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Vorwort

 

 

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An der Schwelle zum dritten Jahrtausend blicken wir auf ein Jahrhundert voller Widersprüche zurück. Zum einen war es reich an Pionier­leistungen in Kunst, Wissenschaft und Technik; ein schöpferisches Zeitalter, das uns die Raumfahrt eröffnete und die elektronische Datenverarbeitung bescherte.

Es war aber auch ein Jahr­hundert gewalttätiger Ideologien und zweier Weltkriege, in denen zum erstenmal Massen­vernichtungs­mittel gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt wurden. Es war schließlich das Jahrhundert der Vertreibung und des geplanten Volkermordes.

Und nach wie vor leben wir unter dem Einfluß von Horror­meldungen und Horror­visionen und sehen uns in der modernen Großgesellschaft mit einem zunehmenden Mißtrauen und mit zunehmender Gewalt konfrontiert. Ausländerheime gehen in Flammen auf, Kinder morden Kinder, Terror verbreitet Angst, und die Rück­sichts­losigkeit im Autoverkehr fordert jährlich so viele Tote und Verletzte wie ein Krieg.

Sind wir im Begriff, moralisch zu degenerieren, und wachsen uns die politischen Probleme über den Kopf?

Expertenrunden diskutieren im Fernsehen Immigrationsproblematik, Bevölkerungsexplosion, Ausländer­feind­lichkeit und die Zunahme der kollektiven Gewalt. Aber meist bleibt es bei moralisierenden Bekenntnis­übungen und hilflosen Appellen nach dem Muster "Wir müssen....", "Seid lieb zueinander....". 

Selten, daß einer zu all diesen Lebenserscheinungen die Lehre vom Leben, die Biologie, befragt. Im Gegenteil! Die Ergebnisse der Biologie werden oft als "Biologismus" oder in der kreativen Steigerung "dumpfer Biologismus" abgewertet. Das ist erstaunlich, denn immerhin handelt es sich bei den eben angesprochenen Phänomenen um Lebens­erscheinungen, zu deren Erforschung die biologischen Wissenschaften wesentlich beitragen.

Aber in uns Menschen sträubt sich etwas gegen den Gedanken, unser Verhalten könnte nach vorgegebenen Regeln ablaufen. Das verstößt gegen unsere Vorstellungen von Freiheit, die wir immerhin subjektiv als Freiheit der Entscheidung erleben. Auch fürchten manche, ein erzieherischer Fatalismus könnte die Folge sein. 

Sie erliegen dabei dem Fehlschluß, wenn etwas angeboren sei, könne man dagegen wenig tun, und wir wären dann für unser Handeln auch nicht wirklich verantwortlich, würden wir doch nur der Stimme der Natur gehorchen. Diese Befürchtungen sind sicher unbegründet, denn jeder weiß nach kurzem Nachdenken, daß wir Menschen selbst so elementare Triebregungen wie jene der uns zweifellos angeborenen Sexualität kulturell mit Erfolg an die Zügel nehmen. Aber die Ängste vor einem "biologischen Reduktionismus"122 sind eine Realität, mit der wir uns auseinander­zusetzen haben. Das wird im folgenden Kapitel geschehen.

Hier nur ein paar Hinweise zur Beleuchtung der Situation. Jede empirische Wissenschaft und damit auch die Biologie ist insofern "reduktionistisch", als sie sich bemüht, beobachtete Erscheinungen auf basalere Gesetz­lich­keiten zurückzuführen: physiologische Abläufe auf organisch-chemische Prozesse; chemische Prozesse auf molekulare und atomare Prozesse und so weiter. Dabei wird jedoch immer betont, daß sich aus den Gesetz­lich­keiten des basaleren Niveaus nicht die der nächsthöheren Ebene ableiten. Die Grundgesetze der Thermo­dynamik gelten für die belebte und unbelebte Welt. Sie erklären aber nicht das Phänomen Leben.

