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Teil 2  Gestern und heute — eine Standortbestimmung

 

 

 

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Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir? — Paul Gauguin schrieb diese drei Fragen über eines seiner großartigsten Gemälde (von 1897), das Menschen in verschiedenen Lebensaltern, bei verschiedenen Tätigkeiten in der üppig tropischen Landschaft Tahitis zeigt. Die Fragen haben nichts an Aktualität verloren.

Woher wir kommen, können wir mittlerweile für eine Teilstrecke des Weges ganz gut beantworten. Wir wissen um unser stammesgeschichtliches Gewordensein.

Wohin wir gehen, diese Frage bereitet uns zur Zeit eher Sorge. Es wird eng auf unserem Planeten. Gegenwärtig zählen wir 5,5 Milliarden Menschen, und jedes Jahr kommen viele Millionen dazu. 1992 waren es 91 Millionen mehr! Die landwirtschaftliche Produktion hält mit dem Bevölkerungswachstum nicht Schritt. Neues Ackerland steht nicht mehr in ausreichender Menge zur Verfügung, der Fischfang geht seit 1989 weltweit zurück, die Produktion der Meere ist dem Raubbau der großen Fangflotten nicht gewachsen.

Nach den neuesten Berechnungen wird sich die Lage verschlimmern, denn die Bevölkerung wird sich bis zum Jahre 2030 auf 11 Milliarden verdoppeln. Unter dem Bevölkerungszuwachs leiden vor allem die unterentwickelten Gebiete der Erde. In den Entwicklungsländern bekommt eine Frau im Durchschnitt 4,4 Kinder, in den Industrienationen71) dagegen durchschnittlich nur 1,8.

Die Szenarien, die sich vor unserem geistigen Auge aufbauen, sind alles andere als erfreulich. Hunger und Not treiben bereits Millionen in die Flucht. Revolutionen und Kriege gehören zu unserem Alltag. Wohin wir gehen, erfüllt uns mit Angst und mit Sorge. Optimistische Zielvorstellungen werden von Horrorszenarien einer in Chaos und Gewalttätigkeit untergehenden Menschheit verdüstert.


Die Zukunftsbilder, die Aldous Huxley69) in der »Schönen neuen Welt« und George Orwell103) in »1984« entwarfen, sind eher Schreckensvisionen. Als Biologe glaube ich jedoch an eine lebenswerte Zukunft. Sie wird uns allerdings nicht in den Schoß fallen.

Worauf gründet sich mein Optimismus? Zunächst auf der Tatsache, daß wir uns Ziele setzen können. Das kann kein anderer Organismus auf diesem Planeten. Daß wir bei der Zielsetzung und vor allem bei der Setzung der Zwischenziele auch irren können, muß nicht zur Katastrophe führen, da wir dank unserer Fähigkeit zur Einsicht Fehler rechtzeitig korrigieren können, das heißt, bevor eine Katastrophe eintritt. Voraussetzung ist allerdings das Wissen um uns selbst.

An Versuchen, uns zu definieren, mangelt es nicht. Als »sapiens«, den Weisen, ordnet uns die Zoologie seit Linne ein. Von einem »nackten Affen« lesen wir bei Desmond Morris94. Arnold Gehlen43 sprach vom »weltoffenen Neugierwesen«, aber auch vom »Mängelwesen« und dem »riskierten Wesen«. Letzteres trifft in gewisser Hinsicht zu, und neugierig sind wir Menschen allemal. Wie weltoffen wir sind, wird sich noch herausstellen.

