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Teil 5   Nationalstaat oder multikulturelle Immigrationsgesellschaft?

5.2   5.3   5.4    5.5   5.6   Zus

5.1  Das Immigrationsproblem

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Die westlichen Industriestaaten Europas leben mit einem gewissen Wohlstand in einer zunehmend übervölkerten Welt, aus deren Armutsgebieten immer mehr Menschen als Immigranten Aufnahme suchen. In den 60er Jahren waren die Einwanderer als Arbeitskräfte willkommen. Anwerber bemühten sich sogar um ihre Rekrutierung aus der Türkei und den ärmeren Gebieten des Mittelmeerraumes. 

Den Gastarbeitern folgten in zunehmender Zahl Asylbewerber und Flüchtlinge, und nun kämpfen die Nationalstaaten Westeuropas mit Schwierigkeiten: Das Migrationsproblem droht ihnen über den Kopf zu wachsen.

Der stetige Zustrom von Immigranten veränderte in vielen Großstädten die Zusammensetzung der Bevölkerung. In manchen deutschen Stadtvierteln, etwa im Berliner Bezirk Kreuzberg, bestimmt mittlerweile die türkische Bevölkerung das Straßenbild. Vergleichbare Entwicklungen beobachtet man in Frankreich, wo nordafrikanische Moslems Stadtbezirke in verschiedenen Großstädten majorisieren. 

Abweichendes Brauchtum und Auftreten im Alltag, die zunehmende Beanspruchung von Schulen, Kindergärten und anderen öffentlichen Einrichtungen bewirken Irritationen und Überfremdungs­ängste bei jenen Bevölkerungsschichten, die in enger Nachbarschaft mit den Immigranten leben.

Verschärfend kommt hinzu, daß die Politiker die einheimische Bevölkerung lange Zeit im Glauben ließen, es würde sich bei den angeworbenen »Gastarbeitern« um Gäste handeln, die nach Erfüllung ihrer Kontrakte wieder in ihre Heimat zurückkehren würden. 

Diese Erwartung erfüllte sich jedoch nicht. Aus Gastarbeitern wurden Immigranten, die ihre Familien ins Land holten. Nur ein Teil assimilierte sich. Die Majorität grenzte sich jedoch auf ethnischer Basis in eigenen Solidargemeinschaften von der übrigen Bevölkerung ab. In einer Situation zunehmender Verknappung konkurrieren sie nun um Arbeitsplätze und Sozialleistungen, was das Konfliktpotential erhöht.

Die Problematik wurde bereits in der ersten Ölkrise vor zwanzig Jahren erkennbar, und man diskutierte Rückführungs­programme. Mit der vorüber­gehenden Erholung, der allerdings bald die zweite Ölkrise folgte, ließen die Politiker in Deutschland, ebenso wie in anderen Ländern, die Dinge wieder treiben. In endlosen Debatten blockierten die Parteien einander. 

Mit dem Absinken größerer Anteile der einheimischen Bevölkerung an und unter die Armutsgrenze wächst ein generelles Ressentiment gegen Immigranten, das sich zunehmend auch gegen Asylbewerber richtet, die ohne Gegenleistung eine immer größer werdende finanzielle Belastung für den Staat darstellen. 

Da es zugleich offensichtlich ist, daß viele von ihnen die Hilfe des Gastlandes zu Unrecht beanspruchen, und da ferner in Krisenzeiten Menschen dazu neigen, nach Sündenböcken für die Misere zu suchen, sehen sich die Ausländer heute mit einer zunehmenden Ablehnung seitens der ortsansässigen Bevölkerung konfrontiert. Erscheinungen des Ausländerhasses und Gewalttätigkeiten gegen Ausländer sind mittlerweile in Deutschland, England, Frankreich, Italien und der Schweiz an der Tagesordnung. Selbst in so toleranten Ländern wie den Niederlanden und den skandinavischen Ländern eskaliert die Gewalt. 

Der innere Friede scheint ernsthaft gefährdet. Was können wir tun, um ihn wiederherzustellen und zu sichern?

Wir sehen uns heute mit zwei Hauptproblemen konfrontiert:

1. Wie soll sich das künftige Miteinander mit den bereits Eingewanderten gestalten? Sollen sich die Gastländer um deren vollständige Assimilation bemühen oder sie dazu ermuntern, ihre Kultur beizubehalten? Welche Voraussetzungen sollen die Einwanderer erfüllen, damit sie die Staatsbürgerschaft des Gastlandes erhalten?

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2. Wie sollen sich die Staaten Westeuropas künftig dem noch zunehmenden Immigrationsdruck aus Osteuropa und aus den Ländern der Dritten Welt gegenüber verhalten? »Eine offene Gesellschaft braucht offene Grenzen«, lautet eine Parole. Könnte Europa das verkraften?

Um diese und andere mit dem Migrationsproblem zusammenhängende Fragen zu beantworten und Vorschläge zu erarbeiten, müssen wir uns mit Phänomenen wie Ethnizität, Nation und Xenophobie befassen und versuchen, ihr Stammes- und kulturgeschichtliches Zustandekommen auch unter funktionellen und damit selektionistischen Gesichtspunkten zu verstehen. Wir müssen uns ferner bemühen, die ideologischen und sozioökonomischen Beweggründe aufzudecken, die den unterschiedlichen politischen Zielsetzungen zugrunde liegen.

Die Frage, wie die europäischen Nationalstaaten das Zusammenleben mit Immigranten gestalten sollen, war in den letzten 15 Jahren insbesondere in Deutschland und Österreich Gegenstand heftiger Diskussionen. Eine lautstarke Fraktion setzte sich für den Aufbau einer multikulturellen Immigrationsgesellschaft ein. Sie trat für eine liberale Öffnung der Länder ein und befürwortete dies mit humanitären, wirtschaftlichen und demographischen Argumenten. Nach ihrer Ansicht sollen die Einwanderer ermuntert werden, ihre eigene Kultur im jeweiligen Gastland zu pflegen. 

Ein »Verfassungspatriotismus« soll die verschiedenen Völker verbinden: 

»An die Stelle der völkisch-nationalen Identität als Grund oder zumindest wichtiger Teilgrund des Selbst­verständnisses unseres Staates sollte der gemeinschaftsstiftende Charakter der Grund- und Freiheitsrechte treten, ein <Verfassungspatriotismus>, wie ihn Dolf Sternberger einmal genannt hat, der Stolz der Bürger auf ihre freiheitliche Ordnung und die damit verbundenen politischen Erfolge... Der Verfassungspatriotismus ist in einer Epoche, in der die Völker zusammenwachsen, die Konzeption der Zukunft. Ein Staat, der sich in erster Linie als Nationalstaat definiert, in dem Bürgerschaft durch völkische Zugehörigkeit begründet wird, ist in seinem Selbstverständnis in die Vergangenheit gerichtet.«

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So Heiner Geißler44), der meint, das enge Zusammenleben in einer solchen Gesellschaft würde helfen, ethnische und rassistische Vorurteile abzubauen. »Assimilation, völkisch-kulturelle Integration werden weitgehend der Vergangenheit angehören«, schreibt er im Hinblick auf Deutschland. »Türken und Jugoslawen, Italiener und Spanier, Marokkaner und Japaner, Tamilen und Inder, Iraner und Libanesen kann man nicht zu Germanen machen.« Wer für den Nationalstaat ist, ist für Geißler ein »kultureller Chauvinist«. Extremer äußern sich Lutz Hoffmann und Herbert Even63), denen zufolge Deutsche bereits ausländerfeindlich handeln, wenn sie von Deutschland und den Deutschen reden.

      Antinationale Strömungen     

Die Befürworter der multikulturellen Immigrationsgesellschaft sehen im Nationalbewußtsein der einheim­ischen Bevölkerung ein Hindernis für die Verwirklichung ihrer Pläne. Sie versuchen es daher zu bekämpfen. Dabei knüpfen die Deutschen an das gestörte nationale Selbstgefühl an, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Reaktion auf den übersteigerten Nationalismus des »Dritten Reiches« ausgebildet hatte. 

Schon in den beiden Jahrhunderten zuvor hatten sich die Völker Europas in Verfolgung ihrer nationalen Interessen in eine Serie verheerender Bruderkriege verstrickt. Zuletzt dann im Zweiten Weltkrieg, der ein nie gekanntes Maß an Zerstörung und Not über den traditionsreichen Kontinent gebracht und im irrational-mystisch begründeten Antisemitismus zum millionenfachen, organisierten Massenmord führte.

Begreiflich, daß man dem Nationalismus abschwor, ja jeder Form eines Patriotismus zunächst ablehnend gegenüberstand. Der Verbrüderung der europäischen Völker und dem Aufbau der europäischen Gemeinschaft galt das Interesse der Westdeutschen, die ihre Vergangenheit so »bewältigen« wollten. Die Nation wurde für viele zum Sündenbock. Man belud sie mit Schuld, schickte sie in die Wüste und stand entlastet da. Alles durchaus verständliche Verhaltensweisen.*

* In anderen europäischen Staaten wie in Frankreich und England entwickelten sich vergleichbare antinationale Bewegungen.

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Nur fragt es sich, ob die nationale Selbstverleugnung, bei der sich die Deutschen und Österreicher besonders hervortun, für diese beiden Länder und Europa auf die Dauer zum inneren und damit auch zum äußeren Frieden beiträgt. Wir wiesen schon darauf hin, daß eine ohne Einbindung in eine größere Gemeinschaft und deren Wertsystem orientierungslos gelassene Jugend besonders ideologieanfällig ist und manche sogar den solidarisierenden Effekt kollektiver Aggression nutzen, um Wir-Gruppen mit eigenem Wertesystem aufzubauen. Des weiteren dürfte das Bemühen um den Aufbau einer multikulturellen Immigrationsgesellschaft in Kontrastbetonung, die der Identitätsverteidigung dient, einen aggressiven Nationalismus provozieren.

Davor warnten übrigens bereits kurz nach dem Kriege namhafte Publizisten, die meinten, man möge die Läuterung vom bösen Geist des Nationalismus nicht so weit treiben, daß dabei auch das Bekenntnis zur Nation zerstört werde**. Gerhard Ritter112), einer der führenden Historiker der Nachkriegszeit, der den Männern des Widerstandes um Carl Goerdeler nahegestanden hatte, schrieb 1946, daß ein Volk, das grundsätzlich auf »Nationalbewußtsein« verzichtet, dadurch sich selbst fallenläßt und damit sittlich nicht besser, sondern schlechter wird. Der Journalist Ernst Friedländer41), der nach langer Emigration sich ab 1946 als Leitartikler der Zeit einen Namen machte, setzte sich für die geistige Erneuerung Deutschlands ein, meinte aber, der berechtigte Antinationalismus sollte nicht gegen die Nation und das Volk Sturm laufen. 

** Der Historiker Peter Alter2 hat die Bewußtseinslage der Deutschen nach dem Kriege und ihren eiligen Abschied von der Nation in einem lesenswerten Beitrag zu Harm Kluetings Buch »Nation, Nationalismus, Postnation«72 beschrieben.

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Er plädierte für ein »gesundes Nationalbewußtsein« und schrieb unter anderem: 

»Wir haben keinen Grund, einer von nationaler Selbstangst und nationalem Selbsthaß gepeinigten Minderheit unter uns zuzustimmen, die am liebsten Deutschland verschwinden lassen möchte, die einverstanden wäre, wenn es zugunsten aller seiner Nachbarn aufgeteilt würde... Es ist überhaupt weder gut noch gesund, wenn wir in unserer jetzigen Notgemeinschaft nicht nur mit physiologischen, sondern gerade auch mit nationalen Kalorien unterernährt werden. Denn auch das führt zu Mangelerscheinungen. Und daraus können sich Verkrampfungen ergeben, die alles andere sind, als die erstrebte Umerziehung.«

Und Konrad Adenauer' vertrat in Bern 1949: »Man kann das Wiedererwachen eines gesunden, sich in den richtigen Bahnen haltenden Nationalgefühls nur begrüßen, denn ein Volk, das kein Nationalgefühl mehr besitzt, gibt sich selbst auf.« Adenauer war ohne jeden Zweifel ein überzeugter Gegner des Nationalismus.

Die Problematik ist heute so aktuell wie damals kurz nach dem Kriege. Nur ist mittlerweile aus dem anständigen Bemühen um die Bewältigung der schrecklichen Vergangenheit eine gedankenlose und damit gefährliche Bußübung geworden, ein Ritual, mit dem sich Dauerbüßer wie Günter Grass moralistisch zu profilieren suchen, in einem Spiele, das in Polarisierung nationalistische Gegenpositionen weckt.

Im Zusammenhang mit der antinationalen Bewegung wird oft auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker in Frage gestellt. Ralf Dahrendorf17) spricht von ihm als einem »barbarischen Recht«. Nur Menschen hätten Rechte, nicht aber Völker. So hätten die Armenier keineswegs Rechte auf einen eigenen Staat, wohl aber hätte der einzelne das Recht, seine Kultur zu pflegen, seine Sprache zu sprechen oder seinen religiösen Praktiken zu folgen. 

Die Praxis lehrt jedoch, daß dies nur über das Selbstbestimmungsrecht und dessen Garantie durch internationale Vereinbarungen einigermaßen gesichert werden kann. Mehrere Ethnien mögen sich darüber hinaus durchaus zu größeren politischen und wirtschaftlichen Einheiten verbinden, wie das in der Schweiz oder heute in Westeuropa der Fall ist.

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Man kann an mehrere Integrationsebenen denken, und wir wollen beim Hinweis auf die Schweiz auch keineswegs ein Modell idealisieren — aber es funktioniert und kann sicher noch verbessert werden. Mit solchen Modellen wäre auch der Einwand entkräftet, eine Weltgemeinschaft, in der jede Ethnie mit einer Stimme spräche, wäre unregierbar. Vor der UNO spricht nicht jeder Schweizer Kanton.

Kritische Stimmen machten auf die Gefahr einer Polarisierung der Standpunkte immer wieder aufmerksam. So 1970 der Historiker Hans Rothfels115):

»Diese Situation ist nicht ohne Paradoxien. Zunächst muß man feststellen, daß hier ein Extrem das andere treibt. Wenn es in der Bundesrepublik eine Chance zu einem ressentimentgeladenen Renationalisierungsprozeß, ja zu einem exzessiven Nationalismus gibt, so hat dieser Möglichkeit die erklärte Mißachtung aller nationalen Empfindungen sehr wesentlich auf den Weg geholfen. Wie berechtigt und notwendig auch immer es für Deutsche war, aus eigener Erkenntnis sich von der unseligsten Phase deutscher Geschichte in scharfer Wendung abzusetzen, so hat doch nicht nur die Kollektivschuldthese von außen, sondern auch von innen her ein Flagellantentum, das gegen jeden Ansatz ruhiger Selbstachtung und gegen jede Berufung auf historisch gegründete Werte der Vergangenheit anging, Gegenkräfte geweckt, die aus neonazistischen Restbeständen allein nicht zu erklären sind.«

Daß die Beziehung der Deutschen zu ihrer Nation geradezu neurotische Züge aufweise, vermerken Elisabeth Noelle-Neumann und Renate Köcher101) sowie Anton Peisl und Armin Mohler105). Je mehr die Deutschen sich im Ritual fortdauernder Vergangenheitsbewältigung auf Kosten der Nation ergehen, desto weniger werden sie sie bewältigen, desto mehr werden sie in ihrem tugendhaften Bemühen, an ihrem Wesen wieder einmal die Welt genesen zu lassen, genau das erreichen, was sie vermeiden wollen, nämlich eine Renaissance des aggressiven Nationalismus mit allen bösen Folgen.