Hormonale Prozesse beeinflussen unser Seelenleben zweifellos entscheidend, und die Erforschung der Prozesse an den Synapsen kann zum Verständnis und auch zur Therapie von Verhaltensstörungen beitragen. Es wäre jedoch ein Fehlschluß, wollte man sich zur Aussage hinreißen lassen, seelische Prozesse wären im Grunde nichts weiter als solche biochemischen Elementarprozesse.

Neuerdings wird der biologische Reduktionismus in einer Umdefinition als "biologischer Determinismus" verwendet. In dieser Formulierung richtet sich der Vorwurf gegen die Soziobiologen, denen unterstellt wird, sie würden die früheren und heutigen sozialen Einrichtungen als die unentrinnbaren Manifestationen spezifischer Genaktivitäten ansehen.

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Die Ängste nehmen oft groteske Formen an. Unter der Überschrift "Alle Macht den Genen?" veröffentlichte Jürgen Neffe95) im Spiegel eine Polemik gegen die angebliche Wiederkehr eines "biologischen Fundament­al­ismus". Er wendet sich in ihr gegen die Gentechnik, aber nicht ohne einen Seitenhieb gegen die biologische Verhalt­ens­forschung und deren "Lehre des angeborenen Verhaltens", die Neffe folgendermaßen charakterisiert: 

"Mit ihren Forschungen an Tieren, unvergessen Konrad Lorenz' ›Prägung‹ von Gänsen auf deren Bezugsperson während der ersten Lebensstunden, schufen die Verhaltenskundler das geistige Fundament des neuen biologischen Fundamentalismus. Dessen soziobiologische Kernthese, alle Verhaltensunterschiede seien genetisch festgelegt, hat sogar Unsinn wie ›Gewalt-‹ und ›Aggressionsgen‹ wieder hoffähig gemacht. Schlachten Kroaten und Serben einander etwa ab, weil ihre Gene es so wollen?

Wer das behauptet oder auch nur nicht ausschließt, argumentiert grob fahrlässig. Daß Menschen in der Lage sind, andere Menschen zu hassen und sogar zu töten, liegt offensichtlich im Rahmen ihrer biologischen ›Vorsehung‹. Warum sie es dann machen — immerhin ist der Verstand beteiligt —, hat aber mit angeblichem kleinstkindlichem ›Fremdeln‹ (ein Steckenpferd des Lorenz-Schülers Eibl-Eibesfeldt*) so wenig zu tun, wie das Babylächeln mit rheinischem Frohsinn" (S. 170).

Jeder, der die Veröffentlichungen von Konrad Lorenz und mir kennt, wird sich wundern, wie Neffe zu diesem summarischen Urteil kommen kann. Mir ist keine Textstelle bekannt, in der Lorenz behaupten würde, alle Verhaltens­unterschiede wären genetisch festgelegt. Wohl aber haben wir mit Arnold Gehlen immer wieder betont, daß der Mensch ein Kulturwesen von Natur ist. Von einem "Gewalt- oder Aggressionsgen" haben wir nie gesprochen.

* Herr Neffe schrieb meinen Namen falsch, ich nahm mir die Freiheit, das im Zitat zu korrigieren.

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Solche Behauptungen finden wir vielleicht in der populären soziobiologischen Literatur, gegen die auch wir manche Einwände haben. Schon vor vielen Jahren wandte ich mich jedoch gegen eine simplifizierende Angeboren-Erworben-Dichotomie. So schreibe ich in meinem Buch <Krieg und Frieden>:24) 

"In einer Reihe von Veröffent­lichungen habe ich immer wieder betont, daß es bei komplexen Verhaltensweisen sinnlos ist, nach der Alternative ›angeboren‹ oder ›erworben‹ zu fragen, da erwartungsgemäß Erbe und Umwelt am Aufbau beteiligt sind. Darum wird heute kein Ethologe die Frage stellen, ob die Aggression ›angeboren‹ oder ›instinktiv‹ sei. Wer dennoch so argumentiert, als würden Ethologen solche Alternativen stellen, hat offensichtlich das neuere Schrifttum nicht gelesen oder nicht verstanden" (S.62). 