Ganz sicher allerdings sind wir keine Mängelwesen. Wir beherrschen die uns umgebende Natur in vielen Bereichen, und dieser Erfolg ist es, der uns durch die Übervölkerung Probleme schafft. Den Erfolg verdanken wir der Tatsache, daß wir Generalisten sind. Selbst in einem sportlichen Wettkampf würden wir es mit jeder Tierart aufnehmen, wenn wir uns die Aufgabe stellten, 100 m zu sprinten, anschließend mit einem Kopfsprung in ein Gewässer einzutauchen, drei Objekte aus 4m Tiefe gezielt heraufzuholen, dann 100 m zu schwimmen, am anderen Ufer eine Liane zu ergreifen, 5 m hochzuklettern und anschließend 10 km zu marschieren. Einzelne Tiere mögen in der einen oder anderen Leistung besser sein, aber alle sind eher einseitige Spezialisten. Darüber hinaus haben wir durch den aufrechten Gang die Hände frei für die Herstellung und den Gebrauch von Werkzeugen. 

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Wir sind ferner vortrefflich mit Sinnesorganen ausgerüstet und haben schließlich ein hochentwickeltes Gehirn, das uns zu höchsten Intelligenzleistungen, zum Sprechen und damit auch zu einer raschen kulturellen Evolution befähigt. Wir sind in diesem Sinne, wie schon gesagt, gewiß Kulturwesen von Natur85). Ich betone dies in meinen Veröffentlichungen und in fast jedem meiner Vorträge, um dem Vorurteil entgegenzuwirken, wir Biologen würden den Menschen in erster Linie als ein von seinen »Instinkten« beherrschtes Wesen ansehen.

Kein Biologe übersieht den ungeheuren Schatz akkumulierten kulturellen Wissens, den wir von Generation zu Generation mehren und tradieren. Wir wissen allerdings, daß wir darüber hinaus auch mit uns angeborenen Verhaltensdispositionen begabt sind, die unser Wahrnehmen, Denken und Handeln in ganz entscheidender Weise mitbestimmen. In diesen stammesgeschichtlichen Vorgaben steckt sehr viel Positives, man denke nur an unsere Fähigkeit zu Liebe und Mitempfindung. Dennoch neigen viele Menschen dazu, die Bedeutung des Angeborenen als gering einzuschätzen. Nach ihrer Ansicht kommt der Mensch im wesentlichen als unbeschriebenes Blatt zur Welt und wird erst durch seine Umwelt geformt und unterwiesen.

Nun zweifelt kein Biologe daran, daß wir Menschen viel lernen. Aber bereits kurzes Nachdenken lehrt, daß wir manches, was unser Leben entscheidend beeinflußt, gar nicht lernen könnten. Unsere Gefühlsregungen erleben wir nur an uns selbst. Wie jemand Liebe, Haß, Eifersucht, Angst oder Trauer erlebt, das kann er im Grunde keinem anderen Menschen vermitteln. Das Objekt der Liebe oder des Hasses oder Situationen, in denen man Gefühle zeigen darf oder nicht, all das kann wohl kulturell über Erziehung bestimmt werden. Und Menschen können zwar auf der Klaviatur der Empfindungen ihrer Mitmenschen spielen — Künstler tun dies unter anderem —, aber jeder Mensch, der mit einem Mitmenschen interagiert, geht davon aus, daß seine Mitmenschen so wie er empfinden und diese Empfindungen auch grundsätzlich in gleicher Weise ausdrücken. Und diese Hypothese »funktioniert«. 

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Wäre es nicht so, wir könnten uns gar nicht verständigen. Ebensowenig wie man Gefühlsregungen mitteilen kann, kann man Sinnesempfindungen wie süß, sauer, salzig vermitteln oder jemandem beibringen, bestimmte Farbqualitäten zu sehen. Auch hier gehen wir von der Annahme aus, daß alle Menschen gleich empfinden. Erst wenn wir jemanden treffen, der rotgrün-blind ist, merken wir, daß gelegentlich Menschen Facetten der Wahrnehmung erleben, die wir nicht nachvollziehen können.