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Bevor man dem Nationalstaat pauschal den Kampf ansagt und unbesonnen von multikulturellen Experimenten schwärmt, sollte man doch das Phänomen Nation und Ethnizität erst einmal hinterfragen. Was bedeutet eigentlich die Vielzahl der Völker, die wir auf dieser Erde antreffen? Sind sie nur ein Beiprodukt der Geschichte, lästig für jene, die eine bessere Welt wollen? In aller Welt grenzen sich Menschengruppen über Sprache, Brauchtum und Glauben von anderen ab, auf der Stufe der Naturvölker ebenso wie auf der Stufe staatlich organisierter Zivilisationen. Und alle, ob sie sich nun in kleineren oder größeren Solidargemeinschaften, als durch Dialekt gekennzeichnete Tälergemeinschaften oder sprachlich definierte Ethnien von anderen abgrenzen, verteidigen ihr Land ebenso wie ihre Identität, wann immer Gefahr droht.

An Manifestationen dieser Art Solidarität mangelt es ja gegenwärtig nicht. Und wir akzeptieren auch, daß Esten, Letten und Litauer sich gegen die Dominanz anderer wehren, erwarten allerdings auch, daß sie ihre neuen Minoritäten nicht ihrerseits unterdrücken. Wir erschrecken allerdings über die Gewalttätigkeiten im ehemaligen Jugoslawien. Ein neuer Begriff hat sich da eingebürgert, hinter dem sich tausendfaches unsägliches Leid verschleiert. Man spricht von »ethnischer Säuberung«. Wir empören uns über die wechselseitigen Gewalttätigkeiten der Serben, Kroaten und Bosnier, über die Gemetzel zwischen Aserbaidschanern und Armeniern, über den Ausbruch von Haß und Gewalt in der zu Georgien gehörenden Abchasischen Republik. Wie erklärt sich dieser Gruppenhaß? Und wie erklärt sich vor allem die offenbar dahinterstehende ethnische Vielfalt, die ja erst über Abgrenzung zustande kam? 

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5.2.  Vielfalt - Basisstrategie des Lebens

  

Das Leben ist ein energetischer Prozeß, der über organismische Strukturen abläuft und positive Energie­bilanzen erwirtschaftet". Organismen als Träger des Lebensstromes treten in großer Vielfalt auf. In mehreren Millionen Arten und Unterarten bevölkern sie als Tiere, Pflanzen, Einzeller und Mehrzeller gegenwärtig unsere Erde. Millionen und Abermillionen von Arten lebten vor ihnen und endeten als blinde Äste der Evolution mit ihrem Aussterben. Aber dank der Vielfalt wurden selbst bei kosmischen Katastrophen, die zu verschiedenen Zeiten unseren Planeten heimsuchten, nie alle Arten vernichtet. 

Dazu hatte sich das Leben in viel zu viele Nischen eingenistet: in den schlammigen Grund der Tiefsee ebenso wie auf die höchsten Berggipfel, in Regenwälder, eisige Meere der Arktis ebenso wie in Wüsten und Steppen, und zwar stets mit aus zahlreichen Arten und Unterarten zusammengesetzten Lebensgemeinschaften. Selbst so große Katastrophen, wie sie der Meteoreinschlag vor 65 Millionen Jahren im Gebiet von Yucatán verursachte, vernichteten das Leben nicht. Es starben damals zwar die Dinosaurier und eine Vielzahl anderer Tiergruppen aus, aber schnell erblühte das Leben zu neuer Vielfalt.

Vielfalt ist eine Strategie des Lebens zum Überleben. Sie hat sich an der Selektion bewährt. Jede bunte Wiese belegt ihr Wirken, und es entstehen immer neue Varianten quasi als Speerspitzen der Evolution. Das kann über Mutationen, Neukombinationen, aber auch durch individuelle Änderungen von Gewohnheiten geschehen. Wir wissen von manchen Singvögeln, daß sie ihren Gesang lernen. Dabei entstehen wahrscheinlich auch durch Kopierfehler und individuelle Variation Dialekte. Das Interessante ist nun, daß die Vögel, die einen Dialekt singen, einander auch bevorzugt als Geschlechtspartner wählen132)

So grenzen sich Populationen über Verhaltenseigentümlichkeiten ab und gehen eigene Wege der Entwicklung. Verhaltensweisen sind in solchem Falle Schrittmacher der Evolution. Auch wenn ein Vogel aus irgendeinem Grunde ein neues Biotop zum Brüten aufsucht, etwa eine freie Wiesenfläche statt des bisher von seinen Eltern und Artgenossen bevorzugten Gebüsches, ist dies der Fall. Und sollten die Nachkommen bei dieser neuen Präferenz bleiben, dann würde dies eine ganze Reihe von Folgen haben, denn auf der freien Wiesenfläche herrschen ganz andere Selektionsbedingungen als im Gebüsch.

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    Kulturelle Pseudospeziation    

Beim heutigen Menschen bleibt nun die Evolution nicht stehen. Er mag sich zwar selbstherrlich als »Krone der Schöpfung« bezeichnen, aber wir sind Werdende mit guten Chancen oder, wie Konrad Lorenz85 es auszudrücken pflegte, »das missing link auf dem Weg zum wahrhaft humanen Menschen«. Und auf diesem Weg experimentieren wir. Wir tun dies zunächst auf der kulturellen Ebene, indem sich Gruppen teilen, über neue Bräuche, Ideologien und Dialekte voneinander abgrenzen und eigene Wege gehen.

Der amerikanische Psychoanalytiker Erik Erikson35 beschrieb diesen Prozeß als »kulturelle Pseudospeziation« (d.h. Pseudo-Artenbildung). Kulturen experimentieren mit unterschiedlichen Praktiken der Alltagsbewältigung, mit unterschiedlichen Formen der politischen Führung und unterschiedlichen Ziel­setzungen und werden so zu Wegbereitern der Evolution. Sie tragen damit über die Schaffung von Vielfalt zur Absicherung des Lebens auf der humanen Ebene sowie zur Weiterentwicklung bei. Kultur fungiert dabei als Schrittmacher.

Ethnische Vielfalt ist somit durchaus als positiv zu bewerten. Mit ihr entstanden allerdings auch die Mechanismen der territorialen und identitätsbewahrenden Abgrenzung, ohne die es keine Vielfalt gäbe (S. 113). Und mit ihnen muß man ebenso rechnen wie mit der Tatsache, daß Ethnien als Solidargemeinschaften auftreten, die zunächst einmal ihr Eigeninteresse vertreten, das zugleich ihr Überlebensinteresse ist. Völker und Nationen konkurrieren um begrenzte Lebensgrundlagen, heute vor allem wirtschaftlich, und sie sind gerüstet und durchaus auch bereit, zu den Waffen zu greifen, wenn vitale Interessen gefährdet scheinen.

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Wie aber können die vielen miteinander konkurrierenden Ethnien dann friedlich koexistieren? Die Fähigkeit zur Allianz zwischen Gruppen wurde meist zu militärischen Zwecken genutzt. Gemeinsam erlebte Bedrohung, wie in der Zeit des Kalten Krieges, förderte solche Entwicklungen. Selbst Völker, die sich noch kurze Zeit zuvor heftig bekämpft hatten, schlössen sich in der westeuropäischen Gemeinschaft zusammen. Pessimisten sagen: Hätten wir doch Feinde aus dem All, wie schnell würden wir als Menschheit zusammenstehen! Ich meine allerdings, gemeinsame Aufgaben könnten das ebenfalls bewirken.

Man sagt im allgemeinen, Nationen hätten keine Freunde, sondern nur gemeinsame Interessen. Aus diesem Ist folgt nicht, daß es so bleiben muß. Nationen pflegen auch kollektive Gefühle und Meinungen über andere. Diese sind aus geschichtlicher Erfahrung selbst zwischen verbündeten Ländern von einem gewissen Mißtrauen belastet. Daher bemüht sich jede Nation, aus einer Position der Stärke zu agieren. Und jede legt insbesondere Wert darauf, vor anderen ihr Gesicht zu wahren. Wir setzen dabei bemerkenswerterweise die im persönlichen Verkehr entwickelten Strategien sozialen Umgangs ein, was nicht wundert, denn es sind Personen, die Staaten vertreten, und sie sind von den archaischen und daher allen Menschen in prinzipgleicher Weise angeborenen Umgangsformen geprägt26

Wenn Staaten sich beleidigt geben, dann verwenden sie die Strategie der Androhung eines Kontakt­abbruches, so wie das schmollende Kinder in aller Welt praktizieren. Aus der Tatsache, daß wir unentwegt die für die Face-to-face-Interaktion entwickelten Verhaltensmuster im internationalen Verkehr einsetzen, folgt, daß sich dies natürlich nicht nur auf den agonistischen Bereich beschränken muß, sondern ebenso Möglichkeiten prosozialen — freundlichen — Umgangs zwischen Staaten eröffnet. 

Staaten werden ja durch Menschen vertreten, die Freude, Leid und Ärger erleben so wie jeder andere und deren Handeln natürlich nicht nur von distanziert-sachlichen Erwägungen bestimmt wird.

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Wie stark Gefühlsregungen die Beziehungen mitbestimmen, zeigte sich kürzlich beim Staatsbesuch, den Rußlands Präsident Boris Jelzin in Japan machte. Als Zeichen der Versöhnung und Entschuldigung übergab er dem japanischen Premierminister Morihiro Hosokawa eine Photographie von dessen mütterlichem Onkel, der in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager gestorben war. Der japanische Premierminister war zu Tränen bewegt*.

Ein Volk kann ein anderes hassen, aber es kann auch für ein anderes Sympathien entwickeln. Bisher war oft beides der Fall. So wurde das Verhältnis der Deutschen zu den Franzosen lange Zeit als »Haßliebe« charakterisiert. Hochachtung vor den Kulturleistungen und Bezauberung durch den Charme und schließlich sicher auch das verbindende geschichtliche und kulturelle Erbe schufen eine emotionell positiv getönte Verbundenheit, die von beiden Seiten nur durch die geschichtliche Erfahrung gegenseitiger Bedrohung getrübt wurde.

In den vergangenen Jahrhunderten vertraten die Staaten Europas ihr Eigeninteresse auch durch Angriffs­kriege. Heute wissen wir, daß es Bruderkriege waren, und dieses Wissen müssen wir weitergeben, indem wir unsere Jugend durch Pflege persönlicher Kontakte miteinander bekannt machen und sie mit den kulturellen Leistungen des Nachbarn vertraut machen.

Samuel Huntington68), der amerikanische Politikwissenschaftler an der Harvard-Universität, vertritt die Ansicht, daß sich die künftigen weltpolitischen Spannungen nicht mehr zwischen Staaten, sondern zwischen den größeren Zivilisationen entwickeln werden. Er spricht von den sich aufbauenden Spannungen zwischen dem vom Christentum bestimmten Europa und dem Islam, vom Zusammenprall der Moslems mit den Hindus in Indien, von den Grenzstreitigkeiten Chinas mit seinen Nachbarn und den zunehmenden handelswirtschaftlichen Spannungen zwischen Japan und den USA.

* James Walsh, »The Territorial Imperative«, Time Magazine vom 25.10.1993, S. 37: »Confessing that he had been moved to tears by Yeltsin's personal gift, the Prime Minister described his guest's apologies to Japan as >extremely important inbuilding a foundation for the spiritual and psychological reconciliation of the two peoples<.«

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Huntington weist daraufhin, daß der Westen derzeit international alle politischen Bündnisse und Sicherheits­gremien und - gemeinsam mit Japan - alle wirtschaftlichen Institutionen dominiere. Wie die nichtwestlichen Kulturen darauf antworten, bleibe offen.

Huntingtons Visionen sind schrecklich. Kriegerische Konflikte zwischen den großen Zivilisationen würden das gesamte Ökosystem der Erde in Mitleidenschaft ziehen und damit die weitere Existenz der Menschheit auf zivilisatorischer Ebene bedrohen. Zum Glück vertreten alle Zivilisationen der Erde heute auch hohe ethische Werte, gleich ob es sich um die von Buddhisten, Moslems, Christen oder Hindus handelt. Es sind eher die fundamentalistischen Fraktionen unter ihnen, die ein Konfliktpotential darstellen.

So bleibt die Hoffnung, daß die großen Zivilisationen als solche Wege der Zusammenarbeit finden. Religiöse Weltanschauungen sind zwar Marker der Identität, in Zeiten des Wohlstandes behindern sie aber nicht notwendigerweise ein friedliches Miteinander. Dasselbe gilt im Grunde für alle Zivilisationen. Eine Entwicklung zum partnerschaftlichen Umgang wird gegenwärtig jedoch durch Angst und Not gebremst, und die ist leider begründet, denn unser Planet ist übervölkert, und der Wettstreit geht um die begrenzt zur Verfügung stehenden Ressourcen dieser Erde.

Gemeinsame Anliegen wie etwa der Kampf gegen zunehmende Umweltzerstörung, Übervölkerung und Not könnten durchaus die Menschheit einen, ohne daß man deshalb auf ethnische Vielfalt verzichten müßte. Voraussetzung für eine friedliche Koexistenz ist allerdings, daß keine Ethnie repressive Dominanz durch andere befürchten muß. Dies setzt Verträge zur Achtung der territorialen Integrität und der ethnischen Identität voraus, die wiederum Selbstverwaltung zur Bedingung hat und im nachbarlichen Umgang auch gewisse Selbsteinschränkungen. Unter anderem sollten die Völker ihre Bevölkerungszahl auf die Tragekapazität des ihnen zur Verfügung stehenden Landes abstimmen, sonst kommt es früher oder später zur Übervölkerung und damit zu einem Auswanderungsdruck, der andere Ethnien in Bedrängnis bringt. Wir kommen darauf noch einmal zurück.

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Unter Beachtung dieser Bedingungen können eingesessene und territorial verwurzelte Völker durchaus friedlich miteinander in einem Staatsverband zusammenleben. Die Schweiz ist ein gutes Beispiel für einen über gemeinsame Interessen bei gegenseitiger Respektierung gebundenen Mehrvölkerstaat. Mit dem wachsenden Vertrauen zwischen den westeuropäischen Staaten bahnt sich eine ähnliche Entwicklung für die Europäische Union an. Eine multiethnische Gesellschaft ist hier im Werden.

Sie ist allerdings nicht mit der multi-ethnischen Gesellschaft gleichzusetzen, die einigen Utopisten vorschwebt. Kommt nämlich der Aufbau von Minoritäten durch Immigration in einem bereits von einer Ethnie bewohnten Land zustande, dann ergibt das eine ganz andere Situation: Die Einwanderer nehmen mit ihrer Niederlassung auf Dauer die kostbarste Ressource in Anspruch, die einem Volk zur Verfügung steht, nämlich deren Land. Sie werden daher als Eindringlinge wahrgenommen, und das löst geradezu automatisch territoriale Abwehrreaktionen aus, und zwar dann, wenn die Gruppen sich voneinander abgrenzen, was kulturell einander Fernerstehende ja auch zu tun pflegen. 

