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Teil 6    Die  Migrationsfrage unter  ökologischen, wirtschaftlichen und ideologischen Gesichtspunkten

 

 

 

1.  Brauchen wir Immigranten?

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In den Industrieländern klagt die Bevölkerung über die Vergiftung der Luft, die die Wälder sterben läßt und den Menschen in den Ballungsgebieten den Atem nimmt. Ausufernder Straßenbau, Verkehrslärm, Zersiedelung der Landschaft, unerschwingliche Baugrundpreise, Vergiftung des Grundwassers, die Müllawine und andere Entsorgungsprobleme – das alles wurde und wird in zahlreichen Veröffentlichungen behandelt, so daß heute eigentlich allgemein bekannt sein dürfte: Westeuropa ist übervölkert! 

Die Bevölkerung kann ihren relativ hohen Lebensstandard nur so lange halten, wie ihr importierte fossile Energieträger, vor allem Öl, nach Bedarf zur Verfügung stehen. Die ersten beiden Ölkrisen haben uns zwar gezeigt, daß dies eine höchst verletzliche Situation ist – nur gelernt haben wir nichts daraus. Ohne jede Reservebildung setzen wir weiter auf unbegrenztes wildes wirtschaftliches Wachstum. Obgleich im zyklischen Wechsel von Konjunktur und Krise jeder Wachstumsgipfel der Weltwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg niedriger war als der vorhergehende, nahmen wir auch dies nicht zur Kenntnis28. Ein rücksichtsloser Wirtschafts­liberalismus förderte die Immigration von Niedriglohnarbeitern. Wachstum gilt – nicht Absicherung der Zukunft. Die Probleme, die daraus erwuchsen, wurden aufgezeigt.

Zur ökologischen Umweltzerstörung kommt, wie Gerhard Pfreundschuh106 es treffend nennt, die kulturelle Umweltzerstörung: die Zerstörung der geordneten Beziehungen der Menschen, ihrer gesellschaftlichen, sittlichen, wirtschaftlichen und rechtlichen Leistungen: 

"Kulturelle Umweltzerstörung bringt zerfallende Städte und Slums, organisiertes Verbrechen und Mob, Alkohol und Drogen, Bindungs­losigkeit und Proletarisierung, Vereinzelung und Vereinsamung, neue Armut, Asylanten und Flüchtlingsströme."

Die vom Bevölkerungsschwund betroffenen Länder Europas täten gut daran, auf das Absinken ihrer Bevölkerung nicht gleich mit Panik zu reagieren und über Immigrations­förderung einen vorschnellen Ausgleich zu suchen, sondern den Vorgang als einen Anpassungs­prozeß an die Tragekapazität ihrer Länder aufzufassen.

In einer höchst bemerkenswerten Untersuchung, auf die ich gleich näher eingehen werde, hat Gonzague Pillet108 ausgerechnet, daß in der Schweiz bei energetischer und wirtschaftlicher Selbstversorgung aus dem eigenen Land nur 900.000 Menschen leben könnten, wenn der gegenwärtige Lebensstandard beibehalten werden soll. Das sind 14 % der heutigen Bevölkerung. 

Sicher kann man überall bei uns noch viel einsparen, ohne den Lebensstandard zu senken. Man braucht ja nicht gerade Autos auf den Markt zu bringen, die mörderische Geschwindigkeiten entwickeln und Benzin verschwenden. Aber es gibt auch eine kulturelle Trage­kapazität, bei deren Unterschreitung der Lebensstandard so gesenkt wird, daß für hohe Kulturleistungen wenig übrigbleibt.

Der Begriff "Tragekapazität" wurde von den Ökologen entwickelt. Man versteht darunter die maximale Anzahl von Tieren, die in einer gegebenen Umwelt unbegrenzt lange leben kann. Pillet stellt bei seinen den Menschen betreffenden Überlegungen auch den Lebensstandard in Rechnung, bezieht sich also auf das, was der amerikanische Anthropologe Garrett Hardin53 als "kulturelle Tragfähigkeit" bezeichnet.

