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3. Denke global, aber handle lokal

 

Lokale Lösungen für globale Probleme (104) Das globale Dorf (110) Die Niederlande, Land der Horizontale, von Menschenhand geschaffen (121) Manhattan, Stadt der Vertikale (138)  Die Heimat des Globetrotters (150)  

 

    Lokale Lösungen für globale Probleme  

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An den nordamerikanischen Universitäten, an denen ich vor kurzem Vorlesungen hielt, waren die meisten Studenten intensiv mit Umweltfragen und sozialen Problemen beschäftigt — hauptsächlich unter langfristigen Gesichtspunkten und auf nationalem oder globalem Niveau.

Sie waren überrascht und teilweise auch verärgert, als ich vorschlug, sich nicht ausschließlich mit der Nation und der gesamten Welt zu befassen, sondern zunächst lokale Situationen zu überdenken, wie zum Beispiel die Unordnung in den öffentlichen Räumen ihres Universitätsgeländes oder die Verworrenheit ihrer sozialen Beziehungen.

Mein Anliegen war, daß es zwar eine sinnvolle und spannende intellektuelle Beschäftigung sein kann, auf globalem Niveau zu denken, daß dies aber kein Ersatz für die Arbeit ist, die erforderlich ist, um die praktischen Probleme vor der eigenen Haustür zu bewältigen. Wenn wir wirklich zum Wohle der Menschheit und unseres eigenen Planeten beitragen wollen, ist der beste Ausgangspunkt dafür unsere eigene Gemeinde mit ihren Äckern, Gewässern, Wegen, Straßen und ihren sozialen Problemen.

Ich hatte viele Gelegenheiten, über die lokalen Aspekte globaler Probleme nachzudenken, während ich direkt oder indirekt an den riesigen internationalen Konferenzen teilnahm, die während der siebziger Jahre unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen zusammenkamen, um über die

gegenwärtigen Probleme der Menschheit zu diskutieren. Diese Mammutkonferenzen besaßen immer ein gemeinsames Schema. Sie wurden mit wohlklingenden Erklärungen über die weltweiten Sorgen und mit schmetternden Appellen an das internationale Denken und Handeln eröffnet. Im Verlaufe der Tagungen gingen die konkreten Sachverhalte jedoch schnell in einer Flut ideologischer Wortgefechte unter, die in keinem Zusammenhang mit den praktischen Erfordernissen standen. Am Ende der Konferenzen führten die Bemühungen um ein Konsenspapier zu so breit gefaßten und in ihren Zielen so vage formulierten Resolutionen, daß nur wenige von ihnen in ein Aktionsprogramm münden konnten. Aufgrund dieser Beobachtungen kam ich daher zu der Überzeugung, solche internationalen Konferenzen für eine Zeitverschwendung zu halten. Heute habe ich jedoch meine Meinung geändert, und zwar aus zwei unterschiedlichen Gründen.

Zum einen erzeugten diese Mammutkonferenzen der siebziger Jahre eine weltweite Bewußtwerdung bestimmter Gefahren, die nun alle Nationen bedrohen, die reichen wie die armen. Das ist keine geringe Leistung, wenn man bedenkt, daß es für Menschen nicht einfach ist, global zu denken. Als Gattung hat sich der Homosapiens aus kleinen Sozialgruppen und begrenzten physischen Umgebungen heraus entwickelt, so daß unsere intellektuellen und emotionalen Prozesse biologisch nicht an globale oder langfristige Betrachtungsweisen von Situationen angepaßt sind. Nur wenn den Menschen aus allen Erdteilen die Gelegenheit gegeben wird, ihre Probleme vorzutragen, werden sie, wenn auch nur allmählich und mit Schwierigkeiten, begreifen, wie eng es auf unserem Planeten geworden ist, wie begrenzt seine Ressourcen und wie vielfältig die Gefahren sind, denen wir alle zunehmend ausgesetzt sind.

Die Mammutkonferenzen der siebziger Jahre hatten zum anderen das zusätzliche Verdienst, die Ungleichheit der physischen und sozialen Bedingungen auf unserem Planeten ans Tageslicht gezerrt und die Folgen dieser Ungleichheit drastisch ausgemalt zu haben.

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Obwohl es im Verlaufe der Konferenzen zu vielen Positionsrangeleien kam, lernten die offiziellen Delegierten von den Repräsentanten der anderen Länder, daß globale Probleme in einem anderen Licht erscheinen, wenn sie von der lokalen Situation abhängig gemacht werden. Die Umweltpuristen der westlichen Welt stellten zum Beispiel fest, daß die tiefste Armut die schlimmste Form der Verschmutzung darstellt und daß viele arme Länder legitime Gründe haben, mehr an der ökonomischen Entwicklung als am ökologischen Evangelium interessiert zu sein.

Auf der 1976 in Vancouver abgehaltenen UNO-Konferenz beklagten sich die armen Nationen verständlicherweise darüber, daß sie von den reichen, industrialisierten Ländern ausgebeutet werden. Aber sie nahmen ebenfalls zur Kenntnis, daß sie viel von der westlichen Zivilisation und Technologie zu lernen hätten, die sie auf solche Probleme wie Wasserversorgung, kostengünstiges Wohnen oder ertragreiche ländliche Entwicklung anwenden können, ganz zu schweigen von der industriellen Entwicklung.

Die wertvollste Leistung der internationalen Konferenzen bestand vermutlich jedoch in der Erkenntnis, daß der beste und im allgemeinen auch der einzig mögliche Weg, mit weltweiten Problemen umzugehen, der ist, nicht nach weltweiten Lösungen zu suchen, sondern nach Techniken, die am besten zu den natürlichen, sozialen und ökonomischen Bedingungen passen, die charakteristisch für die jeweilige Örtlichkeit sind. Unser Planet ist von allen Gesichts­punkten aus betrachtet so mannigfaltig, daß man seine Probleme nur wirkungsvoll in den Griff bekommt, wenn man sie auf der regionalen Ebene, in ihrem einzigartigen physischen, klimatischen und kulturellen Kontext angeht.

 

Drei Beispiele sollen genügen, um die Notwendigkeit einer lokalen Herangehensweise an globale Probleme zu verdeutlichen.

 

Die Empfehlungen der Konferenz von Vancouver waren hinsichtlich der Tatsache, daß alle Menschen sauberes Wasser und anständige Wohnungen brauchen, deutlich. Die Techniken, die erforderlich sind, diesen eindeutig biologischen Notwendigkeiten gerecht zu werden, müssen jedoch so ausgerichtet sein, daß sie sich den lokalen Bedingungen, wie Bevölkerungsdichte, topographischen, geographischen und klimatischen Bedingungen und selbstverständlich auch den finanziellen Mitteln, anpassen.

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Die Planung von Unterkünften wird zum weiteren aufgrund lokaler, sozialer Gewohnheiten und Geschmacksvorstellungen verkompliziert. Die Empfehlungen, die sich auf kulturelle Angelegenheiten oder auf die Lebensqualität bezogen, mußten sogar noch weniger spezifisch ausfallen, da diese Werte stark lokal und historisch geprägte Merkmale darstellen.

Das Wort Desertifikation verweist nicht auf seit langem bestehende Wüsten, sondern auf Landstriche, die durch menschliche Einwirkung, insbesondere durch Überweidung und den Einsatz von Holz als Brennstoff, zu Wüsten verwandelt wurden. Da die Desertifikation in vielen Teilen der Welt zunehmend ein gravierendes Problem wird, hatte das UNO-Umweltsekretariat (UNEP) zunächst geplant, die Ausbreitung der Wüsten durch übernationale Projekte unter Kontrolle zu bringen — in der Meinung, es mit ausgedehnten zusammenhängenden Gebieten zu tun zu haben, die sich über mehrere Länder erstrecken.

Diese übernationale Herangehensweise mußte jedoch fallengelassen werden, weil die sozialen und landwirtschaftlichen Praktiken, die zur Desertifikation führen, von Land zu Land sehr unterschiedlich sind. Die Wüstenkommission der UNEP hat daher vor kurzem entschieden, daß die einzelnen Länder eigene, ihren besonderen landwirtschaftlichen und sozialen Praktiken angepaßte Projekte ausarbeiten müssen, ehe sie internationale Hilfe erhalten.

Bis 1973 haben die niedrigen Kosten von Erdöl und Erdgas sowie die Leichtigkeit, mit der diese Brennstoffe verschifft und überall auf der Welt eingesetzt werden können, die Illusion erweckt, daß fast gleichartige technologische Verfahrensweisen für den gesamten Planeten formuliert werden könnten. Erdöl und Gas wurden jedoch sehr viel teurer und werden bald knapp sein. Aus diesem Grunde gibt es Pläne, sie durch Kohle zu ersetzen, deren Vorkommen größer sind, oder sie durch andere Möglichkeiten erneuerbarer Energiequellen, wie Kernspaltung (möglicherweise Kernfusion), Sonnenenergie, Wind, Gezeiten, Wellen und den verschiedenen Arten organischer Stoffe, Biomasse genannt, zu ersetzen. Jede dieser Energiequellen bietet jeweils besondere Vor- und Nachteile, und jede paßt, anders als Erdöl und Gas, nur zu dieser oder jener natürlichen oder sozialen Situation am besten.

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Zum Beispiel gibt es nicht überall Kohle, ihr Transport über weite Entfernungen ist kostspielig, und ihr Abbau führt zu Qualitätsverminderungen der Umwelt, die von Region zu Region unterschiedlich sind. Solarenergie hat in Regionen mit intensiver Sonnenbestrahlung eine größere Chance, weiterentwickelt zu werden, die Windenergie nur dort, wo der Wind in einigermaßen zuverlässiger Weise weht, die Bioenergie nur in dichtbewaldeten Gegenden, die Kernenergie in den industrialisierten Ländern, in denen andere Energiequellen fehlen und wo die Menschen daher mit größerer Wahrscheinlichkeit die Gefahren schwerer und unkalkulierbarer Unfälle in Kauf nehmen.

Meines Erachtens ist es ein glücklicher Umstand, daß praktische Erfordernisse zu verschiedenen lokalen Lösungen globaler Probleme zwingen werden.

Globalisierungen führen unumgänglich zu Standardisierungen und damit zu einer Verringerung der Vielfältigkeit, die ihrerseits die Rate sozialer Innovationen drosseln wird. Eine andere in der Globalisierung liegende Gefahr besteht darin, daß die starke Abhängigkeit der Systeme voneinander die Wahrscheinlichkeit kollektiver Katastrophen anwachsen läßt, wenn auch nur ein Teilsystem aufgrund von Sabotage oder eines Unfalls nicht mehr richtig funktioniert. Schließlich würden wir bald einen Punkt erreicht haben, falls es nicht schon der Fall ist, an dem die technologischen, ökonomischen und sozialen Systeme so riesig und komplex sind, daß sie nicht mehr ohne weiteres an neue Bedingungen angepaßt werden können und damit auch keine wirkliche kreative Kontinuität mehr besitzen. Der menschliche Verstand ist dieser Einsicht nicht gewachsen, geschweige denn der Handhabung von Systemen, die, auch wenn sie menschlichen Ursprungs sind, zu groß und zu komplex sind.

Im Gegensatz dazu bieten vielseitige kleinere Systeme größere Chancen der Anpasssungsfähigkeit, Kreativität und Lenkbarkeit. Diese Systeme sind sich der anderen bewußt und tolerieren sich, bewachen aber eifersüchtig ihre Autonomie. Skepsis in bezug auf den Wert einer Globalisierung zieht keine Isolierung nach sich. 

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Wahrscheinlich wäre für unseren Planeten nicht eine Weltregierung, sondern eine Weltordnung ideal, in der soziale Einheiten ihre Identität bewahren und gleichzeitig mittels eines vielfältigen Kommunikationsnetzes zusammenarbeiten. Das wurde bereits in Anfängen von den Sonderorganisationen der Vereinten Nationen (es gibt gegenwärtig 15) verwirklicht, wie zum Beispiel von der Weltgesundheitsorganisation, der Internationalen Arbeitsorganisation, der Organisation für Ernährung und Landwirtschaft, der Internationalen Meteorologischen Organisation und der UNEP, die ich bereits erwähnt habe. Ihre Existenz und ihr Erfolg rechtfertigen die Hoffnung, daß wir über die ständig wachsende Vielfalt der sozialen Strukturen eine neue Form der weltweiten Einheit schaffen können.

Die Konzentration auf ein lokales Problem hat daher nichts mit Isolationismus zu tun. Tatsächlich erfordert diese Konzentration den Einsatz mehrerer sozialer Netzwerke, die Wissenschaftler, Industrielle, Politiker und Bürger einbeziehen. Die Kontrolle der Wasserverschmutzung in den Great Lakes macht aufgrund der Verordnungen, die sich aus den zahlreichen und komplexen Übereinkünften auf industrieller und politischer Ebene zwischen den USA und Kanada ergaben, einige Fortschritte. Ähnliche Fortschritte gab es auch im Fall der Rheinverschmutzung. Die vier beteiligten Staaten, die Schweiz, Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland und die Niederlande haben einen Bußgeldkatalog ausgearbeitet und durchgesetzt, nach dem jetzt die Fabriken zahlen müssen, die die Verschmutzung des Flusses verursachen. Das Schicksal des Mittelmeeres schien bis vor ein paar Jahren hoffnungslos zu sein. Aber jetzt, nach Jahrzehnten einer unglaublichen Vernachlässigung, an der alle Mittelmeerländer beteiligt waren, gibt es Hoffnung, daß dieses sehr lokale Problem nach und nach durch Abmachungen über die Kontrolle der Privat- und Industrieabwässer gelöst werden kann.

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     Das globale Dorf   

 

Das menschliche Leben fand seit der Altsteinzeit meistens in kleinen, nahezu stabilen Gemeinschaften statt, die entweder aus umherziehenden Nomadenstämmen bestanden oder aus kleinen, festen Dörfern, die so organisiert waren, daß sie die Konstanten der Menschheit aus den lokal verfügbaren Ressourcen befriedigen konnten. Im Verlauf der Geschichte gab es unzählige politische Revolutionen und andere Erhebungen, aber ihr Endergebnis waren immer wieder Gemeinschaften von einigen hundert oder tausend Menschen, in denen jeder seinen oder ihren Platz in der sozialen Ordnung kannte und bereitwillig oder unter Druck die jeweils vorhandenen Spielregeln akzeptierte. So erstaunlich es scheinen mag, so herrscht dieses Muster der Sozialstruktur doch auch heutzutage noch in nahezu der gesamten Welt vor.

In <Der Koloß von Maroussi> vermittelt Henry Miller auf sehr anschauliche Weise seine Ansicht, daß zu der Zeit, als Knossos das politische Zentrum Kretas war, die Insel eine fröhliche, gesunde, saubere und friedliche Gemeinschaft barg. Seiner Meinung nach wurde diese lebensbejahende Einstellung unter fast jeder Regierungsform aufrechterhalten, zu Zeiten der Vorherrschaft des ägyptischen Reiches, später unter der menschlichen Unmittelbarkeit der etruskischen Welt und noch später unter einer weise organisierten Gemeinschaftsordnung, die der der Inkas ähnlich war. 

Er fühlte, »daß Knossos etwas Erdnahes an sich hat« — der Einfluß der Religion schien angenehm abgeschwächt, die Frauen spielten eine bedeutende Rolle in den öffentlichen Angelegenheiten. Die Menschen waren »religiös in der einzigen Weise, die dem Menschen ziemt... indem sie das Äußerste aus jeder Minute des Daseins herausholen. Knossos war weltlich im besten Sinne des Wortes.« Im Gegensatz dazu, so Miller weiter, besteht der fundamentale Mangel unserer eigenen zivilisierten Welt im völligen Mangel jeglichen Gemeinschaftssinnes.

Viele dichtbevölkerte Gegenden sowohl in armen als auch in reichen, industrialisierten Ländern vermitteln zugegebenermaßen den Eindruck, als ob die Gemeindestrukturen zusammenbrechen oder zunehmend an Bedeutung verlieren würden.

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Zum Beispiel hat man bei den Problemen Indiens nicht Gemeinwesen vor Augen, sondern man denkt sofort an Kalkutta, Bombay und Delhi mit ihren hohen Bevölkerungszahlen und ihren entsetzlichen Slums. Diese Vorstellung trifft auf die meisten Entwicklungsländer mit ihren Barackenstädten, favellas, barrieros und bidonvilles zu. Tatsächlich besitzen die meisten dieser Elendsviertel jedoch eine Sozialstruktur, die sich aus leidlich gut abgegrenzten kleinen Gemeinschaften zusammensetzt. Zudem ergibt der alleinige Blick auf Großstädte nur ein sehr ungenaues Bild vom menschlichen Erdenleben. In den armen Ländern lebt die Mehrzahl der Menschen nicht in Großstädten, sondern in Millionen von kleinen Dörfern, die durchschnittlich nur ein paar hundert Einwohner zählen. Das trifft sogar auf Indien zu, wo der überwiegende Teil der Gesamtbevölkerung in mehr als 600.000 solcher Dörfer lebt.