Gestattet ein Volk anderen den Aufbau von Minoritäten im eigenen Lande, dann tritt es praktisch Land ab und belastet sich innerhalb der eigenen Grenzen mit zwischenethnischer Konkurrenz. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten kommt es dann fast unvermeidlich zu Konflikten, unter denen die Schwächeren zu leiden haben, und das sind in der Regel die Minoritäten. Denn über eines dürfen wir uns nicht hinwegtäuschen: Jede Solidargemeinschaft wird in erster Linie ihre Eigeninteressen vertreten. Darauf sind wir nun einmal durch eine lange Stammesgeschichte programmiert. Jene, die diese Interessen nicht vertraten, gehören nicht zu unseren Vorfahren.

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 5.3 Das Problem unterschiedlichen Bevölkerungswachstums   

 

Das zwischenethnische Zusammenleben wird von einer Reihe von Faktoren bestimmt, die wir zur Kenntnis nehmen müssen, wenn wir ein friedliches Miteinander auf Dauer anstreben. In der öffentlichen Diskussion wird allerdings der Hinweis auf manche Zusammenhänge oft geradezu peinlich gemieden. Als Reaktion auf die Auswüchse eines übertriebenen Nationalismus vergangener Epochen entwickelte sich ein ebenso übertriebener Philanthropismus, der meint, jeden, der auch das Eigeninteresse seiner Ethnie in vernünftiger Weise vertritt, als Ethnozentriker oder, noch schlimmer, als Fremdenfeind oder Rassisten diffamieren zu dürfen. Das geschieht vielleicht guten Willens, aber die so agitieren, übersehen in einer Art dogmatischer Verblendung, daß sie gerade damit dem Rechtsextremismus, den sie bekämpfen wollen, Vorschub leisten.

Einen wichtigen Faktor, den man bei allen Überlegungen zur Immigrationsproblematik in Rechnung stellen muß, ist die Möglichkeit eines unterschiedlichen Reproduktionsverhaltens im gleichen Lande lebender, sich voneinander sozial, aber nicht territorial abgrenzender Ethnien.

Heiraten Einwanderer bevorzugt untereinander, was bei sich abgrenzenden Ethnien ja der Fall zu sein pflegt, und bekommen sie im Durchschnitt stets mehr Kinder als die angestammte Bevölkerung, dann kann dies im Laufe einiger Generationen sogar zu einer Majorisierung der autochthonen Bevölkerung führen. 

So gewannen die auf die Fidschi-Inseln eingewanderten Inder vor einigen Jahren die zahlenmäßige Oberhand über die ortsansässige Bevölkerung und beanspruchen nun Landrechte, die ihnen bisher vorenthalten waren. Die Abdrängung der Polynesier in die Minorität erfolgte im übrigen durchaus friedlich. Ein ähnlicher Prozeß spielt sich in den Vereinigten Staaten von Amerika ab. Nach einer Hochrechnung im Time Magazine vom 9. April 1990 werden dort in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts die Weißen in der Minderzahl sein.

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Abb. 9: Die prozentuale Zunahme der verschiedenen Bevölkerungsgruppen der Vereinigten Staaten von Amerika in den Jahren 1980-88 durch Einwanderung und Geburtenzuwachs (nach Angaben des Time Magazine vom 9.4.1990).

Gründe dafür sind sowohl ein unterschiedliches Reproduktionsverhalten als auch die vermehrte Zuwanderung aus außereuropäischen Bereichen (Abb. 9-11). Der Umschlagpunkt, an dem die Afroamerikaner, Asiaten und Mittelamerikaner (Ladinos) die Weißen überrunden, wird in etwa 70 Jahren erwartet.

Weist man auf solche Entwicklungen hin, dann hört man oft die beschwichtigende Aussage, die Einwanderer würden sich schließlich in ihrem Reproduktions­verhalten dem Verhalten der Eingesessenen angleichen, dann nämlich, wenn sie deren Lebensstandard erreicht hätten. Das kann zwar so kommen, muß aber nicht so kommen. Daniel Vining128 stellte zwar in den USA fest, daß Weiße und Schwarze mit steigendem Intelligenzquotienten und Einkommen heute weniger Kinder bekommen. Bei gleichem Trend bleibt aber ein Unterschied zugunsten der Afroamerikaner, der auf genetischen Unterschieden beruhen könnte.

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Abb. 10: Der Bevölkerungszuwachs der verschiedenen Bevölkerungsgruppen der Vereinigten Staaten von Amerika in den Jahren 1980-88, aufgeschlüsselt nach Geburtenzuwachs (natürliches Bevölkerungswachstum) und Netto-Einwanderung (nach Angaben des Time Magazine vom 9.4.1990). 

Es ist fast anzunehmen, daß es in diesem Bereich genetische Unterschiede gibt, denn welcher Selektionsdruck sollte ausgerechnet einen so wichtigen Konkurrenz­faktor wie Kinderzahl gleichschalten? Schließlich ist es für eine Immigrantenpopulation vorteilhaft, wenn sie mehr Kinder zur Welt bringt als die autochthone Ethnie, vorausgesetzt, sie kann diese auch aufziehen. Für eine Minorität wäre es sicher nicht zweckmäßig, sich in ihrer Vermehrung einzuschränken, denn je mehr Personen sie zählt, desto besser kann sie ihre Existenz absichern und desto mehr Stimmengewicht bekommt sie in einer demokratischen Gesellschaft. Wer sagt außerdem, daß es allen Immigranten gelingt, wirtschaftlich mit den Autochthonen gleichzuziehen?

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Abb. 11:  Prognostizierte Bevölkerungsentwicklung der USA, aufgeschlüsselt nach nichtspanischen Weißen und anderen, bei Anhalten des in den achtziger Jahren festgestellten Trends. Im Jahre 2056 - in einem Menschenalter - befindet sich die weiße Bevölkerung in der Minorität (nach Angaben des Time Magazine vom 9.4.1990).  

Zu dem Hinweis auf einen möglichen Bevölkerungswandel durch Immigration und unterschiedliches Fortpflanzungsverhalten hört man nicht selten: »Na, und wenn schon, was liegt daran, ob wir (oder: die Europäer) weiterleben? Was ist an uns schon so besonders? Es gibt ohnedies genug Menschen auf dieser Erde.« Oft hört man den Zusatz, wir würden ja in der Menschheit überleben. Es komme daher nicht darauf an, eigene Nachkommen in die Welt zu setzen. — Aber in der Menschheit überlebt unser europäischer Bevölkerungstypus nur, wenn er eigene Nachkommen produziert. Das ist eine so triviale Tatsache, daß man sie eigentlich nicht zu erwähnen braucht. Pflanzen wir Europäer uns nicht fort, dann treten wir ab. 

Das mag einzelne nicht stören, aber in Wort und Schrift zu verbreiten, daß es darauf nicht ankomme, zeugt entweder von einer Naivität, die an Dummheit grenzt, vielleicht aber auch von einer Selbstdestruktivität, die andere in den Selbsthaß einbeziehen und mitreißen möchte. 

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Das Phänomen verdient auf jeden Fall unsere besondere Aufmerksamkeit. Lebensentsagung, Lebens­überdruß und der Wunsch nach Auslöschung, der im Extremfall zum Selbstmord führen kann, sind ja zu allen Zeiten verbreitet, und es sieht so aus, als würden diese Erscheinungen zu gewissen Zeiten massenpsychotisch von Populationen Besitz ergreifen. Daran mag in der gegenwärtigen Situation des Europäers der Gedrängefaktor durch Übervölkerung, zusammen mit einer durch die vielen Belastungen der Neuzeit (S. 55) verursachten Verdrossenheit, eine Rolle spielen. 

Der Wunsch nach einer besseren Welt, unerfüllte Erwartungen, Angst und Schuldgefühle kommen hinzu und bewirken eine Art Weltflucht. Ergreift diese in einer Art Massenhysterie eine Bevölkerung, dann scheint es mir geboten, dem durch Aufklärung entgegenzuwirken. Der Mensch ist erstaunlich indoktrinierbar. Das macht ihn besonders verletzbar. Denn durch Propaganda lassen sich in seinem Hirn Strukturen aufbauen, die ihn dazu bringen, gegen seine vitalen Eigeninteressen zu handeln. Und eine gewisse Neigung zu Weltschmerz und Weltverneinung ist diesem mitfühlsamen und reflektierenden Geschöpf gegeben, das sich so sehr um eine Sinndeutung bemüht und an ihr allzuleicht verzweifelt. Die Entsagungsideologie der indischen Religionen, die im Nirwana der endgültigen Auslöschung aus der Kette der Wiedergeburten ihr Ziel sieht, legt dafür Zeugnis ab.

Zur Frage schließlich, ob es denn darauf ankomme, daß wir Europäer überleben, was denn an uns so besonders erhaltenswert wäre, ist zu sagen, daß es sicher kein wie immer geartetes Interesse der Natur an irgendeinem Volk auf dieser Welt gibt. Noch können wir dergleichen aus dem bisherigen Evolutionsgeschehen für irgendeine andere Art Lebewesen feststellen. Das Weltall stürzt gewiß nicht zusammen, sollte einmal ein Planetoid unsere Erde zertrümmern. 

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Ablesen können wir aus dem Evolutionsgeschehen nur, daß jene Arten, die heute leben, dies den erfolgreichen Reproduktionsstrategien ihrer Vorfahren verdanken. Alle Lebewesen, so auch unsere Vorfahren, haben bisher erfolgreich ein Überlebensinteresse als Eigeninteresse vertreten, und das kann keiner dem anderen absprechen.

Wir Menschen können unserem Leben allerdings einen Sinn zuweisen. In dem Bemühen um eine sinnvolle Gestaltung unseres Daseins erreichen wir eine neue Seinsstufe. Aber wir haben auf dem Wege zum wahren Menschen noch eine gute Strecke vor uns. Aus Einsicht in die Mühen, die ungezählte Generationen vor uns in uns investierten, erwächst uns wohl die Verpflichtung, unseren Kindern und Enkeln ein reiches Leben zu weiterer Entfaltung zu ermöglichen. Ich sehe darin so etwas wie einen Generationenkontrakt. Natürlich muß nicht jeder diese Verantwortlichkeit empfinden, und ob ein Mensch Kinder in die Welt setzt oder nicht, sollte ihm selbst vorbehalten bleiben. Aber als meinungsformender Politiker oder Publizist den Angehörigen des eigenen Volkes einzureden, es komme nicht auf das Überleben in eigenen Nachkommen an, erscheint mir unverantwortlich, da es nach meinem Dafürhalten dem Versuch einer Überredung zum Ethnosuizid gleichkommt.

Politiker, die dies tun, verstoßen überdies, wie mir weiterhin scheint, zumindest in Deutschland gegen ihre Verpflichtung, die Interessen des eigenen Volkes wahrzunehmen. Es bedarf wohl keiner umständlichen Begründung, um einsichtig zu machen, daß die Verdrängung einer Ethnie durch eine andere nicht gerade im Interesse der Verdrängten ist, auch wenn dieser Prozeß »friedlich« über Immigration herbeigeführt werden sollte. Darauf hört man dann schnell die Beschwichtigung: »Aber soweit ist es ja noch gar nicht, die paar Millionen gefährden uns doch nicht.« Ja und nein! Zunächst einmal belasten sie die Gemeinschaft durch ihre Konzentration an bestimmten Orten. Dort bilden sich Konfliktzonen. Das ist traurige Wirklichkeit.

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Des weiteren müssen wir über längere Zeit vorausdenken. Können wir wünschen, daß die Entwicklung in unseren Ländern nach dem US-amerikanischen Muster abläuft, mit brennenden Stadtbezirken, Verslumung, zunehmender Kriminalität und der Aussicht, allmählich von kulturfernen* Zuwanderern in die Minorität gedrängt zu werden? Das muß nicht so kommen, es kann aber durchaus in diese Richtung gehen — und ist keinem Volk dieser Erde zu wünschen.

Noch vor nicht allzulanger Zeit schwärmte man in Frankreich von der Buntheit, die die Nordafrikaner mit ihren fliegenden Läden in die französischen Städte trügen. Angesichts der sich mittlerweile häufig aggressiv abgrenzenden Ghettos und der zunehmenden Kriminalität ist vielen die Schwärmerei vergangen. Man erkennt, daß man es mit einer Solidargemeinschaft zu tun hat, die zwar französisch spricht, aber arabisch denkt und fühlt, und das ist nicht weiter verwunderlich. Oder glaubte jemand ernsthaft, sie würden sich alle mit der Geschichte Frankreichs identifizieren und einmal Karl den Großen als symbolischen Staatsgründer und Stammvater verehren?

 

     Türken und Deutsche     

In der Bundesrepublik Deutschland bilden die Türken eine Bevölkerungsgruppe, die sich außerhalb ihrer Gemeinschaft leicht in die ortsansässige Gemeinschaft integriert. Viele Türken der zweiten Generation sind kulturell bereits Deutsche. Da die Türken allerdings binnen weniger Jahre in großer Zahl einwanderten, kam es in den großen Städten zur Bildung sich abgrenzender türkischer Minoritäten. Bereits 1982 wies der SPD-Kommunalexperte Martin Neuffer (98,99) auf die daraus erwachsenden Probleme hin: 

»Die schwerst­wiegenden Probleme sind bei den Türken entstanden. Sie bilden die größte ständige Einwanderungs­gruppe. Im Gegensatz zur ursprünglichen Gastarbeitersituation sind sie inzwischen ganz auf ständige Niederlassung eingestellt. Ihre Zahl ist ständig bis auf gegenwärtig 1,5 Mio. angewachsen und steigt weiter. Das entspricht jetzt schon der Einwohnerzahl von 15 Großstädten mit je 100.000 Einwohnern.«

*  »Kulturfern« ist aus europäischer Sicht ohne Wertung zu verstehen als: nicht dem europäischen Kulturbereich angehörend.

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Heute nähert sich die Zahl der Türken der Zweimillionengrenze (türkische Wohnbevölkerung in der BRD Ende 1992: 1,85 Mio.). Nun hoben wir bereits hervor, daß Türken sich durchaus assimilieren können, vorausgesetzt, sie wollen es. Wohnen sie allerdings in größeren Gruppen, dann setzen sie sich ethnisch ab und widersetzen sich so der Assimilation. Schließlich sind sie die Vertreter einer selbstbewußten, hohen Kultur.

Assimilationswillige Türken, die in deutscher Nachbarschaft leben, werden wegen ihres Fleißes trotz ihres zunächst in vielem fremdartig anmutenden Verhaltens relativ schnell von der Bevölkerung akzeptiert. Sie lernen Deutsch, und ihre Kinder unterscheiden sich schließlich nur noch wenig von ihren deutschen Nachbarkindern. Ich erinnere mich, daß ich als Mitglied der Jury für die Verleihung des Literaturpreises des Pen-Clubs Liechtenstein an einer Diskussion teilnahm, bei der ausgezeichnete Gedichte einer in Deutschland geborenen jungen Türkin verlesen wurden.

Edgar Piel (107) machte mich mit den von ihm durchgeführten Erhebungen des Allensbacher Instituts bekannt, die in diesem Zusammenhang interessant sind, weil sie zeigen, daß die in Deutschland lebende türkische Minorität heute deutlich besser bewertet wird als vor zehn Jahren (vgl. Abb. 12). Im Kontrast dazu wird der Zustrom von Asylanten zunehmend als »bereits ... nicht mehr erträglich« empfunden (vgl. Abb. 13).