Die Erhaltung der Tragfähigkeit eines Landes verlangt die Regenerationsfähigkeit des "natürlichen Kapitals" und der assimilativen Kapazität der Biosphäre für Abfälle und damit die Anpassung der Bevölkerungszahl und des Lebensstandards an die natur­gegebenen Begrenzungen des Wirtschafts­systems.

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Durch den Handel zehren die wirtschaftlich starken Nationen vom Ressourcenkapital anderer Länder. Wir importieren Erdöl und andere fossile Energieträger, ferner Rohstoffe und Nahrungsmittel. Pillets Fallstudie über die Schweiz zeigt, daß dieses Land gegenwärtig aus fremden Ökosystemen 3,5mal mehr entnimmt, als es wieder ausführt. Das erklärt, warum Wirtschaft und Lebens­standard bei gleichzeitiger Bevölkerungs­vermehrung wachsen konnten. Aber jener Bevölkerungsanteil, der nicht mehr durch die natürlichen Ressourcen des lokalen Ökosystems erhalten werden kann, muß nach Pillet als Übervölkerung betrachtet werden, da seine Existenz vom Import erneuerbarer und nicht erneuerbarer Ressourcen abhängt. Dies ist sicher eine riskante Situation.

 

Das Ressourcenkapital eines Landes setzt sich aus den erneuerbaren Ressourcen, z.B. Wasser, Sonnenenergie, Assimilaten wie Holz und anderen pflanzlichen Produkten, und dem erschöpfbaren Kapital zusammen, das aus den nicht erneuerbaren Ressourcen wie Erzen oder fossilen Energieträgern besteht. Ihr noch so sparsamer Verbrauch führt zu einer Reduktion der Vorräte. Nur vom natürlichen Kapital können Materie und Energieflüsse gewissermaßen als Zinsen geerntet, reinvestiert und damit auch zur Vergrößerung des Wirtschaftskapitals verwendet werden, mit dem Ziel, noch größere Energieflüsse zu ernten. 

Sowohl die Erfüllung der biologischen Grundbedürfnisse des Menschen als auch der Lebensstandard nützen die vom natürlichen Kapital erzeugten Energieströme. "Diese Überlegung führt zur Frage, ob eine große Bevölkerung und/oder ein hoher Lebensstandard eventuell die Produktivität des natürlichen Kapitals eines Landes an einigen Orten oder sogar insgesamt übersteigen und dadurch gefährden könne. Damit würden aber die Grundlagen der Gesellschaft in Frage gestellt. Ein neues Ziel für jedes Land sollte deshalb sein, die Entwicklung der Wirtschaft (d.h. von Bevölkerungszahl und Lebensstandard) und der Ökosysteme sinnvoll aufeinander abzustimmen oder, anders gesagt, ihre Koevolution anzustreben" (Pillet108, S. 10).

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Eine auf die Tragfähigkeit der Umwelt abgestimmte Wirtschaft muß sich mit ihr in dem Zustand befinden, den Ludwig von Bertalanffy treffend als "Fließgleichgewicht" beschrieb: ein Zustand, in dem sich ein im Energie- und Materialaustausch mit der Umgebung stehendes System trotz Stoffwechsels auch bei veränderlichen Randbedingungen in einem Zustand hoher Ordnung erhält. 

Die Tragekapazität der Erde wird auf lediglich eine Milliarde Menschen geschätzt.

Das Kosten-Nutzen-Prinzip des Marktes scheidet unwirtschaftliches Handeln aus, es ist aber, wie Pillet betont, "unempfindlich" gegenüber Problemen der Nutzung von Ressourcen und des Energieumsatzes, zusammengefaßt im Prinzip der Tragfähigkeit.

