten Bauern, der, als er sein Ende nahen fühlt, seine Söhne an das Sterbebett ruft und ihnen mitteilt, daß seine eigenen Eltern irgendwo auf seinem Land einen Schatz vergraben haben. Obwohl er nicht weiß, wo dieser Schatz vergraben wurde, versichert er seinen Söhnen: »Doch ein'ger Mut führt immer zum Ziel; er hilft zuletzt auch euch zu eurem Schatz.«

Die Söhne befolgen den Ratschlag ihres Vaters. Sie finden zwar keinen Schatz, haben den Boden aber so gründlich umgegraben, daß er immer größere Erträge abwirft und somit die letzten Worte ihres Vaters in Erfüllung gehen. Für unsere Zeit mag der wichtigste Teil der Fabel hingegen in der zweiten Zeile stecken: »Arbeite, wird's auch oft dir sauer — das ist ein Gut, das nie versagt.«

Das soll meiner Meinung nach bedeuten, daß wir unsere Ansichten über die natürlichen Ressourcen revidieren müssen. Selbst Ackerland muß kultiviert werden und seine Fruchtbarkeit durch menschliche Anstrengungen erhalten werden. Wie ich noch ausführen werde, ist das, was wir natürliche Ressourcen nennen, in Wirklichkeit das Rohmaterial der Erde, das erst durch Kenntnisse, Phantasie und harte Arbeit in brauchbare Produkte verwandelt werden muß.

Ich könnte viele weitere Fabeln anführen, die mir häufig während meiner Tagesgeschäfte in den Sinn kommen, aber ich möchte mich auf eine dritte beschränken, auf »Die Milchfrau und der Milchtopf«. Das Milchmädchen Pierrette wird beschrieben, wie sie mit einem Milchtopf auf dem Kopf zum Markt geht.

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Den ganzen Weg über stellt sie sich vor, wie sie das Geld aus dem Milchverkauf investieren kann; zuerst wird sie Eier kaufen, dann Hühner züchten, dann Schweine, dann Kühe. Aber in ihrer Aufregung fällt sie hin. Sie verschüttet die Milch und vermittelt uns die Moral, daß wir die Hühner nicht zählen sollen, bevor sie ausgebrütet sind. Ich finde es häufig nützlich, an diese Lektion zu denken.

 

Wenn es richtig ist, wie Hippolyte Taine behauptet, daß La Fontaines Charakter und seine Poesie von den allgemeinen Merkmalen der Ile de France geformt wurden, dann müßten diese ebenso den mit den Fabeln verbundenen Symbolgehalt beeinflußt haben. Da die Grundzüge menschlicher Lebensart überall gleich sind, versuchen die Fabeln aller Länder vermutlich ähnliche Inhalte zu vermitteln, jedoch mit regionalen Unterschieden sowohl in der Übermittlung als auch in der Form. Obwohl ich einige dieser Unterschiede beim Lesen von Fabeln anderer Länder zu erkennen meinte, bezweifle ich, ob wir jemals die Feinheiten einer anderen Kultur in ihrer Gänze erfassen können, insbesondere den Symbolgehalt der Botschaften, der Kindern mittels Fabeln offenbart wird.

Wenn ich auch als Zwanzigjähriger in Italien lebte, einem Alter also, in dem ich im hohen Maße aufnahme- und anpassungsfähig jeder neuen Situation gegenüberstand, fand ich es dennoch schwierig, gewisse italienische Verhaltensweisen zu begreifen, selbst wenn ich sie erfolgreich zu imitieren verstand und obendrein die französische und italienische Lebensart viele Gemeinsamkeiten besitzen.

Ich muß innerlich noch immer leise lächeln, wenn ich in New York zu meinem italienischen Friseur gehe und er mich in seinem Laden, während er ein Sandwich ißt, mit einem herzlichen » Vuol favorire?« begrüßt, so als ob er mich tatsächlich einladen wollte, seine Mahlzeit mit ihm zu teilen. Und als »illustrissimo« bezeichnet zu werden, stört mich selbst heutzutage noch immer irgendwie, selbst in meinen eitelsten Momenten.

In der Tat gibt es sehr viele amerikanische Verhaltensweisen, die mir auch nach sechs Jahrzehnten in den USA unverständlich sind. Es bereitet mir nach wie vor Mühe, Leute beim Vornamen anzusprechen, wenn ich sie nicht schon geraume Zeit kenne oder sie wesentlich jünger sind als ich. Ich gerate immer noch in Verlegenheit, wenn mich jüngere Menschen, die ich kaum kenne, einfach Rene nennen.

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Abgesehen von den Charakteristika der natürlichen Umwelt ist auf der ganzen Welt eine immense Vielfältigkeit der Kulturen und Sozialstrukturen zu beobachten, die ihrerseits auf ebenso vielen unterschiedlichen menschlichen Leitbildern basieren. Leitbilder, die im Verlauf der Sozialisation gerade in der Kindheit geprägt werden. Die Vorstellungen, von denen diese Leitbilder ausgehen, bleiben im allgemeinen über lange Zeit stabil, sind jedoch nicht unveränderlich. Seit dem 16. Jahrhundert zum Beispiel wurde das Menschheitsbild durch die umwälzende Kopernikanische Erkenntnis beeinflußt, die aufzeigte, daß die Erde nicht der Dreh- und Angelpunkt des Kosmos ist, wie man bis dahin angenommen hatte. Vor noch kürzerer Zeit hat die Darwinsche Revolution enthüllt, daß der Homo sapiens nur eine Erscheinungsform des universellen Evolutionsprozesses ist, der vor Milliarden Jahren begann und noch andauert.

Meiner Meinung nach hat man die Wirkung dieser wissenschaftlichen Entdeckungen auf die Allgemeinheit überschätzt. Sehr viele Gelehrte, die vor 2500 Jahren in Griechenland oder China, in Westeuropa während der Renaissance oder Aufklärung lebten, hatten sicherlich ein Bild von sich selbst und ihrer Beziehung zum Kosmos, das sich von dem eines amerikanischen oder europäischen Gelehrten heutiger Zeit nicht wesentlich unterscheiden dürfte.