Es unterliegt wohl kaum einem Zweifel, daß unsere Gefühle unseren Alltag ebenso wie unsere höchsten Kulturleistungen beflügeln. Daß den angeborenen Eigenschaften dennoch von mancher Seite ein geringer Stellenwert zuerkannt wird, hat seine Gründe. Eine vorgegebene menschliche Natur, so befürchten manche, könnte sich den erzieherischen Bemühungen, einen neuen, besseren Menschen zu bilden, entgegenstellen. Stammesgeschichtliche Vorprogrammierungen, so meinen sie, müßten konsequenterweise zu einem Fatalismus führen, denn gegen das Angeborene könne man wohl nichts machen. Die Diskussion um die menschliche Aggression war lange von dieser Vorstellung belastet.

Ganz abgesehen davon, daß eine Argumentationsweise nach dem Muster »Daß nicht sein kann, was nicht sein darf« grundsätzlich nicht akzeptabel ist, braucht man gar keinen ideologisch begründeten Wissensverzicht zu propagieren, denn der Mensch kann auch über das Angeborene Selbstkontrolle erlangen. Nur wenige Menschen dürften z.B. die Triebnatur der menschlichen Sexualität leugnen. Aber kaum jemand wird daraus schließen, wir seien zum unkontrollierbaren Ausleben dieses Triebes verdammt. Wir wissen, daß wir uns hier Selbstdisziplin auferlegen können. Die kulturellen Korsetts wechseln wohl in Anpassung an die besonderen Anforderungen, die das Leben in verschiedenen Gesellschaften und Lebensräumen an die Menschen stellt. Ein Eskimo bedarf sicher anderer Triebkontrollen als ein Massai in Afrika oder ein moderner Großstädter.

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Eine erfolgreiche Selbstkontrolle setzt allerdings voraus, daß wir über uns Bescheid wissen. Uns z.B. der Illusion hinzugeben, wir wären von vornherein, von Natur aus, eine ganz friedfertige Spezies und der einzelne würde erst durch böse Erlebnisse und Entbehrungen in Kindheit und Jugend aggressiv gemacht, ist gefährlicher, als die Aggression als angeborene Disposition zu erkennen und entsprechend in Rechnung zu stellen. Unerkannt können sich nämlich manche dieser stammesgeschichtlichen Vorprogrammierungen auch als Stolperstrick erweisen28.

Wir haben den Menschen als »Zielsetzer« charakterisiert, wohl wissend, daß es sich nur um eines der vielen Merkmale handelt, die ihn kennzeichnen. Seine Phantasie beflügelt ihn, er kann sich Paradiese vorstellen, und das braucht er wohl auch, denn als Vorausdenkender und als in der Vergangenheit verwurzeltes Wesen weiß er um mögliche Gefahren und Nöte. Sorge und Angst plagen ihn daher mehr als irgendein anderes Geschöpf auf diesem Planeten. So pflegt er die Paradiesvorstellung als Zuflucht und baut sich Luftschlösser der verschiedensten Art. Die rauhe Wirklichkeit verdrängt er aus seinen Träumen, und das ist wahrscheinlich sein größter Fehler. Denn würde er sie zur Kenntnis nehmen und seine geschichtlichen und individuellen Erfahrungen zu Rate ziehen, dann käme er mit der Verwirklichung seiner Zielvorstellungen, etwa der, in Frieden mit anderen zu leben, wohl besser voran.

Verdrängung und Wirklichkeitsflucht kennzeichnen insbesondere unseren Umgang mit brennenden Zeitproblemen, wie der Umgang mit der zunehmenden kollektiven Gewalt und der Immigrationsproblematik in Westeuropa offenbart. Wir ängstigen uns wegen vielerlei, aber das aktiviert oft weniger unseren Verstand als unsere Fluchtreaktionen. Mit einem »Es wird schon gutgehen« flüchten wir uns in Träume von einer besseren Welt. Nun ist Zuversicht sicher eine Voraussetzung für die Lösung unserer Probleme. Ohne sie resignieren wir. Aber die Flucht in Traumwelten führt leicht zur Denkblockade.