Durch Handel kann das bioökonomische Gleichgewicht eines Landes durchaus gestört werden. Es sollte daher nach Pillet keinem Land ohne ausreichende Gegenleistung erlaubt sein, das Ressourcenkapital anderer Länder zu reduzieren: Er spricht von einem "Gebot internationaler sozialer Gerechtigkeit". Das wird sich allerdings schwer durchsetzen lassen, da wir bereits die Erde übervölkert haben und die verschiedenen Wirtschaftsblöcke gegenwärtig zur Überlebensabsicherung den eigenen Vorteil mit allen Mitteln erkämpfen. Ich fürchte, sie werden auch in Zukunft nicht vor dem Mittel gewaltsamer Eroberung knapper Ressourcen zurückscheuen. Wir sollten dem sowohl nach bestem Können entgegensteuern als auch für alle Fälle gewappnet sein. Ferner wäre nach Gonzague Pillet ein Gebot der "Gleichberechtigung zwischen den Generationen" zu fordern oder ein "generationen­übergreifendes Überlebensethos"28, das auch kommenden Generationen ungefähr gleichviel natürliches Kapital überläßt, wie unsere Generation zur Verfügung hatte.

Wie prekär die gegenwärtige Situation in der technisch-zivilisierten Welt ist, veranschaulicht Pillet in zwei Abbildungen, die die Beziehungen im Ökosystem der Schweiz vor dem Auftauchen des Menschen und in der gegenwärtigen Situation veranschaulichen (siehe Abb. 19 und 20).

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Abb. 19: Biomassen sowie CO2- und O2-Flüsse der Schweiz zur Zeit der größten biologischen Vielfalt vor dem Beginn der menschlichen Besiedlung (Fläche 41.000 km2); P = Biomasse der Produzenten (grüne Pflanzen); C = Konsumenten: C1 = Pflanzenfresser, C2 = Fleischfresser; D = Bodenorganismen. (Nach H. Greppin in Pillet108: "Elemente einer Untersuchung der ökologischen Tragfähigkeit...")

 

Gegenüber der "wilden Schweiz" ist die assimilierende Biomasse der Schweiz von heute um etwa 80 % geschrumpft. Die Masse der Pflanzenfresser ist als Folge der Nutztierhaltung um das 40fache gestiegen. Im Vergleich dazu ist die menschliche Biomasse klein, aber sie beträgt doch das Dreifache der gesamten oberirdischen Tierwelt des Urzustandes. Die Bodenorganismen sind ersatzlos zu 90 % verschwunden; die Folgen sind noch nicht abzusehen. Für die Bodenfruchtbarkeit und die Funktion der Ökozyklen sind sie nämlich von fundamentaler Bedeutung. Insgesamt wurde die natürliche Umwelt auf ein Zehntel ihres ursprünglichen Bestandes reduziert.

Die menschliche Wirtschaft äußert sich im Umsatz der aus dem In- und Ausland stammenden Energie (E) und der "dauerhaften Wirtschaftsmasse" (PEM), die im wesentlichen aus Investitionen wie Straßen, Bauwerken, Dämmen und dergleichen besteht.

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Abb. 20: Das gegenwärtige ökologisch-ökonomische Gesamtsystem der Schweiz. E = die im Land umgesetzte Energie, PEM = das vom Menschen geschaffene Kapital. P und C sind die "domestizierte" Biomasse (Pflanzen und Tiere), D repräsentiert die Bodenorganismen. Dies ist der Grundumsatz der heutigen Schweizer Wirtschaft. 

Es fragt sich, ob damit die ökologische Tragfähigkeit der Schweizer Biosphäre nicht überschritten wird. (Nach H. Greppin in Pillet108: "Elemente einer Untersuchung der ökologischen Tragfähigkeit ...")

 

 

Es wird mehr Sauerstoff verbraucht als produziert und mehr Kohlendioxid abgegeben als wieder gebunden. Der Schadstoff­ausstoß ist beträchtlich. "Betrachtet man diese Analyse, muß man sich fragen, wie weit das ›natürliche Kapital‹ eines Landes in dem Beziehungsnetz von Umwelt, Bevölkerung und Lebensstandard eigentlich reduziert werden kann" (Pillet108, S.24). Die Umwelt kann die Abfälle der Zivilisationswirtschaft nicht mehr verarbeiten. Das System ist vom Energieimport abhängig. Global gesehen beträgt der Anteil der Menschheit an der Gesamtbiomasse noch weniger als 1 Promille.

