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  Teil 1     Die Biologie im Meinungsstreit  

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1. Feindbild Biologe  

21-44

Nimmt man als Biologe an Diskussionen zu Zeitproblemen teil, dann findet man sich häufig mit Vorurteilen konfrontiert. Biologische Erklärungen stoßen auf Ablehnung, die meist nicht sachlich begründet wird.

Zum Standardrepertoire der Gegner biologischer Ansichten gehört, wie gesagt, das Schlagwort "Biologismus". Der freie Umgang mit diesem Wort verbindet sich allerdings leider allzu oft mit einer beträchtlichen Ahnungslosigkeit bezüglich dessen, was Biologie ist und meint. Diese Lücke gilt es durch die Diskussion in diesem Buch nach Möglichkeit zu schließen.

Was sind die Gründe für die so weit verbreitete affektiv getönte Ablehnung? 

Die Biologie hat als Naturwissenschaft dank ihrer theoretischen und methodischen Ansätze prüfbare Ergebnisse vorzuweisen. Man denke an die Fortschritte der Physiologie, Genetik, Molekularbiologie und Ethologie. Der vergleichenden Morphologie verdanken wir mit der Evolutionstheorie die Basistheorie aller Wissenschaften vom Leben und damit auch der Wissenschaften vom Menschen, und das Vergleichen ist nach wie vor eine wichtige Methode biologischer Forschung. 

Die Tatsache der Evolution kann nicht mehr geleugnet werden. Einzig die Ausschließlichkeit des blinden Mutations-Selektions-Prinzips, an dessen Wirken auch kein Zweifel besteht, steht zur Diskussion. Das Problem wird durch Forschung gelöst werden, denn wie in allen naturwissenschaftlichen Zweigen entscheidet nicht das Geschick im verbalen Disput, welche Meinung recht hat, sondern es entscheiden die in Beobachtung und Experiment erarbeiteten Ergebnisse. Biologische Forschung ist nicht Glaubenssache, sie gestattet statistisch gesicherte Voraussagen, und darauf gründet sich letzten Endes der Fortschritt dieser Disziplin. Was also stört manche Politologen an ihr?
   Es sind wohl mehrere Aspekte.

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Zunächst scheint es Menschen zu geben, die sich schlicht und einfach durch die Abstammungslehre beleidigt fühlen. Ob sie sich dessen nun bewußt sind oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Sie meinen, ein biologisches Menschenbild würde der Sonderstellung des Menschen nicht gerecht werden. Gerade das Gegenteil ist der Fall! Erst vor dem Hintergrund des Erbes, das wir mit allen Lebewesen teilen, hebt sich der Mensch in seiner Einmaligkeit ab, die unter anderem auf seiner Fähigkeit zur vernunftbegründeten Moral, zum begrifflichen Denken, zur Wortsprache und damit zur kumulierenden Kultur basiert. 

Aber wir mögen noch so oft und ausdrücklich betonen*, daß der Mensch von Natur ein Kulturwesen ist, wir stoßen doch immer wieder auf eine emotionelle Wahrnehmungsblockade. Selbst nach Vorträgen, in denen ich darauf wiederholt und ausdrücklich hingewiesen hatte, traten Diskussionsredner auf, die meinten, der Mensch sei doch nicht nur der Spielball seiner ihm angeborenen Programme. Das Vorurteil, Biologen würden dergleichen lehren, ist schier unausrottbar. Verletzte Eitelkeit und kurzgeschlossenes Denken spielen dabei ebenso eine Rolle wie ein mißverstandenes Freiheitskonzept, das meint, frei wäre nur, was unabhängig von Naturgesetzen abliefe. Eine solche "Freiheit" wäre wahrlich uninteressant und nicht als solche zu bezeichnen, da sie ja nicht auf einer persönlichen Entscheidung beruhen würde, sondern dem Würfelspiel des Zufalls überlassen wäre57.

Freiheit ist vielmehr die Fähigkeit, etwas erwägen zu können, und bei diesem Abwägen im Für und Wider einer Entscheidungs­findung spielen individuelle Erfahrungen (Wissen und erzieherisch aufgeprägte Werthaltungen), ferner affektives Engagement wie z.B. Sympathie für Mitmenschen eine Rolle.

* Konrad Lorenz hat die auf diesen Eigenschaften begründeten Besonderheiten des Menschen in fast allen Schriften, in denen er vom Menschen spricht, hervorgehoben. In seinem Werk <Die Rückseite des Spiegels> schreibt er: "Es ist daher keine Übertreibung zu sagen, daß das geistige Leben des Menschen eine neue Art von Leben sei" (S. 229).

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Die Denkprozesse, über die wir dieses aus verschiedenen Quellen stammende Wissen sortieren und gewichten, folgen selbstverständlich erforschbaren Gesetzen. Bisweilen gewinnt man bei Diskussionen den Eindruck, viele Menschen hielten den Geist für etwas über ihrem Haupt Schwebendes, das mit biologischen Dingen wie den Ganglienzellen — wenn überhaupt — nur recht wenig zu tun hat.

Die Ablehnung biologischer Konzepte tritt uns in den verschiedensten Schattierungen und Varianten entgegen. So wird die Abstammungslehre heute im allgemeinen akzeptiert, aber die Bereitschaft, irgendwelche Konsequenzen aus dem mittlerweile erarbeiteten Wissen zu ziehen, ist in weiten Kreisen gering. Das gilt insbesondere für die Akzeptanz unseres Wissens um das Angeborene im menschlichen Verhalten.

 

Genetische Programmierungen

 

Bis in die 60er Jahre dieses Jahrhunderts dominierte in den Verhaltenswissenschaften sogar die Meinung, daß selbst das Verhalten der Tiere im wesentlichen über Lernprozesse aufgebaut werde. Und als es schließlich nicht mehr zu leugnen war, daß phylogenetische Anpassungen Wahrnehmung, Motivation und Handeln der höheren Säuger bis hinauf zum Menschen entscheidend mitbestimmen, flüchtete man sich in die Aussage, daß sicher Erbe und Umwelt in der Entwicklung des Verhaltens eine bedeutende Rolle spielten, daß man aber in der Praxis den Einfluß von Erbe und Umwelt nie genau auseinanderhalten könne, da beides sich in der Entwicklung bis in die kleinsten Einheiten mische.

Das wird auch heute noch stempelhaft wiederholt, obgleich Konrad Lorenz83 auf die Unhaltbarkeit dieser Argumentationsweise hingewiesen hat. Er ging von der Tatsache der Angepaßtheit der Organismen in Körperbau und Verhalten aus, die zur Voraussetzung hat, daß sich der angepaßte Organismus irgendwann mit den Gegebenheiten, an die er sich anpaßte, auseinandersetzte.