Dies spricht dafür, daß es gelingen könnte, ein verträgliches Miteinander zwischen Türken und Deutschen zu gestalten, mit dem Ziel einer völligen Assimilation. Sie setzt allerdings die Bereitwilligkeit der Eingewanderten voraus, sich anzugleichen, und die weitere Akzeptanz durch die einheimische Bevölkerung und sicher auch eine Entspannung des Arbeitsmarktes.

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Abb. 12:  Veränderte Einstellung zu Türken 1982-1993. Positive Aussagen sind deutlich häufiger, negative Aussagen deutlich seltener geworden. (Quelle: Allensbacher Archiv107)

In Krisensituationen wird eine Minorität bekanntlich leicht zum Sündenbock, was dann zur weiteren Abgrenzung führen könnte — eine Entwicklung, die katastrophal wäre. Erschwert wird die Situation durch die Tatsache, daß die türkische Bevölkerung, dem durchaus natürlichen Wunsch nach Einbettung in ihre Gemeinschaft folgend, türkische Gemeinden bildete, in denen heute mancherorts, vor allem in den Schulen, Moslemfundamentalisten und Nationalisten tätig sind, deren Agitation sich gegen Assimilationsbestrebungen richtet.

Auf einer Anhörung in Bonn meinte der türkische Botschafter Omar Öymen, die in Deutschland lebenden Türken seien keine Ausländer, sondern »Deutschland-Türken«, vergleichbar den Rußland-Deutschen. Das könnte als Wunsch nach Beibehaltung des türkischen Volkstums in Deutschland interpretiert werden. Die Situation ist jedoch nicht mit der der Rußland-Deutschen vergleichbar, denen man einst unbesiedeltes Land zur Kultivierung überlassen hatte. Für eine Türken­republik ist hier sicher kein Platz. 

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Abb. 13: Frage: »Halten Sie die Probleme, die in der Bundesrepublik durch den Zustrom von Asylanten entstanden sind, alles in allem noch für erträglich oder bereits für nicht mehr erträglich?« Die Säulen geben den Prozentsatz der Befragten wieder, die den Zustrom als »nicht mehr erträglich« einstuften. (Quelle: Allensbacher Archiv107, zuletzt Mai/Juni 1993)

Wie hoch der Prozentsatz assimilationswilliger Türken im Verhältnis zu den Traditionellen ist, konnte ich nicht erfahren. Aber verweigert ein großer Prozentsatz die Angleichung und grenzt er sich als eigene Solidargemeinschaft ab, dann kann dies problematisch werden. Besonders dann, wenn die sich abgrenzende Gemeinschaft der Immigranten sich schneller vermehrt als die einheimische Bevölkerung.

Ein Bevölkerungswandel kann relativ schnell erfolgen60. In der beigefügten Graphik (Abb. 14) ist die Zahl der Lebendgeborenen für Westberlin von 1960-1992 aufgezeichnet. Ein deutliches Absinken der Zahl von Inländerkindern und eine deutliche Zunahme der Ausländerkinder ist ohne weiteres abzulesen.

Dem neuen Jahrbuch 1993 des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden entnehme ich für Deutschland folgende Angaben:

1991

 Bevölkerungszahl

 Geburten

Deutsche

74.102.000

739.226

Türken 

1.779.586

45.304

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Abb. 14:  Lebendgeborene in Berlin (West) von 1960-1992 nach der Staatsangehörigkeit der Eltern. (Graphik vom Verfasser)  

Auf 100 Deutsche kommen demnach in Deutschland 1 Baby pro Jahr, auf 100 Türken 2,5 Babies. Dazu ist noch anzumerken, daß etwas über 40% der türkischen Bevölkerung in Deutschland unter 21 Jahre alt sind.

Von den am 31.12.1992 in Deutschland lebenden 1.854.945 Türken waren 1.023.833 männlichen Geschlechts*, 831.112 weiblichen Geschlechts. 765.826 waren unter 21 Jahre alt (41,3%). Die Altersklasse der 21-50jährigen macht mit 863.401 Personen 46,5% aus. 

Aus den nichteuropäischen Ländern lebten zu diesem Zeitpunkt ferner 283.901 Afrikaner, 596.763 Asiaten und 253.179 nicht näher Ausgewiesene (»übrige Staaten«) in Deutschland. Sie ergeben einen Block kulturferner Immigranten von 1.133.843 Personen. Aus dem ehemaligen Jugoslawien sind 118.056 Personen registriert, aus Osteuropa 725.855, aus den EU-Ländern 1.507.339 und aus dem übrigen Europa 255.754. Gesamtzahl der aufgezählten Gruppen: 5.595.792 Personen.

* Viele der überzähligen jungen Männer holen ihre Heiratspartner aus der Türkei.

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Die beigefügte Graphik (Abb. 15) zeigt die Bevölkerungsentwicklung für zwei Populationen, von denen die eine mit 75 Millionen Individuen mit einer jährlichen Verminderungsrate von -0,5 % startet, die andere mit 1,8 Millionen Personen, aber mit einer Wachstumsrate von 2 % und einer Nettozuwanderung von 50.000 Personen jährlich. Dies entspricht sowohl nach Bevölkerungszahl als auch nach der Geburtenrate ungefähr den gegenwärtigen Verhältnissen in Deutschland für die deutsche und die türkische Bevölkerung. Über die Familienzusammenführung wandern jährlich ferner rund 50.000 Türken zu. Für beide Populationen wurde die gleiche Sterberate angenommen; auch sie entspricht etwa jener in unserem Land. 

Die Modellrechnung zeigt, daß beide Populationen nach 120 Jahren den gleichen Bevölkerungsstand erreichen. Ab diesem Zeitpunkt wächst die bisherige Minorität rapide zur Majorität heran. (Das Modell ist sicher vereinfacht. Es soll die Entwicklung zweier Populationen mit unterschiedlichen Reproduktions­strategien veranschaulichen*.) 

Es kann durchaus sein, daß sich die türkische Bevölkerung in ihrem Reproduktionsverhalten dem der Deutschen weiter angleicht, was einen allgemeinen sozialen Aufstieg zur Voraussetzung hätte. Aber die Angleichung muß ja nicht erfolgen. Auch kann weitere Zuwanderung ausbleiben und eine völlige Assimilation stattfinden, womit das Problem gelöst wäre.

* Wenn Biologen von Strategien sprechen, dann meinen sie keineswegs nur bewußt verfolgte, einsichtig geplante und auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtete Handlungsfolgen, sondern ganz allgemein Verhaltensmuster, deren Folgen die Eignung der Akteure fördern. In dieser Hinsicht »angepaßtes« Verhalten kann auch das Ergebnis stammesgeschichtlicher Entwicklung und damit genetischer Programmierung sein. Es liegt auch keine Bewertung vor. Eine Minorität, die sich in einem Gastland stärker vermehrt als dessen angestammte Population, handelt nicht verwerflich, sondern aus ihrer Sicht und den Lebensgesetzen entsprechend durchaus angepaßt. Fehlangepaßt handeln dagegen Populationen, die sich freiwillig das Verdrängungsrisiko aufbürden.

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Bevölkerungsentwicklung in Deutschland 
in Millionen

Abb. 15:  Berechnung der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland bei Fortdauer des gegenwärtigen Trends (Modellrechnung, keine Prognose). Bevölkerungsgröße 1990: rd. 75 Mio. Deutsche, rd. 1,8 Mio Türken. Jährliche Wachstumsraten: Deutsche -0,5 %, Türken 2 %. Nettozuwanderung von 50000 Türken jährlich. Geschlechterverhältnis: identisch. Sterblichkeit: identisch. Weitere Erläuterungen im Text. (Graphik von Joseph Schmid, Universität Bamberg, auf Bitte des Verfassers angefertigt.)  

 

Wie das Beispiel der Vereinigten Staaten lehrt, kann es aber relativ schnell auch anders kommen. Daher ist es geboten, die Situation zu überdenken. Änderungen der Gesetze über die Familienzusammenführung sollten erwogen werden. Zumal auch aus Afrika, Indien und anderen außereuropäischen Regionen Immigranten als Asylbewerber, Arbeitsuchende und Flüchtlinge herandrängen und diese uns kulturell noch viel ferner stehenden Einwanderer mittlerweile auch eine Million überschreiten. Allein 1992 hatte Deutschland eine Zuwanderung von 438.000 Asylbewerbern zu verkraften, von denen viele aus kulturfernen Ethnien stammen. Da jeder Asylbewerber an offenen Kosten 15.000 DM pro Person verursacht, bedeutet allein die Zuwanderung in diesem Jahr eine zusätzliche Belastung von 6,57 Milliarden DM*.

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Abb. 16:  Magnet Deutschland: Anzahl der Asylbewerber in der Bundesrepublik 1977-1993 (nach Helga Herrmann61 in Information zur politischen Bildung, ergänzt vom Verfasser). Trotz der strengeren Siebung der Asylbewerber im zweiten Halbjahr 1993 wanderten noch nahezu 100.000 zu. Das Problem ist somit keineswegs gelöst.

Über Herkunft und Zahl der Asylbewerber von 1979-1991 informiert ein Buch von Heinrich Lummer86, der die Situation ungeschminkt darstellt. Abb. 16 veranschaulicht die Entwicklung des Asylantenproblems von 1977 bis 1993. Viele der Asylbewerber bleiben auch nach Ablehnung ihres Antrags hier. Zwar haben rechtskräftig abgelehnte Asylbewerber Deutschland zu verlassen, aber etwa 30 bis 40% können bleiben, weil ihnen im Heimatland angeblich Gefahr an Leib und Leben droht. 

 

* Gegenwärtig liegt die Belastung bei 10-12 Milliarden DM pro Jahr. Hinzu kommen nicht unerhebliche weitere Ausgaben. So haben Asylbewerber, deren Antrag positiv beschieden wurde, Anspruch auf eine Sozialwohnung. Auch die importierte Kriminalität verursacht Kosten.

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Abb. 17: Auf der Suche nach Asyl: Asylbewerber 1991 in 1000 (nach Helga Herrmann61 in Information zur politischen Bildung).  

Auch wenn das Asylverfahren extrem lange dauerte, wird aus humanitären Gründen nicht abgeschoben, und schließlich taucht ein Teil der Abgelehnten unter und bleibt illegal in Deutschland, das übrigens mehr Asylbewerber aufnimmt als jedes andere Land, mit Ausnahme von Österreich und der Schweiz, die 1991 pro 10.000 Einwohner mehr Asylbewerber als jedes andere Land aufnahmen (Abb. 17 und 18).

Die Situation sollte von den Politikern aller Parteien ohne Zorn und Eifer überdacht werden. »Wir kriegen einen Aufstand«, meinte der ehemalige Oberbürgermeister Georg Kronawitter (SPD) im Spiegel-Streitgespräch125 mit dem niedersächsischen Minister Jürgen Trittin (Grüne) über die Asylpolitik. Das Gespräch beginnt mit der Feststellung Kronawitters, in München gebe es 10.000 Obdachlose, rund 50.000 Sozialhilfeempfänger und 120.000 an der Armutsgrenze lebende Menschen, und kaum ein Arbeitnehmer könne sich wegen der hohen Mieten eine Wohnung leisten.

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Abb. 18: Auf der Suche nach Asyl: Asylbewerber 1991 je 100.000 Einwohner (nach Helga Herrmann61 in Information zur politischen Bildung). 

Da mache es in München böses Blut, wenn 8000 Asylbewerber kostenlos untergebracht würden und noch Sozialhilfe ausbezahlt bekämen. Trittin meint dazu, man könne ja die Asylbewerber in Wohnheime einquartieren, dort, gut betreut, würden sie schon von der Bevölkerung akzeptiert (Ref.: als würde das nichts kosten!). Das Gespräch entzündet sich dann an der Forderung Trittins, auch von den abgewiesenen Asylbewerbern 40-60 % das Bleiberecht zu gewähren.

Darauf Kronawitter: Nehmen Sie die Fakten nicht zur Kenntnis? Nur 0,2 Prozent der Rumänen werden als Asylanten anerkannt, nur 0,2% der Bulgaren, nur 0,6% der Polen. Aber Sie wollen 60 % der Zuwanderer ein Bleiberecht gewähren.

Trittin: So ist die Rechtslage...

Kronawitter: Und ich sage Ihnen, wir können uns das nicht mehr leisten. Wir schaffen es nicht, das Auffangbecken für alle Armen in der Dritten Welt zu sein. Das sind nämlich eine Milliarde Menschen und mehr. 

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Trittin:  Machen Sie sich doch nichts vor, Herr Kronawitter. Alles Gerede führt nicht daran vorbei: Wir befinden uns mitten in einer neuen Völkerwanderung. Deutschland ist längst zu einem Einwanderungsland geworden. Ob wir die Zuwanderung wollen oder nicht... es gibt sie, damit müssen wir leben.

Kronawitter: Natürlich. Aber wie lange, glauben Sie, wird es dauern, bis 10 oder 20 Millionen bei uns sind? 100 Millionen würden gern zu uns kommen, wenn wir sie nicht legal abwehren können.

Trittin: Halten wir den Ausgangspunkt fest: Es geht nicht darum, ob wir Zuwanderung wollen, sondern wie wir sie gestalten.

Kronawitter: Moment. Ich sage, es gibt eine totale Überlastung. Wenn wir Ihnen folgen würden, Herr Trittin, dann wären bald zehn Millionen Leute bei uns. Die brauchen nur »Asyl, Asyl« zu sagen, und schon sind sie im Verfahren. Das können wir unseren Bürgern nicht zumuten. Wir würden eine Volksaufstand kriegen.

Trittin: Sie betreiben doch eine gezielte Verängstigung der Leute.

Kronawitter: Treffen Sie eigentlich noch mit Normalbürgern zusammen, oder sitzen Sie abgekapselt in Ihrem Ministerium?

 

Das Gespräch ist typisch für die inhaltsleere Phrasendrescherei radikaler Immigrationsbefürworter. Es wiederholt sich immer das gleiche. Nach dem »Wir sind schon ein Immigrationsland« — als müsse es dann auch so bleiben, Fehlerkorrektur ausgeschlossen — kommt: Es gehe nicht darum, ob wir Zuwanderung wollen, sondern wie wir sie gestalten — eine Leerformel. Und in die Enge getrieben, kommt schließlich der Vorwurf, der Gesprächspartner würde Verängstigung der Leute betreiben. Die Anklage wird im Verlauf des Gesprächs übrigens noch einmal wiederholt. Auf die Feststellung Kronawitters, wir könnten nicht der Lastesel für die Armen der Welt sein, erwidert Trittin: »Sie wissen, daß Sie mit dem Gerede über <Scheinasylanten> und <Wirtschaftsflüchtlinge> nur neue Feindbilder aufbauen und die Stimmung anheizen.«

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Es fehlt nur noch der sonst übliche Vorwurf, der Gesprächspartner würde »Wasser auf die Mühlen der Rechtsextremen gießen« oder gar »ausländerfeindlich« oder »rassistisch« argumentieren, eine Methode der Diffamierung, der man sich auch in anderen Ländern gerne bedient. In einer Kritik antireduktionistischer Argumentation schreibt die Amerikanerin Ullica Segerstrale122): »Etwas als rassistisch hinzustellen ist wahrscheinlich die Strategie, die sich am besten bewährt, wird sie doch die größte moralische Entrüstung bewirken und dabei dem Anschuldiger zugleich maximale moralische Anerkennung geben.«*

Bereits vor Jahren warnte Herbert Wehner: »Wenn wir uns weiterhin einer Steuerung des Asylproblems versagen, dann werden wir eines Tages von den Wählern, auch unseren eigenen, weggefegt. Dann werden wir zu Prügelknaben gemacht.« So Herbert Wehner, SPD-Fraktionsvorsitzender, am 15. Februar 1982 im Deutschen Bundestag. Viel Zeit verstrich seither ungenützt, und das hat allein an Ausgaben für die Asylbewerber Milliarden gekostet. Sicher, was das Volk nicht erfährt, nimmt es hin. Aber die Bürger sind nicht blind, und überdies besteht in einer Demokratie die Pflicht, sie aufzuklären, und nicht, das Problem zu verschleiern.