Und nie behauptete ich, daß Menschen einander im Kriege abschlachten würden, weil ihre Gene es so wollen. Vielmehr betonte ich in dem eben genannten Werk in einem eigenen Kapitel mit der Überschrift "Die kulturelle Evolution zum Krieg", daß der Krieg eben nicht in unseren Genen stecke, und ich beschloß die Diskussion mit der Feststellung: "Mit diesen Ausführungen hoffe ich klargestellt zu haben, daß ich das Phänomen Krieg weder als Ergebnis eines periodisch zur Entladung drängenden Aggressions­triebes noch in anderer Weise als uns angeborene Verhaltensweise betrachte" (S.150).

Das Bedrückende an Auseinandersetzungen dieser Art ist, daß viele Kritiker der Biologie weder vom Wirken der Gene im Prozeß der Entwicklung noch von der Verhaltensforschung auch nur eine blasse Ahnung haben. Um von der Kompliziertheit der genetisch programmierten Prozesse des Lebens eine Vorstellung zu bekommen, sollten sie sich einmal eine Übersicht über die in unserem Organismus ablaufenden biochemischen Reaktionsketten (vgl. z.B. von Gerhard Michal)90) und den Aufbau einer Nervenzelle ansehen und nachlesen, was sich an einer Synapse abspielt, oder ein Auge von der Großmorphologie bis zur Histologie studieren und sich einmal darüber informieren, in welchen Schritten und wie die Sehreize verarbeitet werden. Das sollten sie tun, um etwas mehr Achtung vor dem Leben zu bekommen und angesichts ihres Halbwissens etwas bescheidener zu werden.

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Ich habe die Veröffentlichung von Neffe zitiert, um auf eine Situation aufmerksam zu machen, die die Diskussion von Problemen der Gegenwart erheblich belastet. Es scheint, als wollten viele mit ihrem Meinungs­gegner gar nicht ins Gespräch kommen. Dabei verbinden uns recht ähnliche Zielvorstellungen von einem erfüllten Leben in Frieden, einem Leben, in dem jeder seine Begabungen entfalten und Lebensglück erfahren kann, in einer Welt gegenseitiger Rücksichtnahme, in der Menschen auch verantwortlich mit ihren Ressourcen umgehen und nicht auf Kosten ihrer Enkel leben.

Dazu pflegen wir alle Utopien, und ohne sie wären wir arm. Nur dürfen wir uns dabei nicht verrennen. Aber in dem uns Menschen eigenen Bedürfnis nach Selbstdarstellung tun wir das oft, manchmal gewiß unbewußt. Oft aber werden extreme Standpunkte durchaus kalkuliert vertreten, in der Absicht, eine Nische zu erobern. In der politischen Diskussion reden die Kontrahenten häufig aneinander vorbei, da die einen vom Sein, die anderen vom Sollen reden. Letztere, oft als "Moralisten" bezeichnet, sind an der Wirklichkeit weniger interessiert.

Sie vertreten einen moralischen Imperativ, der ihrer Meinung nach nicht weiter hinterfragt zu werden braucht. Er müsse nur durch Erziehung den Menschen aufgeprägt werden, die aufgrund der in unserer Gesellschaft herrschenden, als falsch bewerteten sozioökonomischen Bedingungen angeblich an einem falschen Bewußtsein leiden. Da die Moralisten zu wissen meinen, was das Gute ist, glauben viele von ihnen, ihrem Meinungsgegner ohne viel Rücksicht entgegentreten zu dürfen. Selbst Diffamierung scheint für sie in diesem Zusammenhang akzeptabel.