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Ein einfaches Beispiel mag diesen Sachverhalt erläutern: Manche Stabheuschrecken ähneln Ästchen. Stört man die Tiere, dann nehmen sie auch eine Stellung wie ein Ästchen ein, so daß man sie nicht so leicht entdeckt. Andere Heuschrecken wieder ähneln Blättern, die sie bis in Details der Äderung im Körperbau nachahmen, und sie zeigen wiederum ein entsprechendes Verhalten, indem sie sich zu ihrem Aufenthalt Pflanzen wählen, deren Blätter sie im Aussehen mimen. Eine solche Ähnlichkeit in Körperbau und Verhalten setzt logischerweise voraus, daß der Organismus, der die Vorlage in Anpassung kopiert, sich über diese irgendwann "informierte". 

Nun wissen wir, daß Organismen dazu nur begrenzte Möglichkeiten haben. Sie können sich im Laufe der Evolution über die bekannten Mechanismen von Mutation, Neukombination und Selektion mit ihrer Umwelt auseinandersetzen und sich an sie anpassen, was einem Informationserwerb gleichkommt. In diesem Fall ist das Erbgut der Informationsspeicher; die dort kodierte Information steuert den Selbst­differenzierungsprozeß des Wachstums auch jener zentralnervösen Strukturen, die angepaßtes Verhalten bewirken. Organismen können sich ferner über individuelle Erfahrungen informieren, z.B. durch eigenes Probieren oder auch dadurch, daß sie unterwiesen werden, ein Vorgang des Lehrens, der vor allem bei uns Menschen große Bedeutung hat und über den das kulturell akkumulierte Wissen vermittelt wird.

Man kann nun einem Tier während seiner Jugendentwicklung gewisse Informationen vorenthalten, die nötig wären, um ein in bestimmter Weise angepaßtes Verhalten zu erwerben. Ich kann z.B. eine Stabheuschrecke vom Ei an isoliert aufziehen. Entwickelt sie dennoch die typische Ästchenform und überdies das zur Ast-Mimikry passende Verhalten, dann habe ich nachgewiesen, daß die Information, die eben angesprochenen Merkmale betreffend, als stammesgeschichtliche Anpassung im Genom der Art kodiert ist und als Blaupause den Wachstumsprozeß der Entwicklung bestimmt.

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In ähnlicher Weise kann ich Vögel vom Ei an schallisoliert aufziehen. Zeigen diese Tiere dann bei Eintritt der Geschlechtsreife dennoch ihre artspezifischen Gesangsstrophen, dann ist damit nachgewiesen, daß die Silbenzahl, Melodie und Gesangsrhythmus betreffende Information im Erbgut als stammesgeschichtliche Anpassung vorgegeben ist. Sollte nun jemand nachweisen, daß im Entwicklungsprozeß auf einer ganz anderen Ebene, etwa in der Entwicklung der Atmung, die ja für das Singen Voraussetzung ist, Lernprozesse eine Rolle spielten, dann ist dies für die Frage nach der Herkunft der Angepaßtheit auf dem höheren Niveau des Gesanges völlig irrelevant. Denn angenommen, der Vogel müßte das reibungslose Funktionieren der antagonistischen Muskeln einüben, die zur Atmung benötigt werden, dann würde das doch nicht erklären, wieso der Vogel zuletzt das Muster seines Artgesanges beherrscht, ohne als Individuum je mit diesem Muster konfrontiert gewesen zu sein.

Gegen die Verwendung des Begriffes "stammesgeschichtliche Anpassung", "stammesgeschichtlich angepaßt" hören wir gelegentlich den Einwand, daß es, um von Angepaßtheit sprechen zu können, eigener Experimente bedürfe, um eine solche nachzuweisen. Die Aufzucht unter Erfahrungsentzug reiche nicht aus. Das stimmt, berührt aber nicht das eigentliche Problem. Entscheidend ist der Nachweis, daß die Entwicklung einer Struktur oder eines Verhaltens, das demjenigen anderer Vertreter der Art gleicht, nicht vom Artgenossen der Individualentwicklung in Interaktion mit dem Vorbild kopiert oder durch eigentätiges Erfahrungssammeln gelernt werden muß. Ich kann die ein Ästchen mimende Stabheuschrecke vom Ei an isoliert aufziehen, und ich kann ihr überdies auch die Möglichkeit vorenthalten, mit den Wirtspflanzen, denen sie ähnelt, aufzuwachsen. Zeigt sie dennoch in Aussehen und Verhalten die "täuschende Ähnlichkeit" (Mimikry), dann habe ich nachgewiesen, daß die ihrer Ausbildung zugrundeliegende Information im Erbgut kodiert gewesen sein muß.

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Daß die Ästchenähnlichkeit eine Anpassung ist, um Raubfeinden zu entgehen, liegt zwar auf der Hand, wäre aber durch weitere Experimente nachzuweisen. Zur Vermeidung semantischer Verwirrung schlage ich vor, künftig statt von stammesgeschichtlich angepaßt von stammesgeschichtlich oder genetisch programmiert zu sprechen.

 

Zentrale Referenzmuster, Auslösemechanismen, Erbkoordinationen

Alle Leistungen des Verhaltens basieren auf Populationen von Nervenzellen, die in bestimmter Weise untereinander und mit Sinnes- und Erfolgsorganen (Muskulatur, Drüsen) zu einem funktionsfähigen, eine bestimmte Leistung vollbringenden Organsystem verbunden sind. Die Bereitschaft der Nervenzellen, zu feuern, wird durch eine Vielzahl von Überträgersubstanzen und Hirnhormonen gefördert oder gehemmt.

Aus zahlreichen Versuchen an Tier und Mensch wissen wir, daß solche Wahrnehmungen und Verhaltens­weisen vermittelnden und produzierenden Organsysteme in einem Prozeß der Selbst­differenzierung aufgrund der im Erbgut festgelegten Entwicklungs­anweisungen bis zur Funktionsreife heranwachsen können. Leistungen so entwickelter Systeme bezeichnen wir in Kurzbeschreibung als "angeboren". Wie ein Nervensystem sich selbst bis zur Funktionsreife verdrahtet, das ist uns im Prinzip bekannt. Der amerikanische Physiologe und Nobelpreisträger Roger Sperry124 fand unter anderem, daß die vom Zentral­nervensystem in die Peripherie auswachsenden Nervenenden ihre Endorgane, auf die sie chemisch abgestimmt sind, gewissermaßen "erschnüffeln". Sie finden sie auch, wenn man sie an andere Orte verpflanzte. Das haben mittlerweile zahlreiche Untersuchungen bestätigt. Es würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen, wollte ich darauf näher eingehen. Wer sich mit der Materie vertraut machen will, der sei auf meine Lehrbücher verwiesen22, 26

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Angeborene Leistungen der Wahrnehmung haben die Sinnesphysiologen und Wahrnehmungs­psychologen untersucht. Säuglinge, denen man unscharfe Linien projizierte, lernen über das Betätigen von in ihrem Kopfkissen eingebauten Hebeln, die Linien scharfzustellen. Hier liegen offenbar zentrale Referenzmuster vor, die ihnen vorgeben, was richtig ist, ein Soll, das sie zu erreichen trachten. Wir bezeichnen diese Art zentraler Referenzmuster, gegen die einkommende Meldungen verglichen werden, auch als Sollmuster oder Leitbilder. Sie liegen beim Menschen auch der ästhetischen Wahrnehmung zugrunde, deren basale Prinzipien uns ebenfalls angeboren sind und denen sich im Laufe der Kindes- und Jugendentwicklung kulturelle Aufprägungen überlagern. Ähnliches dürfte für einige sittliche Normen gelten26,27.