In Die Zeit vom 6. November 1992 wurden Stimmen für und wider das »Hamburger Manifest« veröffentlicht, das sich gegen die Änderung des Artikels 16 zum Asylrecht aussprach. Marcel Reich-Ranicki lehnte es ab, das Dokument zu unterzeichnen, weil er es für ein »wirres, bestenfalls weltfremdes Dokument« hielt. Es gebe zwar vor, das Interesse politisch Verfolgter, denen das Grundgesetz Asyl zusichert, zu verteidigen, in Wirklichkeit aber dieses Manifest keineswegs der Sache der politisch Verfolgten. Denn es gehe ja nicht um das vom Artikel 16 garantierte Asylrecht, dessen Existenz und Notwendigkeit kein anständiger Mensch bezweifle, sondern um dessen Mißbrauch.

* »To construe something as >racist< is probably the strategy that will work best, in the sense that it will create the most moral outrage - and thereby also give maximal moral recognition to the accuser« (S. 208).

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Reich-Ranicki: »Wenn allein in den verstrichenen zehn Monaten diesen Jahres Hunderttausende, vom Elend getrieben, nach Deutschland gekommen sind, ohne politisch verfolgt zu sein dann muß man verblendet sein, um nicht zu sehen, daß es sich hier um einen Mißbrauch handelt. Jawohl, man muß sich der <fortschreitenden Aushöhlung unserer Verfassung> widersetzen, nur wird das Grundgesetz nicht durch eine etwaige Änderung des Artikels 16 ausgehöhlt, sondern durch dessen falsche Auslegung und großzügige Anwendung... Wer damit einverstanden ist, daß auch diejenigen in den Genuß des Asylrechts kommen, die keineswegs politisch verfolgt sind, handelt eben nicht im Sinne der Verfassung« (Die Zeit, Feuilleton vom 6.11.1992).

Reich-Ranicki warnt vor einer »Heiligsprechung« der Verfassung und plädiert für eine Präzisierung des Artikels 16, so daß Mißbrauch verhindert wird. Nicht Pathos oder pompöse Rhetorik wie die Berufung auf »historische Schuld«, »historische Verantwortung« oder »Versprechen an die Weltgemeinschaft« würden gebraucht, sondern Nüchternheit und Sachlichkeit. Human wären nur solche Lösungen, die das Interesse beider Seiten berücksichtigen — jener, die hierherkommen wollen, und auch jener, die hier leben.

Man handelt nicht gut, wenn man die Überlebenschancen seiner Kindeskinder einschränkt und damit gefährdet, noch hilft man den Bewohnern der Dritten Welt, indem man ihnen das "Land öffnet. Denn wir könnten aus Afrika und Indien mehrere hundert Millionen einwandern lassen, ohne daß sich dort auch nur das geringste ändern würde.

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Möglich sogar, daß sich als Antwort auf die Herausforderung durch die friedliche Unterwanderung das reproduktive Verhalten der einheimischen Bevölkerung ändert. Das liefe dann auf einen »Kampf der Wiegen« hinaus, eine Entwicklung, die man nicht wünschen kann, denn sie würde in die ökologische Katastrophe führen. Die Tragekapazität unserer Länder ist, wie jeder mittlerweile weiß, überschritten. Ein Gesundschrumpfen der Gesamtbevölkerung wäre durchaus wünschenswert, doch darf dieser Prozeß sich nicht nur auf die einheimische Bevölkerung erstrecken, und er muß auch auf einem optimalen Niveau zum Stillstand kommen.

 

 5.4. Erhöhte Straffälligkeit

 

Das Thema Ausländerkriminalität gilt als »heißes Eisen«. Im Interesse aller Beteiligten ist es sicher wichtig, die Bildung von generalisierenden Vorurteilen gegen eingewanderte Bevölkerungsgruppen zu verhindern. Diese gute Absicht darf aber nicht dazu führen, daß man ein Problem in seiner Bedeutung herabspielt und in der öffentlichen Diskussion verschleiert. Schließlich ist ja die Bevölkerung mit der Realität, etwa der zunehmenden Drogenkriminalität, den Eigentumsdelikten und Gewalttaten in manchen Regionen ihrer Großstädte, konfrontiert. Bei Fehlinformation kann sie das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der öffentlichen Meinungsbildner verlieren und erst recht zu verallgemeinernden Fehlurteilen gelangen. Nicht Pauschalurteile, sondern eine differenzierte Sicht ist deshalb geboten.

Grundsätzlich gilt, daß Menschen, die sich nicht nahestehen, dazu neigen, einander auszunützen. Das belastet das Leben in der anonymen Großgesellschaft, selbst wenn alle ihre Mitglieder der gleichen Ethnie angehören. In einer Gemeinschaft, in der jeder jeden kennt, benehmen wir uns dagegen meist recht anständig. Lag ein Dorf nicht gerade an einer Durchgangsstraße, dann ließ man hierzulande früher die Tore unversperrt.

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Nun stehen Immigranten den Bewohnern des Landes ihrer Wahl noch fremder gegenüber als diese einander als Mitglieder der anonymen Gemeinschaft einer Nation. Die Hemmschwelle gegenüber den ihnen fremden und überdies wohlhabend erscheinenden Bewohnern des Gastlandes ist daher geringer als gegenüber den Mitgliedern der jeweils eigenen Solidargemeinschaft Und da ein Teil der Eingewanderten arm ist, besteht für diesen wohl mehr als für andere die Versuchung, das eigene Los durch Eigentumsdelikte zu verbessern.

Man muß ferner in Rechnung stellen, daß ein wohlhabendes Land auch Personen anzieht, die von vornherein darauf aus sind, als Einzeltäter oder im Rahmen der organisierten Kriminalität die Situation auszunützen. Die Kriminalität der arbeitenden Ausländerbevölkerung ist deutlich niedriger als die der Asylbewerber. So ist die Kriminalitätsrate der in Deutschland arbeitenden Türken relativ niedrig. Sie liegt zwischen der der in Deutschland lebenden Schweizer und Briten (vgl. Fußnote S. 152f.)

Eine Auswertung der Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes vom Jahre 1991 zeigt, daß die Kriminalität in der Bundesrepublik ununterbrochen wächst: von 1.789.319 Straftaten im Jahre 1965 auf 4.750.175 (alte Bundesländer) im Jahre 1991. Der prozentuale Anteil nicht-deutscher Tatverdächtiger an den gesamten registrierten Straftaten (alte Bundesländer einschließlich Berlin) belief sich 1991 auf 28,9 %. Jeder vierte Tatverdächtige ist also Ausländer. Der Anteil der tatverdächtigen Asylbewerber beträgt 9,5 %. 

Allerdings sind 29 % aller von den Asylbewerbern begangenen Delikte Verstöße gegen das Ausländergesetz und Ausländerverfahrensgesetz, mithin als geringfügig einzuschätzen. Zieht man diese auf die Gesamtsumme der Ausländerkriminalität bezogenen 2,6 % ab, so bleibt doch noch ein hoher Anteil der Ausländer an den in Deutschland begangenen Straftaten (26,3 %). Besonders hoch ist der Ausländeranteil bei folgenden Delikten (Stand 1991): Taschendiebstahl (77,3%), Straßenraub (40,9 %), Drogenschmuggel und -handel (39,2 %), Mord, Raubmord, Totschlag und Erpressung (je 31%). 

Nach Heinrich Lummer86) gibt es kaum ein Delikt der Schwer- und Schwerstkriminalität, an dem Ausländer nicht mindestens viermal häufiger beteiligt sind, als es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht.

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Nach den Erkenntnissen des nordrhein-westfälischen Innenministeriums stieg die Kriminalität unter den Asylbewerbern 1990 und 1991 für dieses Bundesland dramatisch an. Während nur jeder 50. deutsche Einwohner und jeder 20. Ausländer in NRW nach der Statistik straffällig wurde, stieg 1991 bei Asylbewerbern der Anteil der Tatverdächtigen auf 21,7 %: Jeder fünfte Asylbewerber wurde hier 1991 von der Polizei wegen eines Vergehens oder Verbrechens registriert*. Angesichts dieser Daten versteht man nicht ganz, wie Thomas Münster unter der Überschrift »Ausländerkriminalität — nur griffiges Schlagwort« behaupten kann: »Ausländische Mitbürger sind laut Statistik nicht krimineller als Einheimische« (Süddeutsche Zeitung vom 10.11.1992).

Auch in anderen europäischen Ländern ist die Ausländerkriminalität deutlich höher als die der Einheimischen7). In Schweden ist sie zum Beispiel doppelt so hoch. Das erklärt sich nach Per O. Wikström135) vor allem durch die niedrige Kriminalitätsrate der Schweden und weniger durch eine besonders hohe der Ausländer. So ergebe sich die hohe Zahl für Vergewaltigungen aus der »normalen Rate« unter den Ausländern, gemessen gegen die äußerst niedrige Rate der Schweden. 

 

* Nach einem Bericht des Innenministers Herbert Schnoor (SPD) an den Innenausschuß des Landtags (aus Die Welt vom 14. 5.1992; vgl. auch Kriminalstatistik der Bundesregierung 1990 und 1991).

Bezieht man die Zahl der Tatverdächtigen einer Nationalität auf die Zahl der im Jahresdurchschnitt in Deutschland lebenden Staatsangehörigen, dann ergibt sich für 1991 nach Lummer86 folgendes Bild:

Portugiesen 2,2%; Spanier 2,4%; Griechen 2,7%; Österreicher 2,9%; Niederländer 3,1 %; Italiener 3,9%; Schweizer 4,7%; Türken 4,9%; Briten 5%; Franzosen 5,7%; Chinesen 5,8%; Jugoslawen 7,3%; Afghanen 7,5 %; Ungarn 8,2%; Iraner 8,4%; Tunesier 8,5 %; US-Amerikaner 8,9%; Syrer und Äthiopier ca. 9%, Marokkaner 9,1 %, Ägypter ca. 10%, Pakistani 10,4%, Srilanker 11,9%, Polen 13,9% (1990: 23,4%), Inder 16,2%, Sowjetbürger ca. 22 %, Libanesen 22,9 %, Tschechoslowaken 26,9 %, Bulgaren ca. 28 %. An der Spitze der Kriminalitätsskala stehen die Rumänen mit 52,4 %. Bemerkenswert ist auch der hohe Prozentsatz Verdächtiger bei den Schwarzafrikanern: Er betrug 1990 für Ghanesen 34%, Nigerianer 39%, Angolaner 35 %, Zairer 34,5 %, Somalier 27,1 % und Gambier 76,8 %.

Für 1992 liegen folgende Angaben vor:
Gesamtzahl der Straftaten in der BRD 6291519, davon Delikte der Gewaltkriminalität 150678, Anteil der Ausländer an allen Tatverdächtigen: 30,0%, davon ein Viertel wegen Verstoßes gegen Ausländer-/Asylgesetz, bleiben netto ca. 24 % ausländische Tatverdächtige. 

Aufschlüsselung nach Delikten:
-  Taschendiebstahl    74,1% aller Tatverdächtigen Ausländer
-  bandenmäßige Rauschgiftherstellung, -handel   65,8 %; 
-  Kokaineinfuhr in nicht geringer Menge    57,1 % 
-  Menschenhandel           55,6 %
-  Vergewaltigung durch Gruppen            53,4 %

33,9 % aller Tatverdächtigen waren Asylbewerber. Nach Abzug der Verstöße gegen das Ausländer-/Asylverfahrensgesetz blieb »netto« immerhin noch ein Gesamtanteil der Asylbewerber von 24 % der ausländischen Tatverdächtigen. Da ihr Anteil an der ausländischen Bevölkerung nur 9 % betragt, ist das ein relativ hoher Prozentsatz an Tatverdächtigen.

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Diese Erklärung ist wohl abwiegelnd gemeint, aber kaum wirklich dazu die Gemüter zu beruhigen. In den Niederlanden erreichen die marokkanischen und türkischen männlichen Jugendlichen jeweils hohe Kriminalitätsraten, insbesondere bei Eigentumsdelikten und »Aggression gegen Einzelpersonen«. Fs fällt auf, daß es hier vor allem die zweite Generation der Einwanderer ist, die Probleme schafft. Diese Generation hat es schwer, ihre Identität zu finden. Sie steht verunsichert zwischen den Kulturen. Dazu kommen noch Frustrationen der verschiedensten Art. In einer solchen Situation neigen junge Männer dazu, sich über aggressive Akte mit ihresgleichen zu solidarisieren26.

Schließlich wären noch die eingeschleppten politischen Konflikte zu erwähnen. Etwa 50.000 der in Deutschland lebenden Ausländer gehören laut Verfassungsschutzbericht extremistischen Organisationen an. Viele tragen die Konflikte ihrer Herkunftsländer in Deutschland aus: Kurden, Palästinenser, Tamilen und andere. 

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Die Aktivitäten beschränken sich nicht nur auf Demonstrationen wie jene am 4. März 1989, auf der in Bonn die Ermordung des Schriftstellers Salman Rushdie gefordert wurde. Sie war als Demonstration gegen die »Satanischen Verse« angemeldet, aber es wurde offen die Ermordung Rushdies gefordert (Transparent: »Salman Rushdie muß weg!«) (nach Lummer86, dort auch weitere Angaben zu diesem Thema). 1990 gab es in der Bundesrepublik Deutschland 19 Brandanschläge und 2 Bombenanschläge, die auf das Konto ausländischer Extremistenorganisationen gingen.

Bei der Bewertung der Ausländerkriminalität sind viele Faktoren in Rechnung zu stellen. In der Diskussion um das Für und Wider der Öffnung eines Landes für Immigranten muß aufgrund der bisherigen Erfahrungen wohl zur Kenntnis genommen werden, daß jede Immigration von einer sozialen Desintegration und damit einer Störung des sozialen Friedens begleitet ist, was sich unter anderem auch in einer erhöhten Kriminalitätsrate bemerkbar macht. Bestimmte Gruppen von Einwanderern erweisen sich dabei als besonders anfällig für bestimmte Delikte. Was immer auch die Ursachen dafür sein mögen - kulturelle Distanz ist sicher ein Faktor, den man in Rechnung stellen muß -, wir müssen zunächst einmal die Gegebenheit akzeptieren und in unsere Erwägungen einbeziehen.