Auf den ersten Blick scheinen das demographische und das soziale Bild der armen Länder keinerlei Beziehung zur Sachlage in den Ländern westlicher Zivilisation zu besitzen, die zumeist weitgehend urbanisiert sind oder dabei sind, sich noch darüber hinaus zu entwickeln. Viele Teile der industrialisierten Welt haben das Stadium der Metropolis verlassen und die Phase der Megalopolis erreicht, wie zum Beispiel die in den USA ununterbrochene, verstädterte Landschaft entlang großer Teile der Atlantikküste, Pazifikküste und der Great Lakes beweist. Ähnliche Großsiedlungsräume existieren in Europa und Japan. Der griechische Planer C. Doxiadis war daher der Meinung, daß man vom Stadium der Megalopolis nach und nach in das Stadium der »Ökumenopolis« hineinwachsen würde — einer einzigen zusammenhängenden Weltstadt.

Schon seit dem späten 19. Jahrhundert gab es eine Vielzahl von Plänen, künstliche Stadtsysteme zu entwickeln, die wenig mit der traditionellen Stadt gemeinsam haben. Ein städtebaulich völlig neues Entwicklungskonzept wurde anscheinend erstmalig von dem spanischen Ingenieur Soria y Inata ausgearbeitet, der um 1880 eine durchgängig lineare Stadt vorschlug, die durch Ausdehnung bestehender Siedlungen entlang der Hauptverkehrsadern entstehen sollte. 

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Diese Idee, die der amerikanische Ingenieur Edgar Chambless 1910 in seinem Buch <Roadtown> (Die Straßenstadt) wieder aufgriff, wurde in den dreißiger Jahren in Rußland in einigen Städten zur abstoßenden Wirklichkeit. Dieses Modell hat sich aber auch entlang vieler amerikanischer Highways entwickelt. Diese Straßenstädte zerstören fast überall den Zusammenhang der Städte und Dörfer, die ihnen im Wege liegen. Es gab noch viele andere Projekte für weitere rein technologisch ausgerichtete städtische Ballungsgebiete, denen ein Ziel gemeinsam ist, nämlich die traditionell gewachsenen Städte durch Wegwerf-Städte zu verdrängen, die in gewissen Zeitabständen durch neue, den technologischen und ökonomischen Möglichkeiten oder Bedürfnissen der Zeit entsprechende Siedlungen ersetzt werden könnten.

Andererseits sind viele Menschen zu der Überzeugung gelangt, daß solche Siedlungsformen nicht günstig für die seelische Gesundheit sind. Sie glauben, daß ein erfülltes menschliches Leben nicht in städtischen Ansiedlungen erfahren werden kann, die in der Tat so entworfen sind, als seien sie austauschbare Behälter für beliebig austauschbare Menschen. Seit einigen Jahrzehnten macht man sich zunehmend die Vorstellung zu eigen, daß Siedlungen nach menschlichen Gesichtspunkten neu strukturiert werden müssen, um menschliche Begegnungen zu erleichtern. Obwohl nicht immer ganz erfolgreich, so wurden doch einige bewußte Anstrengungen in dieser Richtung erstmalig mit den englischen New Towns unternommen und seither mit vielen Trabantenstädten, die in verschiedenen Teilen Europas und in geringerem Ausmaß auch in den Vereinigten Staaten entstanden und entstehen.

Es gibt mindestens 24 New Towns in Großbritannien und acht in Frankreich. Sie haben 30000 bis 200000 Einwohner. Aber sie sind in allen Fällen derart geplant worden, daß sie mit Hilfe verschiedener Maßnahmen in sehr viel kleinere Einheiten unterteilt werden können, die dem Nachbarschaftsbegriff entsprechen, zu dem in entscheidender Weise die soziale Autonomie in Form eigener Schulen, Geschäfte, Gaststätten, Grünanlagen und auch ein gewisses Maß an administrativer Selbstverwaltung gehören. 

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Selbst in Amsterdam, wo die Planer daran gebunden sind, das Aufnahmevermögen der Stadt auf eine Million Einwohner auszudehnen, gleichen die Entwicklungspläne im wesentlichen dem, was sie schon eine Generation zuvor bezwecken wollten — Nachbarschaft an Nachbarschaft zu gliedern, die jeweils so beschaffen sind, daß sie als nahezu vollständige soziale Einheit funktionieren können. Venedig war von Anfang an als eine Stadt der Nachbarschaften geplant worden, bestehend aus Pfarrgemeinden, die einer bestimmten Kirche und einem Marktplatz angegliedert waren. Venedig hat sich daher viel von seiner menschlichen Qualität bewahrt.

Es wird behauptet, daß London trotz seiner enormen Ausdehnung ( es war die erste Stadt, die im 19. Jahrhundert eine Bevölkerungszahl von einer Million überschritt) dennoch in vielerlei Hinsicht eine Ansammlung von Dörfern geblieben ist. Was Paris betrifft, so weiß ich aus eigener Erfahrung und aus jahrzehntelangen Kontakten zur Familie und Freunden, daß die im hohen Maße zentralisierte Verwaltung die Bedeutung der Nachbarschaften mit ihren sozialen Eigentümlichkeiten und häufig hervorstechenden architektonischen Besonderheiten nicht geschmälert hat.

Die nachbarschaftlichen Gemeinwesen von Paris sind nicht nur postalische oder politische Bezirke, sondern auch ein Ausdruck starker sozialer und historischer Faktoren. Das Gefühl, in einem bestimmten quartier oder sogar einem aron-dissement zu Hause zu sein, ist dem Apartmentbewohner, Ladeninhaber oder Bistrobesucher genau so eigen wie das Gefühl, ein Pariser zu sein. Ich kann das aus eigener Erfahrung auch über New York berichten. Selbst wenn das Planquadrat von Manhattan als Hinderungsgrund für das Entstehen nachbarschaftlicher Gemeinwesen gelten könnte, stellen Yorkville, Chelsea, Greenwich Village, Soho, die verschiedenen Bezirke der Westside, dennoch unterscheidbare Einheiten dar, und zwar nicht aufgrund ihrer besonderen architektonischen Merkmale, sondern weil sie mit bestimmten Lebensweisen in Verbindung gebracht werden und daher auch bestimmte Menschen anziehen. Das gleiche gilt auch für die anderen Verwaltungsbezirke von New York.

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Folglich ist das Nachbarschaftswesen selbst in den größten und anscheinend anonymsten Wohngebieten eine soziale Tatsache — sowohl in den reichen als auch in den armen Ländern. Das Nachbarschaftswesen ist selbst dann rudimentär vorhanden, wenn es in keinem offiziellen Plan vorgesehen ist oder mit den Institutionen versorgt ist, die es zu einer identifizierbaren Verwaltungseinheit machen würden. Das Nachbarschaftsgefühl bildet sich nicht nur, weil Menschen, die denselben Lebensraum teilen, es nicht umgehen könnten, gemeinschaftliche Interessen zu entwickeln, sondern viel eher deshalb, weil die räumlichen oder sozialen Merkmale des Gebiets gerade jene Menschen anziehen, die zumindest einige Geschmacksrichtungen und Interessen gemeinsam haben und von daher dazu neigen, sich zu gemeinschaftlichen und öffentlichen Initiativen zusammenzuschließen.

Das allgemeine Ansteigen der Mobilität und der weitverbreitete Einsatz von Technologien mit zunehmend standardisierten Methoden tragen sicherlich zu einer Homogenisierung des menschlichen Lebens bei und vermitteln den Eindruck, daß die Verteidiger der »Einen Welt« die Zukunft gepachtet haben. Als der amerikanische Psychologe Robert Coles Mitte der siebziger Jahre Indianerreservate und Eskimoniederlassungen studierte, machte er dabei die Beobachtung, daß die durchschlagende Wirkung des amerikanischen Lebensstils sich nicht nur auf solche Dinge wie Coca-Cola, Pizza oder Hi-Fi-Anlagen beschränkte, sondern schon die Bereiche psychologischer Manipulation einbezog. Er entdeckte in einem Hopi-Reservat vervielfältigte Handzettel mit dem Text: »Bedrückt Sie etwas? Schweigen Sie nicht... Kommen Sie, sprechen Sie mit uns, und Sie werden sich hinterher viel besser fühlen.« Auf einem Anschlagbrett der Indianer in der Nähe des Rio Grande war ein Flugblatt mit folgendem Inhalt angebracht: »Schlafstörungen? Übergewicht? Eheprobleme? Kommen Sie, und sprechen Sie darüber! Sie werden sich besser fühlen.« Diese Ermunterungen sind um so erstaunlicher, als Eskimos und Indianer wenig geneigt sind, ihre Gefühle Fremden gegenüber zu äußern.

Man kann dennoch vermuten, daß die Homogenisierung, sei sie nun technologischer oder psychologischer Art, nur begrenzte Gesichtspunkte des Lebens und der Umwelt beeinflussen wird — zum Beispiel das Transportwesen, den Tourismus, die Qualität von Luft, Wasser und Nahrungsmitteln sowie die Dienstleistungen, die für viele Menschen alltäglich sind.

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Ungeachtet der ethnischen Zugehörigkeit wird sich der Reisende zunehmend durch ein sich ständig wiederholendes Netz von Durchgangsstraßen und Fluggesellschaften bewegen, um am Bestimmungsort ähnliche Labyrinthe von Empfangshallen, Aufzügen, Schlafzimmern, Snackbars und Restaurants — sogar von Heilkundigen und Handlesern — anzutreffen. Diese Uniformität wird langweilig sein, aber sie wird dem Reisenden auch helfen, sich an einem neuen Ort zu orientieren und dort bequem oder zumindest unbeschwert leben zu können. Auf diese Weise spart der Reisende Energien, um das zu entdecken und zu genießen, was an jedem Aufenthaltsort neu oder interessant ist.

Eine starke Tendenz zur Gleichförmigkeit ist daher offensichtlich auf der ganzen Welt zu beobachten, aber es gibt gleichzeitig einen gegenläufigen Trend in Richtung Regionalismus. Die »Eine Welt« der Zukunft wird aus vielen unterschiedlichen lokalen Welten zusammengesetzt sein, weil die Qualität unseres Lebens stark von emotionalen, ästhetischen und geistigen Befriedigungen abhängt, die aus den Kontakten resultieren, die jeder von uns mit seiner räumlichen und sozialen Umwelt macht. Gerade der Trend zur Uniformität und das von ihr erzeugte Gefühl der Langeweile führen dazu, daß sich viele von uns für die besonderen Eigentümlichkeiten der Orte, an denen wir leben, ihre überlieferten Lebensstile und die immer noch unerforschten Möglichkeiten, die sie bieten, interessieren. Meiner Meinung nach wird die Kultivierung des Heimatgefühls an Bedeutung gewinnen, je mehr unsere öffentlichen Aktivitäten und Erfahrungen globalisiert werden.

Der Wunsch, anders zu sein, mag sehr wohl eine Rolle im weltweiten Trend zum Regionalismus spielen. Ethnische Gruppen, Anhänger sozialer Überzeugungen und Kulte sehr verschiedener Art nehmen jede sich bietende Gelegenheit wahr, ihre Identität zu propagieren. 

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Eine vor kurzem erschienene Ausgabe des Magazins <Daedalus> trägt den Titel <The End of Consensus> (Das Ende der Übereinstimmung) und umschreibt damit die Tatsache, daß praktisch alle Glaubens- und Geschmacksrichtungen, die bis heute der Kitt der westlichen Gesellschaft gewesen waren, nun im Begriff sind, auseinanderzubrechen, und dabei eine Art globaler Anarchie erzeugen. Folklore, Heimatvereine und -museen sind in Mode und gleichzeitig ein Indiz dafür, daß das regionale Zugehörigkeitsgefühl sowohl in biologischer als auch in sozialer Hinsicht der Menschheit wesensverwandter ist als ein wurzelloses Herumtreiben oder die Zugehörigkeit zu einem Nationalstaat.

Weitreichende Völkerwanderungen haben die Geschichte hindurch stattgefunden, aber die Wanderer haben sich schließlich niedergelassen und das ortsansässige Bauerntum, Bürgertum und die Aristokratie gebildet. Die Sachsen und Nordländer, die im frühen Mittelalter das westliche Europa plündernd durchzogen und von der französischen Normandie aus unter Führung Wilhelm des Eroberers in England landeten, wurden im Laufe von ein paar Jahrhunderten zu jenen äußerst gesitteten Menschen, die wir als Anglosachsen bezeichnen. Größere Bevölkerungsverschiebungen gibt es immer noch, aber sie währen nicht lange. Selbst in den Vereinigten Staaten führt die vielgepriesene Mobilität schließlich doch zu einer lokalen, regionalistischen Kultur. Es dauert nicht lange, bis Skandinavier konservative Mittelwestler, Italiener und Mexikaner loyale Kalifornier und Puertoricaner gebildete New Yorker werden. Die Dichter schreiben über die »freie Landstraße«, aber nur wenige Leute wählen die Freiheit des Landstreicherlebens. Häuser auf Rädern trifft man in großer Zahl überall in den Vereinigten Staaten an, aber die meisten sind fest auf Wohnwagen-Parkplätzen installiert und fahren nicht auf den Highways.

Der Regionalismus in den Vereinigten Staaten ist von besonderem Interesse, da seine historischen Ursachen jüngeren Datums sind. Der Prozentsatz der Einheimischen ist fast überall sehr klein, aber die Identifikation mit dem Ort ist aller Wahrscheinlichkeit nach unter den Neuankömmlingen am meisten ausgeprägt. In den meisten Fällen ist nicht der Geburtsort, sondern die bewußte Entscheidung ausschlaggebend für den Lokalpatriotismus. 

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Eine größere geographische und ökonomische Mobilität hat den Spielraum für die Auswahl des Wohnortes vergrößert, und es ist zu erwarten, daß bewußte Entscheidungen den Wunsch, nein, das Verlangen der Leute nach einer lokalen Verwaltung ihrer Gemeinschaften und nach Verfügungsgewalt über ihre Umwelt verstärken werden.

Bei den indianischen Ureinwohnern und während der frühen Phasen der europäischen Eroberung war der Regionalismus auf dem amerikanischen Kontinent hoch entwickelt. Das Regionalgefühl war jedoch bei denjenigen, die im 19. und 20. Jahrhundert ins Land kamen, schwächer beziehungsweise gar nicht vorhanden. Diese Menschen hatten in Europa ihre kulturelle Identität während langer Perioden der Seßhaftigkeit in einer Region erworben. Aber die Einwanderer, die die neuen Amerikaner wurden, leiteten ihre kulturellen Wesenszüge aus der bewußt getroffenen Entscheidung ab, ihre Vergangenheit abzustreifen und gewisse Lebensweisen und soziale Ordnungsvorstellungen anzunehmen, die sie in Amerika zu finden hofften. Ob sie von einer einsamen schwedischen Farm oder aus einem überfüllten polnischen Getto stammten, so sehnten sich die neuen Immigranten doch alle nach einer demokratischen Lebensweise im »Land der unbegrenzten Möglichkeiten«. Sie hatten sich von vornherein entschieden, Amerikaner zu werden, und das war für die Festlegung ihres Geschmacks und ihres Verhaltens wichtiger als die Besonderheiten der Region, aus der sie stammten oder in der sie sich häufig zufällig und zeitlich begrenzt niederließen. So schrieb Talleyrand in einem seiner Briefe während seines mehrmonatigen Aufenthalts in den Vereinigten Staaten: »Ist nicht jeder, der hier seine Heimat sucht, von vornherein ein Amerikaner?« Er hatte beobachtet, daß die meisten europäischen Siedler in den Vereinigten Staaten sofort Ansichten und Lebensweisen übernahmen, die ihn im Vergleich zur europäischen Kultur eher an ein Leben in der Wildnis erinnerten.

In seinem erstmalig 1893 veröffentlichten und bekannten Aufsatz <The Significance of the Frontier in American History> (Die Bedeutung der Grenze für die amerikanische Geschichte) hat der amerikanische Historiker Frederick Turner die Theorie formuliert, daß die kulturellen Grundzüge der Menschen in den Vereinigten Staaten und die Besonderheiten ihrer Institutionen im großen Maße von den Erfahrungen der Siedler geprägt wurden, als sie von der Atlantik zur Pazifikküste zogen.

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Er verwendet das Wort „frontier" — Grenze — nicht in seiner ursprünglichen Bedeutung zur Bezeichnung einer Grenzlinie zwischen zwei geographischen Einheiten, sondern um ein kaum begrenztes Gebiet zu kennzeichnen, das sich ständig mit den Wanderbewegungen der Siedler veränderte, und in dem die Wirtschafts- und Verwaltungsform sowie die Lebensweise ungefestigt waren und sich spontan entfalteten. Heute wird von Historikern bezweifelt, ob die von ihm gesehene »frontier«-Erfahrung tatsächlich die formative Rolle in der amerikanischen Psyche gespielt hat, wie er es behauptete. Sicher ist aber, daß das amerikanische Leitbild tief vom »frontier«-Mythos geprägt wurde und daß die soziale Mobilität sowie der Pioniergeist allgemein als Bestandteile des amerikanischen Ethos angesehen werden.