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Die Problematik unseres steinzeitlichen Erbes

 

Jene stammesgeschichtlichen Anpassungen, die unser Verhalten mitbestimmen, entwickelten sich nämlich in jener langen Zeit, in der unsere Ahnen als altsteinzeitliche Jäger und Sammler lebten, eine Zeit, die etwa 98% unserer menschlichen Geschichte ausmacht. In diesem Zeitraum von etwa 500.000 Jahren, in Generationen gerechnet etwa 20.000 Generationen, lebten unsere Ahnen in Kleingruppen, in denen jeder jeden kannte, mit einer sehr einfachen Technologie*. 

Vor 15.000 Jahren (600 Generationen) begannen Menschen an verschiedenen Orten der Erde, Pflanzen zu kultivieren und Tiere zu züchten, aber erst vor wenigen tausend Jahren entwickelten sich auch größere Städte; noch um Christi Geburt waren zwei Drittel der Erdoberfläche von Jäger- und Sammlervölkern bewohnt. Die Entdeckung der Neuen Welt durch Kolumbus liegt gerade 20 Generationen zurück, und die moderne technische Zivilisation ist erst wenige Generationen alt und befindet sich in einer überstürzenden Entwicklung.

Als unsere Großväter Kinder waren, ahnte man noch nichts von moderner Luft- und Raumfahrt, von Radio, Fernsehen und elektronischen Rechnern. In einer verblüffend kurzen Zeit schufen wir Menschen uns mit der technischen Zivilisation, der Großstadt und der anonymen Millionengesellschaft eine Umwelt, für die wir eigentlich nicht geschaffen sind. Biologisch haben wir uns in den letzten 10.000 Jahren nicht entscheidend geändert. Da wir mit steinzeitlicher Emotionalität ausgestattet sind, werden die Instrumente, die uns heute die Technik zur Verfügung stellt, zu lebensgefährlichen Waffen. 

*  Frühe Homo-sapiens-Funde sind 130.000 Jahre alt. Wir können davon ausgehen, daß unsere Vorfahren bereits in der Übergangsphase von Homo erectus zu Homo sapiens, die vor 500.000 Jahren begann, als Wildbeuter in relativ geschlossenen territorialen Kleingruppen lebten. Wahrscheinlich ist dieses Verhaltensmuster sogar viel älter (Australopithecus?), denn im Prinzip zeigen es auch die uns nahe verwandten Schimpansen.

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Abb. 1:  Wohnbauten in Kaiser-Ebersdorf bei Wien. 

Das Bedürfnis nach Privatheit ist erfüllt, nicht jedoch das nach Eingebundensein in eine überschaubare Gemeinde. Naturferne ist ein weiteres Kennzeichen des Wohnens in der Großstadt. (Photo: Renate Krell) 

  

Abb. 2: Eine Familie der !Ko (Botswana, Kalahari): 

Vater, Mutter und Kleinkind. Tagsüber spielt sich das Leben im Freien vor den Hütten ab, die einen zentralen Platz umstehen. Gemeinschaft mit Bekannten und Naturnähe zeichnen das Leben aus. (Photo: I. Eibl-Eibesfeldt) 

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Der Autoverkehr fordert jährlich in Deutschland an die 10.000 Tote und zigtausend Schwerverletzte, man spricht zu Recht von einem »Krieg auf unseren Straßen«. Wir müssen uns kulturell an die Bedingungen der technisch-zivilisierten Welt anpassen. Ich meine, dies wird uns auch gelingen, da wir auch über prosoziale — freundliche — Anlagen verfügen und uns einsichtig unserer Problemanlagen bewußt werden können.

Vergegenwärtigen wir uns zunächst einmal den gewaltigen Unterschied zwischen gestern und heute (Abb. 1 und 2). Der Mensch der Altsteinzeit lebte naturnah in Kleingruppen, die sich aus Familien zusammensetzten. Die Familie war im typischen Fall eine 3-Generationen-Familie. Die Mitglieder einer solchen Kleingruppe kannten einander, und solche Bekanntheit stiftet Vertrauen. Es gibt noch heute Völker, die auf dieser Kulturstufe leben oder bis vor kurzem so lebten, wie z.B. die Buschleute der zentralen Kalahari30, die im Modell diesen ursprünglichen Zustand repräsentieren. Was in einer solchen Jäger- und Sammlerkultur auffällt, ist auch die weitgehende Autarkie der Familien. Jede Buschmannfamilie kann sich ihren Lebensunterhalt selbst beschaffen, ihr Haus selbst bauen und die Haushaltsgeräte, Waffen und Bekleidung selbst herstellen: Ein steinzeitlicher Jäger und Sammler konnte nie arbeitslos werden.