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Aber wir konsumieren 25% der globalen primären Nettoproduktion, das ist die durch Photosynthese gewonnene Sonnenenergie abzüglich der für das Wachstum und die Fortpflanzung der Pflanzen nötigen Energie. Nimmt man nur die Nettoproduktion auf dem Festland, dann konsumieren wir Menschen bereits 40% von ihr. Würde sich die Menschheit verdoppeln, gäbe es kaum noch Platz für wilde Tiere.

Die Situation ist für die anderen Industriestaaten nicht weniger dramatisch. Falls die Bevölkerung der USA den gegenwärtigen hohen Stand des Energieverbrauchs und Lebensstandards bei Versorgung aus den nach­wachs­enden Ressourcen halten wollte, dann läge die optimale Bevölkerungszahl bei 40-100 Millionen Menschen 129,40.

Sicher wäre es verfehlt, angesichts dieser kritischen Lage in Panik zu geraten. Solarenergie, Wasserstoff­technik und, falls es glückt, die Fusionstechnik könnten die Tragfähigkeit der Erde erhöhen – nur sind wir noch nicht soweit, daß wir auch damit rechnen können. Außerdem ist Energie nicht der einzige begrenzende Faktor (man denke an das Müllproblem). Die fossilen Energieträger sind begrenzt, aber sie reichen noch für eine Weile. Dennoch sollten wir sie nicht verprassen. Und vor allem sollten wir uns auf ein Gesund­schrumpfen der Bevölkerungszahl einstellen. 

Um Christi Geburt lebten etwa 200-400 Millionen Menschen auf der Erde. Um 1830 waren es eine Milliarde. In nur hundert weiteren Jahren kletterte die Zahl auf 2 Milliarden (1930), und nur 30 Jahre danach war die dritte Milliarde erreicht (1960). Zur vierten brauchte es dann nur noch 15 Jahre (1975), zur fünften nur noch zehn Jahre. In noch einmal zehn Jahren wird die Erdbevölkerung um eine weitere Milliarde gewachsen sein – das ist die gegenwärtige Bevölkerung von Afrika und Südamerika zusammengenommen! Es gilt also in zehn Jahren einen gewaltigen Bevölkerungszuwachs zu ernähren, zu behausen und zu bekleiden. Aber bereits jetzt hungern nahezu eine Milliarde Menschen. Die Nahrungsmittelproduktion ist in den letzten Jahren nicht wie üblich gestiegen, sondern global gesunken.

Bei dieser Lage der Dinge ist es völlig unverantwortlich, Immigration in das ökologisch überlastete Europa zu befürworten.

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Wenn keine Umkehr des gegenwärtigen Trends der globalen Bevölkerungsvermehrung erfolgt, dann kann Europa sich nur großräumig unter Einbeziehung der osteuropäischen Länder von den Armutsländern der Dritten Welt abschotten. Zugleich muß Europa selbst haushalten lernen und auch Strategien für verschiedene Möglichkeiten der politischen Entwicklung ausarbeiten, ähnlich wie es die Militärs in ihren Sandkastenspielen tun, um für alle Fälle gerüstet zu sein.

 

Sind Immigranten von wirtschaftlichem Nutzen?

 

Den sozial und ökologisch begründeten Bedenken gegen die Aufnahme einer größeren Zahl von Immigranten stellen die Befür­worter der Immigration Nützlichkeits­erwägungen entgegen. Es heißt, wir würden sie als Arbeitskräfte und zum Ausgleich des Bevölkerungs­schwundes brauchen. Als Arbeitskräfte, weil sich in unserem Lande für bestimmte Arbeiten nicht mehr genügend Arbeitskräfte fänden. Im Klartext: Um den Preis, für den Gastarbeiter bestimmte unangenehme Arbeiten noch verrichten, sind Deutsche und Österreicher angeblich nicht mehr gewillt zu arbeiten. Da man offenbar nicht bereit ist, für solche Arbeiten mehr zu zahlen oder die Arbeit durch Verbesserung der Arbeitsbedingungen attraktiver zu gestalten, müssen Niedrig­lohnarbeiter angeworben werden*. Das Erstaunliche ist, daß die Gewerkschaften nicht energisch genug dagegen protestieren.