Was den Mann auf der Straße anbelangt, bezweifle ich, ob er sich heute wesentlich mehr mit solchen Fragen beschäftigt als vor einigen Jahrhunderten der Durchschnittsbürger irgendwo in der abendländischen Welt. Üblicherweise verhalten wir uns und empfinden uns auch heute noch so, als wären wir der Mittelpunkt der Welt.

Andererseits steht außer Zweifel, daß das Menschheitsbild grundlegend von der Wissenschaftstechnologie beeinflußt wurde. Es gibt wenige Menschen in den Ländern der westlichen Zivilisation, die es nicht für verbürgt halten, daß es dem Menschen möglich sei — wenn er nur will —, über die Naturkräfte zu herrschen und Maschinen einsetzen zu können, die nahezu alle Funktionen menschlicher Arbeit ersetzen, sowohl in physischer als auch geistiger Hinsicht.

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Wir neigen dazu, uns gegenüber der restlichen Schöpfung überlegen zu fühlen und einen qualitativen Unterschied zu den anderen Tieren zu sehen. Zum weiteren gab es Überlegungen, daß wir endlich den Homosapiens durch eine Verbindung seines Körpers und Geistes mit Maschinen verbessern könnten. Dies könnte, wie gesagt wird, geschehen, indem Computer und andere hochentwickelte Bauteile dem menschlichen Körper eingepflanzt werden, um dann nach Belieben seine physischen und geistigen Fähigkeiten zu verbessern und zu verändern. Der auf diese Weise entstehende hypothetische Mensch-Maschine-Komplex wurde »cyborg« (Abkürzung für kybernetische Organismen) genannt und könnte eine zweigleisige Kommunikation zwischen den biologischen und mechanischen Komponenten des Systems erlauben. Eine grundlegende Veränderung unseres Menschheitsbildes wäre auf jeden Fall die unausweichliche Konsequenz. Diese Aussicht beunruhigt mich jedoch nicht sehr, weil ich bezweifle, daß sich viele menschliche Wesen glücklich schätzen würden, in einer <cyborg>-Zivilisation fungieren zu dürfen.

 

Bis vor ein paar Jahrzehnten glaubten die meisten Menschen noch, daß die immer extensivere und gründlichere Einführung hochentwickelter Maschinen in unser Leben dem Fortschritt dienlich sei. Gegenwärtig herrscht jedoch das Gefühl vor, daß die damit einhergehenden Veränderungen nicht alle zum besten sind. Der westlichen Technologie wird vorgeworfen, Lebensbedingungen geschaffen zu haben, die für die Gesundheit, die Phantasie und die Qualität des sozialen Lebens und der Umwelt schädlich sind. Das Unbehagen an der technologischen Zivilisation mag vielleicht noch nicht tief genug greifen, um eine spürbare Veränderung der gegenwärtigen Lebensweise zu bewirken, ist aber immerhin so stark, daß die meisten Menschen westlicher Kulturen wohlgefällig auf Lebensweisen blicken, die nicht so an der Maschine orientiert sind, wie es heute der Fall ist.

Vorausgesetzt, daß das technologische Leitbild vom Menschen und von der »cyborg«-Lebensweise viel an Glanz verloren hat und unsere Gesellschaft versuchen wird, einige Werte Arkadiens wiederzugewinnen, werden sich dennoch weiterhin technische Sachzwänge durchsetzen.

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Sie werden vermutlich zu Supersystemen führen, die den Zweck haben, dem Menschen bei der Entwicklung von Produkten, Analysen und Entscheidungen zu helfen. Diese Supersysteme werden schließlich, falls es nicht schon der Fall ist, einen solchen Grad an Komplexität erreichen, daß sie selbst von ihren Benutzern nicht mehr völlig verstanden werden. Dennoch werden diese sie als unabdingbar für den Fortbestand unserer modernen Gesellschaft ansehen — selbst wenn sie dabei das Risiko unvorhersehbarer Gefahren eingehen. Obwohl daher die Umweltbedingungen, die wir heute entwickeln, für unser tägliches Leben entscheidend sind, liegt doch ihre größere Bedeutung darin, daß sie ein Programm bilden, aus dem das Bild hervorgehen wird, das die Lebensformel bestimmt, die wir folgenden Generationen übermitteln. Die zunehmende Verbindung mit Maschinen trägt zu dem von uns geschaffenen Leitbild der Menschheit bei und beeinflußt daher grundlegend die zukünftige Gesellschaft.

 

     Entscheidungen und Kreativität     

 

Die Ansicht, daß der Mensch in der Lage ist, durch bewußte, die Umwelt betreffende Entscheidungen seine Zukunft zu formen, wurde 1943 von Winston Churchill veranschaulicht. Damals wurde über die Pläne zum Wiederaufbau des House of Commons diskutiert, weil das alte Gebäude während des Zweiten Weltkrieges fast völlig von Bomben zerstört worden war. Außerdem war es ungemütlich und unpraktisch geworden, und seine Zerstörung bot die Gelegenheit, an seiner Stelle ein modernes Haus mit größerem Komfort und besseren Kommunikationsmöglichkeiten zu errichten. Der britische Premierminister plädierte jedoch für einen originalgetreuen Wiederaufbau der Sitzungssäle. In einer engagierten Rede führte er aus, daß der Stil der Parlamentsdebatten von der räumlichen Beschaffenheit des alten Hauses beeinflußt worden sei und daß eine Änderung der Architektur zwangsläufig die Art der Debatten beeinflussen würde und damit sogar die Struktur der englischen Demokratie.