In der Kleingruppe gründen sich Führungspositionen auf prosozialer und fachlicher Kompetenz. Personen, die freundlich sind und anderen helfen, die Streit schlichten können, teilen, Schwachen beistehen und sie trösten und die sich in irgendeiner Weise, etwa als Heiler, Sprecher oder auch als Kriegsführer, auszeichnen, an die wenden sich die anderen Gruppenmitglieder um Rat, und bei ihnen suchen sie Schutz (siehe S. 75).

Damit soll das Leben in der Kleingruppe nicht idealisiert werden. Es gibt zunächst durchaus auch Streit. Es lastet ferner ein starker Normierungsdruck auf dem einzelnen, der nivellierend wirkt. Außenseiter werden selten geduldet. Das alles wird aber durch die Tatsache gemildert, daß diese Menschen nicht unter einem Leistungsdruck und den Aufstiegsforderungen stehen, die in unserer Gesellschaft so belastend wirken.

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Außerdem erwerben die Menschen in solchen individualisierten Gesellschaften bereits in der Kindheit große soziale Kompetenz, die es ihnen erlaubt, ihre Aggressionen zu kontrollieren.

Bei meinem letzten Besuch der Himba im Norden von Namibia im Frühjahr 1993 filmte ich folgende überraschende Episode: Zwei Mädchen, noch Kleinkinder, die erst wenige Worte sprechen konnten, saßen im Kral einander gegenüber und stocherten spielerisch im trockenen Rinderdung. Unvermittelt und ohne ersichtlichen Grund hob eine ihr Stöckchen und schlug damit zweimal die Spielgefährtin. Diese verzog weinerlich das Gesicht, worauf die Angreiferin ihr Stöckchen ablegte. Nun nahm die Angegriffene eine Gerte und schlug damit zweimal ihre Angreiferin, allerdings nicht stark, sondern eher gehemmt. Nach diesem Akt der Bestrafung, den ihre Spielgefährtin hinnahm, ohne sich zu wehren, legte sie die Gerte ab, nahm das vor ihr liegende Stöckchen, mit dem sie zuvor geschlagen worden war, und reichte es der Spielgefährtin. Diese nahm das Stöckchen, schlug sich damit auf die andere Hand, als wollte sie sich selbst dafür bestrafen, daß sie den Konflikt provoziert hatte. Danach stocherten beide wieder verträglich im Dung.

Wie erwerben die Kinder so früh diese erstaunliche soziale Kompetenz?

In den traditionellen Gesellschaften erleben sich die Kinder schon vom frühen Säuglingsalter an als eingebunden in ein reich differenziertes soziales Beziehungsnetz. Kinder und Erwachsene wenden sich dem Säugling zu, übernehmen ihn von der Mutter, tragen ihn umher und spielen mit ihm. Das macht den Säugling früh auf freundliche Weise mit anderen Gruppenmitgliedern vertraut. Kann das Kind laufen, dann schließt es sich der Kinderspielgruppe an, die Kinder beider Geschlechter vom Krabbelalter bis zur Pubertät umfaßt. Das Kleinkind wird zunächst von anderen behütet und umsorgt und wächst allmählich selbst in die Rolle des Betreuenden hinein. Das Kind kann seine Spielpartner wählen, sich mit Gleichgeschlechtlichen zusammenfinden oder sich einer gemischten Spielgruppe anschließen.