Wir müssen ferner daran denken, daß sich in wirtschaftlichen Krisenzeiten die Situation dramatisch verschärfen kann. Wir tun allzuoft so, als gäbe es nicht das Wechselbad von wirtschaftlichen Konjunkturen und Rezessionen, Zeiten des ökonomischen Aufschwungs wie des Niedergangs.

 

 

5.5. Möglichkeiten und Grenzen multiethnischen Zusammenlebens

 

Ich darf in Erinnerung bringen, daß wir Menschen gegenüber unseresgleichen sowohl von freundlichen Beweggründen als auch von Ängstlichkeit und Dominanzstreben motiviert werden. Letztere bilden das archaische Altwirbeltiererbe, dem sich Prosozialität überlagert hat23,26,29)

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Die Entwicklung der fürsorglichen Verhaltensdispositionen bedeutete einen Qualitäts-in der sozialen Entwicklung der höheren Wirbeltiere. Sie ist die Voraussetzung für die Fähigkeit, uns mit anderen Menden auf quasi-familialer Basis verbunden zu fühlen. Mit zu-hmender Kommunikation, zu der Reisen und Fernsehen beitragen werden wir auch mit Menschen ferner Länder bekannt. Wir erfahren von ihren Sorgen und Nöten. Ihr Leid macht uns betroffen, und wir freuen uns mit ihnen, wenn wir sie bei Spiel und Tanz und mit ihren Kindern erleben. Die offensichtlich gleiche Gefühlsausstattung wie die unsrige läßt Sympathie anklingen, und die nähere Bekanntschaft mit den Kulturschöpfungen anderer Völker fördert Wertschätzung. Selbst die für unsere Begriffe einfachen Kulturen der Naturvölker haben höchst bemerkenswerte Leistungen hervorgebracht. All das fördert unsere Achtung und die Wertschätzung kultureller Vielfalt, deren Bedeutung wir über das Ästhetische hinaus auch biologisch als lebensabsichernd unterstreichen konnten.

Die Utopie der multikulturellen Immigrationsgesellschaft wird wohl ebenfalls von der Wertschätzung und Sympathie und dem Wunsch zu helfen motiviert. Aus unseren bisherigen Ausführungen dürfte aber wohl deutlich geworden sein, daß der Aufbau einer multikulturellen Immigrationsgesellschaft in einem relativ homogenen Nationalstaat problematisch und eigentlich nicht zu verantworten ist. Man darf nicht »Experimente mit Menschen« anstellen, die den inneren Frieden und damit den Fortbestand der freiheitlichen Demokratie gefährden. Es ist ferner höchst widersprüchlich, wenn man auf längere Sicht die eigene ethnische Identität aufs Spiel setzt und zugleich für kulturelle Vielfalt eintritt, denn auch durch die Pflege der eigenen Kultur trägt man ja zur Erhaltung der Vielfalt bei.

In der gegenwärtigen Situation scheint es mir daher das beste, jenen Immigranten, die sich auf Dauer in unseren Ländern Europas niederlassen wollen, die volle Assimilation nahezulegen. Sie sollte die Voraussetzung für die Verleihung der Staatsbürgerschaft sein.

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Jenen, die sich nicht in die Solidargemeinschaft des Aufnahmelandes eingliedern wollen, sollte man die Heimkehr in ihr jeweiliges Mutterland durch großzügige finanzielle Hilfe erleichtern. Die gegenwärtig oft diskutierte doppelte Staatsbürgerschaft trägt eher dazu bei, den Minoritätenstatus zu fixieren.

Ich würde auch nicht empfehlen, außereuropäischen Einwanderern das Gemeindewahlrecht zu gewähren, da es sich doch um eine entscheidende Form der Mitbestimmung handelt. Schließlich werden auf dieser Ebene Bebauungspläne, öffentliche Einrichtungen, Naturschutzfragen und dergleichen mehr diskutiert und beschlossen. Um darüber zu bestimmen, sollte man voll integriertes Mitglied der Gemeinde sein. Für Assimilation der Einwanderer tritt auch Friedrich Heckmann58 in seinem Beitrag zum »Manifest der 60« ein, da die multikulturelle Immigrationsgesellschaft ihm ebenfalls zu konfliktträchtig erscheint: »Eine Politik der ethnischen Toleranz sollte einhergehen mit Akkulturationsstrategien, die vor allem auf die zweite Generation der Einwanderer gerichtet sind. Die Befestigung ethnischer Heterogenität würde die Wahrscheinlichkeit interethnischer Konflikte beträchtlich erhöhen.« Heckmann wendet sich gegen Jürgen Habermas52, der Akkulturation nur im Rahmen der politischen Kultur für legitim hält, »nicht aber eine über die gemeinsame Kultur hinausgehende Assimilation zugunsten der Selbstbehauptung einer im Lande vorherrschenden kulturellen Lebensform«.

Die Problematik zwischenethnischen Zusammenlebens in einer Immigrationsgesellschaft haben übrigens die Bürgermeister vieler deutscher Großstädte klar erkannt (S. 145). So neuerdings auch der Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau (SPD), der den Vorschlag machte, bestimmte Stadtviertel durch Zuzugsstopp zu schützen, wenn dort der ausländische Bevölkerungsanteil 50 % überschritten habe. Wie zu erwarten, lehnte die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Cornelia Schmalz-Jacobsen, diesen Vorschlag, der dem Interesse der Hamburger Bürger gedient hätte, ab. Sie sprach von »Propaganda mit ausländerfeindlichem Tenor« (Süddeutsche Zeitung vom 14.12.1993).

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Ein friedliches Zusammenleben von Völkern ist am besten gewährleistet wenn jedes Volk über ein eigenes Land verfügt und sich in diesem Gebiet nach eigenem Gutdünken selbst verwalten und kulturell entfalten kann. Eine weitere Voraussetzung ist, daß keiner seinen Nachbarn fürchten muß, was über internationale Verträge mit wechselseitiger Absicherung wohl erreicht werden kann. In solchen Vereinbarungen müßte auch festgelegt werden, daß jedes Volk sein reproduktives Verhalten auf die Tragekapazität seines Landes abzustimmen hat, sonst kommt es früher oder später zu Übervölkerung und damit zu einem Migrationsdruck, der andere in Bedrängnis bringen kann. Wir werden uns dazu noch ausführlicher im folgenden Kapitel äußern.

Werden diese Voraussetzungen beachtet, dann können sich zwischen verschiedenen Ländern durchaus freundliche Beziehungen entwickeln. Städtepartnerschaften mit gegenseitigen Besuchen und Festveranstaltungen, Erziehungs- und Jugendaustausch können solche Entwicklungen fördern. Sicherlich verfolgen Nationen in erster Linie nur ihre eigenen Interessen. Das war wohl über lange Strecken der Geschichte so, aber die Neigung zu repressiver Dominanz wird zunehmend durch prosoziale Umgangsmuster auch im zwischenstaatlichen Bereich abgelöst, und zwar in dem Maße, in dem die Angst vor dem anderen abgebaut wird.

Im Grunde möchten alle Menschen lieber freundliche als feindliche Beziehungen mit anderen pflegen. Es ist das Mißtrauen, das sie scheu und ablehnend macht, und dieses gilt es auch auf der internationalen Ebene abzubauen.

Nationen verkehren durchaus auch auf gefühlsmäßiger Basis miteinander, und zwar über deren jeweilige politische Vertreter, die ja einander persönlich gegenübertreten. Nationen pflegen ferner auch kollektive Gefühle und Meinungen über andere. Diese sind aus geschichtlicher Erfahrung selbst zwischen den heute befreundeten Ländern Westeuropas noch von einem gewissen Mißtrauen belastet. Daher bemüht sich jede der Nationen, aus einer Position der Stärke zu agieren. Und jede legt insbesondere Wert darauf, vor anderen ihr Gesicht zu wahren. Nationen setzen dabei, wie schon früher gesagt, die im persönlichen Verkehr entwickelten Strategien sozialen Umgangs ein (S. 127).

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Koexistenz in freundlicher Nachbarschaft dürfte bei gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung durchaus erreichbar sein. Einer multiethnischen Weltgemeinschaft steht nichts Grundsätzliches entgegen. Wir sind sogar trotz mancher Rückschläge auf dem Wege dorthin schon ein gutes Stück vorangekommen. Anders schätze ich aufgrund unseres Wissens um die Gesetze der Evolution und unsere Menschennatur die Aussichten für eine friedliche Koexistenz einer multiethnischen Immigrationsgesellschaft ein.

Da wir in aller Welt - in den USA, in Frankreich, England, aber vor allem auch vor unserer eigenen Haustür - zwischenethnische Konflikte der grausamsten Art erleben und das Scheitern des Verfassungspatriotismus in der Sowjetunion mitverfolgen konnten, rate ich von so hochrisikobehafteten Experimenten wie dem Aufbau einer multikulturellen Immigrationsgesellschaft in aller Eindringlichkeit ab.

Gestattet ein Volk anderen den Aufbau von Minoritäten im eigenen Lande, dann halst es sich im eigenen Haus zwischenethnische Konkurrenz auf. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten sind Konflikte fast unvermeidbar. Auch auf die aus differentieller Fortpflanzung erwachsende Problematik sei noch einmal hingewiesen. Wir müssen lernen, weiter vorauszudenken, und sorgfältig überlegen, welche Folgen eine heute eingeleitete Entwicklung in fünfzig, hundert oder auch mehr Jahren hat.

Peter Glotz49), der meint, das »reiche Westeuropa« könne und dürfe sich nicht gegen Einwanderer aus der Dritten Welt abschotten, zieht die Möglichkeit einer Afrikanisierung und Islamisierung als Folge in Betracht. 

Das sei gewiß nicht problemlos: »Eine multiethnische Gesellschaft kann nicht auf der naiven Hoffnung aufgebaut werden, daß die deutsche Arbeiterschaft Hammelfleisch lieben lernt und die französische Bourgeoisie sich für die Kultur des Maghreb begeistert.« — Schwer verständlich, daß er dennoch für dies risikoreiche Experiment eintritt.

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In einem Stern-Streitgespräch126) zwischen Daniel Cohn-Bendit und mir meinte Cohn-Bendit zur Problematik der multikulturellen Gesellschaft: »Jede gesellschaftliche Entwicklung ist ein Pulverfaß.« Für mich stellt sich nur die Frage, ob man sich auf ein solches unbedingt setzen muß. Cohn-Bendit meinte dazu, wir hätten nun einmal die multikulturelle Gesellschaft, diese Tatsache müßten wir akzeptieren, »das Positive daran aufgreifen und die Schwierigkeiten gelassen meistern«. 

Allerdings schwärmte Cohn-Bendit nicht von der friedlichen Utopie einer multikulturellen Gesellschaft, und er meinte im weiteren Verlauf unseres Gesprächs: »Mir wäre es auch lieber, wenn dieser Wanderungsdruck aufhören würde. Das erfordert eine vernünftige Weltpolitik und Zeit — 10, 15, 20 Jahre. Und in dieser Zeit müssen wir die Einwanderung politisch strukturieren.« Cohn-Bendit14 sprach sich dazu für ein Einwanderungsgesetz aus.

 

Ich halte ein solches Gesetz für keines der Länder Europas für empfehlenswert. Wir sollten erkennen, daß wir bei der bisherigen Handhabung des Immigrationsproblems Fehler gemacht haben. Das betrifft insbesondere die Verschleppung der Problematik. Zur Gastarbeitersituation in Österreich bemerkt Franz Löschnak82 (S. 16), daß es sicher falsch war, den Arbeitgebern und den Gesetzen des freien Arbeitsmarktes nicht rechtzeitig entgegengetreten zu sein. Bereits in der ersten Ölkrise wurde klar, daß mit den Gastarbeitern Probleme importiert werden, wenn man sie nicht von vornherein als Gäste einstuft. Man gab zwar vor, sie würden wieder in ihre Heimat zurückkehren, dort mit dem hier verdienten Geld eine Existenz aufbauen und so ihrem Lande nützen. Aber man fügte keine entsprechenden Sicherungen in die Verträge ein und gewährte die Familienzusammenführung. Das einzige, was man nach der Ölkrise durchsetzte, war ein Anwerbestopp. 

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Als sich schließlich auch das Asylantenproblem durch den massenhaften Mißbrauch des Asylrechts aufbaute, dauerte es wieder Jahre und kostete die Steuerzahler viele Milliarden, bis man sich auf Maßnahmen zur Einschränkung des Zustromes einigen konnte. Sie scheinen weit davon entfernt, wirksam zu sein, denn 1993 waren immerhin noch 322.842 Neuzugänge zu verzeichnen. Kein Land hält dies auf Dauer aus.

Man hört jetzt oft, wir müßten in den Ländern, aus denen politisch Verfolgte zu uns kommen, die Flucht­ursachen beseitigen. Wie denn, bitte schön? Es bleibt bei Phrasendrescherei, denn Handel und rüstungspolitische Interessen haben in der Regel Prioriät vor den humanitären Anliegen.

In der gegenwärtigen Situation sollte der Zuzug aus kulturfernen Regionen in die Länder Europas auf Einzel­fälle beschränkt bleiben. Eine Quotenlösung würde nur dazu führen, daß über das Gesetz zur Familien­zusammen­führung praktisch unlösbare Probleme entstünden. Unter anderem geht es auch um die ökologische und kulturelle Tragekapazität der europäischen Länder.

 

In den letzten Jahren entzündete sich die Diskussion um das Staatsbürgerschaftsgesetz, das sich in Deutschland, Osterreich, der Schweiz und vielen anderen Ländern wie Israel nach der ethnischen Abstammung richtet (ius sanguinis). Die ethnische Nation, heißt es, sei kein Modell für die Zukunft, zumal Deutschland keineswegs nur eine Abstammungsgesellschaft sei::\ 

Man möge daher das ius sanguinis aufgeben und sich an das Vorbild der Franzosen halten, bei denen das Bodenprinzip (ius soli) gelte. Wer im Lande geboren werde, habe dort Anspruch auf die Staatsbürgerschaft. Ganz abgesehen davon, daß die Franzosen mit diesem Gesetz offenbar in Schwierigkeiten gerieten und es aus diesem Grunde reformierten, würde die Aufgabe des auf Abstammung begründeten Rechtes unsere kulturell und anthropologisch doch durchaus noch erkennbaren nationalen Identitäten gefährden. 

* Siehe z.B. die Diskussion »Blut oder Heimat« in Die Zeit, Nr. 32, 6. August 1993.  

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Deutsche stellen heute sicher nicht nur eine Abstammungsgemeinschaft dar, aber sie sind dies doch zu einem erheblichen Prozentsatz, und es ist nicht einzusehen, weshalb man das nun partout zerstören sollte. Würden diese Länder das ius soli einführen, dann könnte das den Immigrations­druck verstärken.

 

   

 

5.6.  Für einen kritischen Patriotismus  

 

Die Diskussion um den Aufbau einer multikulturellen Gesellschaft wird oft von schrillen antinationalen Tönen begleitet. Ich fürchte, wie schon gesagt, daß sie gerade das Gegenteil von dem bewirken könnten, was die Gegner des Patriotismus bezwecken. Insbesondere in den deutschen Medien wird gegenwärtig häufig die Meinung vertreten, die »Nation« sei überholt. Allerdings äußert sich manch einer auch besorgt über den Selbsthaß der Deutschen, der sich in manchen dieser Äußerungen ausdrückt. Daß es sich um einen solchen handelt, wird dann ebenso schnell bestritten, aber es scheint doch etwas daran zu sein. 