Nun, da der Kontinent vollständig besiedelt ist, scheint der Regionalismus in den Vereinigten Staaten wieder einmal an Boden zu gewinnen. Turner selbst hatte vorausgesehen, daß ein solcher Wandel eintreten würde. In einer 1932 veröffentlichten Abhandlung hat er geltend gemacht, daß »die nationale Führung dazu gezwungen sein wird, sich widersprechenden regionalen Interessen anzupassen«. Er behandelte hauptsächlich die ökonomischen und politischen Differenzen zwischen den verschiedenen Regionen, es gibt jedoch keinen Zweifel daran, daß die regionalen Unterschiede noch ganz andere Gesichtspunkte des Lebens berühren, angefangen von den äußerst persönlichen Geschmacksrichtungen und kulturellen Überzeugungen bis hin zu den wichtigen technischen Verfahrensweisen.

Die Entwicklung des kulturellen Regionalismus wird vermutlich noch dadurch beschleunigt, daß immer mehr Menschen es sich heute leisten können, die Region zu wählen, in der sie leben wollen. Mehr noch: Viele Menschen suchen sich nicht nur ihren Platz, sondern schaffen ihn sich auch. Sie sind an den sozioökonomischen un kulturellen Möglichkeiten des Ortes interessiert, den sie sich zum Wohnort gewählt haben. 

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Einige Leute sehnen sich danach, an einem Strand in Florida auszuspannen, andere wollen die aufregende Atmosphäre des weiten Westens erfahren, und wieder andere würden lieber Brennholz in New Hampshire sägen. Das Streben nach Mobilität könnte aber durch die Ansicht, daß die Zivilisation nicht von einer ständigen Bewegung abhängt, gedrosselt werden, und die Kultur wird wahrscheinlich dort eher zur Entfaltung und Differenzierung kommen, wo die Bevölkerung erdverbundener ist.

Andere Gründe werden wahrscheinlich die Skala regionaler Unterschiede in naher Zukunft vergrößern. Die Verknappung und die Kosten bestimmter fossiler Brennstoffe werden uns zur Nutzung anderer Energiequellen veranlassen, die ständig verfügbar und umweltfreundlich sind, wie zum Beispiel die Solarenergie, Windenergie, Bioenergie und die Energie aus Gezeiten und Wellen. Aus einer Vielzahl von Bedingungen tendieren diese potentiellen Ressourcen ständig verfügbarer Energiequellen dazu, lokal gebunden zu sein, eine Tatsache, die voraussichtlich Standortveränderungen verschiedener Industriezweige mit sich bringen wird. Zum Beispiel wird die ökonomische Nutzbarmachung der direkten Sonnenstrahlung mittels Reflektoren möglicherweise den Energiebedarf neuer Industriezentren im Südwesten Amerikas decken können, während andererseits der umfangreiche Einsatz von Bioenergie bei der Industrialisierung des Südostens und Nordwestens vorzuziehen wäre.

Ein weiterer Faktor, der in der Vergangenheit zur Uniformität beitrug, war die einseitige Konzentration auf verschiedene Formen der Landwirtschaft und Viehzucht in darauf spezialisierten Teilen der Welt. Dieser Trend darf sich jedoch nicht fortsetzen. Die völlige Abhängigkeit von der Nahrungsmitteleinfuhr ist selbst für die Vereinigten Staaten mit Gefahren verbunden. Zum Beispiel besteht die Möglichkeit, daß in Kalifornien, Texas und anderen Nahrungsmittel produzierenden Staaten die Bevölkerungen derart zunehmen, daß sie die meisten der von ihnen produzierten Nahrungsmittel selbst benötigen und sie deshalb nur noch wenig an die nordöstlichen Staaten liefern können. 

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Darüber hinaus könnte der Transport bestimmter Nahrungsmittel über weite Strecken unter Umständen aufgrund von Arbeitskonflikten und unzumutbaren Energiekosten unzuverlässig werden. Diese Aussichten lenken die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß es wieder einmal in naher Zukunft wünschenswert sein könnte, bestimmte Feldfrucht- und Vieharten zu züchten, die den Regionen angepaßt sind. Eine teilweise Unabhängigkeit in der Nahrungsmittelproduktion wird tatsächlich von den meisten Ländern der Welt zunehmend als eine Frage der nationalen Sicherheit eingestuft.

Von daher können die Menschen, abhängig von den in ihrer Region vorhandenen Ressourcen und den Zeitumständen, ihre wesentlichen Bedürfnisse auf vielfältige Weise befriedigen. Während Tiere und Pflanzen auf die Herausforderungen ihrer Umwelt nahezu ausschließlich mit ihrer biologischen Anpassungsfähigkeit auf Veränderungen reagieren, reagieren Menschen üblicherweise auf solche Herausforderungen, indem sie ihre sozialen Gewohnheiten und auch ihre Umwelt so verändern, daß diese nicht allein ihren eigenen biologischen Bedürfnissen besser angepaßt sind, sondern auch ihren Vorstellungen.

Jeder Zivilisationstypus wird von seiner eigenen Lebensweise und von der Art, wie er seine natürliche Umwelt formt, gekennzeichnet. In der Vergangenheit haben sich zum Beispiel überall auf der Erde naturwüchsig und spontan regionale Häuserformen entwickelt, die von klimatischen Bedingungen, lokalen Ressourcen und sozialen Gewohnheiten geprägt waren. Diese Architektur ohne Architekt war malerisch und trug viel zur Atmosphäre des jeweiligen Ortes bei. Sie wurde im Verlauf des 20. Jahrhunderts weitgehend von der eher eintönigen internationalen Architektur abgelöst, als die niedrigen Kosten für Erdöl und Erdgas Heizungen und Klimaanlagen wirtschaftlich machten. Die ständig steigenden Kosten für diese fossilen Brennstoffe und andere Energieträger führen wieder einmal zu neuen Formen in der Architektur und zu einer Planung, die den lokalen und natürlichen Bedingungen sowie dem modernen Lebensstil angepaßt sind.

Die Bandbreite dieser sozialen Anpassungsfähigkeit ist so groß, daß kein Buch einen umfassenden Überblick geben könnte. 

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Ich werde sie daher mit Hilfe zweier gegensätzlicher Beispiele gegenwärtiger menschlicher Siedlungsformen verdeutlichen, bei denen eine extrem hohe Bevölkerungsdichte und Raumknappheit spezielle und schwierige umweltbedingte Probleme aufwarfen. Das eine Beispiel stellen die Niederlande dar, eine Nation, die das Problem einer ständig wachsenden Bevölkerungszahl dadurch löste, indem sie die technologisch am höchsten entwickelte horizontale Landschaft schuf. Das andere Beispiel ist Manhattan (ursprünglich New Amsterdam genannt!), wo dieselben Probleme zur Errichtung der vertikalsten Stadt der Welt führten.

 

     Die Niederlande, Land der Horizontale, von Menschenhand geschaffen   

 

Die Gestalter des römischen Imperiums haben sicherlich das kleine Gebiet im Nordwesten Europas, das jetzt vom niederländischen Königreich eingenommen wird, nicht als vielversprechende Gegend für die Entwicklung einer Kultur angesehen. Wenige Teile der Welt schienen hinsichtlich des Klimas, der Fruchtbarkeit des Bodens und anderer Ressourcen so armselig von der Natur bedacht worden zu sein. 

Julius Cäsar gewann dennoch Interesse an den »Tieflanden«, und römische Legionen besetzten zu Beginn des christlichen Zeitalters große Teile dieses Gebiets. Die Landschaft war strategisch wichtig für die Verteidigung der westlichen Provinzen des Weltreichs, da sie die Route deckte, durch die die germanischen Barbaren aus ihren Wäldern in die fruchtbaren und kultivierten Landstriche Galliens und Südeuropas eindringen konnten. Die Mittelmeerbewohner müssen die »Tieflande« als höchst abstoßend empfunden haben: nur ödes Heideland, stinkende Sümpfe und naßkalte Wälder, ungeeignet für die Landwirtschaft und ohne Bodenschätze. Das Nordseeklima ist bekanntlich in dieser Region am unangenehmsten — kalt, feucht und fast immer windig, zuweilen auch entsetzlich stürmisch. Das Land wurde dennoch schon sehr früh durch em umfangreiches System von Deichen, Uferdämmen und Pumpen gegen eine Überschwemmung durch die Nordsee und die Flüsse gesichert.

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Die in den Niederlanden reichlich vorhandenen Torfmoore und viel übriges Land liegen unter dem Meeresspiegel. Der Großteil des restlichen Landes setzt sich aus flachen, sandigen Ebenen mit gelegentlichen Hügelketten, die selten eine Höhe von 45 Metern überschreiten, zusammen. In praktisch allen Teilen des Landes kann der Boden erst nach aufwendigen Urbarmachungs- und Düngemethoden landwirtschaftlich genutzt werden. 

Obwohl die Niederlande zur Zeit der spanischen Herrschaft im 16. und 17. Jahrhundert zu einem der reichsten Länder der Erde mit einer äußerst produktiven Landwirtschaft wurden, hat eine Bemerkung, die dem Herzog von Alba zugeschrieben wird, einige Berechtigung: »Holland ist so nah der Hölle, wie es nur geht.« Es liegt jedoch viel mehr Wahrheit in einer anderen Bemerkung eines Franzosen: »Gott schuf die Erde, aber der Holländer machte Holland.« Das Wort »machte« trifft den Kern, denn die Niederlande sind eines der spektakulärsten Beispiele für die Fähigkeit der Menschheit, das Antlitz der Erde zu verwandeln und eine künstliche Umwelt zu schaffen, in der Tiere und Pflanzen gedeihen können und sich eine Kultur entwickeln kann — ein Prozeß, den ich an anderer Stelle das Umwerben der Erde durch die Menschheit oder die kreative Symbiose zwischen Erde und Menschheit genannt habe.

Mit diesem Kapitel verfolge ich die Absicht, einen kurzen Überblick über die Schritte zu geben, mit denen die Niederländer ihre außerordentliche Landschaft und eine blühende Kultur aus dem geschaffen haben, was Soziologen scherzhaft ein undankbares Stück Land genannt haben. Ein paar Einzelheiten aus Geschichte und Vorgeschichte werden aufzeigen, daß sich die einzigartigen Erscheinungsformen städtischer Ansiedlungen in den Niederlanden nach und nach aus sehr primitiven Landbearbeitungsverfahren ergeben haben.

Trotz der wenig einladenden natürlichen Bedingungen hat der Mensch dennoch vor über 10000 Jahren entlang der Küste gesiedelt. Ackerbau und Viehzucht waren schon in der Jungsteinzeit bekannt, und die frühen Siedler brannten die Heide ab, um neues, zartes Gras für ihre Schafherden zu erhalten. Diese Praxis und die Überweidung zerstörten nach und nach große Teile der Vegetation und legten ausgedehnte Flächen des darunter befindlichen Sandes frei. Sehr viel Sand wurde vom Wind landeinwärts geweht, wo er in vielen Gegenden Dünen bildete.

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Lange vor den Römern hatten Volksstämme, die aus Mittel- und Osteuropa kamen, ziemlich ausgedehnte Siedlungen auf dem Marschland, das knapp 30 Zentimeter über dem Meeresspiegel lag, errichtet, und zwar besonders in den nördlichen Gegenden, den heutigen Provinzen Groningen und Nordfriesland. Da diesen Ansiedlungen ständig Überschwemmungen drohten, wurden sie wiederholt durch Torfund Lehmschichten erhöht. Diese Zufluchtsanhöhen, Warften oder Wurten genannt, baute man immer zahlreicher. Zunächst boten sie nur genug Raum, um einen Bauernhof oder einen kleinen Weiler zu schützen, und dienten als Zuflucht für das Vieh während einer Überschwemmung. Die nach und nach an Zahl und Höhe zunehmenden Warften ergaben das Grundmuster für die zukünftige Entwicklung der meisten holländischen Städte. Die Bevölkerungszahl muß sogar noch vor der christlichen Zeitrechnung beachtlich zugenommen haben, was aus der Tatsache ablesbar ist, daß allein der germanische Stamm der Bataver, der in den nördlichen Teilen Hollands siedelte, den römischen Legionen Julius Cäsars 10000 Mann als Hilfstruppen stellen konnte.

Um 350 n. Chr. verschwand die römische Vorherrschaft völlig aus den Niederlanden und hinterließ bis auf einige Siedlungen und schwache Hinweise auf das Schachbrettmuster der Landschaft kaum Spuren. Während der wechselvollen Jahrhunderte, die folgten, siedelten sich Friesen, Sachsen und Franken überall in den Niederlanden an. Die niederländische Bevölkerung stammt zum überwiegenden Teil von ihnen ab. Wie ganz Europa, so litten auch die Niederländer während des frühen Mittelalters unter der Invasion der Wikinger und anderer nordischer Stämme.

Nach Beendigung der Völkerwanderung setzte in den Niederlanden eine Phase des relativen Friedens und des geregelten Lebens ein, was die schnelle wirtschaftliche Entwicklung begünstigte. Da große Teile des Landes nur unzureichend durch Sanddünen vor der Nordsee geschützt waren, war eine umfassende Beherrschung des Meeres und der Flüsse nahezu überall lebensnotwendig.

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Dieser Prozeß begann, als die frühen Siedler lernten, gegen Sturmfluten und Flußüberschwemmungen Warften als Zufluchtsstätten zu errichten. Dieses Verfahren war im 8. oder 9. Jahrhundert schon so weit ausgereift, daß entlang der Westküste Städte wie Leiden und Middelburg auf künstlichen Hügeln errichtet werden konnten, die einen ungefähren Durchmesser von 100 Metern besaßen und bis zu 15 Metern hoch waren — richtige Hügel in dieser sehr flachen Landschaft.

In den meisten Gegenden ist der Grundwasserspiegel so hoch, daß die einzige Möglichkeit, ein neues Haus zu errichten, darin besteht, den Bauplatz speziell dafür vorzubereiten. Dieser erschwerende, aber notwendige Umstand besaß den Vorteil, das ungeplante Wachsen und Auswuchern der Städte zu verhindern. Im Gegensatz zur chaotischen städtischen Entwicklung in den gesamten Vereinigten Staaten und großen Teilen Europas gibt es in den Niederlanden einen klaren Bruch zwischen Stadt und Land, so daß man urplötzlich von städtischen Umgebungen in ländliche Idylle gelangen kann. Nach nur kurzer Fahrt aus nahezu jeder Stadt kann man immer einen Platz mit einem Fluß oder Kanal erreichen, wo man im Gras sitzen, wildwachsende Blumen bewundern und viel mehr Vogelarten beobachten kann, als man wahrscheinlich jemals in anderen westlichen, industrialisierten Ländern zu sehen bekommt.

Der Schutz vor der See hängt stark von Deichen ab. Die ersten bedeutenden wurden im 8. oder 9. Jahrhundert gebaut. Die meisten Teile des Küstengürtels sind auf diese Weise vor der See und den Flüssen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts geschützt worden. Immer und immer wieder wurden jedoch Dörfer aufgrund von Flußüberschwemmungen oder nach Deichbrüchen verwüstet und riesige Flächen bebauten Landes zerstört. Zum Beispiel sind in der Nacht vom 18. auf den 19. November 1421 durch eine starke Sturmflut, verstärkt durch einen tosenden Westwind, die Fluten bei Brock durchgebrochen und haben viel Land verwüstet. Damalige Zählungen sprechen von 72 zerstörten Dörfern und 100000 Ertrunkenen. Untersuchungen neueren Datums ergeben jedoch, daß diese Angaben möglicherweise übertrieben sind. 

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Aber die Zerstörung war dennoch so groß, daß viele Leute, auch der Adel, betteln gehen mußten und ihre Plünderungszüge die Region für einige Jahre unsicher machten. Das ist nur ein Beispiel für die zahllosen Katastrophen, die im Laufe der niederländischen Geschichte durch Wind und Wasser verursacht wurden. Die zerstörerischen Fluten vom Januar 1916 und Februar 1963, auf die ich später noch zurückkommen werde, zeigen, daß die Bedrohung ständig akut ist, vor allem in den Gebieten der Provinzen Holland und Seeland. Im Verlauf der Geschichte wurden ständig und rasch neue Deiche gebaut, um die alten und zerstörten zu ersetzen, ein Unterfangen, das eine nationale Pflicht war und ist. Das Motto der Streitkräfte der Provinz Seeland »Luctor et emergo« (Ich kämpfe, und ich erhebe mich) symbolisiert insgesamt die Geisteshaltung der Niederländer.

Wie bereits erwähnt, fanden die frühen Siedler kaum guten und fruchtbaren Boden vor. Ackerland wurde insbesondere bis zum 19. Jahrhundert aus Torfmooren gewonnen, da Torf der hauptsächliche Brennstoff war, der in den Niederlanden verwendet wurde. Ein aufsehenerregendes Meisterstück dieser Art von Landgewinnung aus einem ausgedehnten Torfmoor kann man im nordöstlichen Teil des Landes bewundern. Im 17. Jahrhundert wurde mit dem Torfstechen begonnen. Dann wurde der fruchtbare, sandige Unterboden nach und nach durch Zugabe von Natur- und Kunstdünger in ertragreiches Ackerland verwandelt.