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Von seinen Spielgefährten wird dem Kind entscheidende Belehrung zuteil. Es lernt im Spiel, sich an Regeln zu halten, übt Gegenseitigkeit ein und sammelt wichtige soziale Erfahrungen.

Dabei fällt auf, daß es nicht passiv auf Unterweisung wartet, sondern in explorativer Aggression seine soziale Umwelt erkundet. Durch das Provozieren kleiner Konflikte — den bewußten Verstoß gegen Regeln, das Wegnehmen von Objekten, durch aggressive Akte, wie Zuschlagen mit einem Stöckchen — stellt das Kind die Frage: Darf ich das? Erhält es darauf unverzögert eine Antwort — es genügt, daß sich sein Spielgefährte abwendet —, dann weiß es: Das ging zu weit, hier sind meine Grenzen.

Eltern und andere Erwachsene können die sozialisierende Rolle der Kinderspielgruppe nur ungenügend ersetzen. In traditionellen Gesellschaften bringen Mütter und Väter ihren Kindern sicher auch Spiele bei. Sie herzen ihre Kinder auch und sind sehr fürsorglich und lieb. Durch diese positive affektive Bindung werden die Kinder bereit, das Vorbild der geliebten Eltern zu übernehmen, wobei Buben wie in unserer Kultur das männliche Vorbild und Mädchen auch ohne kulturellen Zwang das weibliche Vorbild bevorzugen. Für diese Art der Identifikation sind wir durch uns angeborene Dispositionen vorbereitet26. Die Eltern wirken also in erster Linie als geliebtes Vorbild. Sie sind ferner fürsorgliche Autorität, die ermuntert, ermahnt und gelegentlich auch bestraft. — Eine besondere Rolle spielen in den traditionellen Gesellschaften die Großeltern. Sie sind der Aufgabe als erzieherische Autorität enthoben und brauchen daher nicht Respektsperson zu sein. Ihr Verhältnis zu den Enkelkindern ist ein ungezwungen-herzliches.

Die Menschen in traditionellen Gesellschaften lebten naturnah und waren emotionell an die Herausforderungen eines risiko- und abwechslungsreichen Lebens angepaßt. Die Menschen waren tätig, aber Sammeln und Jagen bereiten Vergnügen. — Auch der moderne Mensch entspannt sich in seiner Freizeit, Pilze und Beeren suchend, jagend oder fischend. — 

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Für den Nahrungserwerb verbringen traditionelle Jäger und Sammler nur einige Stunden am Tag, die übrige Zeit leben sie in ihre kleine Gemeinschaft eingebettet, miteinander plaudernd; Buschleute etwa sind mit der Herstellung von Lederschurzen, Pfeilspitzen oder der Zubereitung von Nahrung beschäftigt. Zwischendurch umsorgen sie ihre Kinder oder vergnügen sich auch in Tanz und Spiel. Der Leistungsstreß einer arbeitsteiligen Gesellschaft ist ihnen fremd. Das Leben auf dieser Kulturstufe ist ferner nicht frei von Gefahren und gelegentlich sogar Hunger, aber an solche Herausforderungen ist der Mensch gut angepaßt, und zwar so gut, daß ihm Risiko und Entbehrung abgehen, wenn es ihm an solchen Herausforderungen mangelt. Dann bekommt er »Appetit« auf Abenteuer und körperliche Herausforderung und sucht sie.

 

Belastungen der Neuzeit

Der Gegensatz zum Leben in der technisch-zivilisierten Welt ist ungeheuer. Statt in Kleingesellschaften, in denen jeder jeden kennt, leben wir in anonymen Großgesellschaften, und da wir einander nicht kennen, zeigen wir eine gewisse Scheu voreinander. Ein Urmißtrauen belastet die Beziehungen der modernen Menschen. Da die Menschen einander nicht kennen, gehen sie miteinander rücksichtsloser um. Dominanzbeziehungen werden unter Einsatz der Ellenbogen aufgebaut. Die moderne Gesellschaft ist ferner arbeitsteilig, was dem einzelnen nach Begabung ungeheure Chancen eröffnet, ihn zugleich aber auch mit einem Leistungsstreß belastet, der neu ist und mit dem wir nicht ohne weiteres fertig werden. Außerdem schafft die Abhängigkeit existentielle Ängste. Die meisten von uns sind von Arbeitgebern abhängig und können arbeitslos werden.