Wie sonst sollte man sich erklären, daß in der Diskussion um das Immigrantenproblem zwar für die Aufnahme von Immigranten aus aller Welt plädiert wird, gleichzeitig aber gegen die Aufnahme von deutschen Aussiedlern polemisiert wird? Nur jene, die unter nachweisbarem Vertreibungsdruck stehen, sollen nach Peter Glotz49 aufgenommen werden. Deutschstämmigkeit soll dagegen bei der Auswahl keine Rolle mehr spielen. Noch ungeschminkter formuliert es Helmut Rittstieg113), der sich zu der Behauptung versteigt, die wahren Ausländer seien die Deutschen aus den neuen Bundesländern und aus Osteuropa. Sie würden die wirklichen Inländer, wie die türkischen und süd- und außereuropäischen Gastarbeiter, verdrängen. 

 

In diesem Zusammenhang wird dann auch versucht, dem Leser oder Zuhörer zu suggerieren, daß die Deutschen eigentlich gar keine homogene Nation verkörpern würden, sie wären ja schon seit jeher multikulturell. Schließlich hätten sich Kelten, Römer und Germanen hier zu einer Mischpopulation vereint, in die in neuerer Zeit Hugenotten, Polen, Italiener, Juden und viele andere mehr zuwanderten.

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Das stimmt, aber das waren alles Europäer, die sich voll der Solidargemeinschaft des deutschen Volkes in Sprache und Kultur anschlossen und damit zu Deutschen wurden. Deutsche mit tschechischen, polnischen, französischen oder italienischen Namen, die seit Generationen hier ansässig sind, würden es als Beleidigung empfinden, würde man ihnen das Deutschtum absprechen. Und daß viele deutsche Juden deutsche Patrioten waren, haben sie im Ersten Weltkrieg bewiesen, ganz abgesehen von ihren aus der deutschen Kulturgeschichte nicht wegzudenkenden Leistungen. Daß heute viele der Nachfahren jener, die die »Katastrophe« (Michael Wolffsohn) überlebten, wohl auch Schwierigkeiten haben, Deutschland zu lieben, mit dessen Kultur sie sich verbunden fühlen, kann ihnen keiner verdenken.

Die Nationalstaaten Europas sind durch Sprache, Brauchtum, kurz, eine gemeinsame Kultur, eine gemeinsame Geschichte und schließlich als Europäer biologisch-anthropologisch charakterisiert. Innerhalb der Europäer gibt es offensichtlich auch verschiedene Bevölkerungstypen. Eine skandinavische Bevölkerung unterscheidet sich von einer spanischen aber nur in der statistischen Häufigkeit bestimmter körperlicher Merkmale.

Die europäischen Nationen tragen mit ihrer Buntheit zum kulturellen Erbe der Menschheit bei. Nicht die Nation, sondern den elitär-überheblichen Nationalismus gilt es daher zu überwinden. Und das geschieht gewiß nicht durch Abwertung der eigenen Nation. Im Gegenteil! Wer eine solche Politik verfolgt, und seien die Motive noch so lauter, weckt eher jenen Nationalismus, den er bekämpfen möchte.

Wer mit der europäischen Geschichte vertraut ist, den wird es ferner zum Widerspruch reizen, wenn er lesen muß, daß der französische Nationalstaat verklärt, der deutsche dagegen abgewertet wird: »Die nationale Idee hat im Westen Erfolg gehabt. Der französische Nationalstaat ist ein erfolgreiches, geglücktes historisches Gebilde.

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In Mitteleuropa hat der Nationalismus zerstörerisch gewütet. Für die Zukunft kommt es darauf an, ihn zu bekämpfen, wo immer er auftritt, und ihn nicht zu verklären und zu einer Art Naturrecht aufzuwerten« (Peter Glotz in Die Zeit, 1988, No. 49). Hätte Peter Glotz in den Jahrzehnten nach den Napoleonischen Kriegen gelebt, wäre sein Urteil vermutlich anders ausgefallen.

 

Was die Deutschen betrifft, so ist die Annahme, daß sie auf Grund spezieller Erbanlagen besonders aggressiv seien, sicher absurd. Über lange Zeit der Geschichte waren sie eher verträglicher als ihre Nachbarn. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war kein zentralistischer Staat, sondern eine Konföderation von im übrigen weitgehend unabhängigen Fürstentümern. Deshalb dauerten ja manche Fürstentage so lange. Keinem römisch-deutschen Kaiser wäre es übrigens eingefallen, den Bewohnern der Fürstentümer anderer Ethnizität die deutsche Sprache aufzuzwingen, und sie gebärdeten sich militärisch weniger expansiv als ihre Nachbarn, was die Verschiebung der Grenze Frankreichs nach Osten immerhin belegt. Erst als das Reich unter den Schlägen Napoleons zerbrach, nahm Deutschland sich den französischen Nationalstaat zum Vorbild und wurde damit schließlich zu einer Macht im Zentrum Europas. Dies hatte den Konflikt mit den um ihre Vormachtstellung bangenden Nachbarn geradezu automatisch zur Folge. Denn nun begann auch Deutschland, Kolonien zu gründen, als erste 1884 Deutsch-Südwestafrika.

Österreich führte als Vielvölkerstaat die Tradition des alten Reiches fort, doch bahnte sich der Zerfall durch den aufkommenden Nationalismus seiner Völker an. Der Erste Weltkrieg besiegelte dann das Schicksal der österreichisch-ungarischen Monarchie.

Die Geschichte lehrt, daß unter bestimmten historischen Konstellationen fast jedes Volk Europas als Eroberer auftrat, die Schweden ebenso wie die Polen, Dänen, Spanier, Franzosen, Engländer, Deutschen oder Russen. 

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Nationaler und religiöser Fanatismus sind seit langem eine Plage der Menschheit, die es zu überwinden gilt. Dazu müssen wir jene allgemeinmenschlichen Eigenschaften verstehen wie die Indoktrinierbarkeit des Menschen, sein Machtstreben und die Neigung zum Ethnozentrismus, um Eskalationen ins Destruktive zu vermeiden.

Sind in einem Staat zu viele miteinander konkurrierende Interessengruppen »vereint«, dann können die inneren Rivalitäten die größere Gemeinschaft schwächen. Traditionelle Nationalstaaten sollten daher eher bestrebt sein, ihre ethnische Einheitlichkeit zu erhalten. Die Schwächung des eigenen Staates anzustreben wäre unvernünftig.

Nun wird nicht selten argumentiert, der Nationalstaat sei wegen seines geschlossenen Auftretens und wegen seiner Neigung zum Ethnozentrismus auch gefährlich, da potentiell kriegerisch. Aber sind multiethnische Staaten friedlicher? Die USA und die Sowjetunion unterschieden sich in diesem Punkt nicht von den Nationalstaaten Europas. Und in Zeiten wirtschaftlicher Not könnten multiethnische Staaten sogar eher verführt sein, ihr Glück im kriegerischen Abenteuer zu suchen, denn kollektive Aggression hat einen solidarisierenden Effekt und bindet eine vom Zerfall bedrohte Gemeinschaft. In dieser Hinsicht könnten viele europäische Staaten sich geradezu glücklich schätzen, Nationalstaaten zu sein.

Das Bekenntnis zur eigenen Nation sollte allerdings ein kritisches sein, eine kritische Liebe zum eigenen Land. Michael Wolffsohn137) definiert Patriotismus als »die Identifizierung mit dem Lebens- und Liebenswerten in einem Land, oder das Bemühen, dieses Land lebens- und liebenswert zu machen, weil es das eigene Land ist«. Und er schreibt weiter: 

»Ohne diesen nach innen orientierten Nationalismus, ohne diesen Patriotismus, ist eine Nation denaturiert, sie ist verletzt. Und Deutschland ist eine <verletzte> Nation. Elisabeth Noelle-Neumann hat das in der ihr eigenen Klarheit so formuliert und in einem höchst lesenswerten Buch mit empirischen Daten belegt ... Wenn Deutschland nicht zu einem natürlichen, innenorientierten Nationalismus zurückfindet, sich selbst nicht findet, wird es seinen inneren Frieden nicht finden. Wer aber seinen inneren Frieden nicht findet, kann den äußeren Frieden langfristig nicht sichern oder stiften.«

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Europa braucht ein innerlich gefestigtes Deutschland. Das wird auch von anderer Seite betont. Luigi Vittorio Ferraris19), der acht Jahre als Botschafter Italiens in Bonn wirkte und den man einen Freund Deutschlands nennen darf, schrieb dazu: »Die jüngste Vergangenheit Deutschlands (aber auch Europas) ist sehr gegenwärtig, und das zu Recht. Es ist eine Vergangenheit, die für uns alle in unserem Gewissen schwer zu bewältigen und fast unmöglich zu überwinden ist, wenigstens für eine gewisse Zeitspanne. Ihrerseits versäumen die Deutschen aber keine Gelegenheit, durch fortwährendes Sich-selbst-Zerreißen diese Atmosphäre des Mißtrauens noch zu untermauern.« 

Und Jean-Marie Soutou, ein Mann der Resistance und Generalsekretär im französischen Außenministerium, schrieb 1985: »Wir alle brauchen ein Nationalbewußtsein der Deutschen, das stabil sein sollte, aufrecht, rein, selbstsicher, ohne Befangenheit wie ohne Arroganz, von ruhiger Klarheit.«127 Dies sei unter anderem eine Voraussetzung für ein vertragliches Miteinander in einem europäischen Haus.

Im Time-Essay vom 21. März 1994 stellt Gerd Behrens die Frage, warum der Nationalismus* eine so erstaunliche Renaissance erlebe, und meint: »Es liegt im Blut.« Als Ergebnis einer gemeinsamen Abstammung oder erworbener Verwandtschaft würden Personen das Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickeln. »Auf die Geschichte, Helden und Symbole, seine Sprache, Kultur und Religion stolz zu sein ist ein basaler menschlicher Instinkt« (S. 64, Übersetzung vom Ref.). Die Wiedergeburt des Nationalismus sei durch die »Eine-Kultur-paßt-allen-Bewegung« gefördert worden. 

 

* Der Begriff Nationalismus wird hier frei verwendet. Für uns ist er geschichtlich belastet. Wir könnten einen neuen Begriff brauchen.

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Der Nationalismus sei im übrigen weder links noch rechts angesiedelt und weder gut noch böse, sondern janusgesichtig, wie die Religion, die eine Mutter Theresa ebenso wie die Inquisition geboren habe. Und eines müsse klar sein: »Die Hölle hat keinen Schrecken, der sich mit dem Zorn einer Nation vergleicht, die sich herabgesetzt fühlt« (S. 64). Der Nationalismus sei die Ideologie der Unterdrückten. »Warum also ihn als Tabu behandeln, wie die Viktorianer den Sex? Keines von beiden kann man fortwünschen, beide sind Fakten des Lebens« (S. 64). Das ist sehr pragmatisch gedacht und weniger theoretisch, aber immerhin bemerkenswert.

Die Liberalen und Sozialisten als Kinder der Aufklärung meinen, Verstand und Logik allein reichten aus, um alle Übel der Welt zu kurieren. Sie setzen das Nicht-Rationale mit dem Irrationalen gleich und geben den Nationalismus oft als beschränkten Mumpitz, ja als Übel aus und ordnen ihn gerne der Rechten zu. Dabei vergessen sie, wie Behrens betont, daß europäische Nationalstaaten die Demokratie aus der Taufe gehoben haben.

 

Mittlerweile sehen auch führende Liberale und Sozialisten die Notwendigkeit, auf die Nationalgefühle der Menschen Rücksicht zu nehmen. Bemerkenswert fand ich Günther Nennings96) Ausführungen zu diesem Thema. »Es gibt eine Rechte«, schreibt er, »die ist nicht faschistisch. Sie ist in dieser historischen Stunde* wichtig und interessant. Das Ergebnis der osteuropäischen Revolutionen ist, daß die scheinbar untergegangenen Nationen wieder lebendig sind... Die Nationalgefühle, die wieder da sind, müssen sich einbetten in freie, gleiche, friedliche Buntheit und Liebe unter gemeinsamem Dach — von dieser historischen Aufgabe darf sich die Linke nicht absentieren, wenn sie wieder eine Linke sein will... In Agonie liegt eine geschichts- und hilflose Linke, die Nationalgefühl für identisch hält mit Nazismus, der alles Deutsche verdächtig ist und die in der endlichen Nationwerdung der Deutschen nichts als ein Unglück sieht.«

 

* Er schrieb dies in den Tagen der deutschen Wiedervereinigung.

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Und weiter ausholend kommt Nenning zu dem Schluß: »Die wiedererwachten europäischen Nationen sind ebenso viele kleinteilige Widerstandsnester gegen die Verwandlung des Erdteils in einen großökonomischen Einheitsbrei, der Natur und Seelen mordet... Wer dieses neue Europa der wimmelnden Nationen und Natiönchen nicht mag, soll gefälligst ehrlich dazu seufzen: <Unterm Stalin hätt's das alles nicht gegeben.>«

Das Idealbild der weltumspannenden offenen Gesellschaft, in der globale Wir-Gefühle die nationalen überwinden, erwies sich als weltfremde Utopie. Der Soziologe Karl-Otto Hondrich66 erkannte ganz richtig, daß der Nationalismus nicht von den Plänen einzelner Nationalisten lebt, »die man kaltstellen könnte«, sondern von seiner Funktion, gerade die modernsten Errungenschaften eines Gemeinwesens zu sichern: »Wie jede Kultur sind diese Erfolge in Grenzen gewachsen: Sie würden im Grenzenlosen sogleich verdampfen.«

»Aber warum müssen solche Grenzen ausgerechnet die eines Nationalstaates sein? Die Antwort ist so einfach wie ernüchternd: weil es keine anderen Grenzen gibt, die annähernd dasselbe leisten, nämlich den Geltungsbereich des staatlichen Gewaltmonopols und den der Zusammengehörigkeitsgefühle zur Deckung zu bringen. Ohne das Unterfutter sind Staaten nur willkürlich konstruierte Gewalthülsen, die unter Belastung zerfallen.«66

Der Politologe Dieter Oberndörfer102 antwortet Hondrich darauf mit dem reichlich abgedroschenen Hinweis, daß wir schon immer multikulturell gewesen seien, die Zuwanderung brauchten und daß die Benachteiligung von Ausländern mit der republikanischen Wertesubstanz des Grundgesetzes unvereinbar sei. (Demzufolge dürfte es dann allerdings auch unsere Erbgesetze nicht geben, die deutlich nach dem Abstammungsgesetz »diskriminieren«; Ref.) 

Oberndörfer spricht ferner in gewohnter demagogischer Diktion vom »völkischen Wahn« und wirft Hondrich »politische Brandstiftung« vor. Das dem Artikel beigefügte Bild zeigt eine antirassistische Schülerdemonstration — vielleicht ein Versuch, die Assoziation zu stiften, der Meinungsgegner stehe den Rassisten nahe.