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Er faßte die Vorstellung vom Wechselspiel zwischen Mensch und gesamter Umwelt in einem dramatischen Satz zusammen, der für das menschliche Leben von Allgemeingültigkeit ist: »Wir bestimmen die Form unserer Gebäude, und anschließend formen die Gebäude uns.«

Seine Aussage, daß unsere Gebäude uns beeinflussen, bezog sich auf die Aufrechterhaltung gewisser parlamentarischer Praktiken, kann jedoch ebensogut auf alle Charakteristika angewandt werden, die eine Nation, eine soziale Klasse oder eine Lebensweise ausmachen. Die Tatsache, daß wir wesentlich von der durch uns geschaffenen Umwelt bestimmt werden, ist ziemlich erschreckend, zumal sie zu beinhalten scheint, daß wir die hilflosen Opfer determinierender Kräfte sind. Glücklicherweise besitzen wir aber, wie ich in diesem und den folgenden Kapiteln belegen werde, ein großes Maß an Freiheit, unsere Umwelt zu wählen und zu verändern.

Biologen neigen in ihren wissenschaftlichen Abhandlungen dazu, die Tatsache außer acht zu lassen, daß die menschliche Entwicklung entscheidend von unserer Fähigkeit, unser individuelles Leben selbst in die Hand zu nehmen, beeinflußt wird. Genetiker beschäftigen sich mit den Mechanismen, mittels derer die Gene, die wir von unseren Eltern erbten, alles lenken, was wir tun und werden. Umweltforscher betonen, daß wir von unserer Umwelt und den Erfahrungen, die wir machen, geformt werden. Behavioristen wollen uns glauben machen, daß wir hoffnungslos konditioniert sind, sogar über Freiheit und Würde hinaus.

Alle Ansichten über die determinierenden Aspekte des menschlichen Lebens können mit umfangreichen Fakten untermauert werden, aber gewöhnlich überschätzen die Wissenschaftler den Erklärungswert wissenschaftlicher Erkenntnisse. Sie scheinen an einer unter Spezialisten weitverbreiteten Engstirnigkeit zu leiden, nämlich der Überzeugung, daß menschliches Leben am besten anhand der Phänomene, die sich aus ihrem eigenen Spezialgebiet ergeben, zu erklären sei. Die menschliche Natur ist jedoch nicht so simpel, daß man sie auf die Kenntnisse reduzieren könnte, die Wissenschaftlern des 20. Jahrhunderts zugänglich sind.

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Wie bereits ausgeführt wurde, kann zum Beispiel die Existenz des freien Willens nicht bewiesen, geschweige denn wissenschaftlich belegt werden. Aber dieser Mangel wiegt nicht viel gegenüber der vom gesunden Menschenverstand geleiteten Beobachtung, daß Menschen und höchstwahrscheinlich auch Tiere fortwährend eine Wahl treffen und Entscheidungen fällen.

Gewöhnlich bleiben wir nicht passiv, wenn wir erkennen, daß gewisse Situationen unliebsame Auswirkungen auf unser Leben haben. Die meisten von uns besitzen bis zu einem gewissen Grad die Freiheit, aus Gegenden wegzuziehen, die als ungeeignet eingeschätzt werden, und uns andere zu suchen, die wir für wünschenswert halten. Darüber hinaus können wir aktiv auf unsere Umgebung reagieren, und zwar in einer Weise, die oftmals originell und kreativ ist, und damit über Entscheidungen unserer eigenen Entwicklung eine Richtung geben. Mobilität und die Freiheit, sich zu ändern, sind grundlegend für die Prozesse der Selbstfindung und Selbstverwirklichung. In der Tat sind die Fähigkeiten, sich eine mögliche Zukunft vorstellen und unsere Persönlichkeit über die uns zur Verfügung stehenden Angebote bilden zu können, menschliche Eigenschaften, die sehr früh im Leben festgelegt werden.

Zum Zeitpunkt der Geburt können Neugeborene schlicht als kleine Tiere bezeichnet werden, aber sie überschreiten sehr schnell ihre biologische Veranlagung, indem sie sich das kulturelle Erbe der Gruppe aneignen, in der sie aufwachsen. Kinder sind sich ihrer Umgebung bewußt und speichern vom ersten Lebenstag an Informationen über sie. In ihren Reaktionsmustern auf das, was sie erfahren, zeigen sie bald Individualität; weit davon entfernt, einer passiven Konditionierung über Stimuli zu unterliegen, verhalten sie sich sehr früh als forschende Teilnehmer am Lernprozeß. Dieser Initialphase psychologischer Reifwerdung folgen mehr und mehr bewußte Aktivitäten, durch die die Kinder ihre Persönlichkeit aus ihrem einzigartigen genetischen Erbgefüge und ihren frühkindlichen Erfahrungen heranbilden. Im mittleren Kindesalter — wohl bis zum Alter von fünf Jahren — haben sich die meisten Kinder genügend Informationen von ihrer Umwelt angeeignet und ausreichende individuelle Reaktionsmuster entwickelt, um sich ihre eigene Welt vorzustellen, in der sie ihre Persönlichkeit ausleben können.

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Die menschliche Entwicklung setzt sich in dem Maße fort, wie die Person mit einer immer größeren Verschiedenartigkeit von Stimuli umzugehen lernt und dabei, entsprechend dem persönlichen Wertsystem, Initiativen ergreift, auch wenn sein eigenes Wertsystem nur eine Spielart des Wertsystems der Sozialstruktur ist. Diese Werte schließen die Zukunftserwartungen ein, die tief in der Vergangenheit wurzeln, aber gleichfalls Ausdruck unseres eigenen Geschmacks sind. Weil wir genetisch bedingt die Fähigkeit besitzen, uns etwas vorstellen zu können, zu symbolisieren, die Zukunft zu antizipieren und zwischen mehreren Möglichkeiten zu wählen, können wir die physische und begriffliche Umwelt schaffen, in der wir unser Leben verbringen.