Die prosoziale Entwicklung der Kinder ist in der anonymen Großgesellschaft durch eine zunehmende Verarmung ihrer sozialen Beziehungsnetze behindert. Soziale Kompetenz wird in traditionellen Kulturen, wie erwähnt, zum großen Teil in der Kinderspielgruppe erworben. Gegenwärtig sind aber 40 % unserer Kinder Einzelkinder (Abb. 3).

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Abb.3: Abschied vom Familienleben. Die Zahlen beziehen sich auf die Anzahl der in jeweils 100 deutschen Haushalten lebenden Personen. Der 1-Personen-Haushalt ist Singlehaushalt; ein Haushalt aus drei Personen besteht in der Regel aus zwei Erwachsenen und einem Kind. (Quelle: Statistisches Bundesamt, Wiesbaden)

 

Es fehlen ihnen Erfahrungen im Umgang mit Geschwistern, und die Altersgruppe der oft gleichgeschlecht­lichen Schulklasse vermag nicht alle Bedürfnisse abzudecken. Es fehlt den Jüngeren der mäßigende und fürsorgliche Einfluß der Älteren, die Möglichkeit, selbst in die betreuende Rolle hineinzuwachsen, und das Explorierfeld eines differenzierten sozialen Beziehungsnetzes. Es fehlen meist die von der Notwendigkeit erzieherischer Autorität entlasteten Großeltern, die in traditionellen Kulturen mit Liebe und Rat helfen. Die Eltern sind oft überlastet und außerhalb des Hauses tätig. 

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Wie soll sich da ein Junge heute mit der Rolle des fern von der Familie berufstätigen Vaters identifizieren? Ihm bleiben die Cowboys im Fernsehen und als bequemer Spielpartner neuerdings der Computer, weil der jederzeit ohne soziale Investition verfügbar ist. So ziehen wir soziale Kaspar Hauser heran. Allzuviel Mobilität fördert diese Entwicklung. Nun können wir die anonyme Großgesellschaft und die Stadtumwelt nicht verlassen, und wir wären auch schlecht beraten, wollten wir es versuchen. Es würde einen kulturellen Rückschritt bedeuten. Aber wir sollten die Problematik unserer modernen Lebensweise erkennen. Das könnte uns helfen, das Leben in der Großgesellschaft humaner zu gestalten.

Eine weitere Belastung erwächst uns Heutigen aus der naturfernen städtischen Umwelt, in der künstliche Strukturen aus Beton und Asphalt vorherrschen. Wir vermissen die Naturnähe, wie unsere Wochenendflucht hinaus ins Grüne ebenso belegt wie die Emsigkeit, mit der wir Ersatznatur in Form von Farnen, Gummibäumen u.ä. in unseren Wohnungen kultivieren. Diese »Phytophilie«26) ist wohl ein Hinweis auf eine alte Umweltprägung, die das für unser Leben günstige Biotop kennzeichnet.

Der moderne Städter vermißt ferner körperliche und affektive Herausforderungen. Der altsteinzeitliche Jäger und Sammler war von Raubtieren und Feinden bedroht — Herausforderungen, die uns fehlen. Die Tatsache, daß wir in zahlreichen Ersatzhandlungen Abenteuer suchen, beweist, daß wir hier etwas entbehren. Wir leben es aus, indem wir uns mit Hanggleitern in Abgründe stürzen, uns Felswände hochhangeln, an exponierten Klippen tauchen und an Abenteuerreisen teilnehmen. Die Belastungen der Neuzeit dagegen treffen uns unvorbereitet: Büroarbeit, die künstliche Verlängerung des Tages bis weit in die Nacht hinein, Leistungsstreß, Verkehrslärm, Gedränge, Luftverschmutzung und eine zubetonierte Welt. Daran müssen wir uns erst gewöhnen, wobei offenbleibt, wie weit die Gewöhnung gehen kann119). Wahrscheinlich werden wir bei der Gestaltung des städtischen Wohnumfeldes den Bedürfnissen des Menschen entgegenkommen müssen.