 

* Das Argument wird immer wieder von Befürwortern der Immigration vorgebracht. Ohne die bei uns arbeitenden Ausländer, heißt es zum Beispiel, müßten viele Krankenhäuser schließen, weil sich nicht genügend Personal aus der einheimischen Bevölkerung rekrutieren ließe. – Im übrigen sind die ausländischen Arbeitnehmer nicht nur in den ungeliebten Berufen tätig. Viele arbeiteten sich hoch, und besser ausgebildete werden von vornherein als Facharbeiter eingestellt. Damit allerdings werden sie auch zu Konkurrenten um begehrtere Berufe.

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Bisher beruhte der soziale Fortschritt darauf, daß Arbeiter und Angestellte über ihre Organisationen in Arbeitskämpfen bessere Bedingungen aushandelten. Die Instrumente der Arbeitskämpfe werden allerdings stumpf, wenn eingewanderte Niedriglohnarbeiter in beliebiger Zahl zur Verfügung stehen. Der soziale Fortschritt, dem wir verdanken, daß die einst bittere Armut allmählich verdrängt wurde und viele Menschen einen einigermaßen akzeptablen Lebensstandard haben, wird so blockiert. Grundsätzlich halte ich das Argument "Weil unsereiner es zu dem Preis nicht mehr macht, müssen andere her" für unsittlich*. Wenn man für die Pflegeberufe zu den gegenwärtigen Bedingungen kein Personal rekrutieren kann, dann müssen eben die Arbeitsbedingungen so attraktiv gestaltet werden, daß sich aus dem eigenen Arbeitskräfte­reservoir genügend Personen für diese Arbeiten zur Verfügung stellen.

Außerdem sind die Niedriglohnarbeiter gar nicht so billig. Ihre Gegenwart mag zwar die unmittelbaren Kosten des Arbeitgebers senken, aber langzeitlich erhöhen sich die sozialen Belastungen für den Staat.

So bezogen die Ausländer, die 1991 mit 6.066.730 Personen** 6,8 % der deutschen Wohnbevölkerung ausmachten, aus dem größten Posten der Sozialhilfe – der laufenden Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Institutionen – 27,8 %. Dieser Anteil wuchs in den letzten Jahren mit einer Dynamik von 18,4 % jährlich. Der Gesamtanteil der Sozialkosten lag bei 16,7 % ***. Da die Sozialhilfemittel aus Steuergeldern finanziert werden, stammen sie in erster Linie von den Deutschen. In die Renten­versicherung zahlten die Ausländer 1989 noch 12,8 Milliarden DM ein. Sie erhielten 3,7 Milliarden ausgezahlt, was eine positive Bilanz von 9,1 Milliarden ergibt.

 

* Gerhard Schröder: "Krankenpflege würde ohne Ausländer nicht funktionieren." Im Spiegel-Streitgespräch mit Edmund Stoiber. Der Spiegel 14 (1993), S. 115.
** Flüchtlinge und Asylbewerber sind in dieser Zahl nicht enthalten.
*** Alle Zahlen vom Statistischen Bundesamt, Wiesbaden.

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Die eingezahlten Renten werden ihnen aber irgendwann auch wieder ausgezahlt, die an Ausländer geleistete Sozialhilfe hingegen bleibt verloren. Da die Ausländer eine überdurchschnittliche Arbeitslosenzahl erreichen, dürfte sich für die Arbeitslosenversicherung per se eine Belastung ergeben*. Eine wirtschaftliche Belastung stellen ferner die Heimatüberweisungen dar, die 1992 5,6 Milliarden DM ausmachten. Dieses Geld wird dem deutschen Wirtschaftskreislauf auf Dauer entzogen. Nicht in Rechnung gestellt sind verdeckte Ausgaben wie die Kosten, die aus der höheren Kriminalität erwachsen, ganz zu schweigen von den Belastungen für den inneren Frieden. Die Situation ist in anderen Ländern ganz ähnlich. Für die USA stellt sich die Situation nach Vernon Briggs9 so dar: "Der Einsatz von Immigranten für schmutzige Arbeiten ist oft nichts anderes als eine staatliche Unterstützung der Arbeitgeber."** 