Die typischste und malerischste Form künstlich gewonnenen Ackerlandes stellen jedoch die Polder dar, die aus völlig überschwemmten Gebieten geschaffen wurden. Salz- oder Süßwasserseen werden, nachdem sie von einem Deich und einem breiten Kanal eingefaßt worden sind, leergepumpt. Der Kanal wird zuerst gegraben und die ausgegrabene Erde dazu benutzt, einen Deich um das Gebiet zu bauen, das in einen Polder verwandelt werden soll. Das Wasser wird dann in den Kanal gepumpt, der es zu einem Fluß oder in die See leitet. Polder sind normalerweise kreuzweise von kleinen Gräben durchzogen, die zur Trockenlegung dienen. 

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Die Anordnung der Wiesen und Felder, die durch die Kanäle in regelmäßige Streifen geteilt sind, erinnert an ein Gemälde von Mondrian oder, prosaischer ausgedrückt, an das Schachbrettmuster einer Stadt, auf deren Straßen es keinen Verkehr gibt. Unten im Polder zu stehen vermittelt im streng etymologischen Sinne des Wortes den extra-ordinären Eindruck, als ob die Schiffe, die sich auf dem umliegenden Kanal gegen den Himmel abheben, über Land fahren.

Die meisten der mit der Konstruktion, Wartung und Reparatur der Deiche, der Entwicklung der Dämme entlang der Kanäle und Flüsse, der Landgewinnung aus Torfmooren oder in den Poldern verbundenen umfangreichen Aufgaben wurden ursprünglich mit einfachen Werkzeugen durchgeführt. Spaten und Hacken genügten für die Bauarbeiten. Schwere Pfahlrammen, die von dreißig bis vierzig Mann starken Arbeitsgruppen bedient wurden, kamen beim Bau der Ufereinfassungen und Dämme zum Einsatz. Große Weidenkörbe, Schlitten und Ochsenkarren dienten zum Transport der Materialien, wie zum Beispiel Lehm für die Deiche und Holzstapel und Matten aus Weidengeflecht zur Verstärkung der Schutzvorrichtungen. Die Schubkarre wurde erst ziemlich spät eingeführt.

Das Abpumpen des Wassers gehörte natürlich zum schwierigsten Teil der Landgewinnung und wurde gewöhnlich durch Tausende von Windmühlen durchgeführt, deren riedgedeckte Dächer und drehende Windflügel ein Bestandteil des malerischen und anheimelnden Bildes der holländischen Landschaft wurden. Der Einsatz von Windmühlen ist jedoch jüngeren Datums als allgemein angenommen. Während vieler Jahrhunderte waren die einzigen Mittel, überschüssiges Wasser aus dem Polder zu schöpfen, die Schwerkraftdrainage, die Jocheimer und das durch Pferde- oder Menschenkraft betriebene Schaufelrad. Die frühesten Nennungen zweier windgetriebener Wassermühlen datieren von 1408 und 1414. Diese ersten Windmühlen waren klein und wenig leistungsstark. Größere und effektivere, die in der Lage waren, das Wasser in eine Höhe von 2 bis 4 Metern zu heben, wurden erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts eingesetzt. Es waren jene Windmühlen, die uns über die holländischen Landschaftsbilder so vertraut wurden.

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Es ist wohl überflüssig, zu erwähnen, daß die Wasserregulierung und Neulandgewinnung außerordentliche Anstrengungen verlangten und die Möglichkeiten einer einzigen Familie oder einer kleinen Gruppe von Familien überforderten. Der Hausbau in Gegenden, die künstlich vor der See geschützt werden mußten, erforderte große Sand- und Holztransporte und setzte daher nicht nur eine gemeinschaftliche Zusammenarbeit, sondern auch ein hohes Maß an gesellschaftlicher Organisation und Disziplin voraus. Im Mittelalter wurden strenge Gesetze erlassen, um einen siegreichen Kampf gegen das Wasser führen zu können. 

»Keine Fronarbeit ist erlaubt, wenn der Deich Reparaturarbeiten erfordert«, schreibt J. van Deen, der Historiker der niederländischen Landgewinnung. Den Deichfrieden zu brechen konnte die Todesstrafe bedeuten. »In einigen Landesteilen konnte jedermann, der seinen Arbeitsanteil verweigerte, bei lebendigem Leibe gepfählt und in einem Durchbruch vergraben werden. Die Leute, die weiter landeinwärts wohnten, mußten kommen und am Deich arbeiten. >Deiche oder weiche< war der Wahlspruch. Jeder, der unfähig war, einen Dammbruch in seinem Deichteil zu reparieren, mußte seinen Spaten in den Deich stecken und ihn dort stehenlassen. Das zeigte an, daß er seinen Hof demjenigen übereignete, der den Spaten aus dem Deich zog und sich mächtig genug fühlte, den Bruch zu schließen. Das war >das Gesetz des Spatens<.« 

Schließlich entwickelten sich Verwaltungsstrukturen, die ihre Autorität aus dem Dienst am Allgemeinwohl ableiteten. Die persönliche und die gesellschaftliche Disziplin, die zu den wesentlichsten Bedingungen der Wasserregulierung gehörten, erklären zum größten Teil die sich ergänzenden traditionellen unabhängigen und demokratischen Geisteshaltungen, die beide in so starkem Maße zur holländischen Lebensweise beigetragen haben.

Trotz des fortwährenden Kampfes gegen die Elemente und trotz unglaublich vielschichtiger politischer Probleme in und außerhalb des Landes hatten die meisten halbunabhängigen Teile der »Tieflande« zum Zeitpunkt, da sie Teile des spanischen Imperiums wurden, großen Reichtum angesammelt. Ein Maßstab ihrer Macht ist die Tatsache, daß sie sich schließlich die Unabhängigkeit von Spanien erkämpften, einem Land, das damals die größte und reichste Militärmacht Europas war. Die Holländer haben sogar während und unmittelbar nach dem Krieg gegen die Spanier sechs neue Universitäten in verschiedenen Teilen des Landes gegründet.

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Die außergewöhnlichen Errungenschaften der Niederlande sind um so erstaunlicher, wenn man berücksichtigt, daß zur Zeit des spanischen Krieges im Land nur drei Millionen Menschen lebten, die in mehr oder weniger unabhängigen Städten mit Selbstverwaltung innerhalb der sieben Provinzen wohnten. Diese Provinzen wurden zu den »Vereinigten Provinzen« zusammengeschlossen, um die spanische Vorherrschaft abzuschütteln, waren aber andererseits aus religiösen, wirtschaftlichen und allerlei anderen Gründen ständig zerstritten. Die religiösen Gesichtspunkte dieser Rivalitäten sind besonders amüsant, da sie nicht nur Katholiken gegen Protestanten, Calvinisten gegen Lutheraner einbezogen, sondern auch erbitterte Auseinandersetzungen um Lehrmeinungen zwischen den verschiedenen Gruppierungen der Calvinisten betrafen.

Die Niederlande hatten daher eine Regierungsform, die teils oligarchisch, teils republikanisch war, einzigartig in ihrer Heterogenität und aus diesem Grunde aus politischer als auch administrativer Sicht scheinbar weit weniger effektiv als die Monarchien des umliegenden Europa. In Anbetracht so vieler interner und externer Schwierigkeiten liefert der Erfolg der Niederlande aber den Beweis dafür, daß eine lokale Inangriffnahme der anstehenden Aufgaben durchaus erfolgreicher sein kann als eine nationale oder globale Regelung.

Das 16. und 17. Jahrhundert wurden als das »Goldene Zeitalter der Niederlande« bezeichnet. Der westliche Teil des Landes, insbesondere Amsterdam, war zu der Zeit Gegenstand des Neides in Westeuropa. Diese drei Millionen Menschen in ihren von der Natur so armselig bedachten sieben Vereinigten Provinzen hatten nicht nur über Spanien triumphiert, sie beherrschten auch den Weltseehandel und lenkten einen großen Teil des Weltfinanzwesens. Ihre Handelsflotte war zehnmal größer als die Frankreichs, dreimal größer als die Englands, sie war tatsächlich größer als die Englands, Spaniens und Frankreichs zusammen. Die geschäftlichen Unternehmungen führten die Handelsschiffe der Holländer von Recife bis Nagasaki, von Archangelsk bis zum Kap der Guten Hoffnung.

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Die Niederländer waren dazu auch auf allen Gebieten der Kultur führend. Rembrandt, der Maler, Spinoza, der Philosoph, und Nikolaus Tulp, der Arzt, lebten alle zur selben Zeit in Amsterdam. Der Letztgenannte ist für mich aus einem besonderen Grunde von Interesse. Er vertrat die damals unorthodoxe Lehrmeinung, daß die hauptsächliche Aufgabe des Arztes nicht darin besteht, Medikamente zu verabreichen, sondern dem Patienten zu helfen, körpereigene Abwehrkräfte, die wesentlich für die Abwehr einer Erkrankung sind, zu mobilisieren. Im nahen Delft forschte gleichzeitig Anton van Leeuwenhook (1632 bis 1723), der erste Wissenschaftler, der ein Mikroskop entwickelte, das es ihm ermöglichte, die Bewegungen von Bakterien und anderen Mikroben zu beobachten. Einige bekannte Persönlichkeiten aus dem Ausland lebten damals ebenfalls in den Niederlanden. Zar Peter der Große aus Rußland war gekommen, um den Schiffsbau zu studieren. Und der französische Philosoph Rene Descartes fand in Amsterdam den Ort, an dem er frei denken und leben konnte, was er in einem seiner Briefe so formulierte: »Welches andere Land könnte man wählen, wo alle Annehmlichkeiten des Lebens und alle nur denkbaren exotischen Dinge so ohne weiteres bereitstehen? Wo sonst könnte man eine so umfassende Freiheit genießen?«

In zwei Gemälden von Frans Hals werden zwei gegensätzliche Gesichtspunkte des holländischen Charakters festgehalten. Beide Charakterzüge trugen damals zum Erfolg der Niederlande bei. Das eine Bild zeigt die puritanische Nüchternheit der »Regenten des Altersheims von Haarlem« und charakterisiert damit den damals in allen holländischen Städten vorherrschenden Fleiß. Das andere zeigt die angeberisch posierenden »Schützen von St. Jorisdoelem« — jene säbelrasselnden Abenteurer, die die holländische Flagge rund um die Welt trugen. Die Fähigkeit zur beharrlichen Plackerei und der wagemutige Geist sind auch in der städtischen Architektur der damaligen Zeit wiederzuerkennen: Die ruhige Schlichtheit der meisten Kirchen und Armenhäuser kontrastiert mit dem Glanz und der Selbstdarstellung der Rats- und Handelshäuser.

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Die Qualitäten holländischen Lebens werden von Albert Camus in seinem Roman »Der Fall« beschworen: »Sie halten diese guten Leute für ein Volk von Advokaten und Krämern, die ihre Aussichten auf das Ewige Leben nach der Zahl ihrer Taler errechnen und deren einzige lyrische Anwandlung darin besteht, ohne ihre breitkrempigen Hüte abzunehmen. Anatomielektionen beizuwohnen. Weit gefehlt! ... Holland ist ein Traum, Monsieur, ein Traum aus Gold und Rauch, bei Tag eher rauchig, bei Nacht eher golden... Über Tausende von Kilometern streben sie Java entgegen, der fernen Insel... Holland ist nicht nur das Europa der Krämer, sondern zugleich auch die See, die See, die einen nach Zipangu trägt und zu jenen Inseln, wo die Menschen im Wahnsinn und Glück sterben. Ich liebe das Volk, das sich auf den Gehwegen drängt, eingezwängt in einen kleinen Raum zwischen Häusern und Wasser, eingekreist von Dunstschleiern, kaltem Land und einem wie ein Waschkessel dampfenden Meer. Ich liebe es, denn es ist doppelt. Es ist hier, und es ist anderswo.«

Es lebt »hier«, weil die Holländer seit urdenklichen Zeiten in einer Umgebung leben, die sie fast ausschließlich aus eigener Kraft der Natur entrungen haben. Sie sind deshalb ein integraler Bestandteil dieser Umgebung. Aber sie sind auch »anderswo«, und zwar aus zwei unterschiedlichen Gründen. Einerseits wurden die Holländer früh zu einem Teil der gesamten Welt, nicht nur weil ihre Schiffe ihnen zu einem der größten internationalen Handelserfolge verhalfen, sondern auch weil ihre technische Geschicklichkeit auf vielen Gebieten ihnen die Möglichkeit gab, an den außergewöhnlichsten Orten zu arbeiten: Sie legten die englischen Sümpfe und die russischen Moore trocken, verkauften und verbreiteten fast überall die Tulpe und andere Blumenzwiebeln, die ursprünglich aus dem Orient stammten. Sie verwandelten das Philips-Werk in Eindhoven in ein elektronisches Forschungszentrum mit Zweigstellen in vielen Teilen der Erde. 

Andererseits haben die Holländer schon so lange in einer dichtbevölkerten Umgebung gewohnt, daß sie sich ihre seelische Gesundheit nur bewahren können, indem sie — wie sie es eigentlich immer taten — den Großteil ihres Lebens in ihrer eigenen Gedankenwelt verbringen, selbstverständlich mit einem Bewußtsein von der Außenwelt, aber zumindest ebenso mit ihrer eigenen privaten inneren Welt befaßt.

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Die windgetriebenen wasserpumpenden Mühlen, die im 17. Jahrhundert die großen Landgewinnungsprojekte ermöglichten und die während des »Goldenen Zeitalters« so typisch für die holländische Landschaft waren, wurden gegen Ende des 18. Jahrhunderts erstmalig durch Dampfpumpen ersetzt. Aber erst die zu Beginn unseres Jahrhunderts erfolgte Einführung der elektrischen Pumpe ermöglichte eine der größten technischen Leistungen unserer Zeit: die Trockenlegung der Zuidersee.

Die Zuidersee war ursprünglich ein sehr flaches Gewässer, das durch fruchtbare Anschwemmungen derjenigen Flüsse verschlammt wurde, die in die Nordsee münden. Pläne, es zu entwässern und in fruchtbares Ackerland zu verwandeln, sind schon im 17. Jahrhundert erstellt worden. Sie überstiegen aber damals die technischen Möglichkeiten. Präzisere Vorstellungen wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt; die dann von dem Ingenieur Cornelis Lely dem holländischen Parlament unterbreiteten wurden 1901 angenommen. Die große Stumflut von 1916 und die durch den Ersten Weltkrieg verursachte Lebensmittelknappheit veranlaßten schließlich 1918 die Verabschiedung des Gesetzes zur Eindämmung der Zuidersee. Der Entwurf sah vor, einen Damm quer über die gesamte Mündung der Zuidersee zu errichten, um sie völlig von der Nordsee abzuschneiden und dann nach und nach trockenzulegen. Der Plan verfolgte drei Ziele: ungefähr 555.000 Hektar trockenes Land (das ist annähernd ein Zehntel des anbaufähigen Bodens der Niederlande) in mehreren großen Poldern zu gewinnen; die Küstenlinie um 300 Kilometer zu verkürzen und ein Süßwasserreservoir von 296000 Hektar zu schaffen.

Die Arbeiten an diesem Projekt wurden 1923 aufgenommen, und die letzte Lücke im Damm wurde am 28. Mai 1932 geschlossen. Auf einer Gedenktafel steht an dieser Stelle geschrieben : »Een Volk dat leeft bouwt aan zijn toekomst« (Ein Volk, das lebt, baut an seiner Zukunft). 

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Von rheinischen Basaltblöcken eingefaßt, erhebt sich die Deichkrone 7,5 Meter über Normalnull. Der Deich ist 32 Kilometer lang und besitzt eine breite Autostraße, die Friesland mit Nordholland verbindet. Er hat Schleusen für die Ein- und Ausfahrt von Schiffen. Es gibt Kanäle und eine große Pumpstation, die den Wasserpegel hinter dem Damm reguliert. Heute besteht die einstige Zuidersee aus vier Poldern und einem Süßwassersee, dem Ijsselmeer. Dieses versorgt die Menschen in den Ansiedlungen der Polder mit Trinkwasser und dient auch zur Bewässerung in Trockenperioden.

Die urbar gemacht Zuidersee bleibt ein geradezu wunderbares Beispiel, wie das Antlitz der Erde durch menschliche Erfindungsgabe und Anstrengung verwandelt werden kann. Ich besuchte diese Gegend im Herbst 1969 an einem ziemlich stürmischen Tag. Als ich dem kräftigen Wind und den gegen den Damm schlagenden Wellen zuhörte, fiel mir die Vorstellung schwer, daß es dort wenige Jahrzehnte zuvor nur Salzwasser, Fischerboote und schreiende Seemöwen gegeben hatte, wo sich nun Bauernhöfe und nette Dörfer mit sakralen Gebäuden rings um den Dorfplatz befanden. (Mit fällt jetzt ein, daß protestantische, katholische und jüdische Gemeinden in jedem Dorf vertreten sein mußten.) Ein Becher heiße Trinkschokolade in einem der kleinen Gasthöfe ließ diese Erfahrung noch mehr einem Traum gleichen.

Die letzten Großtaten der Landgewinnung sind technische Wunderwerke des 20. Jahrhunderts. Aber ihre hohe Komplexität macht bestimmte menschliche Ansiedlungen gegenüber kräftigen Stürmen und auf menschliches Versagen zurückzuführenden Unfällen noch verletzlicher als in der Vergangenheit. Aus diesem Grunde wird entlang der Deiche kontinuierlich Wacht gehalten, und aus den Erfahrungen der Vergangenheit werden Folgerungen für die Zukunft gezogen.