Bei den angeborenen Auslösemechanismen handelt es sich um Referenzmuster, die wie ein Reizfilter wirken und die so mit der Motorik zusammengeschaltet sind, daß sie beim Eintreffen bestimmter "Schlüsselreize" ein bestimmtes Verhalten auslösen. Man hat die Funktionsweise dieser Auslösemechanismen heute bis in die neuronale Ebene untersucht22, 67. Von besonderem Interesse sind jene Schlüsselreize, die als Signale (soziale Auslöser) im Dienste der Kommunikation entwickelt wurden. Es kann sich um geruchliche Signale handeln (Pheromone), um akustische (Weinen) oder auch visuelle (Farb- und Formmerkmale). Unter den visuellen spielen die Ausdrucksbewegungen eine besondere Rolle. Uns Menschen angeborene Ausdrucksbewegungen sind das Lachen, Lächeln und viele andere Gesichtsbewegungen.

Taub und blind geborene Kinder, die wegen ihrer Behinderung kein soziales Modell mimen können, zeigen Lachen, Lächeln und Weinen in der für uns Menschen typischen Weise, und unsere kulturenvergleichenden Studien lehren, daß die menschliche Mimik über die Kulturen hinweg bis in überraschende Details übereinstimmt (Beispiel "Augengruß"26). Bereits Neugeborene können weinen, und sie reagieren selektiv auf Tonbänder, die Weinen wiedergeben, mit Mitweinen.

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Die Anpassungen in der Wahrnehmung vermitteln uns ein Abbild dieser Welt, allerdings selektiv bezogen und beschränkt auf eignungsrelevante Facetten der Wirklichkeit. So bildet die menschliche Wahrnehmung Wirklichkeiten des mesokosmischen Bereichs so gut ab, daß wir heute bereits Sonden zu den Planeten senden können. Im atomaren und weiteren kosmischen Bereich allerdings geraten unser Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögen in Schwierigkeiten. Über die abbildende Funktion hinaus interpretiert unsere Wahrnehmung, wie die zahlreichen Sinnestäuschungen lehren, nach ziemlich rigidem, gegen Lernerfahrungen abgesichertem Programm. Läßt man gegen einen dunklen Hintergrund in kurzem zeitlichem Abstand zwei Lichtpunkte nebeneinander aufleuchten, dann interpretiert unsere Wahrnehmung dies als eine Bewegung eines Objektes von a nach b. Betrachten wir nachts bei bewölktem Himmel den Mond, dann scheint dieser gegen die Wolken zu fliegen. Der vorschnelle Schluß ergibt auf der Erde durchaus Sinn. Normalerweise bewegen sich hier Objekte gegen eine ruhende Kulisse, und für unsere Orientierung ist es wichtig, daß wir sie schnell als Beute oder Feinde erkennen. In unsere Wahrnehmung sind, mit anderen Worten, Hypothesen eingebaut, die sich im Laufe der Stammesgeschichte bewährten. Sie führen uns, wie die Sinnestäuschungen lehren, allerdings gelegentlich in die Irre, wie auch so manch anderes uns Angeborenes.

Mit den Ausdrucksbewegungen haben wir bereits Beispiele für uns angeborene Erbkoordinationen, das heißt genetisch programmierte Bewegungsabläufe, gebracht. Solche Anpassungen in der Motorik gibt es in großer Zahl. Wir wollen es dabei belassen und nur noch darauf hinweisen, daß wir Menschen auch mit uns angeborenen motivierenden Mechanismen begabt sind, physiologischen Einrichtungen, die bewirken, daß wir zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich gestimmt sind und dementsprechend verschiedene Handlungsbereitschaften zeigen. Schließlich wäre zu erwähnen, daß auch unser Lernen so genetisch programmiert ist, daß wir bevorzugt lernen, was zu unserem Überleben beiträgt. Es gibt uns angeborene Lerndispositionen. Auf sie werden wir noch zurückkommen.

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Da die Verhaltensforschung nun einmal auch auf das Angeborene im menschlichen Verhalten hinweist und damit der These widerspricht, man könne den Menschen nach allen Richtungen hin gleich leicht über Erziehung formen, ist sie bis heute das Angriffsziel von Ideologen, die es gerne anders sehen wollen. Schriften, in denen die Thesen der biologischen Verhaltensforschung in Frage gestellt werden, dürfen daher in solchen Kreisen mit Beifall rechnen.

Ein Beispiel dafür ist die Rezeption eines Buches von Hanna Maria Zippelius143), das Methodenkritik an einigen Experimenten der Pioniergeneration der Ethologen übt. Insbesondere die Experimente von Tinbergen und seinen Schülern über die das Fortpflanzungsverhalten der Stichlinge und das Futterbetteln der Silbermövenküken steuernden Schlüsselreize sind Gegenstand ihrer Attacken. Nun ist es nicht ungewöhnlich, daß ältere Forschungsergebnisse aufgrund neuerer Versuche revidiert werden müssen. In den Naturwissenschaften ist das vielmehr an der Tagesordnung. Allerdings ergaben kritische Besprechungen durch Jürg Lamprecht79,80) und Peter Kuenzer77), daß Zippelius und ihren Mitarbeitern selbst schwere methodische Fehler unterliefen, was auch nicht aufregend wäre, hätte sie nicht versucht, den Eindruck zu erwecken, die Grundfesten der Ethologie wären erschüttert. Interessant ist eigentlich nur die Rezeption dieses Buches seitens offensichtlich biologiefeindlicher Referenten. So schrieb Hubert J. Gieß47 in der Zeitschrift Psychologie heute unter dem Titel »Verhaltensforschung: Theorie ohne Wert?« am Ende seiner Besprechung:

»Schlüsselreize im Sinne von Lorenz gibt es nicht. Eine Feststellung mit weitreichenden Folgen. Denn der Tinbergenversuch ist einer der Pfeiler der Motivationstheorie von Konrad Lorenz, dem Urvater der Verhaltensforschung. Und die wurde immer auch benutzt, um menschliches Verhalten zu erklären.