Die Kosten erwachsen nicht nur aus der Tatsache, daß man der dort ansässigen Bevölkerung Arbeits­möglich­keiten wegnimmt. Die Immigranten nehmen auch in den USA Sozialleistungen der verschiedensten Art in Anspruch, die von der Allgemeinheit getragen werden: Nahrungsmittelhilfe, Beihilfen für Wohnungs­miete, Erziehungshilfen, Schulspeisung, Gesundheitsfürsorge und vieles andere mehr. "So ist die Ansicht, Immigration sei für die Industrie der Weg der Wahl, Niedriglohnarbeiter für schmutzige Arbeiten zu rekrutieren, dem Vorschlag vergleichbar, eine Abkürzung durch Treibsand zu nehmen. Das Ende ist für alle Beteiligten eine Katastrophe" (Briggs9), S. 513). 

Dazu kommt, daß die Begabten unter den Einwanderern aufsteigen und dann als Facharbeiter und in anderen gehobenen Stellungen der ansässigen Bevölkerung Konkurrenz machen. In den Vereinigten Staaten kommen übrigens die Manager der großen Firmen allmählich darauf, daß die Kosten für das Anlernen einer unausgebildeten Arbeiterschaft den Vorteil der Niedriglöhne überwiegen, so daß die "Pro-Immigrationslobby" immer kleiner wird.

 

* Arbeitslosigkeit Ausländer Bevölkerung [Tabelle]
** "The use of immigrants for doing the ›dirty work‹ is often little more than an employer's subsidy by the government."

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Oft hört man, Deutschland würde die Einwanderer brauchen, denn durch das Geburtendefizit im eigenen Lande werde es für unsere Kinder und Enkel immer schwieriger, die Renten für die zunehmende Zahl der Alten zu verdienen. Im Jahre 2000 würde die Wirtschaft pro Jahr etwa 300.000 Immigranten brauchen, meinte der SPD-Fraktionsvorsitzende Hans-Ulrich Klose*. "Nur so können in Zukunft die Flüchtlings­ströme gesteuert, genügend Arbeitskräfte rekrutiert und die Probleme der Renten­versicherung gelöst werden." Da in den nordafrikanischen Staaten die Hälfte der Bevölkerung unter 25 Jahre alt sei und dort unmöglich alle Arbeit finden könnten, würden wir ihnen und uns Gutes tun, wenn wir sie bei uns aufnähmen, so Klose. 300.000 einwandernde Arbeitskräfte pro Jahr, dazu kämen dann wohl noch Familienangehörige im Rahmen der Familien­zusammen­führung – wie soll ein Land dies sozial und ökologisch verkraften?

Ganz abgesehen davon dürfte sich die Altersstruktur der Bevölkerung durch Immigranten keineswegs so günstig verändern, daß die Belastung der arbeitenden Bevölkerung durch die Alten entscheidend erleichtert würde. Die Einflüsse der Wanderungs­bewegungen auf die Altersstruktur werden nach Jürgen Borchiert6 in wirklichkeitsfremder Weise überschätzt. Es wandern ja nicht nur Kinder und Jugendliche zu, die überdies auch älter werden. "Wer im Jahre 1992 kommt, ist im Jahre 2030 ebenfalls 65 Jahre alt und verstärkt den Altenberg", so Borchert.

Bei einem Zuwanderungssaldo von jährlich 250.000 Menschen im Altersschnitt der Zuwanderer des Jahres 1986** wären das von 1992 bis zum Jahre 2020 9,5 Millionen Menschen.

 

* SZ-Gespräch mit dem Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion (Süddeutsche Zeitung vom 25. 5.1993). Klose: "Im Interesse der Wirtschaft braucht Deutschland jährlich bis zu 300.000 Einwanderer." Diese Zahl hat er nicht selbst errechnet, aber er hat sie in seine Argumentation übernommen.
** Er betrug 27 Jahre.