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Ich halte Antinationalismusstrategien dieser Art für gefährlich, da sie extreme Gegenpositionen geradezu provozieren, und stimme mit Wolfgang Kowalsky76 überein, der diesbezüglich feststellt: »Daß Nation eine Heimat sein kann, mag eine im alten Denken befangene Altlinke nicht zugeben, was vor dem Hintergrund linker Dezentralisierungsabsichten und Kiez-Aktivitäten schwer einsehbar ist. Nur ideologische Borniertheit bringt es mit sich, daß das Kind nicht beim Namen genannt wird. Die Gleichung <Heimat gleich Blut und Boden gleich braun> spukt noch in zu vielen Köpfen herum, obwohl sie längst obsolet ist. Damit wird ungewollt das Terrain den Rechten und den Rechtsextremisten überlassen, die nicht davor zurückschrecken, Heimat und Nation mit ihren eigenen, ausgrenzenden Inhalten zu erfüllen.«

Auch den so häufig gebrauchten Hinweis auf eine aus der Schuld vergangener Generationen erwachsene Verpflichtung zur nationalen Selbstaufgabe, den Günter Grass so eifrig strapaziert, halte ich in diesem Zusammenhang für kontraindiziert. Dieter Zimmer142 bemerkt dazu treffend: »Die Scham als Lebensform persönlicher Wahl in Ehren: Dieses Motto mutet dem Volk zu, was es nicht leisten wird, und eine Linke, die es zum Programm erhebt, hat keinerlei Zukunft. Ein ganzes Volk kann und wird nicht im Zustand der Selbstverachtung leben.«

Sehr ausführlich und im gleichen Sinne äußerte sich dazu Michael Wolffsohn und neuerdings in einem Spiegel-Gespräch bemerkenswerterweise Daniel Cohn-Bendit: »Man kann keinem zehnjährigen Kind sagen: Dein Pech ist es, daß du Deutscher bist. Du mußt dein Leben lang mit einem schlechten Gewissen leben. Wenn also Walser und andere erklären, daß Deutschland nicht permanent in antifaschistischer Zwangsquarantäne gehalten werden dürfe, dann stimme ich zu« (S. 131).

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Bassam Tibi128a), in Damaskus geborener Professor für Internationale Politik in Göttingen, wendet sich gegen die Gleichsetzung von Ausländer­feindlichkeit und Antisemitismus. Die deutschen Juden waren und sind kulturell Deutsche. Ihre Leistungen sind aus der deutschen Kulturgeschichte nicht wegzudenken"". Sie bildeten keine sich über die Sprache abgrenzende Minorität. Selbst die religiös in einer Glaubens­gemeinschaft verbundenen Juden waren voll in das deutsche Volk integriert. Bassam Tibi ist der Meinung, »daß die Bildung von ethnischen ausländischen Kollektiven in Deutschland eher der Verstärkung der Ausländerfeindlichkeit dienen als zur Überwindung ... beitragen würde« (S. 146). 

Man dürfe den Wunsch der Mehrheit der Deutschen nach einer Beschränkung der Zuwanderung nicht mit Ausländerfeindlichkeit gleichsetzen. Die deutsche Angst vor »dem Fremden« könne nicht durch eine verordnete überbordende gesinnungsethische »Fremdenliebe« und durch Selbstanklagen bewältigt werden (S. 148). Er wendet sich gegen die deutsche Gesinnungsethik (»innerweltliche Weltfrömmigkeit«), die Fremdenliebe als Medizin gegen Fremdenhaß verschreibe und Selbsthaß verordne: 

»Voraussetzung zu einer unproblematischen Beziehung zu den Fremden ist stets die Selbstliebe. Ein Deutscher, der sich selbst und sein Land haßt, kann mich als einen Fremden gewiß nicht lieben. Ähnlich wie der Philo-semitismus Ausdruck eines unbewältigten Antisemitismus ist, so ist die überbordende Fremdenliebe nur ein Ausdruck unverarbeiteter Ausländerfeindlichkeit« (S. 152).

Günther Nenning96 schließlich meint: »Die deutsche Linksintelligenz ist in Panik. Ihr fällt nix ein außer Untergang der Welt durch braune Magie. Dabei handelt es sich nur um ihren eigenen Untergang durch eigene Unfähigkeit« (S. 63). 

 

* Mit den außerordentlichen kulturellen Leistungen der deutschen Juden in Kunst und Wissenschaft wird die Schuljugend und die Öffentlichkeit viel zu wenig bekannt gemacht. Ich würde in solchen Bemühungen einen wichtigen Beitrag zur positiven Gestaltung der durch unsere Geschichte so ungeheuer belasteten Beziehung sehen.

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Und weiter: 

»Daß das deutsche Volk ein Volk von Verbrechern seit Anbeginn und daß es die Aufgabe der deutschen Intellektuellen ist, den übrigen Völkern das klarzumachen, halte ich für übertriebene deutsche Gründlichkeit. Ich glaubs nicht, und vor allem glaubts das deutsche Volk nicht. Neurose ist die Qualitätsmarke des deutschen Intellektuellen. Also haßt euch mal richtig kreativ, ihr Schrumpfintellektuellen, die ihr nur noch aus einer Nazi-Riechnase besteht« (S. 63).

In einem Time-Essay fragt James O. Jackson70, was man heute wohl mit den Worten Xenophobie, Neonazi und Skinhead assoziiere. Die Antwort würde prompt »Deutschland« lauten. Die Weltpresse stelle Deutschland als fremdenfeindlich, unsensibel für die Probleme der Flüchtlinge und als bereit zur Gewalttätigkeit hin. Man assoziiere mit Deutschland brennende Ausländerheime, Hakenkreuzschmierereien und glatzköpfige Neonazis. Und Jackson betont, daß dieses häßliche Bild unfair und ausgesprochen falsch sei. In anderen Ländern sei die Situation nicht viel anders. Im übrigen nehme Deutschland mehr Asylanten auf (S. 146) und versorge sie auch großzügiger als andere Länder.

Zur Antinationalismus-Strategie gehört auch die Diffamierung Andersdenkender und die Unterdrückung der Verbreitung gesicherten Wissens. Argumenten werden Bekenntnisse entgegengehalten, und es wird dem Meinungsgegner nahegelegt, über gewisse Sachverhalte zu schweigen, mit der Begründung, das Wissen könne mißbraucht werden. Stempelhaft erscheint in diesem Zusammenhang der Vorwurf, mit dem Hinweis auf Schwierigkeiten würde jemand »Wasser auf die Mühlen der Rechtsradikalen« leiten. Ich halte das Schweigen für gefährlicher. Jedes Wissen kann mißbraucht werden, vor allem dann, wenn es diejenigen, die es angeht, nicht gebrauchen.

Der Mißbrauch besteht ferner insbesondere darin, daß einzelne aus dem Zusammenhang gegriffene und in schöpferischer Kollage neu zusammengefügte Sätze zitiert werden, sei es zur Stütze extremer Thesen, sei es, um über eine durch Kürzungen oder andere Wortwahl vergröberte Aussage jemanden als Simpel hinzustellen. Dagegen kann man sich kaum schützen.

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Eben flatterte mir ein Zeitungsbericht über einen kürzlich von mir in Baden-Baden gehaltenen Vortrag auf den Tisch. Überschrift: »Mensch nicht geeignet für die Großgesellschaft«, und unter dem beigefügten Photo von mir lautet die Unterschrift: »Kein Freund der multikulturellen Gesellschaft«. Beides ist, wie der Leser wohl aus dem Bisherigen entnommen haben wird, falsch. Ich trete für die Erhaltung der kulturellen Vielfalt und gegen einen überheblichen Nationalismus ein. Bedenken äußere ich gegen die multikulturelle Immigrationsgesellschaft. Das entscheidende »Immigrations-« ging leider verloren. Ich habe auch nicht behauptet, daß der Mensch für die Großgesellschaft grundsätzlich nicht geeignet sei, sondern daß er stammesgeschichtlich an das Leben in Kleingruppen angepaßt ist und daher mit Anpassungsschwierigkeiten zu kämpfen hat. Ich sprach von mangelnder stammesgeschichtlicher »Angepaßtheit« an die Großgesellschaft und nicht von »Ungeeignetheit« und von der Notwendigkeit der kulturellen Neuanpassung, da ein Zurück zur Kleingesellschaft weder möglich noch wünschenswert sei. Schließlich würde uns erst die Großgesellschaft Hochkultur ermöglichen.

Flüchtiges Lesen, flüchtiges Zuhören, die Hektik des Alltags, die ein Nachlesen verhindert — das führt zur Nachlässigkeit der Wiedergabe und damit zur Entstellung. Oft scheinen die Reporter es sich einfach zu machen: Sie kommen mit einer vorgefaßten Meinung über die Ansichten einer Person und glauben, sie wüßten, was diese etwa als Biologe vertritt, und sparen sich das Lesen oder Zuhören (gewiß nicht immer in böser Absicht).

Es gibt aber auch die Verleumdung über das Hörensagen. So wird mir immer wieder unterstellt, ich würde behaupten, der Fremdenhaß sei biologisch begründet und damit unabwendbar; des weiteren, ich würde einem brutalen Überlebenskampf die Argumente liefern, und dergleichen Unsinn mehr. Ich scheine vielen meiner Gegner nur aus den Schlagworten anderer Gegner bekannt*.  

 

*  Ulrich Greiner: »Tugendterror«, Die Zeit, Nr. 7, 11.Februar 1994, S. 47.

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Daß man sich nicht mehr sorgfältig informiert und meint, man müsse gar nicht mehr mit dem Meinungs­gegner sprechen, ist symptomatisch. »Wer die Wahrheit in seinem Besitz wähnt«, schrieb Ulrich Greiner in der Zeit*

»kann sich mit Debatten nicht aufhalten. Und wer außerdem die Wurzel gegenwärtiger Übelstände erkannt zu haben glaubt (wahlweise Sexismus oder Faschismus oder Kapitalismus) hat der nicht im Sinne eines übergeordneten Notstands das Recht, ja die Pflicht, den Anfängen zu wehren, und sei es mit Gewalt? Das letzte weltliche System, das Wahrheit total und frei Haus lieferte, war der Kommunismus mit seiner geschichtsphilosophischen, eschatologischen Glücksverheißung. Das System ist zerbrochen, und an die Stelle der Verheißung sind die katastrophalen Visionen getreten. Wahrheit erscheint jetzt negativ und weckt eine hysterische Angstbereitschaft. Wenn es fünf Minuten vor Zwölf ist, fehlt einfach die Zeit für Diskussionen.«

 

Schon vor einigen Jahren warnte ich vor der Neigung des Menschen, Tugenden zu übertreiben. Mittlerweile hat sich das zu einer Art Tugendterror ausgewachsen, der die Meinungsfreiheit bedroht. In den Vereinigten Staaten bestimmen selbsternannte Tugendhüter, wie man zu sprechen habe (S. 224), und bei uns ist es mittlerweile auch soweit. Jene, die offensichtlich meinen, ein »Mehr« sei immer besser, möchte ich an dieser Stelle darauf hinweisen, daß biologische Normen nicht linear an dem Prinzip »je mehr, um so besser«, sondern an einem Optimum ausgerichtet sind. Man kann auch ein Zuviel des Guten wollen28).

* Auf einer Podiumsdiskussion während des Münchener Kirchentages 1993 versuchte mich eine Antifa-Gruppe am Sprechen zu hindern. Ich fand die jungen Leute sympathisch, weil für Positives engagiert. Hätten sie zugehört, dann hätten sie schnell herausgefunden, daß ich keine rechtsextremen Standpunkte vertrete. In den Nachrichten der Evangelischen Studentengemeinde erschienen dazu zwei Artikel: Irmgard Pinn: Mit Vordenkern des Rechtsextremismus diskutieren?, Esg-Nachrichten 4 (1993), S. 5-7, und eine Schrift zu meiner Verteidigung von Helmut Falkenstörfer: Man schlägt den Boten. Noch einmal: Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Esg-Nachrichten 6(1993), S. 2-4.

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Zusammenfassung

 

Die Nationalstaaten Europas sind gegenwärtig einer schweren Belastungsprobe ausgesetzt. Sie stehen einerseits unter einem starken Immigrations­druck, der in zunehmendem Maße auch durch Zuwanderer aus kulturfernen Bereichen verursacht wird. Des weiteren belastet sie eine ideologische Auseinandersetzung, die den traditionellen Nationalstaat in Frage stellt und ihn durch den Aufbau einer multikulturellen Immigrations­gesellschaft ablösen will. Für die sich abzeichnenden Schwierigkeiten im Zusammenleben mit Immigranten, die sich als eigene Solidargemeinschaft abgrenzen, werden vereinfachend fremdenfeindliche Agitatoren verantwortlich gemacht.

Zieht man die Biologie zu Rate, dann wird man die ethnische Vielfalt durchaus bejahen. Sie ist Ausdruck der Dynamik des Lebens, das die verschiedensten Möglichkeiten auslotet und kulturell verschiedene Formen politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Strebens erprobt, wobei Kultur zum Schrittmacher auch der weiteren biologischen Evolution auf der Ebene sich abgrenzender Menschenpopulationen wird. Über Vielfalt sichert der Lebensstrom im ganzen Organismenreich sein Überleben ab. 

Mit der Vielfalt entwickelten sich auch Einrichtungen zu deren Erhaltung. Für uns Menschen sind hier vor allem Gruppenterritorialität und Xenophobie (Fremdenscheu) zu nennen. Eine verantwortliche Immigrationspolitik muß beides in Rechnung stellen. Auf Einwanderer, die in großer Zahl kommen und sich in einem bereits bewohnten Land als eigene Solidargemeinschaft niederlassen und abgrenzen, wird die ansässige Bevölkerung dann ablehnend reagieren, wenn sie ihre eigene Identität bedroht fühlt (»Überfremdungsangst«), ferner wenn die Konkurrenz um begrenzte Überlebensgüter (Wohnungen, Arbeitsplätze, Sozialleistungen) spürbar wird, was insbesondere in Krisenzeiten der Fall ist.

Die Prognosen für ein friedliches Miteinander in einer multikulturellen Immigrationsgesellschaft sind deshalb ungünstig. Die Situation wird darüber hinaus noch verschärft, wenn die sich abgrenzende Population der Eingewanderten auch nach einem offiziellen Immigrationsstopp über Familien­zusammen­führung und höhere Reproduktionsraten schneller wächst als die Bevölkerung des aufnehmenden Landes. Daß man mit solchen Möglichkeiten rechnen muß, zeigt die Entwicklung des Bevölkerungswandels in den Vereinigten Staaten.

Das Bemühen der Politiker sollte deshalb auf eine Assimilation der bereits eingewanderten und lange ansässigen Immigranten abzielen. Staatsbürgerschaft und damit auch Wahlrechte sollten für nicht der Europäischen Union angehörende Ausländer nur bei völliger Assimilation gewährt werden. Ein verträgliches, auf Kooperation begründetes Miteinander verschiedener Ethnien ist jedoch möglich, wenn jede Ethnie frei über ihr Land verfügen und dort ohne Bevormundung durch andere ihre eigenen Angelegenheiten regeln kann. Das setzt entsprechende internationale Vereinbarungen voraus. Nimmt man einer Ethnie die Angst vor anderen, dann nimmt man auch dem Ethnozentrismus den Stachel.

Die Zerstörung der Nationen ist keine Vorbedingung für den Weltfrieden. Vielmehr rufen bereits Versuche in dieser Richtung Widerstände hervor, die unsere freiheitliche Demokratie gefährden können.

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