Wie bereits oben ausgeführt wurde, setzt der Prozeß der Selbstschöpfung die Existenz eines breiten Spektrums von Bedingungen voraus, unter denen es Menschen ermöglicht wird, ihre eigene Persönlichkeit zu entfalten und ihre eigene Lebensweise zu finden. Freiheit ist jedoch ein leeres Wort, wenn die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Alternativen wählen zu können, nicht existiert. Zum Beispiel sind Kinder, die in städtischen Slums geboren und aufgewachsen sind, zwar theoretisch frei, aber die Bandbreite ihrer Mobilitätsund Entscheidungsmöglichkeiten ist gewöhnlich so eingeschränkt, daß sie es schwer (wenn auch nie unmöglich) finden, die Faktoren ihrer umweltbedingten Grenzen zu überwinden. Kinder, die in ökonomisch gesicherten Verhältnissen aufwachsen, können andererseits auch an umweltbedingtem Mangel leiden, wenn es ihrer Umgebung an menschlichen Werten mangelt. Gefühlsarmut und Erfahrungsmangel sind in wohlhabenden und feinen Kreisen durchaus nicht ungewöhnlich.

Vom Standpunkt der menschlichen Entwicklung aus gesehen ist die Mannigfaltigkeit einer Umgebung daher von größerer Bedeutung als ihr Komfort, ihre Leistungsfähigkeit oder gar ihre ästhetische Qualität. Der Verlust an Formenreichtum, der einsetzt, wenn Häuser mit individuellem Gepräge durch Gebäude mit monotonem Charakter ersetzt werden, führt zu solch einer sinnlichen Verarmung, daß sich William H. Whyte einst genötigt sah, für »wenigstens ein scheußliches Haus, das in die Eintönigkeit des guten Geschmacks Abwechslung bringt«, zu plädieren.

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Die Vielseitigkeit der Umwelt verschafft uns eine große Bandbreite von Alternativen und hilft uns zu entdecken, was wir mögen, was wir können und was wir werden wollen. Jedoch ist die Selbstfindung ohne Selbstverwirklichung frustrierend, und diese erfordert in einigen Fällen körperliche, geistige und emotionale Anstrengungen. Die menschliche Entwicklung verlangt daher, daß, ergänzend zur Mannigfaltigkeit der Umwelt, eine Person aktiv am Geschehen teilhaben kann, statt lediglich passiver Beobachter zu sein. Fähigkeiten in bezug auf intellektuelle Tätigkeiten oder zwischenmenschliche Beziehungen entwickeln sich ebensowenig beim Betrachten eines Fernsehfilms, wie sich Muskeln nicht entwickeln, wenn man einem Fußballspiel nur zusieht.

Die menschliche Entwicklung verläuft über die geregelte Abwicklung von Prozessen, die im genetischen Erbgefüge kodiert sind, sowie unter dem Einfluß von Umweltfaktoren; aber das bedeutet nicht, daß die Reaktionen des Organismus auf Stimuli blinde und passive Äußerungen biologischer Mechanismen sind. Tatsächlich wird die menschliche Entwicklung in den meisten Fällen von planmäßigen Entscheidungen und Zukunftserwartungen beeinflußt.

Zugegebenermaßen wird ein hoher Prozentsatz der Reaktionen von Instinkten bestimmt, die außerhalb des Bewußtseins und des freien Willens ablaufen. Instinkte befähigen uns in einer schlüssigen und oft erfolgreichen Art, Lebenssituationen zu meistern, die jenen ähneln, die wiederholt von der menschlichen Gattung in der evolutionären Vergangenheit erfahren wurden. Aber Instinkte sind so präzise ausgerichtet und so mechanisch, daß sie für die Anpassung an neue Umstände von geringem Nutzen sind. Und doch ist gerade diese Anpassungsfähigkeit für eine kontinuierliche Entwicklung wesentlich.

Während Instinkte für eine biologische Sicherheit in einer statischen Welt sorgen, sind Bewußtsein, Wissen und Motivation für die Kreativität menschlichen Lebens verantwortlich.

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In dem Maße, wie wir Entscheidungen treffen, können wir unseren anpassungsfähigen Reaktionen eine Richtung geben und somit unsere Entwicklung bestimmen. Wir können Entscheidungen über unseren Lebensstil und unsere Umgebung treffen, um die Entwicklung körperlicher und geistiger Eigenschaften zu begünstigen, die wir als wünschenswert erachten. Unsere Denkprozesse können ebenfalls unsere Entwicklung beeinflussen, indem sie auf unsere hormonellen und physiologischen Vorgänge einwirken — ganz abgesehen von den intellektuellen und seelischen Einstellungen, die sich in allen Aspekten unseres Lebens widerspiegeln.

Ebenso wie Entscheidungen unsere normale Entwicklung berühren, können sie auch auf eine Umerziehung Einfluß nehmen, und zwar mit dem Ziel, Mängel zu korrigieren, die entweder angeborener Natur sind oder von Unfällen oder pathologischen Prozessen herrühren. Entwicklung beinhaltet mehr als eine passive Entfaltung der genetischen Veranlagung, und daher beinhaltet eine Umerziehung ebenfalls mehr als nur passives Training. In beiden Situationen muß der Organismus als Einheit an den Aktivitäten beteiligt werden, die ausgewählt wurden, um einen wirklich kreativen Prozeß der Anpassung und des Wachstums zu fördern.

Es ist offensichtlich einfacher, den eigenen Instinkten passiv zu folgen, als bewußt die eigenen kreativen Reaktionen zu beherrschen: daher der angespannte Ausdruck auf menschlichen Gesichtern, wenn eine Entscheidung ansteht. Mit den Worten des Theologen Paul Tillich: »Der Mensch wird erst zum Zeitpunkt der Entscheidung wirklich menschlich.« Mensch sein setzt den Willen voraus, die Anstrengungen auf sich zu nehmen, die eine Entwicklung durch kreative Anpassung erfordert.

