Hans Peter Duerr

Die Tatsachen des Lebens

Der Mythos vom Zivilisationsprozeß

 

(1988-2000)

 

wikipedia  H. P. Duerr  *1943 in Mannheim

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Nach <Nacktheit und Scham> (1988), <Intimität> (1990), <Obszönität und Gewalt> (1993) sowie <Der erotische Leib> (1997) liegt mit <Die Tatsachen des Lebens> der fünfte und letzte Band von Hans Peter Duerrs eingehender Kritik am <Mythos vom Zivilisationsprozeß> vor.

 

wikipedia  Unter_dem_Pflaster_liegt_der_Strand_Zeitschrift  1974-1985, Zeitschrift, Hrsg.: Duerr

 

Diese Kritik an einem etablierten wissenschaftlichen Paradigma ist zwar im deutschsprachigen Bereich auf erbitterten Widerstand gestoßen, sie hat zugleich jedoch zu einer Erschütterung der einfachen Vorstellung von einem weiteren Fortschreiten der Menschheit in das Zivilisationsparadies geführt. 

Im abschließenden Band setzt sich der Autor vor allem mit der Frage auseinander, ob das, was im Englischen <the facts of life> genannt wird, also namentlich die Bereiche der Sexualität, der körperlichen Reifung, der Körperfunktionen und der abweichenden Verhaltensweisen, im Verlaufe der historischen Entwicklung tatsächlich, wie von Elias und seiner Schule behauptet, in immer stärkerem Maße mit dem Bann des Verschweigens oder mit Euphemismus belegt und hinter die Kulissen des öffentlichen Lebens in einen expandierenden Privatbereich verdrängt wurde. 

Schließlich untersucht Duerr, welchen Wahrheitsgehalt die sogenannte »Informalisierungsthese« hat, also die Behauptung, die Lockerung einstmals strenger Disziplinierung unterworfener Verhaltensweisen, wie sie seit den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu beobachten ist, bedeute keine wirkliche Senkung der Schamschwellen und Peinlichkeitsstandarde, sondern lediglich die Konsequenz einer umfassenden Pazifizierung des öffentlichen Lebens, weshalb dieser Prozeß in keiner Weise die Zivilisationstheorie in Zweifel ziehe.

 


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Tatsachen des Lebens und akademischer Hochmut, 2003 von Thomas Hauschild aus Tübingen bei Amazon

Mit „Die Tatsachen des Lebens" legt Hans Peter Duerr den fünften und letzten Band seiner akribischen Sammlung von Materialien zu menschlichen Sitten und Bräuchen im Zusammenhang mit Scham, Gewalt und Sexualität vor: Ein Monument der Anthropologie, ein Berg der Beweise für die Allgegenwart menschlicher Grundeigenschaften in allen Kulturen, eine Enzyklopädie der Zivilisationsfähigkeit des Menschen und der steten Gefahr des Verlustes von Maß und Ziel. 

Doch der eigentliche Antrieb für Duerrs Sammelwut und die unendliche Geduld mit der er seit eineinhalb Jahrzehnten seine Kritik an Norbert Elias' Theorie der Evolution menschlicher Sitten hin zur Verfeinerung und Zivilgesellschaftlichkeit aufgebaut hat, bleibt manchmal rätselhaft.

Ist nicht schon alles gesagt mit dem ersten Band seiner Kritik am <Mythos des Zivilisationsprozeß>, erschienen 1988?

Nur vor dem Hintergrund eines beständigen „Glaubens" vieler, fast aller Intellektueller und Akademiker an diesen Prozess - und damit an die eigene Abgeklärtheit, Friedfertigkeit und sittliche Korrektheit - erscheint diese Vervielfältigung der Beweisaufnahme notwendig. 

Wir stehen damit am Kernkomplex der europäischen Kultur, der sich wie in einem Lackmusblatt in Hans Peter Duerrs Aufzählungen abzeichnet. Wie der Kern jeder Kultur beruht auch unsere Tradition auf einer Abgrenzung gegen das Andere, das man sich als barbarisch vorstellt. Dass gerade dieser Zivilisationsstolz auch bei sogenannten Barbaren durchweg anzutreffen ist, bei den „Wilden", den „Naturvölkern" der europäisch-nordamerikanischen wissenschaftlichen Überlieferung, ist gebildeten Europäern leider noch nicht in ausreichendem Maße klar geworden.

Duerr rennt mit seinem Buch gegen eine Mauer der ethnographischen Unkenntnis an, die sich in der Kultur der deutschsprachigen Akademiker in besonderem Maße entlädt, als eine Art kultureller Rassenstolz. 

Wieder und wieder wird bewiesen, dass das denkende Subjekt, das Mitleid, die Rücksichtnahme auf andere in geistigen Revolutionen erst orientalischer, dann bald europäischer Prägung begründet sind: in der biblischen Tradition, in den Werken der Kirchenväter, Luthers, Montaignes oder letztlich auch in der medialen Revolution, die nun alles vermittelt erscheinen lässt und damit diskutierbar, diskursivierbar.