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Bei im wesentlichen gleicher Bevölkerungsgröße sähe die Altersstruktur in Deutschland dann folgender­maßen aus:

Alter in Jahren

1986

2000

2030

bis 19
20-59
60 und mehr

22,1
57,3
20,6

20,9
55,3
23,8

17,7
49,4
32,9

Zusammen

100

100

100

Tabelle: Altersstruktur der Bevölkerung bei einem Zuwanderungssaldo von 250.000 Menschen pro Jahr (in Prozent)  Quelle: Statistisches Bundesamt, Wiesbaden (nach Jürgen Borchert6). 

 

Modellrechnungen aus dem Jahre 1986 schätzten die entsprechenden Anteile für 2030, bezogen auf die alte BRD (ohne Zuwanderung), wie folgt ein: bis 19 Jahre: 15,9 %; 20-59 Jahre: 47 %; darüber: 37,1%. Borchert meint zu Recht: "Wer die Dinge also nüchtern betrachtet, wird die Möglichkeit deshalb nicht ausschließen können, daß Immigration im großen Stil mehr Probleme schaffen könnte, als sie löst."

Außerdem sind alle Aussagen über den dringenden künftigen Bedarf zusätzlicher Arbeitskräfte höchst spekulativ. Während die Befürworter der Immigration unbeirrbar wiederholen, wir brauchten die Zuwanderer wegen der Renten, mehren sich die Stimmen, die darauf hinweisen, daß wir mit chronischer Arbeitslosigkeit zu rechnen hätten. Vollbeschäftigung könnte vielleicht in 10-15 Jahren wieder erreicht werden, aber auch das ist bei der weiteren Rationalisierung der Produktionstechniken nicht sicher.

 

In diesem Zusammenhang ist auch eine neuere Veröffentlichung des Wirtschafts­wissenschaftlers Meinhard Miege192) wichtig, die Borcherts Aussagen im wesentlichen stützt. Zunächst meint Miegel, daß die Veränderungen im demographischen Bereich für die Wirtschaft teilweise ohne Immigranten ausgeglichen werden könnten.

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Es gäbe zwar eine kritische Untergrenze, unterhalb deren die Wirtschaft Schaden erleiden werde, aber diese Untergrenze würde in den nächsten zwei bis drei Generationen wohl nicht unterschritten, auch wenn die Geburtenrate der ansässigen Bevölkerung auf dem gegenwärtigen niedrigen Niveau verharren und die dadurch verursachte Bevölkerungs­abnahme nicht durch Zuwanderer ausgeglichen würde. 

Insgesamt würde Deutschland zwar Einbußen an Wirtschaftskraft erleiden und seine wirtschaftliche Bedeutung in der Welt dementsprechend ebenfalls, aber die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit pro Kopf der Bevölkerung könnte sogar noch steigen. Das Verhältnis von produzierendem und konsumierendem Bevölkerungsanteil sollte sich allerdings nur mäßig ändern und die Arbeitsproduktivität zumindest gleichbleiben. Erst nach dem Jahre 2000 würde die erwerbsfähige Bevölkerung im Verhältnis zu den Nichterwerbsfähigen abnehmen (s. Abb. 21).

Das könnte durch eine Verlängerung der Erwerbsfähigkeitsphase ausgeglichen werden, und das würde auch wegen der allgemein längeren Lebenserwartung gerechtfertigt sein. Verlängerte man das Ende der Erwerbsfähigkeit in jedem Kalenderjahr um einen Monat, dann läge der Erwerbsfähigenanteil an der Wohnbevölkerung auch im Jahre 2030 noch immer höher als zu Beginn dieses Jahrhunderts. Man könne ferner die Erwerbsneigung der Erwerbsfähigen durch gleitenden Ein- und Ausstieg aus der Arbeit besser nutzen. Durch Verkürzung der Schulzeiten könnten jüngere Erwerbsfähige rekrutiert werden. Schließlich könnte die Erwerbsquote der Frauen verbessert werden, wenn Beruf und Familie besser miteinander in Übereinstimmung gebracht würden als heute.