Die Vertreter der "Kritischen Theorie" sprechen von erkenntnisleitenden Interessen und argumentieren daher ebenfalls auf der Ebene des Sollens. Sie geben, wie die Moralisten, die Empirie preis und pflegen wie diese eine moralisch durchtränkte Sprache. Eine kritische Auseinandersetzung zu diesem Thema wird von Norbert Bischof (mündliche Mitteilung) vorbereitet.

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Was haben wir Biologen zu der Beziehung von Empirie und Moral zu sagen? 

Zunächst einmal dürfte wohl gelten, daß auch Biologen ihre Meinung zu Fragen der Ethik vertreten dürfen. Selbst wenn es problematisch sein sollte, Ethik wissenschaftlich zu untermauern, so kann ich als Biologe doch meinen Standpunkt empirisch begründen und damit meine Schlußfolgerungen nachvollziehbar machen. Ich kann zum Beispiel feststellen, ob ein Verhalten eignungsfördernd oder eignungsmindernd ist, das heißt, ob es zum Überleben beiträgt oder nicht (S. 35). Ich kann ferner herausfinden, ob eine durch das Verhalten einer Person herbeigeführte Eignungsminderung nur diese selbst betrifft oder auch andere Mitglieder der Gemein­schaft in "Mitleidenschaft" zieht.

Ob man nun ein Recht des einzelnen, eine Gemeinschaft in Vertretung eigener Interessen zu schädigen, gutheißt oder nicht, ist gewiß eine moralische Entscheidung, die wissenschaftlich nicht weiter begründbar ist. Aus dem "Ist" folgt aber nicht notwendigerweise das "Soll". Doch wenn man das Leben grundsätzlich bejaht, dann wird man schon aus Vernunftgründen auch das Allgemeinwohl als Wert anerkennen. 

Die auf Vernunft begründete Moral basiert auf dem Kantschen Kategorischen Imperativ, demzufolge sich jeder vor einer Entscheidung die Frage stellen sollte, ob er auch wollen könne, daß andere so handeln wie er, ob man also dieses Verhalten zum allgemeinen Gesetz erheben könne. Dem liegt bereits die moralische Zielsetzung zugrunde, daß ein harmonisches Miteinander erstrebenswert ist. 

Der Biologe würde diese Zielsetzung weiter hinterfragen und für uns Menschen vom selektionistischen Standpunkt aus als vorteilhaft bejahen, denn ein Leben in einer Gesellschaft, in der jeder nur seine eigenen Interessen vertritt, wäre auf längere Sicht unangenehm und reich an Risiken.

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In meinem Buch "Der Mensch – das riskierte Wesen" sprach ich vom Überleben als Richtwert. Das trug mir den Vorwurf des "naturalistischen Fehlschlusses" vom So-Sein auf das Sollen ein*. Dies würde zutreffen, wenn ich aus der Tatsache, daß alle Arten Strukturen und Verhaltensweisen entwickeln, die ihre Chancen zum Überleben fördern, auf ein Recht aller Arten zu überleben geschlossen hätte. Aber genau das sagte ich nicht. Ich sprach vielmehr ausdrücklich davon, daß es kein Interesse der Natur an irgendeiner Art gebe, wohl aber ein Überlebensinteresse als Eigeninteresse. Und dies zur Kenntnis zu nehmen ist auch für den Politiker von Bedeutung, der ja selbstkritisch die moralische Legitimierung hinterfragt, mit der er die Interessen seiner Gesellschaft vertritt.