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Lorenz selbst hatte dies <die wichtigste Aufgabe seines Faches> genannt. Die entscheidende Frage dabei: Was ist erlernt, was ist angeboren? Umwelt oder Gene, was ist wichtiger? — Lorenz verstand es, auf unnachahmliche Art seine vorgeblichen Erkenntnisse zu popularisieren. Von ihm geprägte Begriffe wie Leerlaufhandlung, Kindchenschema, Übersprungshandlung, Schlüsselreiz, überoptimaler Auslöser, Kommentkampf sind längst in die Umgangssprache eingegangen. Doch genaue Untersuchungen entlarven die schönen Worte als leere Hülsen.«

Die Attacke richtet sich gegen die Ethologie und gegen Lorenz und geht damit weit über das hinaus, was Zippelius sagte. Sie paßt aber zu der gegenwärtigen antinaturwissenschaftlichen Zeitströmung. 

»Empirische Wissenschaften fördern allemal nur Sinn-nackte Daten zutage. Aus Sinn-nackten Daten lassen sich niemals Handlungsanweisungen entnehmen. Deshalb gibt es auch aus der Evolution nichts zu lernen«, behauptet der Wiener Dozent für Philosophie, Günther Pöltner109a, in grandioser Vereinfachung. Seine Aussage bezieht sich auf die Evolutionäre Erkenntnistheorie85). Ich erwähne das nur als Kuriosum, denn ernstzunehmen sind solche Aussagen nicht. Sie belegen jedoch eine verbreitete Geisteshaltung.

 

Das wirklich Gute 

Bei der Ablehnung biologischer Konzepte spielen nicht nur Ängste um die menschliche Freiheit und Sonder­stellung eine Rolle. Man liest oft, Biologen würden in der Natur einen rücksichtslosen Kampf ums Dasein feststellen und daraus folgern, daß die Natur nun einmal »rot in Klauen und Zähnen« sei und man dagegen nichts machen könne. Eine Reihe von soziobiologischen Veröffentlichungen haben sicher dazu beigetragen, daß sich diese Meinung, die humanitär empfindende Menschen verstört, weiter verfestigte. Allerdings versuchte ich dem bereits 1970 entgegenzutreten. 

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In meinem Buch <Liebe und Haß>23) zeigte ich, daß sich mit der Entwicklung der individualisierten Brutpflege neue Möglichkeiten sozialen Umgangs eröffnet haben und daß seither Freundlichkeit und Kooperation in der Evolution zunehmend eine größere Rolle spielen. Zur Verdeutlichung meines Standpunktes nannte ich das erste Kapitel des Buches »Die Bestia Humana — ein modernes Zerrbild vom Menschen«. Das hat nicht verhindert, daß ich bis heute gelegentlich zitiert werde, als würde ich ein Bestia-humana-Konzept vertreten.46) Sicher wird der Mensch nicht nur durch eitel Liebe bewegt. Der Aggression stehen jedoch als natürliche Gegenspieler unsere prosozialen Anlagen gegenüber, und auf ihnen gründet sich unsere Hoffnung auf eine zunehmende Humanisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen.

Als Grund für die Ablehnung ethologischer und soziobiologischer Befunde wird, wie gesagt, die Furcht angegeben, die Akzeptanz des Angeborenen könnte einem erzieherischen und sozialpolitischen Fatalismus Vorschub leisten. 

Aber auch die Angst um den Machtanspruch der meinungsbildenden Ideologen spielt sicher eine große Rolle. Daher die oft heftigen und den Sachverhalt entstellenden Polemiken. Der amerikanische Entwicklungspsychologe und Humanethologe William Charlesworth11) meinte zu dieser Auseinandersetzung sehr treffend, die Herausgeber von Zeitschriften sollten sich dazu verpflichten, Sätze, die der Soziobiologie unterstellen, sie würde Sklaverei, Rassismus, Imperialismus und Rassenmord rechtfertigen und das Prinzip »gleiche Rechte für alle« ablehnen, immer mit Aussagen zu konfrontieren, die der Lerntheorie unterstellen, Propaganda, unlautere Werbung, Psychoterror, öffentliche Indoktrination in Richtung Ausländerhaß, Haß gegen Klassenfeinde, Minderheiten und so weiter zu rechtfertigen. 

»Wenn man die Soziobiologie und die Lerntheorie so nebeneinanderstellt, sollte es sich zeigen, wie unproduktiv es ist, durch bestimmte Auslegungen oder auf andere Weise zu behaupten, daß die Wissenschaft zu einer Pseudowissenschaft, zu Unmenschlichkeit des Menschen gegen den Menschen führt: ergo, überhaupt keine Wissenschaft mehr ist. Tatsächlich könnte man aber argumentieren, daß gerade, weil der Mensch so ein kulturelles, lernendes Wesen ist, wir größere Angst vor der Lerntheorie haben sollten, weil Lernprozesse einen viel höheren Einfluß auf den Menschen haben als Gene. Genauer gesagt, wenn die Menschen nicht solche lernenden Wesen wären, dann würden sie nicht all den Galtonschen Unfug lernen: Also hört auf, Wissenschaft zu betreiben, damit böse Zeitgenossen Forschungsergebnisse nicht benutzen können, den Unsinn noch besser zu lehren« (S. 24).

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2. Was lehrt uns die Evolutionsbiologie ?

 

 

Aus der stammesgeschichtlichen Verwandtschaft aller heute auf der Erde lebenden Organismen ergibt sich, daß alle abgestuft nach verwandtschaftlicher Nähe Merkmale teilen, die sie von gemeinsamen Vorfahren ererbten. So ist die Vier-Buchstaben-Schrift des genetischen Kodes Bakterien ebenso wie uns Menschen eigen. Alle zellulären Organismen, die sogenannten Eukaryonten, Einzeller ebenso wie die höheren Pflanzen und Tiere, den Menschen eingeschlossen, verfügen bereits über die gleichen Mechanismen der Zellteilung, Reifeteilung und Befruchtung. Alle tierischen Zellen zeigen die gleichen zellulären Elemente des Aufbaus — Chromosomen, Zellkern, Mitochondrien, Zellplasma — und im Grunde auch die gleiche Zellphysiologie.

Mit jeder höheren Entwicklungsstufe kommen natürlich im Gesamtbauplan der Organismen neue Differenzierungen dazu. Nur die Wirbeltiere verfügen über eine Wirbelsäule, nur die Säuger sind behaart und säugen ihre Jungen. Der Hinweis auf solche von einer gemeinsamen Ahnform ererbte »homologe« Merkmale besagt nichts weiter, als daß wir Menschen ebenfalls echte zelluläre Organismen (Eukaryonten), Vielzeller (Metazoer), Wirbeltiere (Vertebrata) und schließlich auch Säugetiere (Mammalia) sind. Falsch wäre es, würde man »nichts als« sagen, denn selbstverständlich nimmt der Mensch aus Gründen, die wir noch aufzeigen, eine eklatante Sonderstellung ein.