Am 31. Januar 1953 wurde der Wind im Verlauf des Tages zunehmend stürmischer. Um 23 Uhr brachte das Radio die Warnung, daß am folgenden Tag mit starken nordwestlichen Sturmböen, unbeständigem Wetter, Regenschauern, Hagel und Schnee zu rechnen sei. Am 1. Februar verstärkten die nordwestlichen Sturmböen die Flut, die ohnehin zu der Jahreszeit am höchsten ist, und schoben eine gewaltige Wassermasse vor sich her. 

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Die See stieg höher als jemals zuvor seit Menschengedenken, überspülte die Deiche in einigen geschützten Gegenden und durchbrach sie an vielen Stellen. Eine Bahnstrecke, die auf einer 10,4 Meter über dem Meeresspiegel liegenden Deichkrone verlief, wurde auf langen Strecken unterspült. Das Meerwasser bedeckte mehr als 1600 km2 Ackerland und Dörfer, fast 2000 Menschen verloren ihr Leben, Zehntausende von Tieren ertranken, eine ähnlich große Zahl an Gebäuden wurde beschädigt oder zerstört und das Ackerland durch das Salzwasser unbrauchbar gemacht.

Mit einem ungeheuren Kostenaufwand (sechs Prozent des Nationalbudgets) waren die Deiche innerhalb eines Jahres zwar repariert, aber es dauerte noch sieben Jahre, ehe sich die holländische Landwirtschaft völlig von der Katastrophe erholt hatte.

Nach der Katastrophe von 1953 wurde eine Delta-Kommission mit der Aufgabe eingesetzt, die Möglichkeiten zu untersuchen, die Scheide- und Rheinmündungsarme abzuriegeln und die südlichen Küstenlinien zu verkürzen. Das Delta-Projekt wurde 1957 angenommen und soll, wenn es in den achtziger Jahren fertiggestellt sein wird, die Sicherheit der südwestlichen Niederlande erheblich verbessern. Seine Hauptaufgabe besteht nicht darin, Neuland zu gewinnen wie im Falle der Zuidersee, sondern die Trinkwasservorräte des Landes zu vergrößern, das Eindringen von Salzwasser in bereits bestehendes Ackerland zu verhindern und die Inseln im Delta zugänglicher zu machen. Diese Inseln könnten dann für Industrieansiedlungen, eine intensive Landwirtschaft oder für Wohn- und Grünzonen, an denen im südlichen Teil der Niederlande ein großer Bedarf besteht, zur Verfügung gestellt werden. 

Das Delta-Projekt wurde 1976 auf Druck von Umweltschützern abgeändert. Sie hatten geltend gemacht, daß der ursprüngliche Plan den ökologischen Charakter des Mündungsgebietes einseitig und nicht mehr umkehrbar verändern würde. Die Kontroversen um die Zweckdienlichkeit des neuen, sehr viel kostspieligeren Planes dauern an und verdeutlichen, daß die Holländer immer noch dabei sind, Holland zu schaffen, stets in der Hoffnung, daß das östliche Scheide-Gebiet 1985 gegen die verheerende Nordsee abgeschirmt sein wird.

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Ein weiteres aufsehenerregendes Projekt, das noch im Entwicklungsstadium steckt, betrifft die 35 Kilometer lange Wasserstrecke, die Rotterdam von der Nordsee trennt. Obwohl die Stadt im Mai 1940 durch einen deutschen Luftangriff praktisch zerstört wurde, war der Hafen nach dem Krieg sehr schnell wieder aufgebaut, modernisiert und in einem solchen Umfang vergrößert, daß er jetzt der größte, betriebsamste und modernste Hafen der Welt ist — dank seiner nahen Lage zu den hochindustrialisierten und dichtbesiedelten Gegenden Westeuropas mit einer Bevölkerungszahl von 250 Millionen im Umkreis von 500 Kilometern.

Die außergewöhnliche Bevölkerungsdichte und das schnelle industrielle Wachstum in den westlichen Niederlanden hätten zu einer massiven Abwertung der Umwelt geführt, wenn es nicht die lokalen Eigenheiten der städtischen Entwicklung gegeben hätte. Bei nahezu sechs Millionen Einwohnern ist dieses Gebiet mit einer Bevölkerungsdichte von 1000 Einwohnern pro km2 das dichtbesiedeltste der Welt. Wenn die Vereinigten Staaten so dicht bevölkert wären wie die Niederlande, würde die amerikanische Gesamtbevölkerung so groß sein wie die Weltbevölkerung heute, nämlich vier Milliarden Menschen. Und es ist nur zu sicher, daß die Bevölkerungszahl weiter ansteigen wird.

Die meisten Menschen leben in einem hufeisenförmigen Siedlungsgürtel von Ortschaften, Städten und Vorstädten, der Randstad genannt wird und in der Provinz Holland liegt. Die Grundlinie dieses Hufeisens verläuft entlang der Nordseedünen, das offene Ende zeigt nach Südwesten. Er mißt etwa 48 Kilometer im Durchmesser und würde langgestreckt 177 Kilometer lang sein und verläuft von Dordrecht über Rotterdam, Delft, Den Haag, Leiden, Haarlem bis Utrecht.

Trotz ihres extrem hohen Industrialisierungsgrades, der Verstädterung und Übervölkerung erfreuen sich die meisten Niederländer bester Gesundheit, einer hohen Lebenserwartung und einer niedrigen Kriminalitätsrate.

Es gibt immer noch kleine unbebaute Landstriche zwischen den Städten und Ortschaften des Randstads.

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Der bemerkenswerteste und typisch holländische Gesichtspunkt besteht darin, daß im Kern ein ländliches Bild beibehalten wird. Das hufeisenförmige Gebiet zwischen den Städten und der Nordsee, genauer gesagt zwischen den Anhöhen, auf denen die Ortschaften errichtet wurden, und den Deichen und Dünen, die sie von der Nordsee trennen, bietet fruchtbares Ackerland mit gut geführten Höfen. Kühe, Enten, Schwäne, Reiher, Kiebitze und natürlich das Wasser der Kanäle und Flüsse sind überall anzutreffen. Dieser glückliche Umstand ist auf die Tatsache zurückzuführen, daß die menschlichen Ansiedlungen auf Anhöhen gebaut werden mußten und daher nicht unkontrolliert wuchern konnten, wie das in den Industriegebieten anderer Länder der Fall ist. Folglich sind Städte, Ortschaften und selbst Dörfer scharf von dem Land getrennt, auf dem sich Gräser und Blumen im Wind bewegen.

Der Wind trägt selbst zur Vielfalt der Küsten- und Landstriche bei. Er weht fast ständig, streicht über die Dünen, Ortschaften und Wiesen und bringt zu allen Jahreszeiten tiefhängende Wolken und Regen vom Atlantik mit. Er verbreitet von Zeit zu Zeit Sommerwärme oder eisige Kälte aus Mitteleuropa. Er biegt die Bäume und dreht die Flügel der wenigen, noch arbeitenden Windmühlen. Von einem tieffliegenden Flugzeug aus betrachtet, wirkt diese winzige Region mit ihren so energiegeladenen, dichten, emsigen und blühenden Ansiedlungen des Randstads trotzdem angenehmer als andere Länder, die von der Natur besser bedacht wurden. Das landwirtschaftliche Herz der Niederlande mit seinen Wiesen, kultivierten Feldern und Gewässern könnte ein gutes Modell für die soziale Organisation und Landbewirtschaftung in den verstädterten Industrieländern abgeben.

Die jüngsten Entwicklungen der Stadt Amsterdam sollen illustrieren, bis zu welchem Ausmaß die Landschaft und die Gewässer des Randstads durchgeplant sind. Der Amsterdamer Forst wurde 1934 im Südwesten der Stadt geschaffen, indem man drei Polder, die 4 Meter unter dem Meeresspiegel 'agen, dafür genutzt hat. Ein ausgedehntes Drainagerohrnetz mußte angelegt werden, um einen Grundwasserspiegel zu erhalten, der mit der Wurzelentwicklung der angepflanzten Bäume vereinbar war.

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Die durch die Trockenlegung entstandenen Seen werden zum Schwimmen und Rudern genutzt. Die Form der steilen Polderdeiche wurde zu sanfteren Hängen abgeflacht und ein künstlicher kleiner Berg errichtet. Alle Baumarten, die in Nordeuropa vorkommen, wurden angepflanzt. Hier können Leute ungehindert Spazierengehen, Fahrrad fahren, fischen oder mit ihren Booten rudern.

Paradoxerweise werden die störendsten Gesichtspunkte der Zukunft der Niederlande möglicherweise nicht auf eine Verknappung der Ressourcen oder ökonomische Schwierigkeiten zurückzuführen sein, sondern gerade auf die Erfolge der Holländer bei der Gestaltung ihres Landes und auf die sich aus diesen Erfolgen ergebenden Konsequenzen für die Sicherheit und zukünftige Lebensqualität der Holländer. Zum Beispiel hat das Wachstum der Stadt Amsterdam die Entwicklung riesiger Schlafstädte notwendig gemacht. Die auf der Westseite entstandenen Vororte erforderten eine Erhöhung des Untergrundes von mindestens 1,8 Metern. Das erfolgte, indem man den riesigen Sloterpas-Polder opferte und ihn auf einer Fläche von annähernd 1,6 Kilometern Länge und 0,4 Kilometern Breite auf eine Tiefe von 27 Metern ausschachtete. Der fruchtbare Mutterboden des Polders wurde zur Anlage von Parks, Rasen und Grünzonen verwandt. Die 19,9 Millionen m3 Sand, die zudem ausgebaggert wurden, dienten der Vorbereitung des Baulandes. Das ausgehobene Gelände wurde in einen See verwandelt.

All diese neuen Stadtentwicklungen unterscheiden sich von den traditionellen Städten und Ortschaften der Niederlande und insbesondere vom Zentrum Amsterdams, da sie weiträumige Flächen von Wasser oder Land aufweisen. Viele Menschen betrachten diesen Wandel jedoch als wenig wünschenswert, da die Vorstädte zu geleckt, zu geplant und ohne erfreuliche »Überraschungen« sind. Die fehlende holländische Gemütlichkeit legt die Vermutung nahe, daß diese Gebäude und Parkanlagen, die sicherlich von hoher technischer Qualität sind, die Art von Siedlungen sind, die von politischen Verantwortlichen »für andere Leute« entworfen werden, für sie selbst als Wohnort aber nicht in Betracht gezogen werden.

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Das Beispiel Rotterdam veranschaulicht ebenfalls technologische Triumphe, aber auch die durch sie hervorgerufenen Bedrohungen der Lebensqualität. Rotterdam kann sich zu Recht rühmen, die größten und modernsten Hafenanlagen Europas und möglicherweise der gesamten Welt zu besitzen. Aber dieser technische und wirtschaftliche Erfolg ist auf Kosten vieler anderer Werte erreicht worden. Je tiefer der neue Wasserweg ausgebaggert wird, desto größer sind die Salzmengen und giftigen Substanzen, die über das Meer einsickern und nicht nur das Trinkwasser verseuchen, sondern auch den landwirtschaftlich genutzen Boden.

Die durch die Ölraffinerien und die chemische Industrie verursachte Luftverschmutzung nimmt ständig zu. Das auslaufende Öl der Tanker verseucht die meisten Nordseestrände. Die Verseuchung durch Teer ist so weit vorangeschritten, daß die Leute es sich zur Angewohnheit gemacht haben, eine Flasche Waschbenzin und einen Lappen am Hauseingang zu deponieren, um die Schuhsohlen vor dem Eintreten zu reinigen. Viele Holländer beginnen daran zu zweifeln, daß es für weitere Öltanks, Brennereien oder Kunststoffbetriebe noch eine ökonomische Notwendigkeit oder irgendeine andere Rechtfertigung gibt. Sie fragen sich, ob sie wirklich noch ein weiteres Wachstum wünschen oder ob sie nur ständig Neues errichten, weil sie sich darauf verstehen, ohne daß eine Notwendigkeit dafür vorhanden ist.

Möglicherweise ist die Bedrohung der gemütlichen holländischen Umwelt und insbesondere des innigen Verhältnisses der Menschen zu ihren Dingen, was eigentlich den anziehendsten Aspekt des holländischen Lebens ausmachte, auf lange Sicht von größerer Bedeutung. Wird die von der modernen Technik geschaffene und erregende Umwelt jemals die aus den Bildern Rembrandts, Jan Vermeers, Pieter de Hochs und anderer Meister der Vergangenheit sprechende auserlesene und so überaus anziehende Atmosphäre besitzen — eine Atmosphäre, die während des »Goldenen Zeitalters« der Niederlande den Rest der Welt so neidisch auf die holländische Lebensweise blicken ließ?

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    Manhattan, Stadt der Vertikale   

 

Wie die Niederlande zu Beginn der christlichen Zeitrechnung erschienen Manhattan Island und die umliegenden Gewässer den Seefahrern und Entdeckern des 16. und frühen 17. Jahrhunderts wenig vielversprechend. Die ersten Europäer, die das Gebiet erstmalig zu Gesicht bekamen, waren französische und italienische Matrosen unter dem Kommando von Giovanni Verrazano, einem italienischen Seefahrer, der im Auftrag Franz' I, des Königs von Frankreich, segelte, um eine Westpassage nach Indien zu finden. Im Jahre 1524 steuerte er sein Schiff »La Dauphine« die Ostküste Nordamerikas entlang und fand das, was er als »eine annehmbare Stelle« bezeichnete, »die zwischen zwei kleinen auffallenden Hügeln (die Narrows) liegt, zwischen denen ein sehr breiter Fluß fließt, dessen Mündung sehr tief reicht«. Er segelte mit einem kleinen Boot in die Upper Bay des Hudson, den er als einen wunderschönen See beschrieb. Ein aufkommender Sturm zwang ihn jedoch auf sein Schiff zurück, wo er den Anker lichtete und weiter ostwärts segelte. Ein Jahr später, im Mai 1525, scheint Estevan Gomez, ein portugiesischer Seefahrer im Dienste der Spanier ebenfalls in die New Yorker Bucht hineingesegelt zu sein. 1570 hat Jehan Cossin, ein französischer Seefahrer aus Dieppe, Karten gezeichnet, die beweisen, daß er die äußeren und inneren Buchten der heutigen Stadt New York erforscht hatte. Keiner dieser Seefahrer ist anscheinend in diese Gegend zurückgekehrt — als hätten sie ihr keine Bedeutung beigemessen.

Im Jahre 1609 hat Henry Hudson, ein englischer Abenteurer und bei der niederländischen »Ostindien-Kompanie« angestellt, ebenfalls versucht, eine westliche Route nach Indien zu finden. Er passierte die Narrows, aber im Gegensatz zu Verrazano führte er sein Schiff »Half Moon« auf jenem Fluß bis nach Albany, der heute seinen Namen trägt. Bei seiner Rückkehr nach Amsterdam berichtete er seinen holländischen Auftraggebern, daß die von ihm angetroffenen Eingeborenen im Besitz wunderschöner Pelze gewesen wären. Das veranlaßte mehrere Amsterdamer Kaufleute, 1610 ein weiteres Schiff zur Hudson Bay zu schicken. 

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Schließlich landeten mehrere holländische Schiffe auf Manhattan Island und errichteten eine Handelsstation. Das führte zur Gründung der »Westindien-Kompanie«. Im Jahre 1624 setzte das Schiff »Nieu Nederlandt« in Amsterdam mit dreißig Familien an Bord die Segel und erreichte Anfang Mai die Mündung des Hudson River. Die meisten Kolonisten segelten jedoch den Hudson hinauf und ließen sich in der Nähe der heutigen Stadt Albany nieder. Erst im Mai 1626 wurde die erste ständige Siedlung auf Manhattan Island errichtet. Wenige Monate später kaufte Peter Minuit, der damalige Generaldirektor der holländischen Kolonie, den Indianern die Insel ab, und zwar für wertlosen Tand im Gegenwert von sechzig Gulden. Die holländische Niederlassung, New Amsterdam genannt, blühte erst unter der Verwaltung des Generaldirektors Peter Stuyvesant auf, der im Mai 1647 ankam und die Niederlassung leitete, bis er sie 1664 den Engländern übergeben mußte. Gegen Ende des Jahres 1664 wurde der Name New Amsterdam in New York umgewandelt, obwohl die Bevölkerung immer noch hauptsächlich aus Holländern bestand.

Zu Beginn des Unabhängigkeitskrieges (1775) war New York eine kleine Provinzstadt mit etwa 12000 Einwohnern, von denen die meisten Holländer oder Engländer waren. Die holländische Sprache wurde immer noch von einem hohen Prozentsatz der Bevölkerung gesprochen. Der Handel mit den Indianern und Europa, vor allem mit Fellen, war die Hauptquelle des Wohlstands. New York war während des Unabhängigkeitskrieges die überwiegende Zeit von den Engländern besetzt, aber wie berichtet wird, verabschiedete George Washington 1783 seine Offiziere in der »Fraunces Taverne« in Manhattan.