Wir müssen bereit sein, aus Erfahrungen zu lernen, uns neu anzupassen und, wenn nötig, auch unsere Zielvorstellungen zu revidieren. Dazu brauchen wir das Gespräch, und das setzt die freie Meinungs­äußerung voraus. Die ist jedoch erheblich behindert, wenn man eine verzerrte Wiedergabe seines Standpunktes befürchten muß. So las ich verwundert, ich würde mit der Selektionstheorie das gnadenlose Recht des Stärkeren propagieren.46) 

Nun konkurrieren Organismen in der Tat oft recht rücksichtslos um begrenzte Güter, und es wäre unklug, das nicht zur Kenntnis zu nehmen, zumal auch wir Menschen zweifellos mit aggressiven Neigungen ausgestattet sind, die sich in der gegenwärtigen Situation durchaus als Problemanlagen erweisen. Aber ich betonte immer, daß Fürsorglichkeit und Kooperation in der Evolution des Sozialverhaltens der höheren Wirbeltiere und des Menschen eine ganz entscheidende Rolle spielen (siehe S. 71) und daß wir Menschen dank unserer Fähigkeit zur Mitempfindung und Vernunft durchaus eine auf Sympathie und Vernunft begründete Moral des Miteinander entwickeln können.

* Vincent S.E. Falger: "Biology as Scientific Argument in Political Debates. A Resurgent Problem in Europe". European Sociobiological Society Newsletter II, Januar 1994, S. 3-12. 
Eine Antwort von Frank Salter wird in der gleichen Zeitschrift erscheinen (F. Salter: "Comments on the Naturalistic Fallacy". Science and Politics).

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Sicher sieht es gegenwärtig so aus, als ob wir noch weit davon entfernt wären, diese einmalige, uns über das Tier erhebende Begabung zu nutzen, wir bemühen uns jedoch auf dem Weg dahin. Aber erst wenn wir auch bereit sind, unsere Schwächen zu erkennen, können wir unsere Stärken nutzen. Mit einer verschleiernden Beschönigung der Situation ist keinem geholfen. Ich werde daher die Probleme aus meiner Sicht ungeschminkt darstellen.

Meine Aussagen basieren auf eigenen tierethologischen und humanethologischen Erfahrungen. Die ersten 17 Jahre meiner ethologischen Karriere arbeitete ich mit Tieren31. Ich hatte dabei das Glück, Konrad Lorenz zum Lehrer zu haben. In dieser Zeit erwarb ich mir vielseitige Kenntnisse über tierisches Verhalten, auch auf den Expeditionen mit Hans Hass. Mich beschäftigten damals Fragen der Kommunikation und der Verhaltens­entwicklung. Ich beschloß diese tierethologische Phase mit der Veröffentlichung eines "Grundrisses der vergleich­enden Verhaltensforschung"22), der mittlerweile in der siebten überarbeiteten Auflage vorliegt. Damit hatte ich mir die theoretische Basis für den Einstieg in die humanethologische Forschung erarbeitet, die mich nun seit über 25 Jahren intensiv beschäftigt. Ich betone diesen Sachverhalt, weil ich gelegentlich belehrt werde, wir Menschen wären keine Rotkehlchen und keine Bären – als würde ich vom Tier auf den Menschen schließen und den Unterschied nicht kennen (siehe S. 32).

 

Ich werde in diesem Buch aus biologischer Sicht zum Gewaltproblem in der anonymen Großgesell­schaft, auf zwischen­ethnische Konflikte und auf Fragen der Migration eingehen. 

Es handelt sich um Probleme, mit denen heute alle Völker dieser Welt konfrontiert sind. Ich werde mich in meiner Diskussion vor allem auf die Situation in Europa und hier wiederum besonders auf Deutschland und Österreich beziehen. Sie ist für die beiden Länder recht ähnlich gelagert und unterscheidet sich nur in den zahlenmäßigen Dimensionen. Zu der speziellen österreichischen Situation hat der österreichische Bundesminister für Inneres, Franz Löschnak82, eine höchst informative Publikation vorgelegt mit Daten und weiterführenden Literaturhinweisen.