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Aber darüber hinaus gibt es von gemeinsamen Ahnen ererbte Merkmale, und diese können vergleichend untersucht werden. Man kann durchaus hormonphysiologische Forschungen an Kaninchen betreiben und daraus für den Menschen Relevantes lernen, denn die Hormone sind hier wie dort die gleichen. Bevor man Hormone synthetisieren konnte, bezog man das Ausgangsmaterial sogar vom Schlachthof, um krankheitsbedingte Mängel beim Menschen zu therapieren. Aber keiner, der das tut, behauptet damit, Menschen wären nichts anderes als Kaninchen.

Beim Studium der tierischen Physiologie und des tierischen Verhaltens können wir allgemeine Gesetzmäßigkeiten des Lebens aufdecken. Ob sie auch für uns Menschen gelten, bleibt zu prüfen. Grundsätzlich gilt, daß die durch das Studium der tierischen Physiologie oder des tierischen Verhaltens zum besseren Verständnis des Menschen entwickelten Arbeitshypothesen stets durch Forschung am Menschen auf ihre Tragfähigkeit hin geprüft werden müssen. Wir übertragen also keineswegs vom Tier auf den Menschen, sondern stellen fest, daß beide in ähnlicher Weise auf gleiche Bedingungen reagieren. Biologen haben Phänomene wie etwa das der Rangordnung oder Territorialität zunächst bei Tieren entdeckt118). Sie wur de\i durch diese Entdeckungen dann auch auf Eigentümlichkeiten unseres Verhaltens aufmerksam und wiesen schließlich durch Forschung am Menschen nach, daß Rangordnung und Territorialität in der Tat auch für uns Menschen typisch sind. Nicht weil Rotkehlchen territorial sind, schreiben wir dem Menschen territoriales Verhalten zu, sondern weil wir es beim Menschen weltweit in den verschiedensten Situationen beobachten können.

Eine unbestrittene und für das Evolutionsgeschehen höchst bedeutungsvolle Tatsache ist, daß die Lebewesen einer Population sich in unterschiedlicher Weise fortpflanzen. Einige Individuen setzen viele Nachkommen in die Welt, andere nur wenige oder gar keine. Dies alles drückt jedoch noch nicht eine unterschiedliche Überlebenstüchtigkeit aus, denn wenn diejenigen, die wenige Nachkommen produzieren, mehr Sorgfalt in die Aufzucht investieren als ihre Artgenossen, die viele Junge produzieren, aber aufgrund mangelnder Fürsorge nur wenige durchbringen, dann gleichen sich die Unterschiede unter Umständen wieder aus. 

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Auch kann ein Individuum, das selbst keine Nachkommen produziert, die Weitergabe seiner Gene durch Förderung der Nachkommen Blutsverwandter sichern; ein Sachverhalt, auf den wir noch zurückkommen. Der unterschiedliche Fortpflanzungserfolg hat natürlich evolutionsbiologische Konsequenzen, was allerdings nicht immer gerne zur Kenntnis genommen wird, weil man meint, die Akzeptanz solcher Fakten könnte die Wiederkehr eines extremen Sozialdarwinismus fördern. Mit dieser Möglichkeit muß ein verantwortlicher Biologe sicher rechnen, aber ihr begegnen wir nicht durch Ausblendung der Wahrheit, sondern nur, indem wir uns mit ihr auseinandersetzen, welche Zielvorstellungen wir auch immer verfolgen.

Alle Organismen streben danach, individuell und in Nachkommen zu überleben. Im Hinblick auf die Grundprobleme der Selbsterhaltung und Fortpflanzung erweisen sie sich unterschiedlich erfolgreich und erzeugen demnach mehr oder weniger Nachkommen, was dazu führt, daß die genetischen Programme der biologisch Erfolgreicheren in einer Population zunehmen. Gäbe es keine Einschränkungen, dann würden sich die Populationen ins Unendliche vermehren. Dem setzt Mangel an Nahrung, Brutplätzen und dergleichen Grenzen. Um diese für die Vermehrung notwendigen Ressourcen konkurrieren Individuen und Populationen mit unterschiedlichem Erfolg. Das Erbgut der erfolgreichen Individuen nimmt von Generation zu Generation in der Population zu, und zwar auch dann, wenn die Gesamtzahl der Individuen einer Population sich nicht weiter ändert. So führt der unterschiedliche Fortpflanzungserfolg zu Verschiebungen der Genfrequenzen in einer Population und damit zu einem evolutiven Wandel. Was im einzelnen den Konkurrenzvorteil ausmacht, wechselt. Es kann darauf ankommen, Raubfeinden besser zu entgehen, im Kampf mit Rivalen geschickter zu sein, schneller an Nahrung zu kommen, besser Junge aufzuziehen oder erfolgreicher Geschlechtspartner zu umwerben oder auch freundlicher und kooperationsbereiter zu sein.

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Die Selektion setzt zunächst an den Individuen an, und das Erbgut jener, die die besseren Selektions­eigenschaften aufweisen, nimmt in der Population zu. So werden Merkmale in Morphologie und Verhalten herangezüchtet, die die Fähigkeit, sich fortzupflanzen, optimieren, in einem Vorgang, den man als Anpassung bezeichnet. Nach der Fähigkeit, sein Erbgut weiterzugeben, bemißt man die »Eignung« eines Lebewesens. Jedes aus einer geschlechtlichen Vereinigung hervorgegangene Individuum — eineiige Zwillinge ausgenommen — ist in seiner genetischen Konstellation einmalig. Dafür sorgen die Neukombinationen des genetischen Materials sowie mutative Änderungen. Damit wird aber auch jedes Individuum zu einem Pionier der Evolution.

Diejenigen Gene, die die Einmaligkeit eines Individuums ausmachen, finden sich aber auch mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% in seinen unmittelbaren Nachkommen, zu 25 % in seinen Enkeln, zu 12,5% in seinen Urenkeln, entsprechend in seinen Vollgeschwistern zu 50% und in seinen Halbgeschwistern zu 25%. Dies bedeutet, daß ein Individuum genetisch nicht nur in unmittelbaren Nachkommen, sondern auch in jenen seiner Verwandten überlebt. Man beobachtet daher, daß Individuen häufig nicht nur in die eigenen Nachkommen investieren, sondern auch Verwandte unterstützen und deren Nachkommen helfen, selbst dann, wenn sie dabei ihre eigenen Fortpflanzungschancen einschränken. Ein solches Verhalten erweist sich dann als vorteilhaft, wenn die Förderung der Fortpflanzungschancen anderer unter Zurückstellung eigener Reproduktionschancen dennoch die Vermehrung der eigenen Gene fördert. 