New York wurde 1785 zur Hauptstadt der Bundesregierung. Vier Jahre später, am 30. April 1789, trat George Washington das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten an. Er sprach seinen Amtseid in der Bundeshalle in der Wallstreet. Man will es kaum glauben, daß die erste bundesweite Volkszählung von 1790 eine Bevölkerungszahl von nur 33 131 Menschen aufwies.

New York war bis zum Januar 1790 die Hauptstadt der Vereinigten Staaten.

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Es war dann bis 1797 die Hauptstadt des Staates New York, bis die Hauptstadt nach Albany verlegt wurde. Manhattan, der Stadtteil, der lange Zeit seinen bescheidenen Wohlstand der Landwirtschaft und dem Pelzhandel mit Europa verdankte, erhielt eine neue Bedeutung, als der Gouverneur De Witt Clinton am 4. November 1825 feierlich den Erie-Kanal eröffnete, eine Wasserstraße, die den Hudson mit den Großen Seen verbindet. Von da an wurde der landwirtschaftlichen und industriellen Produktion des mittleren Westens ein leichter Zugang nach New York verschafft, was die Bedeutung des Hafens erhöhte. Im Jahre 1883 überquerten zwei Schiffe, die ausschließlich mit Dampfkraft angetriebenen »Sirius« und »Great Western« den Atlantischen Ozean und legten damit den Grundstein zur schnellen Verbindung zwischen Europa und dem amerikanischen Kontinent. Das führte zur wirtschaftlichen Überlegenheit Manhattans.

Die Stadt New York erstreckte sich mittlerweile auf annähernd 800 km2 Land, davon wurden elf Prozent durch Neulandgewinnung gewonnen. Getreu ihrer nationalen Wesensart begannen die ursprünglichen holländischen Siedler früh damit, in der südlichen Spitze Manhattans Sümpfe und Marschland trockenzulegen. Ende 1880 führten die Expansion der Stadt und des Handels zu einer Verknappung von Geschäftsgrundstücken im unteren Teil Manhattans. Die Grundstückspreise stiegen derart, daß nur noch hohe Gebäude Rendite abwerfen konnten. Die Architektur der Wolkenkratzer, die gerade in Chicago aufgekommen war, wurde daher sofort und umfassend im unteren Teil Manhattans aufgenommen.

Im Prinzip beruht die Wolkenkratzerarchitektur auf einer Art »Stahlskelett«-Konstruktion, bei der das gesamte Gewicht der Wände und Decken von einem Rahmengerüst aus Stahlstreben und Trägern aufgefangen wird und auf dem Fundament lastet. Wahrscheinlich hat das harte Felsgestein unter der Erdoberfläche des unteren Teils von Manhattan diese Hochhausbauweise erleichtert. In jedem Fall ist die erstaunliche Geschwindigkeit, mit der der untere Teil Manhattans mit Wolkenkratzern zugepflastert wurde, ein Kennzeichen seines Erfolgs als Handels- und Finanzmetropole.

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Diese Entwicklung begann mit der Errichtung des zehnstöckigen Hochhauses am Broadway 50, das 1889 fertiggestellt wurde. Ein Jahr später erreichte das World or Pulitzer Building in der Park Row schon 26 Stockwerke. 1908 erreichte das Singer-Gebäude am Broadway 149 mit 47 Stockwerken eine Höhe von 186,5 Metern. Im Jahre 1913 wurde das Woolworth-Gebäude am Broadway, Ecke Park Place, mit sechzig Stockwerken und einer Höhe von 237,4 Metern nicht nur das höchste Gebäude der Welt, sondern etablierte aufgrund seiner Anlehnung an gotische Formelemente einen neuen Stil, der, wie bereits erwähnt, den Eindruck vermitteln sollte, es handele sich um die Verkörperung einer Kathedrale des Kommerzes. Das Woolworth-Gebäude hielt bis 1929 den Weltrekord, bis das Chrysler-Hochhaus in der 42. Straße, Ecke Lexington Avenue, mit 77 Stockwerken die Höhe von 318,8 Metern erreichte. Dieser Rekord wurde bald von einigen anderen Wolkenkratzern übertroffen — insbesondere von dem 102stöckigen und 380 Meter hohen Empire State Building, das 1930 an der 34. Straße, Ecke 5. Avenue errichtet wurde. Die Doppeltürme des World Trade Centers, die vor kurzem fertiggestellt wurden, bestimmen jetzt mit ihren 107 Stockwerken die Stadtsilhouette des unteren Teils von Manhattan.

Ich sah Manhattan im Oktober 1924 zum erstenmal, als ich mit dem Dampfer »Rochambeau« aus Frankreich kam. Viele Schiffsreisen zwischen Europa und Amerika bis in die späten vierziger Jahre und zahlreiche Überfahrten mit der Fähre von und nach Staten Island gaben mit die Gelegenheit, häufig und in voller Stärke den poesievollen optischen Eindruck wiederzuerwecken, den ich beim erstmaligen Anblick der Stadtsilhouette vom unteren Teil Manhattans empfand.

Wenn der Reisende sich mit einem Ozeandampfer oder einer Fähre Manhattan nähert, nimmt er die Insel als ätherischen Körper wahr, der sich aus dem Wasser erhebt und in den Himmel zu steigen scheint. Diese Illusion erweckt unterschiedliche Stimmungen, die von den Wetterbedingungen und der Tageszeit abhängen. Manchmal scheint Manhattan im Nebel oder in den Wolken zu schweben und erinnert an einen zerklüfteten Berg auf einer alten chinesischen Schriftrolle.

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Oft schimmert es in köstlichen Rosa- und zarten Blautönen — eine Vision William Blakes, die an den Ufern der Neuen Welt Gestalt annahm. In der Abenddämmerung oder in der Nacht glüht Manhattan wie ein Leuchtkörper, eine flammende Fackel. Von weitem erscheint Manhattan wie eine Himmelsstadt, die in mir niemals den Gedanken an materiellen Wohlstand oder brutale Gewalt beschwört.

Dennoch sind die Hochhäuser von Manhattan, die aus der Entfernung so eindrucksvoll den ätherischen Glanz einer Traumwelt vermitteln, in Wirklichkeit eine verwirrende und überwältigende Masse aus Stahl und Stein auf hartem Felsgestein. Ihre Errichtung beruht nicht auf einem einheitlichen und gemeinsamen Streben, sondern auf der Zurschaustellung individueller Macht und individuellen Hochmuts. Wie konnten solch unkoordinierte Bestrebungen eine so ätherisch anmutende Silhouette am Himmel hervorbringen? Welch geheimnisvolles Zaubermittel hat in weniger als einem halben Jahrhundert aus dem planlosen Zusammenspiel gemeiner und individueller Kämpfe eine der ungewöhnlichsten und grandiosesten architektonischen Symphonien der Welt hervorgebracht? Die Qualität der Skyline von Manhatten verleiht der Tatsache, daß die Menschen primitive Triebe in den Glanz der Zivilisation verwandeln und Habgier in Ideelles umbilden können, auf verblüffende Weise Ausdruck. Im Verlauf der Geschichte haben sie wiederholt Besseres geschaffen, als sie geplant oder sich sogar vorgestellt haben. Werke von universalem und dauerhaftem Wert sind häufig aus Anstrengungen hervorgegangen, die eigentlich der Befriedigung primitiver materieller Bedürfnisse galten.

Über die Brooklyn Bridge nach Manhattan zu gelangen erweckt ebenfalls eine ambivalente Reaktion auf die Schöpfungen der Menschheit. Beide Seiten der Brücke werden von dichtgedrängten und hektischen Menschenmengen eingenommen, häufig in aggressiver Weise damit beschäftigt, sich um des Geldes willen gegenseitig auszubeuten, und besessen von der Jagd nach sinnlichen Vergnügungen. Aus ihrem Verhalten läßt sich schließen, daß viele sich des Himmels und der einzigartigen Erscheinungen der natürlichen und zivilisierten Umgebungen, die von der Brücke verbunden werden, anscheinend nicht bewußt sind.

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Sie stören sich offensichtlich nicht an der Brutalität des Lärms, dem grellen künstlichen Licht, der Roheit und Anonymität menschlicher Begegnungen. Autos und Lastwagen erzeugen auf dem Brückenpflaster ohrenbetäubende Schwingungen und schaffen eine metallische Hölle, in der die Menschen anscheinend dazu verdammt sind, sich mechanisch und ziellos zu bewegen. Die Brücke selbst spannt sich jedoch wie ein gigantisches, durchsichtiges Netz über den Himmel, wie eine Lyra, auf deren Saiten das Licht zu allen Tages- und Nachtzeiten das Loblied der Zivilisation singt.

Die massiven Pfeiler der Brooklyn Bridge erinnern an antike Tempel, in denen einst rätselhafte Mysterienspiele aufgeführt wurden. Diese Illusion ist bei Nacht sogar noch eindringlicher, wenn Manhattan mit seinen Millionen erleuchteten Fenstern glitzert und funkelt — jedes einzelne ein Symbol für den leidenschaftlichen Hunger nach Macht und Neuem. Auch an J.A. Roebling wird man erinnert, den Architekten der Brücke, der an einer Verletzung starb, die er sich im Anfangsstadium der Bauarbeiten zuzog, und an seinen Sohn Washington Roebling, der das Werk fortsetzte. Dessen Gesundheit wurde von der erdrückenden Last seiner Verantwortung ruiniert, und dennoch hat er, obwohl bereits gelähmt, den Verlauf der Arbeiten von seinem Schlafzimmerfenster aus gelenkt. Das Leben der Roeblings, das der Errichtung dieses poetisch anmutenden Meisterstücks aus Stahl und Stein gewidmet war, versinnbildlicht das Menschengeschlecht auf seinem Höhepunkt — ein Menschengeschlecht, das sich wenig um Gesundheit und Bequemlichkeit kümmert, sondern weit mehr um verdienstvolle und würdige Ziele.

Obwohl Manhattan die nationale Hauptstadt und dann für wenige Jahre die Bundeshauptstadt des Staates New York war, wurde es im Verlauf des 20. Jahrhunderts zur Hauptstadt der Welt — zuerst in den Köpfen der Menschen, dann offiziell als Sitz der Vereinten Nationen. Manhattan erwarb seine Berühmtheit nicht nur aufgrund seines Wohlstands, seiner politischen Macht und der Verschiedenartigkeit seiner kulturellen Institutionen einschließlich der Vielfalt seiner Baustile, sondern weil es die Hoffnungen und Erwartungen verkörperte, die mit dem modernen Leben verknüpft werden.

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Jede berühmte Stadt hat ihre eigenen charakteristischen Besonderheiten, die das Image in der Öffentlichkeit bestimmen. Manhattan ist seit mehr als einem Jahrhundert das Traumland für unzählige Millionen von Menschen auf der ganzen Welt gewesen. Diese Menschen träumten nicht von einem Ort des Friedens und der Sorglosigkeit, sondern von einer Stadt, in der sie ihr Glück schmieden konnten — ein Freiheitsraum mit unbegrenzten Möglichkeiten, der ihnen die Chance bot, ihre Vorhaben zu verwirklichen. Während die Wolkenkratzer das Ergebnis egoistischer Bestrebungen nach Macht und materiellem Wohlstand sind, vermittelt die Stadt nicht nur brutale Gewalt, und dies vermutlich deshalb, weil ihre vertikalen emporstrebenden Linien das Bemühen ausdrücken, der rauhen Wirklichkeit durch die Flucht in den Himmel zu entkommen.

New York ist kein Ergebnis einer bewußten Planung. Die subtile Komplexität des Stadtbilds von New York ergab sich aus dem Zusammenprall von höchst unterschiedlichen Menschen, die über Manhattan hinaus allmählich die verschiedenartigen natürlichen Rahmenbedingungen der fünf Stadtbezirke schufen. Die New Yorker Erfahrung stellt daher trotz ihrer lokalen Begrenztheit ein Vorbild für den gesamten Globus dar. Während eine große Vielfältigkeit die Komplexität und Anzahl der Probleme an jedem beliebigen Punkt vergrößert, bietet sie gleichzeitig auch originelle und fruchtbare Lösungen gerade für die Probleme, die sie verursacht.

Alle großen Städte setzen sich aus verschiedenen menschlichen Gruppierungen zusammen, aber sie werden normalerweise erst dann bekannt, wenn sie ihre verschiedenen ethnischen Subkulturen assimiliert haben. Das trifft auf New York nicht zu, nicht nur weil die ethnische Struktur der Stadt extrem komplex ist und sich ständig verändert, sondern auch weil Manhattan zu einem Zeitpunkt eine weltweite Führungsposition einnahm, als ein sehr hoher Prozentsatz der Einwohner noch seine ursprüngliche ethnische und kulturelle Identität bewahrt hatte.

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Derjenige, der den Ausdruck Schmelztiegel erfand, hat seinen Fuß niemals in dieses Land gesetzt. Wenn er hier gelebt hätte, hätte er entdeckt, daß die Menschen von New York nicht von der Gleichmacherei eines Schmelztiegels zusammengehalten werden, sondern paradoxerweise gerade von bestimmten Verhaltensmustern, die es ihnen ermöglichen, getrennt voneinander zu leben, wann immer sie dies wünschen — als Gruppe oder als Individuum. Sie haben ihre Identität nicht in einem Schmelztiegel verloren, statt dessen wirken sie eher wie Einzelteilchen eines menschlichen Mosaiks. Sie können sich im Bedarfsfall zusammentun wie zum Beispiel während des Stromausfalls 1965, aber gewöhnlich ziehen sie es vor, als unabhängige Einheiten zu agieren. Sie lassen es nicht zu, daß der Spaß an der Gemeinschaft ihr Bedürfnis nach Individualität und Privatsphäre beeinträchtigt.

Die Unterschiedlichkeit der Menschen hat natürlich viele Schattenseiten, aber auch nützliche Folgen. Die von ihr verursachten sozialen Spannungen führen zu einer Suche nach Verhaltensweisen und Regeln, die allen Bewohnern, unabhängig von Religion, Rasse, Alter und Geschlecht, gleiche Rechte einräumen. Die menschliche Unterschiedlichkeit macht Toleranz zu mehr als einer Tugend, sie ist eine lebensnotwendige Voraussetzung.

Die Koexistenz verschiedener kultureller Gruppen führt zudem zu einer Herausbildung von in sich geschlossenen konkurrierenden Einheiten, die die Stärke einer Gemeinschaft insgesamt erhöhen. Die Kultur der Weißen kann nur gewinnen, wenn sie von der Kultur der Schwarzen ergänzt wird, der irische Witz, wenn er durch den jüdischen ergänzt wird, die protestantischen Religionen, wenn sie durch die Marien- und Heiligenverehrung der römisch-katholischen Kirche bereichert werden. Die soziale Evolution schreitet um so rascher voran, wenn verschiedene Kulturen enge Beziehungen zueinander aufbauen und Informationen und Güter austauschen können, selbst wenn jede ihre Eigenheiten bewahrt. Das Vorhandensein zahlreicher menschlicher Gruppen innerhalb New Yorks erleichtert und bereichert darüber hinaus sehr stark menschliche Begegnungen, die für ein wirtschaftliches und kulturelles Wachstum von Bedeutung sind.

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Menschen aus aller Welt kommen nach New York, um am überschäumenden städtischen Leben teilzuhaben. Aber die natürliche Umgebung der Stadt ist mindestens ebenso vielfältig wie die von Menschenhand geschaffene Umwelt. New York besitzt 930 Kilometer Wasserlinie entlang des Ozeans und der Flußläufe Hudson River, Harlem River, East River. Keine andere Stadt kann sich mit der Mannigfaltigkeit der New Yorker Gewässer vergleichen. Die Vielfalt der geologischen Formationen ist ebenso erstaunlich und kommt in der Verschiedenartigkeit der Wälder und Fluren in den fünf Stadtbezirken zum Vorschein. Je nach Jahreszeit bietet New York ein äquatoriales oder arktisches Klima mit allen zwischen diesen Extremen liegenden Abstufungen — ganz abgesehen von den zahlreichen Mikroklimaten, die durch die verschiedenen Hochhäuser und die Luftverschmutzung entstanden sind.

Wie die menschliche Mannigfaltigkeit, so gestaltet auch die Vielfältigkeit der Umwelt das Leben in New York verwirrend und traumatisierend, aber es bietet eine enorme Bandbreite von Erfahrungsmöglichkeiten, aus denen alle Menschen wählen können, um ihre eigene selbstbestimmte Persönlichkeit zu bilden und zu fördern. Die Vielfältigkeit der Umwelt fördert keineswegs die Bequemlichkeit, aber sie hilft dem Menschen herauszufinden, wer er ist, was er kann und wie er werden will. New Yorker Individualisten können an der endlosen Flut öffentlicher Ereignisse teilnehmen, wenn sie vor sich selber fliehen wollen. Aber sie können ebenso Schutz in der Anonymität finden, wenn sie die Einsamkeit suchen, die für eine schöpferische Arbeit wesentlich ist.