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Große Sorge bereitet die zunehmende Lockerung des inneren Zusammenhalts der westeuropäischen Nationen. In einer Übertreibung des Individualismus verfolgen Personen und Interessengruppen Eigenvorteile mit wenig Rücksichtnahme auf andere. Eine Ellbogengesellschaft hat sich gebildet, die Selbstbedienung auf hoher und höchster Ebene zur Routine erklärt. Der hedonistisch motivierte Egozentrismus wird als Selbstverwirklichung verbrämt. Jeder spricht von Rechten, die er beanspruche, nur wenige von Pflichten. Der Begriff ist vielmehr negativ besetzt, ähnlich wie derjenige der Nation. 

Unterricht und Öffent­lichkeits­arbeit vernachlässigten es, ein übergreifendes Gemeingefühl zu vermitteln, das auch das Nationale einschließt, und ohne Gemeingefühl zerfällt ein Staat. Die Bürger bleiben dann neben­einander lebende Fremde, die einander aus noch darzulegenden Gründen mit einem gewissen Mißtrauen reserviert gegenüberstehen. Die Scheu vor dem anderen und eine wachsende Gleichgültigkeit verbinden sich mit der Bereitschaft, dessen Schwächen auszubeuten. 

Überdies führt die weltan­schauliche Orientierungs­losigkeit, die sicher nicht allein auf eine Verwahrlosung des Nationalgefühls zurückzuführen ist, dazu, daß junge Menschen in explorativer Aggression die Grenzen des Möglichen abfragen, sich über kollektive Aggression zu Kleingruppen verbünden und viele von ihnen anfällig für Drogen und eine beliebige geistige Führung werden. Die bindungslose Mißtrauens­gesellschaft ist inhuman und damit eine Fehlentwicklung, die es hier aufzuzeigen gilt. Mißtrauen erweist sich als Friedens­hemmnis innerhalb von Gesellschaften, aber auch zwischen ihnen.

 

Der übertriebene Individualismus ist, wie Meinhard Miegel und Stefanie Wahl 91* schonungslos darstellten, im Begriff, die Kultur des Westens zu zerstören. Die Kinderfeindlichkeit führt zu einem Bevölkerungs­rückgang, der den Charakter einer Bevölk­erungs­implosion zeigt (Josef Schmid121). Der treffende Begriff beschreibt die Tatsache, daß der Prozeß anders als die Bevölkerungs­explosion nicht notwendigerweise an eine natürliche Grenze stößt, es sei denn mit dem Aussterben einer Population.

*  Neuauflage 2004 im Olzog-Verlag  

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Miegel und Wahl weisen darauf hin, daß die ethnische und kulturelle Identität der Deutschen in hundert Jahren erlöschen könnte, wenn dem gegen­wärtigen Trend nicht über eine Familienpolitik gegengesteuert wird. Daß unsere Gesellschaft gewaltige Geldmittel in die Versorgung der Alten investiert, in die Kosten für die Kinder – die Investition in die Zukunft – dagegen nur wenig, ist sicher wahltaktisch begründet und weiterer Ausdruck des allgemeinen Egozentrismus. Neben finanzieller Hilfe, der Einrichtung von Kindergärten und anderen wirtschaft­lichen Maßnahmen ist eine Öffentlichkeitsarbeit zu fordern, die eine optimistische, lebensbejahende Grundhaltung der Bevölkerung und damit auch Kinderwunsch und Kinder­freundlichkeit fördert. Wobei zu beachten wäre, daß die finanzielle Förderung nicht alle unterschiedslos einschließt.

 

Hinweise auf diese Situation schaffen Unruhe. Daher besteht die Neigung, Probleme dieser Art zu vertuschen. Der Bericht von Miegel und Wahl wurde 1989 auf Wunsch des Bundesministeriums für Forschung und Technologie in Angriff genommen, um den internen Informationsbedarf des BMFT im Hinblick auf die Zukunftsaufgabe "Bewältigung des demographischen Wandels" zu decken. Als der Bericht 1993 vorlag, wurde die Druckfreigabe des Endberichts mit dem Hinweis verweigert, daß, bedingt durch die lange Bearbeitungszeit, die bei der Vergabe der Studie bestehenden ressortpolitischen Rahmenbedingungen nicht mehr gegeben seien und eine Veröffentlichung der Studie zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu "erheblichen Mißverständnissen in der Öffentlichkeit" führen würde. Für die Veröffentlichung mußte ein Verlag gesucht werden.  