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Gestern und heute

Die altsteinzeitliche Situation

Modernes Industriezeitalter

Individualisierte Gesellschaft
Drei-Generationen-Familie, Kleingruppe, Vertrauen und affiliative Beziehungen in der Wir-Gruppe

Anonyme Großgesellschaft
Mißtrauen dominiert Beziehungen zu den unbekannten Wir-Gruppenmitgliedern. Gemeinde- und Familienbildung zunehmend erschwert. Angstbelastung

Führung auf prosozialer Basis
Führungspositionen begründen sich auf prosozialen Eigenschaften und fachlicher Kompetenz

Dominanz
Neigung zum Aufbau von repressiven Dominanzbeziehungen innerhalb der anonymen Wir-Gruppe

Wirtschaftliche Unabhängigkeit 
Familie weitgehend autark. Arbeitsteilung nur zwischen Ehepartnern. »Ein Buschmann kann nie arbeitslos werden.«

Berufliche Abhängigkeit 
Damoklesschwert der Arbeitslosigkeit, daher unterschwellige existentielle Ängste

Naturnähe

Naturferne

Emotionell angepaßt 
an die Herausforderungen eines risikoreichen Lebens: Risikoappetenz, Entbehrungs-appetenz

Mangelhaft angepaßt 
an die Belastungen der Neuzeit: Arbeitsstreß, fehlende körperliche Herausforderung. Risikoappetenz in Ersatzhandlungen ausgelebt. Dauernder Wohlstand führt zu Wohlstandsverwahrlosung

 

Auch dauernden Wohlstand scheinen wir nicht recht zu vertragen. Es gibt das Phänomen der Übersättigung und Wohlstands­verwahrlosung. Die obenstehende Tabelle soll das Gesagte noch einmal veranschaulichen.

 

Zusammenfassung

 

Als Generalisten und lernbegabtem Neugierwesen, ausgestattet mit der Fähigkeit zum begrifflichen Denken, der Wortsprache und daher begabt zur kumulativen Kulturentwicklung, eröffnen sich dem Menschen einmalige Möglichkeiten zur weiteren Evolution, zumal er sich Ziele setzen und damit seinen weiteren Werdegang ausrichten kann. Unsere prosozialen Anlagen in Verbindung mit einer vernunftbegründeten Moral stellen eine rational-humanitäre Entwicklung in Aussicht.

Die Schwierigkeiten, mit denen wir heute zu kämpfen haben, erklären sich aus unserem stammesgeschicht­lichen Werdegang und unserem Erfolg. Die genetischen Programmierungen, die unser Verhalten und insbesondere unsere Emotionalität mitbestimmen, entwickelten sich in jener langen Zeit, in der unsere Vorfahren auf altsteinzeitlicher Kulturstufe in Kleinverbänden lebten, deren Mitglieder einander persönlich kannten. Wir schufen uns mit der anonymen Großgesellschaft, der technischen Zivilisation und der modernen Großstadt eine Umwelt, für die wir nicht geschaffen sind.

Als Kleingruppenwesen sind wir mit einer Kleingruppenethik ausgestattet und emotionell an die Herausforderungen der Altsteinzeit angepaßt. Die Belastungen der Neuzeit stellen uns vor eine Probe, die wir nur bestehen werden, wenn wir die verborgenen Stolperstricke ebenso wie die Chancen unserer genetischen Programmierungen erkennen. Aus dem So-Sein ist kein Sollen abzuleiten, wohl aber sind gewisse biologische Rahmenbedingungen zur Kenntnis zu nehmen, die unseren Wünschen und Möglichkeiten Grenzen setzen.

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