Die Welt nähert sich einem Zeitpunkt, an dem Reiseerschwernisse die Erschließung von Freizeitmöglichkeiten in der Nähe des Wohnortes zwingend erfordern. New York ist von der Natur mit den verschiedensten Landschaftsformen und Gewässern so großzügig bedacht worden, daß es sich auch in dieser Hinsicht an die Weltspitze setzen könnte. Es könnte innerhalb der eigenen Stadtgrenzen eine große Vielfalt von quasi-natürlichen Umgebungen für fast alle Aktivitäten und Vorlieben schaffen. Auf diese Weise könnte ein Rahmen entstehen, in dem jeder seinen selbstgewählten Lebensstil ausleben kann.

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Während ich bisher die Vorteile der Mannigfaltigkeit betont habe, bin ich mir gleichzeitig der mit ihr verbundenen Schwierigkeiten bewußt. Sie ist der Ursprung vieler Konflikte und beinhaltet die Tendenz, die Welt der Dinge und die Welt der Menschen ineffizient und unbequem zu machen. Aber ich bin der Überzeugung, daß Mannigfaltigkeit auf lange Sicht der Effizienz und Bequemlichkeit, ja, selbst der Ruhe absoluten Friedens vorzuziehen ist. Ohne Mannigfaltigkeit ist Frieden lediglich ein leeres Wort; Menschen und Gesellschaften können sich nicht weiterentwickeln; die Menschen sind nicht wirklich frei und können nicht im vollen Umfang kreativ sein, wenn ihnen nicht viele Wahlmöglichkeiten zur Verfügung stehen.

Menschliche und umweltbedingte Ungleichheit führen zu schmerzlichen Wandlungs- und Entwicklungsproblemen — Problemen, die in der Tat fast überall auf der Welt auftreten, wenn auch normalerweise mit zeitlicher Verschiebung und geringerer Intensität als im Falle New Yorks. Beim Versuch, diese aus der Ungleichheit resultierenden Probleme zu lösen, fungiert New York als Versuchsstadt für die übrige Welt. Experimente schenken keine Sicherheit, sondern eher Hoffnungen und Entdeckerfreuden. Diese Hoffnungen und Entdeckerfreuden haben New York zu einem Ort werden lassen, der die Herausforderungen und Träume des menschlichen Abenteuers verkörpert.

In den Niederlanden, in Manhattan und überall dort, wo die Menschen das Antlitz der Erde grundlegend verändert haben, haben sie häufig neue, kulturell hochstehende Lebensräume geschaffen, aber sie haben zugleich die Qualität des natürlichen Lebensraumes zerstört oder geschädigt. Im Verlauf ihres Wachstums und ihrer Entwicklung von einer Generation zur nächsten haben sie technologische und soziale Strukturen entwickelt, die von einem solchen Ausmaß und von solcher Komplexität sind, daß der menschliche Geist sie nicht mehr völlig erkennen oder verstehen kann, geschweige denn angemessen lenken kann. Ich bin bereits auf einige Gefahren eingegangen, die in den Niederlanden durch eine übertriebene Industrialisierung und Verstädterung geschaffen wurden. New York offenbart sogar noch unerfreulichere Erscheinungen, die mit der modernen Zivilisation verbunden sind, aber ich werde mich auf diejenigen beschränken, von denen ich unmittelbar betroffen bin.

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Ich wohne in Manhattan in einem riesigen Apartmenthochhaus. Wenn ich aus dem Fenster meiner im 24. Stockwerk liegenden Wohnung auf die Stadt und ihre Umgebung blicke, sehe ich überall den verrückt machenden Verkehr und die entmenschlichte Architektur und Banalität vieler kürzlich errichteter Wolkenkratzer. Ich träume oft von der wunderbaren menschlichen Heimat, die Manhattan hätte werden können, wenn dies menschlicher entwickelt worden wäre. Der Schriftsteller Paul Goodman und sein Bruder Percival haben zum Beispiel 1947 ein Buch zur Stadtplanung mit dem Titel »Communitas« veröffentlicht, das in Wort und Bild beweist, daß man Manhattan so hätte planen können, daß jede Straße den Blick auf eines der Gewässer freigegeben und damit jeden Spaziergang nahezu überall in der Stadt zu einem angenehmen Vergnügen gemacht hätte.

Umweltschützer sind zu Recht über einen Atomkrieg und radioaktive Verseuchung durch Atomkraftwerke, Luft- und Wasserverschmutzung, eine Verknappung der natürlichen Ressourcen, die Zerstörung der tropischen Regenwälder, den Raubbau und andere Formen der Zerstörung von Agrarland besorgt. Aber die größte Gefahr für unsere urbanisierte und technisierte Zivilisation besteht in der Tat in der automatisierten und sozialen Vielfalt. Der chaotische Verkehr, der nach und aus New York fließt, die verwirrende Flut von Informationen und Ausführungsbestimmungen, die aus riesigen anonymen Geschäftshäusern herausströmt und in sie hineinströmt, die vielen überflüssigen Verbrauchsgüter und Geräte, die wir ohne Sinn und Verstand aufgrund gesellschaftlicher Konventionen konsumieren, sind lediglich Kennzeichen für eine Lebensweise, die das menschliche Leben nicht bereichert und die dem menschlichen Verstand auch keine Philosophie und keine Computer begreiflich machen kann.

Komplexität und gigantische Größenverhältnisse üben normalerweise eine lähmende Wirkung auf viele Gesichtspunkte unserer Aktivitäten einschließlich der Flexibilität von Institutionen aus.

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Die meisten der wirklich neuen und bahnbrechenden Technologien der letzten Jahrzehnte sind nicht in Mammutkonzernen, sondern in kleinen Unternehmen oder von kleinen Forschergemeinschaften entwickelt worden. Darüber hinaus bereiten Größe und Komplexität den Institutionen größere Schwierigkeiten, mit einigermaßen simplen und alltäglichen Problemen fertig zu werden, die in einem kleineren Zusammenhang mühelos bewältigt werden könnten. Die administrativen Schwierigkeiten, die sich kürzlich bei der Instandsetzung des städtischen Hafengebiets von Manhattan gezeigt haben, bezeugen diese Tatsache.

Da ich über viele Jahre hinweg wiederholt Kontakte zu den offiziellen Stellen und Bürgerorganisationen hatte, die mit diesem speziellen Hafenproblem befaßt waren, weiß ich, daß die Handlungsunfähigkeit und die großen Verzögerungen bei der Durchführung nicht auf Ignoranz, Unentschlossenheit oder Versäumnisse zurückgeführt werden können, sondern auf die administrativen und finanziellen Schwierigkeiten, die sich aus der Komplexität und riesigen Größe der Stadtstrukturen ergeben. Im Gegensatz dazu sind nämlich in zwei wichtigen Fällen Verbesserungen des öffentlich zugänglichen Hafengebiets von privaten Initiativen rasch in Gang gesetzt worden. Die große Atlantikbucht Jamaica Bay, die an den John-F.-Kennedy-Flughafen grenzt und doch innerhalb New Yorks liegt, war schon so verschmutzt, daß sie zum heruntergekommensten Gebiet der Stadtumgebung zählte. Und doch ist dort inzwischen ein so gutes ökologisches Gleichgewicht wiederhergestellt worden, daß es jetzt eines der größten Vogelschutzgebiete der Atlantikküste ist. Ein sehr interessanter Aspekt dieses Regenerierungsprozesses ist die Tatsache, daß er von einem kleinen städtischen Angestellten, Mr. Herbert Johnson, dem Sohn eines Gärtners, in Gang gesetzt wurde. Er pflanzte in Eigeninitiative und ohne offizielle Anweisung Gräser, Sträucher und Bäume auf den Mülldeponien der Bucht. Die dadurch entstandene Vegetation zog die Vogelwelt an und regte schließlich die städtische Verwaltung an, präzisere Pläne zur Rettung der Bucht zu entwickeln.

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Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist die Regenerierung des Bronx Rivers und seiner Ufer das spannendste Umweltprojekt New Yorks. Der Bronx River ist in Westchester County und dort, wo er die Stadt New York durch eine Schlucht und ein wunderschönes Wäldchen auf dem Gelände des Botanischen Gartens erreicht, in gutem Zustand. Von dort an zeigen der Fluß und seine Uferbänke innerhalb der Stadt jedoch eines der schlimmsten Beispiele von Umweltverschmutzung. Glücklicherweise hat eine Privatorganisation, die Bronx-River-Planungs-und-Aktions-Gruppe, damit begonnen, den Fluß und seine Ufer südlich der Linie Westchester County/ New York zu regenerieren. Dieses Programm wird, wenn es Erfolg hat, das Leben von 500000 Menschen, die in diesem Teil der Bronx leben, gründlich verbessern. Darüber hinaus könnte es eine der schönsten Stadtansichten in einer Gegend schaffen, die jetzt zum großen Teil verkommen ist. Das gilt insbesondere für Hunts Point, wo der Bronx River in den East River fließt. Am wichtigsten ist wahrscheinlich die Tatsache, daß dieses Projekt ein Werk lokaler Initiativen ist, denen es gelang, die schwarzen und puertoricanischen Gemeinden einzubeziehen, die in der unmittelbaren Nachbarschaft des Bronx River leben. Jetzt werden von der Stadt und privaten Stiftungen Gelder zur Verfügung gestellt, aber es kann keinen Zweifel daran geben, daß private Initiativen an der Initiierung und Inangriffnahme dieses Projekts wesentlich beteiligt waren.

 

    Die Heimat des Globetrotters    

 

Ich habe unzählige Stunden auf internationalen Flughäfen in allen Erdteilen verbracht. Die meisten Menschen glauben, daß der internationale Flugverkehr unweigerlich die weltweite Angleichung verstärken würde. Sie haben selbstverständlich recht — aber nur im begrenzten Umfang. New York, London, Paris, Frankfurt, Stockholm, Rom, Athen, Sydney, Moskau und Tokio sind durch dasselbe Luftverkehrssystem verbunden. Überall gelten dieselben internationalen Regeln für Abflug, Navigation und Landung. Aber selbst ein Blinder kann Unterschiede zwischen den Flughäfen der verschiedenen Städte bemerken, weil ihre individuellen menschlichen Atmosphären die vor dem Zeitalter der Aviatik liegenden nationalen Verhältnisse widerspiegeln. 

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Diese Unterschiede sind sogar noch erstaunlicher, wenn man die Flughäfen der pazifischen Inseln miteinander vergleicht. Tahiti, Fidschi und Hawaii haben hinsichtlich des Klimas, der Topographie, der Bodenschätze und Kolonialgeschichte viele Gemeinsamkeiten. Darüber hinaus leben auf diesen Inseln jetzt ähnlich zusammengewürfelte Bevölkerungen: Polynesier, Malaien, Orientalen, Europäer und andere Ethnien. Trotz geographischer und ethnischer Ähnlichkeiten und trotz der technisch gleichen Abläufe im internationalen Flugverkehr — wer könnte je den französischen Einfluß auf Tahiti, den englischen Einfluß auf Fidschi und den amerikanischen Einfluß auf Hawaii leugnen?

Eilige Globetrotter und Bildungsreisende sind zu Recht von der Standardisierung der Technik und Lebensweisen auf dem gesamten Erdball beeindruckt. Aber sie nehmen zu Unrecht an, daß ihre eigenen Interessen und Erfahrungen für die einheimischen Bevölkerungen von größerer Bedeutung sind. Es gibt nur wenig Menschen, die ihr Leben nach den Gewohnheiten und Geschmacksrichtungen des internationalen Jet-sets ausrichten wollen. Die einfachen Leute sind normalerweise darauf bedacht, einige Techniken und Produkte der internationalen Technologie zu nutzen, aber das soll auf ihre Weise und im Rahmen ihrer lokalen Bräuche geschehen. Fernsehgeräte ähneln sich überall auf der Welt, aber die von ihnen ausgestrahlten Liebeslieder und die Mimik der Sänger verändern sich von Jahr zu Jahr und unterscheiden sich in Sydney, Athen, London, oder Paris wesentlich voneinander. Zwischen Jersey und Guatemala sind die Unterschiede sogar noch größer. Die Welt wird in dem Maße zu einem globalen Dorf, wie ihre Mammutsysteme durch die Elektronik miteinander verknüpft werden. Das wirkliche Leben der Menschen findet jedoch innerhalb kleiner Nachbarschaften statt, wo die von den weltweit arbeitenden Medien übermittelten Nachrichten von geringerer Bedeutung sind als jene, die man beim Klatsch im Friseurladen erfährt.

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Wissenschaftler, auf Natur- wie Geisteswissenschaften spezialisiert, sind hauptsächlich an globalen Problemen interessiert, weil sie der Meinung sind, daß daraus Informationen für die Entdeckung allgemeingültiger und für die gesamte Menschheit relevanter Regeln erwachsen. Die Tendenz zur Uniformität ist so eindeutig, daß die Illusion entsteht, die Besonderheiten jedes einzelnen Ortes oder jeder sozialen Gruppe seien von weniger großem wissenschaftlichen Interesse als die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten dieser Gruppen. In den meisten Fällen sind jedoch die unterschiedlichen Lebensäußerungen für das alltägliche Leben wichtiger als die auf die Uniformität zurückzuführenden Verallgemeinerungen, weil sie den Stoff bieten, aus dem das Individuum das schöpfen kann, was es am meisten schätzt — die Unverwechselbarkeit seiner eigenen Person und seines Umfeldes.

Viele moderne Menschen finden es hilfreich, die Vorteile der technischen Standardisierung zu nutzen. Der von Rastlosigkeit, Neugier oder Wissensdurst getriebene Globetrotter kann große Teile der Welt bereisen, ohne seine Gewohnheiten ändern zu müssen. In den meisten internationalen Metropolen kann er, wenn ihm der Sinn danach steht, den Tag mit einem Frühstück, bestehend aus Eiern und Schinken oder Brioches und Croissants, beginnen. Er kann seiner Sekretärin in klimatisierten Büros Briefe diktieren, er kann die neuesten Börsenkurse erfahren und sofort seinem Makler telegraphisch Instruktionen erteilen. Er kann Informationen über die letzten Entwicklungen in Politik und Technik erfahren. Er kann Souvenirs »made in Hongkong oder Taiwan« kaufen, zum Mittagessen Roastbeef mit französischem Wein oder »Sushi« mit Tee und Sake einnehmen und den Tag mit Scotch, Brandy oder Wodka beenden, während er sich über die amerikanischen Wahlen, irgendeine Befreiungsbewegung oder die neuesten Tendenzen in Literatur, Musik oder Malerei mit Leuten unterhält, die gleich ihm flüchtige Informationen aus einer der internationalen Zeitschriften beziehen.

Von fast jedem Fleck dieser Erde kann der Globetrotter seine Reise mit der Gewißheit antreten, daß er im Umkreis von 150 Kilometern Düsenflugzeuge mit mehrsprachigem Personal Finden wird, das internationale Gerichte, Getränke, Zigaretten und Souvenirs mit dem immer gleichen internationalen Lächeln anbieten wird.

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Zwischen den Luftfahrtgesellschaften wird der einzig auffallende Unterschied nur darin bestehen, daß die japanische Stewardeß einige Male im farbenprächtigen Kimono durch den Flugzeuggang schreitet, der französische Steward Essen und Getränke mit einem an die Comedie Francaise erinnernden Akzent serviert und der amerikanische Flugbegleiter eine grellbunte Uniform tragen wird, die sich von Jahr zu Jahr ändert. Unsere Erde wird in der Tat immer mehr standardisiert, was wir genau beobachten können, wenn wir von einem Kontinent zum nächsten fliegen, um internationale Kontakte herzustellen.

Die Erde verliert jedoch viel von ihrem globalen Dorfcharakter, wenn man den Heimweg der Reisenden verfolgt. Auf dem John-F.-Kennedy-Flughafen tragen sowohl japanische als auch französische Geschäftsleute oder Wissenschaftler dieselben konventionellen Anzüge und zum Verwechseln ähnliche Aktenkoffer. Der japanische Geschäftsmann wird, solange er noch seinem Büro in Tokio Bericht erstattet, seine westliche Kleidung anbehalten. Er wird aber in seinen Kimono schlüpfen und sein japanisches Essen mit Stäbchen zu sich nehmen, sobald er zu Hause ist. Der französische Geschäftsmann hatte vielleicht Schinken und Eier zum Frühstück und trank vor dem Essen Cocktails, solange er in den Vereinigten Staaten war, aber er wird zu Brötchen, Crois-sants und starkem schwarzen Kaffee zum Frühstück greifen und Wein zu den anderen Mahlzeiten trinken, sobald er sich wieder in Frankreich aufhält. Globales Denken und Handeln sind für diejenigen wichtig, die die Welt bereisen, um sich mit globalen Problemen auseinanderzusetzen, aber die privateren und angenehmeren Gesichtspunkte des individuellen Lebens werden eher mit den Alltäglichkeiten der Heimat verbunden.

Während sich die Menschen biologisch betrachtet weitgehend gleichen, sind nationale und regionale Eigentümlichkeiten das Ergebnis historischer Zufälle, die dazu führten, daß die jeweilige menschliche Gruppe in einem bestimmten Gebiet über lange Zeit hinweg im Rahmen bestimmter umweltbedingter und sozialer Kräfte konditioniert wurde. Am Ende der Weltkriege war der Nationalismus diskreditiert und wurde sogar als irrationale und zerstörerische, von der internationalen Technologie überholte Kraft zurückgewiesen.