Wie bereits ausgeführt wurde, bedeutet ein angenehmes Leben für Tiere, die Art der Aktivitäten ausführen zu können, für die sie durch ihre genetischen Erbanlagen und frühen Erfahrungen in ihrem natürlichen Lebensraum konditioniert wurden. Aber dies kann für menschliche Wesen nicht gelten, weil die meisten von uns in einer Umwelt leben, an die sie biologisch nicht angepaßt sind.

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Darüber hinaus haben zu allen Zeiten der Geschichte und selbst der Vorgeschichte Einzelpersonen und ganze Kulturen Gefahren auf sich genommen, die biologisch offensichtlich nicht gerechtfertigt sind: Landeroberungen, Streben nach Reichtum, Erforschung unbekannter Regionen oder Lösungen wissenschaftlicher Probleme. Es scheint wenig Gemeinsamkeiten zu geben zwischen dem Bestreben Alexanders des Großen, die Welt zu beherrschen, der Entschlossenheit der Ärzte Caroll und Lazear, den Verursacher des Gelbfiebers zu finden, indem sie an sich Selbstversuche vornahmen, Mallorys Wunsch, die Spitze des Mount Everest zu erklimmen, und meinem naiven Eifer, Amerika zu erleben, der auf kindlichen Phantasien von Buffalo Bill und dem Wilden Westen beruht.

Dennoch gibt es eine Gemeinsamkeit bei all diesen unzusammenhängend erscheinenden Zielen, nämlich den Wunsch nach physischen und geistigen Abenteuern. Dieser Wunsch, der einer der Konstanten menschlicher Natur zu sein scheint, kann viele verschiedene Formen annehmen und sich in verschiedenen Arten der Kreativität äußern.

Es gibt selbstverständlich viele Situationen, in denen das menschliche Verhalten von biologischen Notwendigkeiten diktiert wird; Menschen brauchen Nahrung, Schutz, Weiträumigkeit und Bequemlichkeit — genau wie Tiere auch. Aber die meisten menschlichen Aktivitäten scheinen, wie bereits ausgeführt wurde, keinen offensichtlich biologischen Nutzwert zu haben. So betrachtet, unterschied sich das Verhalten der menschlichen Gattung zunehmend von dem der Tiere, und zwar zurückreichend bis in die Altsteinzeit. Überall auf der Welt und zu allen vorgeschichtlichen und geschichtlichen Epochen haben menschliche Gruppen zu einem sehr hohen Prozentsatz ihre Ressourcen, ihre Energien und ihre Vorstellungskraft Vorhaben gewidmet, die für die biologischen Bedürfnisse des Homo sapiens von geringer Bedeutung waren.

Die Bevölkerung Frankreichs und Spaniens hat während der letzten Eiszeit die Zahl 50.000 nicht überschritten, und sie hat doch eine beachtliche Zahl Artefakte von großer Komplexität und künstlerischer Qualität geschaffen, die einen hohen Symbolwert im Leben dieser Menschen gehabt haben müssen — selbst wenn wir ihn heute nicht völlig verstehen können.

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Die Statuetten, die unter dem Namen »paläolithische Venus« bekannt wurden, die komplexen und spektakulären Höhlenzeichnungen, die unzähligen Gegenstände aus Stein, Bein und Elfenbein mit ihren detaillierten und feinausgearbeiteten Verzierungen haben auf irgendeine Weise eine wichtige Rolle im Leben der Cro-Magnon gespielt, waren aber für ihr Überleben sicherlich nicht notwendig. In ähnlicher Weise waren verschwindend kleine Bevölkerungsgruppen an der Errichtung der riesigen megalithischen Monumente beteiligt, wie zum Beispiel am Steinkreis von Stonehenge in England, an den Steinreihen von Carnac in der Bretagne, an den gigantischen Figuren der Osterinsel.

Viele der großartigen Schöpfungen früher historischer Epochen sind zugegebenermaßen mit Hilfe von Sklavenarbeit entstanden, wie zum Beispiel die ägyptischen Pyramiden. Andere hingegen stellten gemeinschaftliche Vorhaben dar, die eine intensive soziale oder religiöse Bedeutung für die beteiligten Menschen besaßen. Die meisten europäischen Klöster und Kathedralen des Mittelalters sind in Städten von weniger als 10.000 Einwohnern errichtet worden. Selbst Paris hatte nur 35.000 Einwohner, als mit dem Bau von Notre-Dame begonnen wurde. Das gleiche gilt für die Paläste der Renaissance und die sakralen Bauten Italiens.

Auch zu unserer Zeit verschlingt das Raumfahrtprogramm der sechziger Jahre einen großen Prozentsatz des nationalen Haushaltsplans der Vereinigten Staaten und der UdSSR, ein Opfer, das von der Mehrheit der amerikanischen und sowjetischen Bevölkerung bereitwillig getragen wird.

Wir schaffen Artefakte, die von keinem zwingenden biologischen Nutzen sind, weil wir, wie bereits gesagt wurde, zwar noch in der Natur leben wie andere Tiere auch, aber nicht mehr länger völlig mit der Natur. Wir sind selten, wenn überhaupt jemals, damit zufrieden, die Natur passiv zu beobachten. Tatsächlich könnten wir es gar nicht, selbst wenn wir es versuchen würden. Auch wenn wir nicht mit der Natur in Berührung kommen, entwickeln wir ihr gegenüber Empfindungen und beschäftigen uns mit ihren geistigen Nachbildungen, in die wir viel von unserer Persönlichkeit einfließen lassen.