Das durchzieht das „abendländische" Schrifttum, als habe jeder griechische Sklavenhalter, jeder französische philosophische Haudegen und noch jeder Naziphänomenologe mehr Ego, Verantwortungsgefühl und Übersicht über die Dinge des Lebens gehabt als die Schöpfer sich selbst zivilisierender Rituale in den australischen Wüsten, als die mythologischen Mahner der Indianerbewegungen des 19. Jahrhunderts, als die spiritualistischen Praktiker der Persönlichkeitsspaltung und des „double bind" in afrikanischen Ahnenkulten und asiatischen Schamanismen.

Angesichts dieser Front der Selbstbeweihräucherung und des Ethnozentrimus die nackten „Tatsachen des Lebens" in Erinnerung zu bringen - bedarf es schon einer Intervention, die Duerr auf den voll geladenen Patronengürteln seiner maschinengewehrfeuerartig einherkommenden Anmerkungsapparate basieren lassen muss.

Der eigentliche Ertrag sind große Bausteine einer Kulturtheorie, die sich vom Erbübel des reinen mentalistischen Idealismus löst und materielle Argumente einbezieht ohne in Plattheiten zu verfallen. Wir lernen etwas über die schmale Grenze zwischen Projektion und Realien, an der z.B. männliches und weibliches Aktivwerden beim Geschlechtverkehr gelagert sind - und der Versuch, dieses Thema einigermaßen neutral zu schildern. 

Die eindruckvollsten Stellen des Buches für mich sind in diesem Zusammenhang die wenigen Hinweise, die Duerr auf materielle Hintergründe dieser Rollenspiele geben kann. Bauern, die jeden Tag hart arbeiten müssen, haben ein anderes Sexualleben als höfische Kreaturen oder Menschen der Wohlstandsgesellschaft.

Wenn man sich für das Empire oder das Reich hinlegen muss, um Kinder zu produzieren, sieht die Sache schon wieder etwas anders aus und für die Schwester von Sophie Scholl in den hyperaktiven zwanziger und bedrängten dreißiger Jahren war Sex ein vielleicht lustvoll erlebter aber völlig unwichtiger Nebenbereich des Handelns. Faszinierend sind auch die zahlreichen Informationen über das „double bind" eines kulturellen Rassismus, der vergeblich versucht, zwischen „echter", von innen kommender Triebkontrolle und einer bloß zum Schein aufgetragenen Zivilisiertheit der „Wilden" zu sprechen - man kann das Argument jederzeit wenden, dann versteht man die inszenierten und die spontanen Triebdurchbrüche der kolonialen und imperialen Situationen besser. 

Man beginnt zu begreifen, dass der verzweifelte Glaube an die Höherwertigkeit der westlichen Zivilisation auf der erschreckten Erkenntnis beruhen könnte, dass ein purer geographischer Zufall einer ebenso zufällig zusammengewürfelten Fraktion unserer Spezies in einer bestimmten, von der Natur moderat gehaltenen Klimazone in einem bestimmten Moment ihrer demographischen und ökonomischen Entwicklung den Schlüssel zu Weltherrschaft in den Schoß geworfen hat. 

Duerrs Kritik des „Mythos vom Zivilisationsprozess" enthält damit auch einen Schlüssel, den Schlüssel zum Verständnis des Zusammenhanges zwischen Kultur und Natur beim Menschen nämlich, zwischen evolutionärem, historischem und sozialanthropologisch-funktionalem Denken. „Was allerdings die Gemüter zu erhitzen scheint, ist offensichtlich meine Behauptung, dass ein jeglicher historischer Wandel sich nur innerhalb dieses für unsere Spezies spezifischen Rahmens abspielt..." 

Die Theorien des schlimmen zwanzigsten Jahrhunderts, die Rassentheorie der Nazis wie die stalinistischen Vorstellung von absoluter Formbarkeit menschlichen Verhaltens hallen heute in Europa, ihrem Ursprung, nur noch undeutlich nach in sozialdemokratischer Erziehungspolitik etwa, oder in christlich-konservativem Beharren auf angeborenen Werten. Andere Weltgegenden haben es schon wieder vor sich. Diesen Abstand zu reflektieren kann der Ausgangspunkt einer wirklichen Anthropologie sein. Eigenartigerweise sind die beiden großen Fraktionen des europäischen Denkens bis heute an solch einer Anthropologie wenig interessiert und stehen geblieben bei dem „Glauben" an die Mission unserer Zivilisation stehen, oft, ohne dies selbst genau zu wissen. 

Es ist letztlich eine gute Fügung, dass der letzte Band der Kritik heute erscheint, wo sich die Gemüter noch weiter und wieder einmal abgekühlt hatten. Nun kann eine neue „dritte Kultur" der anthropologischen Theorie und damit auch der öffentlichen Debatte über Grenzen und Möglichkeiten der Formbarkeit menschlichen Verhaltens ihren Anfang nehmen von den „Tatsachen des Lebens".

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