Neuerdings gibt es Bestrebungen, Journalisten zu einer "gefilterten" Berichterstattung zu verpflichten, um eine Dramatisierung von Problemen wie den eben ange­sprochenen zu vermeiden. Nun tragen sensationell aufgemachte Berichte sicher nicht zur Problem­lösung bei, die ja einen klaren Kopf erfordert. Aber es besteht die Gefahr, daß bald niemand mehr die Zivilcourage besitzt, Probleme anders als verschleiert anzusprechen, und das kann im Endeffekt noch gefährlicher sein.

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Als Biologe werde ich bei der Aufgabe der Selbsterforschung die stammesgeschichtliche Zeit­dimension in die Betrachtung einbringen. Die meisten Menschen – auch wenn sie in Schlüsselpositionen zukunfts­orientiert planen – denken im allgemeinen nur an die unmittelbare Zukunft, die nächste Wahl, das Ende der Rezession (wer Kinder und Enkel hat, denkt vielleicht auch noch an diese).

 

Biologen teilen dagegen mit den Geologen und Astronomen das Denken in weiten Zeiträumen. Sie wissen um unser stammes­geschichtliches Gewordensein und können diesen Werdegang etwa über zweieinhalb Milliarden Jahre zurück recht gut rekonstruieren. Aus ihrem Wissen um die Dynamik des evolutiven Geschehens denken sie daher auch in anderen Zeitspannen voraus. 

Als Biologen fragen wir nicht nur, was in zehn oder fünfzig Jahren sein wird, sondern überlegen durchaus, wie unsere Welt und unsere Spezies sich über die kommenden tausend Jahre durchbringen kann, welche Chancen für eine weitere Höher­entwicklung bestehen und welche Zielsetzungen wir vernünftigerweise vornehmen sollen. Denn darin unterscheiden wir Menschen uns grundsätzlich von allen anderen Lebewesen: Wir können uns Ziele setzen. Und mögen diese noch so utopisch anmuten, sie richten die weitere Entwicklung aus.

In uns Menschen wurde das Leben sich zum erstenmal seiner selbst bewußt. Wir hinterfragen unsere Existenz. Von einer vernunft­begründeten Sinndeutung sind wir sicherlich noch weit entfernt. Hier bleiben wir wohl noch lange Sucher. Zu einer Sinngebung sind wir dagegen durchaus fähig. Engagement und Vernunft sollten uns dabei leiten.

Mit hohen Idealen allein ist es jedoch nicht getan. Wir müssen auch die Möglichkeiten des uns Menschen gegenwärtig Zumut­baren erkunden. Nichts kann für uns gefährlicher werden als unsere Neigung, uns über das Leben erhaben zu dünken und in Eitelkeit alles für machbar zu halten, ohne Rücksicht auf die Rahmenbedingungen lebendigen Seins.

Zuletzt: Wieso Streitschrift? 

Kurz und bündig: Weil ich durch die ungeschminkte Darstellung brennender Zeitprobleme herausfordere. Allerdings nicht in der Absicht, die Standpunkte zu polarisieren, sondern im Sinne eines Appells, nämlich der Heraus­forderung zum sachlichen Gespräch. Wir alle träumen dann und wann, und das ist sicher nicht unser schlechtester Charakter­zug. Aber es wird gefährlich, wenn wir dabei den Boden unter unseren Füßen verlieren. Von Zeit zu Zeit ist es gut, aufzuwachen und den Rahmen des Möglichen empirisch und rational auszuloten.

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