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Wir können nicht nur eine Landschaft betrachten, wir fügen eine bestimmte Stimmung hinzu — das Ergebnis ist ein Bild, das wir uns entweder einfach vorstellen oder auf eine Leinwand bannen. Wir lauschen nicht einfach den Geräuschen der Natur, wir formen sie um zu Musik, entweder in unserer Phantasie oder auf einer Partitur. Wir verlangen von einer Behausung, daß sie mehr als eine Zuflucht bietet; ungeachtet ihrer Primitivität verwandeln wir sie in ein Heim, das gewissen persönlichen oder sozialen Wünschen, die den biologischen Nutzwert überschreiten, entgegenkommt. Für Menschen ist ein bloßes Überleben nicht genug, und wir können es nicht umgehen, auf geistige und physische Weise in die Natur einzugreifen. Die Kreativität hat in das menschliche Leben häufig eine Vielfalt gebracht, auf die wir biologisch nicht vorbereitet sind, was sowohl in der Vergangenheit als auch heute Probleme mit sich bringt, die zu Katastrophen führen könnten. Aber die Sorge um Konsequenzen ist üblicherweise weniger ausgeprägt als der Drang, zu wählen und schöpferisch zu sein, und kann daher nur als Richtlinie für bessere und sicherere Schöpfungen dienen.

 

    Selbstfindung  

 

Meine Mutter und mein Schullehrer waren diejenigen Personen, die mich am meisten während der zwölf Jahre im Dorf der lle de France beeinflußt haben. Danach ergaben sich die wichtigsten Gesichtspunkte meiner sozialen Konditionierung aus den Kontakten zur Öffentlichkeit in den Straßen und Plätzen von Italien, England und den Vereinigten Staaten — aber in erster Linie und ganz besonders waren es die von Paris.

Ich erinnere mich genau an eine abendliche Unterhaltung mit meiner Mutter, während ich ihr in der Küche abwaschen half. Damals war ich ungefähr zehn Jahre alt. Sie äußerte, wie sie es häufig tat, ihren Wunsch, daß ich in ein anregenderes Leben ziehen sollte als das, was sie kannte, ein Leben, das nicht nur wohlhabender, sondern auch intellektuell bereichernder sein sollte. Meine Mutter besaß wenig Schulbildung, da sie im Alter von zwölf Jahren die Schule verlassen hatte, um als Näherin zu arbeiten.

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Das geschah aber zu einer Zeit, in der die Grundschulerziehung in ganz Frankreich ausgezeichnet war. Da sie im hohen Maße sensibel und aufnahmefähig war, hatte sie viel gelernt und war darauf erpicht, mich auf eine glänzende Zukunft vorzubereiten. 

Später an diesem bewußten Abend hat sie in dem »Petit Dictionnaire Larousse«, dem einzigen wissenschaftlichen Werk in unserem Haus, den Abschnitt aufgeschlagen, der sich mit den Grandes Ecoles befaßte. Das versorgte uns beide mit Stoff zu Tagträumen, wie meine Zukunft aussehen sollte. 

Ich weiß nicht, ob sie eine klare Vorstellung davon hatte, was die Grandes Ecoles bedeuteten, aber es ist sicher, daß meine Bestrebungen, ein Wissenschaftler zu werden, ein Ergebnis ihrer Haltung sind. Und diese Haltung bewies sie nicht nur an jenem gewissen Abend, sondern meine gesamte Jugendzeit hindurch, selbst als wir nach dem Tode meines Vaters gegen Ende des Ersten Weltkrieges in großen finanziellen Schwierigkeiten steckten. Wann immer ich als Wissenschaftler oder anderweitig Erfolge aufzuweisen habe, geraten mir die letzten rosafarbigen Seiten des »Larousse« in den Sinn, auf denen ich zum erstenmal konkretere Vorstellung von einer Welt erhielt, die einen größeren Horizont besaß und gebildeter war als jene, in der ich lebte.

Ich denke auch an Monsieur Delaruelle mit großer Dankbarkeit, jenen hingebungsvollen und nachdenklichen Lehrer, der ganz allein die einklassige Schule für die Jungen des Dorfes leitete; wir waren etwa fünfzig im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren. Er brachte uns mit gleichbleibendem Enthusiasmus alles über die Rechenkunst, Grammatik, Geschichte und Musik bei. In Ergänzung zum konventionellen Lehrstoff gab er sein Bestes, uns mit bedeutenden Ereignissen bekanntzumachen, die damals in der Welt geschahen, und uns ein Bewußtsein ihrer Bedeutung zu geben. Eines Tages — es muß ungefähr 1911 gewesen sein — berichtete er uns in hellster Aufregung, daß Leonardo da Vincis »Mona Lisa« aus dem Louvre gestohlen worden sei. Er nahm diese Neuigkeit zum Anlaß, uns etwas über die Kunst zu erzählen.

In einem Dorf oder in einer Kleinstadt zu leben besaß um die Jahrhundertwende gewisse pädagogische Vorzüge.

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Die Kinder hatten die Gelegenheit, die verschiedenen Berufe aus der Nähe zu erleben und nicht nur mitzuarbeiten, sondern auch Verantwortung zu übernehmen. Eine solch direkte Beobachtung und Teilnahme ergab eine genauere Kenntnis von der Realität, wie sie in den großen Städten niemals angeeignet werden kann, selbst wenn sie die modernsten Museen besitzen.

In einigermaßen überschaubaren menschlichen Ansiedlungen aufzuwachsen mag darüber hinaus zum Selbstvertrauen der Kinder beitragen, weil sie ihnen ein stärkeres Gefühl der eigenen Bedeutung in Relation zum Rest der Welt vermitteln, als das in einem städtischen Ballungsgebiet wahrscheinlich der Fall ist.

Bis zum Alter von dreizehn Jahren hatte ich nur in zwei Dörfern, die beide weniger als 500 Einwohner zählten, und in einer Stadt, Beaumont-sur-Oise, gewohnt, deren Einwohnerzahl wahrscheinlich nicht über 3000 lag. Von daher machte ich nie weniger als 1/500 oder 1/3000 der menschlichen Welt aus, in der ich wirkte.

So konnte ich die Menschen, unter denen ich lebte, in einer Weise kennenlernen, die sich wesentlich von der unterschied, was Kinder heutzutage in Großstädten erleben.

Die menschliche Atmosphäre der Dörfer und der Kleinstadt hatte in meiner Jugendzeit noch immer die demographischen, psychologischen und emotionalen Dimensionen der Stammesstrukturen, in denen die Menschheit bis zur agrikulturellen Revolution vor 10.000 Jahren lebte, und die dörflichen Dimensionen, in denen die überwiegende Mehrheit der menschlichen Bevölkerung auf allen Kontinenten bis in unsere Zeit gelebt hat.