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Während es tatsächlich so ist, daß das abstrakte Konzept des Nationalismus an Bedeutung verliert, überleben dennoch Nationen und spielen weiterhin eine wesentliche Rolle, weil sie wahrscheinlich das fundamentale menschliche Bedürfnis nach einer Sozialordnung stillen, das früher vom Stammessystem befriedigt wurde.

In seinem Essay »The English People« (Die Engländer) stellt George Orwelldie rhetorische Frage: »Gibt es wirklich so etwas wie nationale Kulturen?« Seine Antwort lautet ähnlich wie die Samuel Johnsons, als er zur Existenz des freien Willens befragt wurde, daß dies eine der Fragen sei, bei der sich wissenschaftliche Erkenntnis auf der einen und instinktives Wissen auf der anderen Seite gegenüberstünden. Man braucht sich nicht faschistische Ideologien zu eigen zu machen, daß Nationen auf rassischen Unterschieden und einer Verbundenheit mit dem Boden beruhen, um die Existenz verschiedener nationaler, regionaler und ethnischer Kulturen als empirisch erfaßbare Tatsache hinzunehmen. Das Nationalgefühl ist in erster Linie und vor allem kulturell bedingt, eine auf gemeinsamen Erfahrungen, gegenwärtigen Interessenlagen und Geschmacksrichtungen und im allgemeinen auf ungenau zu definierenden und doch einflußreichen Wunschvorstellungen beruhende Geisteshaltung. Amerikaner lehnen den Gedanken an Pferdefleisch genauso ab wie Franzosen den Gedanken an Maisbrot. Chinesische und japanische Maler und Architekten sind stolz darauf, die großen Meister und Werke der Vergangenheit nachzuempfinden, während die Europäer die Originalität in allen Ausdrucksformen der Kunst hochschätzen. Die Engländer streben nach einer Form demokratischer Freiheit, die für die russischen Volksmassen anscheinend keine Anziehungskraft besitzt.

In der Praxis wollen die meisten Mitglieder einer jeweiligen Gesellschaft so handeln, wie es von ihnen erwartet wird. Zum Teil, weil es das Leben erleichtert, zum größeren Teil aber, weil die Menschen so konditioniert wurden, daß sie das wünschen, was in ihrer Gesellschaft als wünschenswert angesehen wird, und sie aus diesem Grunde die ortsüblichen Verhaltensweisen für sich selber erstrebenswert finden. 

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Während kein Grund zu der Annahme besteht, daß alle Angehörigen einer Gesellschaft Eigenschaften teilen, die sich auf Blutsverwandtschaft oder natürliche Charakteristika des Landes beziehen, in dem sie leben, so zeigt doch die bloße Beobachtung, daß eine deutlich bestimmbare Anzahl intellektueller Eigenschaften und Verhaltensweisen mit den Adjektiven »mediterran« und »nordisch« verknüpft werden kann, was auf die Adjektive »amerikanisch, englisch, französisch, deutsch, griechisch, italienisch, russisch« und »spanisch« noch mehr zutrifft. In ähnlicher Weise bezeichnen die Begriffe »chinesisch« und »japanisch« Geschmacksrichtungen und Verhaltensweisen, die über Jahrhunderte und unabhängig von den politischen Herrschaftsverhältnisen unterschiedlich geblieben sind. Der amerikanische Sozialkritiker Max Lerner scherzte nicht nur, als er schrieb, daß in England alles erlaubt ist, was nicht verboten ist; in Deutschland alles verboten ist, was nicht erlaubt ist; in Frankreich alles erlaubt ist, auch wenn es verboten ist, und in Rußland alles verboten ist, auch wenn es erlaubt ist. Auch wenn diese Ausführungen zugegebenermaßen grobe Vereinfachungen darstellen, so besitzen sie dennoch genügend Wahrheitsgehalt, um zu veranschaulichen, daß Menschengruppen, die durch Zufälle der Geschichte dazu bestimmt waren, mehrere Generationen zusammenzuleben, im Kern Ideen, Werte und Geschmacksrichtungen teilen, die ihr Leben bestimmen.

Nationale Besonderheiten entwickeln sich kaum auf Druck von außen. Sie gehen spontan als Beziehungsstrukturen aus dem in jedem Land ständig herrschenden Kräftespiel hervor. Sie sind keine Äußerungen rassischer oder klimatischer Gegebenheiten, sondern menschlicher Entscheidungen, die auf der freiwillig oder durch sozialen Druck erzwungenen kollektiven Übernahme gewisser Konventionen und Mythen beruhen. In seinem bereits erwähnten Essay stellte George Orwell fest, daß »Mythen, an die geglaubt wird, tendenziell Wirklichkeit werden, weil sie einen >Rollen<-Typus schaffen, dem das durchschnittliche Individuum möglichst entsprechen will«. Danach war das mutige Verhalten der britischen Bevölkerung während des Zweiten Weltkriegs »teilweise dem Vorhandensein der nationalen >Rolle< zuzuschreiben — das heißt ihrer vorgefaßten Meinung von sich selbst«.

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Nationen brauchen Helden als greifbare Verkörperungen der Vorstellungen, die sie von sich selbst haben.

Trotz seines internationalistischen Anspruchs besaß das bolschewistische System von Anfang an stark nationalistische Züge. Schon Mitte der zwanziger Jahre hatte es eine tiefe Beziehung zu den alten Meistern der russischen Literatur entwickelt und befolgte Lenins Richtschnur, daß die Werte der Vergangenheit die Grundlagen für die kulturellen Werte der Zukunft legen würden. Diese nationale Einstellung wurzelte tief in der russischen Literatur. Turgenjew pflegte zum Beispiel von der tiefen und unergründlichen Kluft zu sprechen, die zwischen der russischen Betrachtungsweise sozialer Probleme und derjenigen, wie Franzosen, Engländer, Deutsche und andere Europäer dieses Thema sehen, liegt. Selbst der Anarchist und Aristokrat Peter Kropotkin, der lange Zeit daran festgehalten hatte, daß es in bezug auf soziale Gerechtigkeit und Ordnung nur innerhalb der mittelständischen Schichten der einzelnen Nationen unterschiedliche Betrachtungsweisen gibt, mußte zu der Überzeugung gelangen, daß auch die Arbeiter diese Dinge, abhängig von ihrer Nationalität, auf ganz unterschiedliche Art und Weise sahen.

Die Sorge um die Beschaffenheit der russischen Wesensart, die nahezu alle russischen Schriftsteller erfüllt, ist von dem Nobelpreisträger Solschenizyn anschaulich ausgedrückt worden, obwohl er aufgrund seiner politischen Anschauungen vom Kreml verfolgt wurde. Im ersten Kapitel seines Romans »August 1914« stellt er den russischen Nationalismus nicht als eine Idee, sondern als leidenschaftliche Reaktion dar, die tief im Unterbewußtsein wurzelt. Die russische Wesensart hat etwas mit der Erde zu tun und auch mit den Menschen, ihren Vorstellungen und ihrer Sprache. Sie ist nicht an politische Ideologien gebunden und so natürlich wie ein Baum, tief verwurzelt im Boden einer Kultur, zu den himmlischen Mächten strebend, in dem Wunsch, über die augenblickliche Situation hinauszuwachsen. Nach Solschenizyn ist Rußland kein Platz auf einer Landkarte, sondern ein Bild, das von den Russen geformt wurde, so wie England in ähnlicher Weise (nach George Orwell) das kulturelle Umfeld für eine Einstellung bot, die von den Engländern selbst geschaffen wurde.

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Tatsächlich kann ein Territorium, das einst von einer bestimmten Bevölkerungsgruppe eingenommen wurde, untergehen, ohne jedoch den Zusammenbruch der nationalen Identität zu verursachen. Dieses Beharrungvermögen der Identität kann im Falle der Juden bestens beobachtet werden, aber es ist auch bei vielen anderen Bevölkerungsgruppen anzutreffen, wie zum Beispiel bei den Yaquis, den Navajos und Cherokee, die als Volksstämme überlebt haben, obwohl sie teilweise oder ganz von ihren Stammesgebieten vertrieben wurden. Der nationale Individualismus überdauert im allgemeinen auch jede politische Fremdherrschaft. Die Menschen der Republik Irland fühlen und drücken ihre Kontinuität mit den vor mehr als tausend Jahren lebenden Irländern aus. Sie waren lange Zeit ein Bestandteil Großbritanniens, aber sie haben standhaft den Gedanken verweigert, sich mit den Engländern zu identifizieren. Es gibt darüber hinaus Belege dafür, daß tragische Erfahrungen tendenziell die Identität einer sozialen Gruppe oder Nation verstärken und damit den Menschen helfen, ihre Vorstellungen von sich sowie von ihrer kollektiven Identität innerhalb einer großen Bandbreite physischer und soziokultureller Bedingungen zu bewahren. Außer im streng biologischen Sinne formt nicht die Vergangenheit unsere Vorstellungen von uns selbst und unsere Verhaltensweisen, sondern vielmehr das Bild, das wir uns von der Vergangenheit machen.

Alexander Block, einer der bedeutendsten russischen Symbolisten des 20. Jahrhunderts, versuchte in seinem Essay »The Collapse of Humanism« (Der Zusammenbruch des Humanismus) zwischen der Zivilisation und der Kultur zu unterscheiden. Für ihn unterstreicht die Zivilisation materielle Besessenheiten, genaue Zeiteinteilung und die Zunahme von Spezialgebieten. Im Gegensatz dazu ist Kultur die melodische Wirklichkeit, die Geist und Körper, Mensch und Natur vereint, sie ist eine wahre elementare Kraft. »Unsere elementare Erinnerung ist groß . . . die melodischen Klänge unserer grausamen Natur haben in den Ohren von Gogol, Tolstoi und Dostojewski geklungen.« 

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Auch wenn diese Unterscheidung von Zivilisation und Kultur sehr vage ist, so erklärt sie doch, warum die internationale Technologie bis heute den nationalen Individualismus nicht zerstört hat. Sie benennt ebenso einige Kräfte, die den Nationalgeist zu jener mächtigen und schöpferischen Kraft machten.

Überall auf der Erde haben die Menschen inzwischen das Land, auf dem sie leben, umgestaltet. Sie haben den größten Teil der Wildnis durch Acker- und Weideland, Gärten und Parks ersetzt, die uns so vertraut geworden sind, daß wir sie normalerweise für den ursprünglichen Zustand halten. Wo die Eingriffe vernünftig waren, gingen Menschheit und Natur eine Symbiose ein, die beide Seiten veränderte und die Besonderheiten jeder Region und jeder Nation schuf. Auf diese Weise erhielt jede Zivilisation ihr eigenes Gesicht. Die Erde oder jeder beliebige Ort auf ihr können nur als physikalisches System zur Erhaltung des Lebens angesehen werden, wohingegen die Begriffe Ort oder Nation eine Umwelt kennzeichnen, die, von tiefen Empfindungen beseelt, geformt wurden.

Es gibt natürlich viele Erscheinungen in der Natur, die nicht derart von Menschenhand verändert wurden. Wenn in die natürlichen Abläufe nicht eingegriffen wird, entstehen Wildnisformen, die normalerweise weit überwältigender sind als von Menschenhand gestaltete Landschaften. Aber unser Alltag spielt sich nur äußerst selten in der Wildnis ab, und wir bleiben gegenüber der Natur auch selten passiv. Wir stellen uns ihr entgegen, manipulieren sie und nutzen sie dann zur Schaffung jener Umgebungen, die unseren Bedürfnissen und mehr noch unseren Traditionen und Erwartungen entsprechen. Indem wir unsere Träume und unseren Ordnungswillen in den ökologischen Determinismus einbringen, formen wir das Rohmaterial der Natur zu Mustern um, die die in der unbearbeiteten Natur und die in unserer menschlichen Natur vorhandenen Stoffe verbinden — ein wirklich kreativer symbiotischer Prozeß.

Da die meisten gegenwärtigen Landschaftstypen nur bestimmte menschliche Eingriffsformen widerspiegeln, könnten sie auch anders aussehen, aber das heißt nicht, daß sie fast alles sein könnten. Um wirklich lebensfähig zu sein, muß die vom Menschen gestaltete Umwelt ökologischen Zwängen folgen.

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Es ist jedoch sicher, daß die jeweilige Umwelt einer in sich stabilen Gesellschaft normalerweise das Produkt eines langen Anpassungsprozesses ist, der letztlich darauf hinausläuft, daß die Gesellschaft die Umwelt zu einem Teil ihrer selbst macht. Wenn Menschen lange genug an einem Ort gelebt haben, wird die Beschaffenheit dieses Ortes zu einem Teil ihrer Lebenssubstanz.

Das Verhältnis zwischen Landschaft und Menschheit kann als eine wahre Symbiose angesehen werden, weil es biologische Kräfte einbezieht, die in beiden Komponenten dieses Systems kreative Veränderungen bewirken. Bei allen Eingriffen der Menschheit in natürliche Systeme stellen jedoch auch die bewußten Entscheidungen ein starkes Element dar. Soziale Gruppen wie auch Individuen reagieren niemals passiv auf Umweltsituationen. Sie agieren statt dessen in einer zielgerichteten Weise. Es ist seit langem bekannt, daß die Entwicklung der Zivilisation von variantenreichen und herausfordernden Umwelten begünstigt wird — unabhängig davon, ob sich diese Herausforderung aus topographischen, klimatischen oder sozialen Anreizen ergibt. Zivilisationen entstehen jedoch nicht aufgrund passiver Reaktionen, die stellen den Versuch zielgerichteter Aktionen dar, selbstgewählte Lebensweisen zu schaffen.

Ich habe wiederholt in früheren Abschnitten dieses Buches erwähnt, wie tiefgreifend und irreversibel ich von meinen frühen Erfahrungen geprägt wurde. Ich hätte die französische Vorliebe, regionale Aspekte des Lebens zu betonen, durch Rückgriffe auf Voltaire ausführlicher behandeln können. Der machte sich über Professor Pangloss' Verallgemeinerungen von Weltproblemen lustig und legte Candide seine eigene Meinung in den Mund, nämlich daß wir zuerst vor unserer eigenen Haustür fegen sollten.

Ich werde statt dessen jedoch Ansichten und Ausführungen eines anderen französischen Schriftstellers, Antoine de Saint-Exupery, vorstellen, eines Pioniers der französischen Luftfahrt, dessen Leben und Schriften aufzeigen, wie man sich mit dem Allgemeinen auseinandersetzen und doch dieser Auseinandersetzung einen typisch französischen Akzent verleihen kann.

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Kurz vor seinem Tod, während eines Aufklärungsfluges gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, hat er an einen Bekannten geschrieben, daß er immer reisen, jedoch niemals emigrieren wollte: »Ich habe zu Hause so viele Dinge gelernt, die woanders nutzlos wären.« Und er schrieb weiter: »Wenn ich anderer Meinung bin als Du, ohne Dich zu beleidigen, dann bereichere ich Dich. Du fragst mich, wie man den Reisenden befragt.« Das war eine der vielen Aussagen des Dichters, die seine feste Überzeugung offenbarten, daß die beste Art, einen Beitrag für die Welt zu leisten, darin besteht, daß jede einzelne Person und jede Region die eigene Identität behaupten.

Amerikaner rühmen die Tugenden des Wilden Westens. Viele Franzosen neigen im Gegensatz dazu, inhaltsreichere Bedeutungen in jenen Naturaspekten zu sehen, die sie selbst gestaltet oder, um einen Begriff Saint-Exuperys zu gebrauchen, die sie apprivoisees haben. Wörterbücher übersetzen das Verb mit zähmen, aber dahinter steckt weit mehr als nur zähmen. 

In <Der kleine Prinz> erzählt der Fuchs, das heißt der Dichter selbst, dem kleinen Jungen: »Man kennt nur die Dinge, die man zähmt, sagte der Fuchs. Die Menschen ... kaufen sich alles fertig in den Geschäften. Aber da es keine Kaufläden für Freunde gibt, haben die Leute keine Freunde mehr. Wenn du einen Freund willst, so zähme mich.« — »Apprivoiser«, wie es hier verwandt wird, setzt gemeinsame emotionale Erfahrungen, gegenseitiges Verständnis und gegenseitige Zuneigung voraus. 

In der Tat gibt der Fuchs dem kleinen Prinzen genaue Anweisungen für Zeremonien, damit aus ihrer Bekanntschaft eine wahre Freundschaft werden kann — eine Beziehung, die äußerst lokal ist, da sie nur zwei Beteiligte einschließt, die Verhaltensmuster entwickeln, um ihre einzigartige Beziehung auszudrücken.

Jedes Land und jede ethnische Gruppe hat ihr eigenes überkommenes System vertrauter Beziehungen und Riten, das betrifft nicht nur das Verhältnis der Menschen zueinander, sondern auch die Beziehung der Menschen zu ihrem Land. Dieses tradierte System ändert die Gefühle und Verhaltensweisen der Globetrotter, wenn sie zu Hause ankommen, und entlockt ihnen dann den Ausruf: »Ich bin angekommen. Zu Hause ist es am schönsten«, weil die einzigartigen und wichtigsten Aspekte der eigenen Individualität exakt diejenigen sind, die von der Umgebung geformt wurden, in der man sich entwickelt hat und in der man tätig war.

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 Dubos 1981