Man spricht in diesem Fall von Verwandtenselektion und nimmt als Maß für die Beurteilung der biologischen Angepaßtheit von Individuen deren Gesamteignung, die sich aus der persönlichen Fortpflanzungsleistung zuzüglich des Fortpflanzungserfolgs genetisch Verwandter dank altruistischer Hilfeleistung des Individuums errechnet. Die durch eigene Fortpflanzung bewirkte Eignung bezeichnet man als direkte Eignung, die durch Verwandtenunterstützung als indirekte Eignung. Beides ergibt die Gesamteignung. 130, 133, 136)

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Die Soziobiologen haben in diesem Sinne auch von einem »egoistischen« Vermehrungsinteresse der Gene gesprochen und den Begriff des genetischen Eigennutzes eingeführt. Was wie Altruismus aussehe, so schrieben einige, würde sich bei näherem Hinsehen als genetischer Egoismus entpuppen. Diese Art der Darstellung hat unnötig provoziert. Psychologische Begriffe wurden hier zur Beschreibung von Verhältnissen auf einer Ebene verwendet, für die sie eigentlich nicht zutreffen. Didaktisch mag die provokante Beschreibung zwar geeignet sein, ein Prinzip zu erhellen; in der Praxis hat es sich jedoch erwiesen, daß die Ausdrucksweise viele verärgert und damit eine emotionelle Denkblockade auslöst, vor allem bei jenen, die biologischen Argumentationen aus weltanschaulichen Gründen von vornherein eher reserviert gegenüberstehen81)

Will man andere mit den Grundgesetzlichkeiten des Lebens vertraut machen, dann sollte man eine provokative Ausdrucksweise meiden. Schließlich erleben Menschen, die anderen helfen, altruistische Gefühle; sie handeln aus dem subjektiv erlebten Mitgefühl und aus Liebe in deutlicher Aufopferungs­bereitschaft unter Zurückstellung der eigenen Interessen. Diese altruistischen Verhaltensmuster, ihre motivationalen Grundlagen und das sie subjektiv begleitende affektive Erleben wurden im Laufe der Evolution ausgebildet, weil sich Altruisten den Nichtaltruisten gegenüber als besser geeignet erwiesen. Eine solche Beschreibung hilft, das Wirken der Selektion beim Zustandekommen altruistischen Verhaltens ohne das abwertende und überdies unzutreffende »nichts als« zu verstehen. Liebe als Fähigkeit, persönliche und affektiv getönte Bindungen zu anderen herzustellen — sei es nun die elterliche Liebe oder die Liebe zu einem Geschlechtspartner —, wird nun einmal als Liebe erlebt. In der Evolution der Wirbeltiere tritt sie auch relativ spät auf. 

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Wichtig ist zu erkennen, daß die Evolution auf reproduktive Eignungsmaximierung hin züchtet. Man kann von einem Lebensprinzip sprechen, dem natürlich auch wir Menschen unterworfen sind. Handeln Menschen so, daß sie ihre Gesamteignung mindern, dann laufen sie Gefahr, von anderen, die das nicht tun, überholt zu werden und mangels Nachkommen genetisch Verwandter aus dem Abenteuer der Evolution auszusteigen.

Eine weitere Quelle des Mißverständnisses ist die Verwendung des Strategiebegriffes durch die Soziobiologen. Sie sprechen von »reproduktiven Strategien«, was dem Laien die Vorstellung geplanten, zielgerichteten Handelns suggeriert. Davon ist nicht die Rede. Wenn Soziobiologen von der reproduktiven Strategie einer Muschel sprechen, dann beschreiben sie damit ein Phänomen, ohne Intention zu implizieren. Ähnlich mißverständlich ist der häufig anzutreffende Begriff der »evolutionsstabilen Strategien« (evolutionary stabilized strategies). Der Begriff bezieht sich auf die Tatsache, daß in einer Population regelmäßig ein bestimmter Prozentsatz von Individuen auftaucht, die in ihrem Verhalten nicht der Gruppennorm entsprechen. 

Unter Turnierkämpfern gibt es zum Beispiel immer wieder Beschädigungskämpfer. Sie können sich zu einem geringen Prozentsatz halten, weil sie, wie man durch Modellrechnungen wahrscheinlich machen kann, in geringer Zahl, quasi parasitär, Vorteile von ihrem abweichenden Verhalten haben können. In anderen Fällen reicht die Gegenselektion nicht aus, um die pro Generation neu auftretenden Mutanten auszumerzen. Wieder ist es der Strategiebegriff, der Uneingeweihte verwirrt. Man spricht daher besser von evolutionsstabilen Zuständen (evolutionary stabilized states).

Wir sprachen vom Überleben, vom Weitergeben der Gene auf nachfolgende Generationen, von Konkurrenz, mutativer und rekombinatorischer Änderung der genetischen Konstitution und der als Ergebnis all dieser Prozesse stattfindenden Evolution. Aber wir sprachen noch nicht von »Höherentwicklung«, und es ist sicher angebracht, auch diesen Prozeß zur Sprache zu bringen.

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Zwar mag von der Eignung her gesehen ein Bakterium oder ein Regenwurm ebenso lebenstüchtig oder sogar noch tüchtiger sein als ein Vogel, Säuger oder der risikobehaftete Mensch. Aber wir können gar nicht anders, als Organismen nach ihrer »Organisationshöhe«, sprich Differenziertheit*, wertend einzustufen. Vielfalt und Differenziertheit bewerten wir höher als Einförmigkeit und Undifferenziertheit. Dieses ästhetische Werturteil dürfte uns angeboren sein. Und wie immer es auch zustande gekommen sein mag, es hat Konsequenzen. Unter anderem bewerten wir sekundären Differenzierungsverlust — Erscheinungen der Involution — negativ. Das mag uns vor degenerativen Entwicklungen bis zu einem gewissen Grad bewahren.

 

  

3. Gruppeninteresse — Artinteresse ?

 

Verhaltensforscher sprachen früher oft von einem »Artinteresse«. Konrad Lorenz84) und auch ich24) deuteten z.B. die Entwicklung von Tötungshemmungen beim innerartlichen Kampf als Anpassungen im Dienste der Arterhaltung. Aus den vorhergegangenen Ausführungen zur Gesamteignung dürfte jedoch klar sein, daß die Selektion nicht auf dem Artniveau ansetzt, sondern an den Individuen und Gruppen von Verwandten. Beim Menschen sind es überdies auch größere, sich abgrenzende Populationen nicht unmittelbar Blutsverwandter, die als Einheiten der Selektion auftreten können.

* Wir messen als Differenziertheit oder Entwicklungshöhe nicht den Grad der Angepaßtheit, sondern nach Konrad Lorenz85) das Maß an Information, das in den Bauplan eingeht. Dazu gehört auch die Begabung, weitere Informationen zu erwerben, also die Fähigkeit, zu lernen, sich einsichtig zu verhalten, die Neugier als Antrieb zu erkunden, kurz all das, was individuelle Anpassungsfähigkeit ausmacht. Verliert ein Organismus im Laufe der Evolution sekundär diese Fähigkeit, wie das bei vielen Parasiten der Fall ist, dann bewerten wir dies als negativ, auch wenn, wie im Falle verschiedener parasitischer Krebse, perfekte Anpassung das Ergebnis ist.