Das wichtigste Problem der Stadtplanung mag vor allem darin bestehen, innerhalb unserer Großstädte ein Äquivalent zu der abwechslungsreichen Einheit von wenigen hundert Menschen wiederherzustellen, in der die soziale Evolution der Menschheit stattfand und an die wir auch heute noch angepaßt sind.

Meine milieubedingte Konditionierung veränderte natürlich ihren Charakter, als ich nach Paris zog, wo sie in gewisser Weise weniger tief und persönlich, aber bunter wurde. Die Pariser gingen sehr viel schneller als die Leute in meinem Dorf, auch mit einem anderen Rhythmus.

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Viel später machte ich die Erfahrung, daß es diesen Unterschied im Schrittempo nicht nur zwischen der französischen Provinz und Paris gibt, sondern auch zwischen Paris, London, Rom und New York. Jede Großstadt hat das ihr eigene Schrittempo, das sicherlich mit unterschiedlichen generellen Einstellungen zum Leben korrespondiert.

Noch wichtiger als die physische Stimulierung, die durch diesen Tempowechsel bedingt war, war die geistige Stimulierung, die aus der Tatsache resultierte, daß sich in Paris jede Straße von der anderen unterschied. Mehr noch, jedes Viertel hatte viele verschiedene Gesichter und menschliche Stimmungen, die zu ebenso vielen Abenteuern aufforderten.

Ich war mir der enormen Verschiedenartigkeit der Menschen anhand von Fabeln, der Geschichte, von Erzählungen und meinen begrenzten persönlichen Erfahrungen bewußt geworden; doch erst als ich mit der extremen Vielfältigkeit der unterschiedlichen Stadtteile von Paris konfrontiert wurde, lernte ich, was es heißt, neidisch zu sein. Ich erkannte damals, daß viele Aspekte des öffentlichen Lebens für mich unerreichbar waren, und zwar einfach aus finanziellen Gründen. Diese Einschränkung wurde mir zum erstenmal schmerzlich bewußt, als ich an einem Theater vorbeiging, wo gerade ein neues Stück Premiere hatte. Die Fabeln, die ich gelesen hatte, bezogen sich auf die Nichtigkeit solcher Anlässe. Aber ihre Lehren waren vergessen, als mir deutlich wurde, daß ich nur eine sehr geringe Chance haben würde, jemals finanziell so abgesichert zu sein, um an diesem »schicken« Leben teilnehmen zu können.

Die öffentlichen Plätze und Parkanlagen von Paris waren die Orte, an denen ich meine Prägung als Jugendlicher vervollständigte. Der Laden meines Vaters befand sich in einer Straße neben kleinen Fabriken. Wie es damals üblich war, sangen Männer und Frauen an den Straßenecken oder auf den öffentlichen Plätzen die neuesten Schlager, verkauften für wenige Pfennige Kopien von ihnen, während die Zuhörer den Text und die Melodie wiederholten. Ich war so sehr ein Teil dieser Handlung, daß ich immer noch die meisten Lieder auswendig summen kann. Ich besuchte auch zu Beginn meines Pariser Lebens die Jahrmärkte. Aber ich habe bald den Geschmack an Unterhaltungen dieser Art verloren.

Im Gegensatz dazu fand ich immer mehr Gefallen an den verschiedenen Parks in Paris, jeder mit eigener, unverwechselbarer Ausstrahlung.

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Es gab die kleinen Parkanlagen und Gehwege entlang der Seine, wo die Kinder mit ihren Eltern und Großeltern während der Tagesstunden spielten und wo Halbwüchsige als auch Erwachsene zu nahezu allen Tages- und Nachtstunden mit den Spielen der Liebe beschäftigt waren. Da gab es den strengen Botanischen Garten mit seinen uralten Bäumen, exotischen Pflanzen und Statuen der berühmtesten Botaniker. Da waren insbesondere der Parc Monceau, nicht weit von dem Lycee Chaptal entfernt, an dem ich vom dreizehnten bis achtzehnten Lebensjahr Schüler war, und die Jardins du Luxembourg (bekannter unter dem Namen Parc du Luxembourg) in der Nähe des Institut National Agronomique, an dem ich die zwei Jahre zwischen 1918 und 1920 verbrachte. Diese beiden Parks waren von besonderem Interesse für mich, weil ich viele Stunden auf ihren Bänken zubrachte, für mein Studium oder aber bloß zum Vergnügen lesend, und, was vermutlich noch sinnvoller war, meinen Tagträumen nachhing, während ich die verschiedenen Menschen betrachtete.

Der Parc Monceau und der Parc du Luxembourg waren damals und sind auch heute noch grundlegend verschieden in ihrem äußeren Erscheinungsbild und ihrer menschlichen Atmosphäre. Der Parc Monceau wurde Ende des 19. Jahrhunderts im Stil des englischen, sogenannten »natürlichen« Landschaftsstils angelegt. Er liegt in einem der vornehmsten Pariser Distrikte, und das Publikum setzte sich damals meist aus wohlhabenden Personen zusammen, zumindest aber aus feinen, die das Gehabe der Reichen übernommen hatten. Sie zu beobachten suggerierte mir den Wunsch nach einem luxuriösen Lebensstil ein, der sich sehr von meinem unterschied und den ich mir im höchsten Maße als gebildet und erfreulich vorstellte. Der Parc du Luxembourg hatte im Gegensatz dazu ein klassisches Gepräge, das den Einfluß des 17. Jahrhunderts verriet. Da er im Quartier Latin, nahe der Sorbonne und einigen Grandes Ecoles, gelegen ist, war er stets von vielen jungen Leuten bevölkert, die lasen oder, was noch wahrscheinlicher war, in angeregter und ernsthafter Manier diskutierten, während sie die geraden Alleen auf und ab spazierten.