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Hier erweisen sich individual-selektionistisch entwickelte Anpassungen im Dienste des sozialen Zusammen­lebens als geeignet, Gruppen von Individuen so fest aneinander zu binden, daß sie nunmehr als Einheiten der Selektion auftreten25. Dazu gehört u.a. neben den schon erwähnten affiliativen prosozialen Begabungen auch die Fähigkeit, ein familiales Ethos über Indoktrination zum Gruppenethos zu erweitern.

In den sich quasi als Großfamilien21) abgrenzenden Gruppen kommt es dann über Individualselektion und Sippenselektion zur Anreicherung gewisser Erbmerkmale, die ihrerseits die Eignung einer Population in Konkurrenz mit einer anderen entscheidend mitbestimmen. Tatsächlich lehrt uns die Geschichte, daß bei kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Gruppen die Sieger sehr häufig die Besiegten verdrängten, ja oft sogar ausrotteten. Das spielt sich bei Naturvölkern auf der Ebene der Lokalgruppen, Tälergemeinschaften oder Stämme ab. Bei zivilisatorisch fortgeschrittenen Völkern bekämpfen Ethnien einander auf die gleiche Weise. In gewissem Sinne handelt es sich auch hier um Verwandtenselektion, da ja die Mitglieder einer Ethnie, die sich durch Sprache und Brauchtum von anderen abgrenzen, auch bevorzugt untereinander heiraten. Sie sind bemerkenswerterweise über ein familiales Ethos verbunden, was etwa im Begriff Nation oder Vaterland zum Ausdruck kommt; es handelt sich um quasi-familiale Solidargemeinschaften.

Die sich abgrenzenden Populationen des Menschen sind ihrerseits Pioniere der Evolution. Mit verschiedenen Ideologien und dementsprechend verschiedenen Zielsetzungen, unterschiedlichen Wirtschaftsformen und Regierungsformen experimentieren sie auf Gruppenebene in Konkurrenz mit anderen. Dieser Wettstreit wurde in der Geschichte der Menschheit oft kriegerisch ausgetragen, wobei Waffentechnik, aber auch Führungsqualitäten, strategisches Geschick, persönlicher Mut und Einsatzbereitschaft über das Schicksal ganzer Völker entschieden. Heute verlagert sich die Konkurrenz zunehmend auf den wirtschaftlichen Wettstreit.

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Wir haben eben erlebt, wie ein planwirtschaftlich organisiertes Wirtschaftssystem in Konkurrenz mit einem marktwirtschaftlich orientierten kollabierte und dabei eine Supermacht zerfiel. Der völlige Zusammenbruch wurde gerade noch durch rechtzeitige Fehlerkorrektur vermieden.

Zur Fähigkeit, sich zu behaupten, gehört beim Menschen auch die Fähigkeit, sich mit anderen in gegenseitiger Hilfeleistung zu verbünden. Das geschah meist in Bündnissen gegen Dritte, was nicht bedeutet, daß Bündnisse immer einen gemeinsamen Feind zur Voraussetzung haben. Der Menschheit stellen sich heute Aufgaben, die nur im Miteinander bewältigt werden können. Auch ihre Lösung erfordert kämpferischen Einsatz in globaler Partnerschaft. In solchen Partnerschaften kann aber nie auf Dauer einer der Gebende und der andere nur der Nehmende sein, zumindest dann nicht, wenn der Gebende mit der Förderung der Reproduktionschancen genetisch Fernerstehender seine Eignung zugunsten der anderen mindert. Aus leicht einsehbaren Gründen geht das auf Dauer nicht. Stets muß beiden aus einer solchen Beziehung Vorteil erwachsen, und das setzt Reziprozität voraus. Viele der frühen Ethologen sprachen, wie gesagt, davon, eine Anpassung sei im Dienst der Arterhaltung entwickelt worden, so als gäbe es ein Artinteresse. Diese Aussage müssen wir auf Grund der Einsichten der Soziobiologen revidieren.

Der Mensch ist allerdings kulturell in der Lage, ein Artinteresse zu entwickeln, wenn er sich das Überleben der Menschheit als einer harmonisch kooperierenden Völkergemeinschaft zum Ziele setzt. Solche Zielsetzungen und Interessen entwickeln wir aus Einsicht und humanitären Erwägungen. Sicher gibt es aber kein für uns erkennbares Interesse der Natur am Menschen oder an irgendeinem Volk, noch an irgendeiner Art von Lebewesen auf diesem Planeten. Was bisher das rätselhafte Phänomen Leben »am Leben« erhalten hat, ist die Tatsache, daß Lebewesen bis zum heutigen Tage ihr »genetisches Eigeninteresse« vertraten. 

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Sie wurden durch die Selektion in einer über zweieinhalb Milliarden Jahre zurückreichenden Lebens­geschichte immer perfekter als Überlebenssysteme auf diese Fähigkeit getrimmt. Jene Organismen, denen es nicht gelang, ihr Erbgut weiterzureichen, schieden aus dem Abenteuer der Evolution aus. Der Mensch kann sich sicherlich Ziele setzen, aber aus Einsicht in die eben geschilderten Zusammenhänge sollte jeder, der das Leben grundsätzlich bejaht, diese biologischen Rahmenbedingungen zur Kenntnis nehmen.

 

4   Unmittelbare und letzte Ursachen  

 

Alle Naturwissenschaften sind bemüht, die Gesetzmäßigkeiten, nach denen Ereignisse ablaufen, zu ergründen, um letztlich statistisch abgesicherte Voraussagen nach dem Wenn-dann-Muster machen zu können. Dazu erforschen sie die »Ursachen« von Ereignissen. Ein Verhaltensforscher kann sich dabei auf die Fragen nach der Funktionsweise eines Organismus beschränken und etwa untersuchen, wie Sinnesreize verarbeitet werden und was sie bewirken. Wissenschaftler, die Problemen dieser Art nachgehen, bemühen sich um die Aufdeckung der unmittelbaren Ursachen. Eine solche Verhaltensphysiologie kann auch jemand betreiben, der als religiös gebundener Fundamentalist die Evolutionstheorie nicht als Basistheorie der Wissenschaften vom Leben akzeptiert.

Biologen fragen in der Regel weiter. Sie interessiert nicht nur das Funktionieren der einem Verhalten zugrundeliegenden physiologischen Maschinerie. Sie wollen auch wissen, wie die Maschine zustande kam. Dazu fragen sie nach den Auslesebedingungen — den Selektionsdrucken —, die für die Entwicklung einer bestimmten Struktur oder eines Verhaltens verantwortlich waren. Man könnte von einem Suchen nach den letzten Ursachen sprechen. Dieses Forschen nach den letzten Ursachen setzt eine Kenntnis der Angepaßtheit, das heißt der Leistung voraus, die ein bestimmtes Verhalten im Dienste der Eignung erfüllt. Darüber hinaus bemühen sich Biologen mittels der Methodik des Vergleichens, den Werdegang eines Verhaltens zu rekonstruieren.

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Diese unterschiedlichen Ebenen der Fragestellung werden nicht immer klar gesehen. So gab es unter Anthropologen einen Streit über die »Gründe« des Kriegführens der Yanomami. Der amerikanische Yanomami-Kenner Napoleon Chagnon10), der die Betroffenen befragte, vertrat die Ansicht, es gehe um Frauenraub, denn das war es, was seine Yanomami-Informanten ihm berichteten. Sein Kollege Marvin Harris H dagegen deckte einen anderen Zusammenhang auf: Mit zunehmender Besiedlungsdichte müssen die Jäger mehr Zeit aufwenden, um das für den Lebensunterhalt benötigte Eiweiß zu erjagen. Sie werden gereizt und zunehmend gegen ihre Nachbarn aggressiver.

Beide Forscher geben Gründe an, der eine einen subjektiven, aber objektiv erfragbaren Grund, der andere einen ohne Befragung über Beobachtung feststellbaren, den man nun weiter hinterfragen kann. Die gesteigerte Irritabilität im Wettstreit um die begrenzte Ressource Jagdwild führt ja zu Konflikten, als deren Ergebnis die Gruppen einander auf Distanz halten und größere Lokalgruppen sich auf Grund interner Konflikte spalten. Damit sind wir den letzten Ursachen näher, dem Verständnis nämlich, welche Selektionsdrucke für dieses territoriale Verhalten verantwortlich sind.

Für das Verständnis der unmittelbaren Ursachen sind wir durch eine Reihe von uns angeborenen Lerndispositionen begabt. So neigen wir dazu, für zwei zeitlich zusammenfallende beziehungsweise unmittelbar aufeinander folgende Ereignisse einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zu vermuten111). Wir postulieren dabei eine Hauptursache und nehmen bevorzugt auch eine einzige solche wahr. Dieses monokausale Denken behindert uns bei der Lösung komplexer Probleme. Der politische Alltag lehrt immer wieder, daß wir über diesen Fallstrick unserer Vorprogrammierungen leicht stolpern.

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Tiere wie Menschen sind überdies mit spezifischeren Lernbegabungen ausgerüstet. Ein junger Rhesusaffe braucht nur einmal zu erleben, wie seine Mutter vor einer Schlange erschrickt, und er wird von dem Augenblick an selbst vor Schlangen erschrecken. Ein unerfahrener Affe kann diese Phobie auch erwerben, wenn er einen Videofilm eines vor einer Schlange erschreckenden Affen sieht. Ersetzt man durch einen technischen Kniff nach dem Vorspielen die Schlange im Videofilm durch eine Blume, dann sieht der junge Affe, wie ein erwachsener Artgenosse vor einer Blume erschrickt93). Das läßt ihn allerdings kalt. Es entspricht nicht der stammesgeschichtlich vorgegebenen Erwartung, daß ein Affe vor einer Blume erschrickt.

Wir Menschen erwerben Phobien, wie Spinnen- oder Schlangenangst, ebenfalls schnell auch ohne persönliche Erfahrungen mit solchen Tieren rein über das Vorbild eines sozialen Modells. Und eine solche Phobie hält sich hartnäckig. Dagegen erweisen wir uns gegen moderne Gefahren erstaunlich phobieresistent. Wir können die schrecklichsten Autounfälle sehen: Wir fahren dann wohl kurze Zeit langsamer, bilden aber keine bleibenden Meidereaktionen. Autos sind in unserem stammesgeschichtlichen Programm nicht vorgesehen.

Wir kommen damit zu einem wichtigen Punkt unserer Diskussion. Was wir rein rational, ohne affektive Beteiligung erfassen, läßt uns kalt28). Wir bleiben innerlich unbeteiligt. Als besonderes Problem erweist sich in diesem Zusammenhang die affektive Gegenwartsbezogenheit des Menschen. Als Gefahr erleben wir nur Ereignisse, die mit einiger Wahrscheinlichkeit in der Zeitspanne eines Menschenlebens eintreten19). Daher siedeln wir ohne viele Bedenken auf Vulkanhängen, die nur alle paar Jahrhunderte einmal von Ausbrüchen verwüstet werden, auf Erdbebenzonen wie in San Francisco oder in überschwemmungsgefährdeten Gebieten. Wir wissen zwar, daß es dort irgendwann einmal ungemütlich wird, aber das stört uns nicht wirklich, weil wir darauf nicht durch stammesgeschichtliche Programmierung emotionell vorbereitet sind. Für die politische Planung wirkt sich dies höchst verhängnisvoll aus. 

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Die Gefahr der Umweltzerstörung bei weiterem Bevölkerungswachstum, die Gefahr der Migrationsströme für den inneren und äußeren Frieden, das alles ist uns mittlerweile bekannt, aber wir haben zunächst keinen »Draht« dafür. Hundert Jahre, das ist für die meisten von uns fernste Zukunft, und sie meinen, es ginge sie nichts an. Hier sind wir mit Handikaps konfrontiert, die uns bei der Problemlösung ernstlich behindern. Ich sehe bei unserer gegebenen Motivationsstruktur nur den Ausweg, das rational als notwendig Erkannte über affektive Ankoppelung emotionell so zu besetzen, daß Engagement entsteht. Dies setzt Erziehung voraus.  

 

5  Zusammenfassung

Im Meinungsstreit über die »Natur« des Menschen kommt der Biologie besondere Bedeutung zu, da wir als Lebewesen nun einmal den Gesetzen des Lebens gehorchen, die diese Wissenschaft erforscht. Von besonderer Bedeutung für unser Selbstverständnis ist das Wissen um unser stammesgeschichtliches Gewordensein und um die Wirkungsweise der Selektion. Dieses Wissen fordert unseren planenden Geist heraus, unser Kurzzeitdenken und unsere affektive Gegenwartsbezogenheit zu überwinden. 

Die Folgen unseres Tuns werden heute wie einst an der Elle der Eignung gemessen, und unterschiedlicher Fortpflanzungserfolg bestimmt nach wie vor das Schicksal von Individuen und Populationen. Organismen, die ihr Erbgut nicht über Generationen weiterreichen, treten von der Bühne des Lebens ab. Das gilt auch für uns Menschen. — 

Genetische Programmierungen liegen unserer Wahrnehmung und unserem Verhalten zugrunde. Sie bestimmen unser Verhalten innerhalb vorgegebener Modifikationsbreiten. Der immer wieder aufflackernde Streit um die Rolle des »Angeborenen« zeigt, daß es dem Menschen schwerfällt, die Existenz ihn einschränkender Vorgaben anzuerkennen.

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