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Der Fontaine Medicis, ein kleiner künstlicher Teich mit einem Wasserfall und von alten Bäumen beschattet, schien völlig von den bunteren und lebhafteren Teilen des Parks abgetrennt zu sein und war stets von romantischen Seelen auf der Suche nach poetischer Stille für ihre Meditationen umlagert. Im Laufe der Zeit verloren der Parc Monceau und der von ihm symbolisierte Lebensstil viel von ihrer Anziehungskraft. Der Parc du Luxembourg hingegen umgab mich mit einem geistigen Klima, das ich zunehmend aufregend fand, auch wenn ich immer noch sehr vage Vorstellungen von der Welt des wissenschaftlichen Lernens besaß, mit der er verbunden war.

Diese Entscheidung zwischen zwei gegensätzlichen Atmosphären war die erste und vermutlich die entscheidendste meines Lebens — aber sie war nicht allein meine eigene. Ihre Ursprünge basieren auf den Hoffnungen, die meine Mutter in bezug auf meine Bildung besaß, und auf der pädagogischen Hingabe meines Dorfschullehrers.

Während diese frühen Einflüsse mich gefühlsmäßig auf die Überzeugung vorbereitet hatten, daß eine zufriedenstellende Zukunft von meiner Bereitschaft zu lernen abhängig war, befähigte mich die direkte Wahrnehmung des Lebens in den Parks und auf den Straßen von Paris dazu, mir meines persönlichen Geschmacks bewußt zu werden. Ich verlor bald den Wunsch nach gewissen luxuriösen Lebensstilen, die mir zuerst als ausgesprochen wünschenswert erschienen waren; ich blieb eifersüchtig auf die Leute, die sie sich leisten konnten, aber ich war nicht neidisch auf das, was sie mit ihrem Geld anfingen. Auf der anderen Seite begriff ich langsam, wenn auch noch undeutlich, daß mich Aktivitäten und soziale Atmosphären anzogen, die zwar nicht so bunt wie das schillernde gesellschaftliche Leben waren, die mir aber vielversprechender erschienen. Ich wurde zuerst von der friedlichen Umgebung der Dörfer der Ile de France geprägt; im Parc du Luxembourg wurde ich in ein neues Leben intellektueller Abenteuer geboren.

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Meine eigene Erfahrung deckt sich mit der Lehre aus der Geschichte, daß einer der wertvollsten Gesichtspunkte des städtischen Lebens darin liegt, daß es den Menschen hilft, herauszufinden, was sie am liebsten tun und werden möchten. Es hängt sehr von der Gestalt städtischer Ballungszentren ab, ob die richtigen Bedingungen für diesen Prozeß der Selbstfindung gegeben sind. New York ist mindestens ebenso reich an farbenprächtigen und stimulierenden Umgebungen wie Paris, London, Rom oder jede andere Weltstadt, dennoch scheint mir der Zuschnitt New Yorks eine Selbstfindung weniger zu begünstigen als große europäische Städte. Kinder, die in Harlem oder Bedford-Stuyvesant aufwachsen, haben es im Gegensatz zu meinen frühen Erfahrungen sehr viel schwerer, die verschiedenen soziokulturellen Atmosphären in der Stadt zu erleben und so für sich den Lebensstil zu entdecken, den sie bevorzugen; das gilt auch für viele Kinder aus den wohlhabenderen Bezirken von Queens, der Bronx oder Staten Island.

Dabei kommt mir ein einige Jahre zurückliegendes Ereignis in den Sinn, als die Rockefeller-Universität Gastgeber für einige Wissenschaftler war, die in einem Ausschuß tätig waren, der die Verhältnisse in Harlem untersuchen sollte. Als sie von ihrem Rundgang zurückgekehrt waren, erzählte mir einer der Akademiker, daß er auf alles, was er gesehen hätte, vorbereitet gewesen wäre, auf die Armut der Bevölkerung, die baufälligen Häuser, den Dreck auf den Straßen — aber nicht auf die an die Fensterscheiben gepreßten Gesichter der Kinder, die nichts anderes sehen konnten außer Schutt und Elend. Die Kinder aus Harlem und Bedford-Stuyvesant haben zwar die völlige Freiheit, dorthin zu gehen, wohin sie wollen, und das zu tun, was sie wollen, aber diese Entscheidungsfreiheit bleibt ein leeres Wort, wenn es kein breites Spektrum an Angeboten gibt, zwischen denen gewählt werden kann.

Da die Abenteuerlust wahrscheinlich für ein unsoziales Verhalten mitverantwortlich ist, könnte eine zunehmende Vielseitigkeit der Umwelt dazu verhelfen, soziales Fehlverhalten abzubauen. Die Art von Abenteuern auszusortieren, die der eigenen Persönlichkeit liegen, ist ein wesentlicher Faktor der Entwicklung und Selbstfindung. In diesem Sinne stellt die Vielseitigkeit der Umwelt mit zahlreichen verfügbaren Alternativen für die Menschen und insbesondere für die Kinder den wesentlichen Gesichtspunkt eines richtig verstandenen Funktionalismus dar. Die meisten Städte sind in dieser Hinsicht sicherlich dysfunktional.

Wir sind ohne Frage in einem sehr großen Umfang nicht nur durch unsere genetischen Anlagen, sondern auch durch unsere Umwelt, in der wir wirken, und durch unsere Lebensweise geprägt. Aus diesem Grunde ist es von außerordentlicher Bedeutung, daß wir soviel Freiheit und so viele Alternativen wie nur irgendwie möglich erhalten, um die Umweltbedingungen auswählen oder schaffen zu können, die uns prägen. Abschließend zusammengefaßt: Die menschliche Entwicklung wird weniger von den Kräften bestimmt, denen wir passiv ausgesetzt sind, sondern viel mehr von den Entscheidungen, die wir für unser persönliches Leben und für die Organisationsformen unserer Gesellschaften treffen.

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