Schrumpfte der erwerbstätige Bevölkerungsanteil auch über das Jahr 2030 hinaus, dann wären allerdings "tiefgreifende Einschnitte" in die bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen notwendig. Vielleicht haben aber bis dahin die verantwortlichen Politiker erkannt, daß man auch Familienpolitik betreiben kann.

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Wie Meinhard Miege191 in einer anderen Untersuchung zeigt, sind es die Exzesse des europäischen Individualismus, mit der die Kultur des Westens sich über die Fortpflanzungsverweigerung zerstört. Einem solchen Individualismus, der zum Aussterben einer Bevölkerung führt, muß durch Werbung, Aufklärung und finanzielle Förderung entgegengewirkt werden.

Unterstellt man in einem zweiten Szenarium, daß der Bevölkerungsschwund durch Zuwanderung ausgeglichen wird, dann vermindern sich die wirtschaftlichen Anpassungszwänge nur unter der Voraussetzung, daß die Einwanderer dem jüngsten Drittel des erwerbsfähigen Bevölkerungsanteils angehören, also 20-35 Jahre alt sind, und mit geringem Aufwand in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Sonst dürften sie die Bewältigung der demographischen Herausforderungen durch die Wirtschaft eher erschweren. Langfristig sei ihre Wirkung auf die Wirtschaft "ungewiß".

Außerdem werden auch bei der Zuwanderung junger Erwerbsfähiger wirtschaftliche und soziale Anpassungs­leistungen zu vollbringen sein, "denn die relative Zunahme des alten Bevölkerungsteils kann auch durch Zuwanderung nur verlangsamt, nicht aber verhindert werden: Wollte die Bevölkerung ihre gegenwärtige Altersstruktur aufrechterhalten, müßte sie bis 2030 auf 100 Millionen Menschen anwachsen. Ein solches Bevölkerungswachstum erscheint wenig sinnvoll. Die Bevölkerung kommt mithin in beiden Szenarien nicht umhin, mit einem großen Altenteil zu leben" (Miege192, S. 128).

Schließlich müßte die Arbeitsproduktivität der Immigranten höher sein als die der alternden ansässigen Bevölkerung, was ja der Fall sein könnte. "Sicher ist das aber nicht, denn sie könnten auch eine Wirtschafts- und Arbeitskultur verinnerlicht haben, die wenig Raum für Dynamik und Kreativität läßt" (Miege192, S. 128). Auch die Erwerbsneigung der Zuwanderer ist mit gewissen Unsicherheiten belastet. Überdies wird bei einem Wanderungsausgleich des Bevölkerungsschwundes das Bildungswesen überfordert.

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Abb. 21: Die Altersstruktur der Bevölkerung Deutschlands im Jahre 1990 und ihre für 2030 prognostizierte Entwicklung (graue, ausgezogene Linien). Aus Die Zeit, Nr. 2 vom 7.1.1994, S. 20: "Kein Grund zur Panik" von Udo Perina.

 

Im nächsten Jahrzehnt müßten 300.000 Menschen jährlich, danach 450.000 und schließlich 600.000 sämtlich ein umfassendes Bildungs- und Ausbildungs­system durchlaufen — alles erwachsene Personen, denen selbst die elementaren Kenntnisse der deutschen Sprache fehlten. Dennoch bleibe es fraglich, ob die Einwanderer sich von den Einstellungen der Wirtschafts- und Arbeitskultur ihrer Herkunftsländer lösen und die der Deutschen übernehmen würden.

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Eine gewissenhafte Untersuchung aus England von David A. Coleman15 (Universität Oxford) kommt für die Europäische Union zu einem ähnlichen Ergebnis. Selbst wenn die geringe Fruchtbarkeit der Europäer noch eine Weile anhält, wird sich nach Coleman die Arbeitskraft (work force) nur bescheiden verringern, und sie wird auf jeden Fall niedriger sein als die potentiellen Arbeiterreserven Europas. Coleman faßt die Ergebnisse seiner Untersuchungen mit den Worten zusammen: "Bei gegenwärtig 15 Millionen Arbeitslosen in Europa, von denen die meisten unter 25 Jahre alt sind und viele selbst Immigranten, erscheint es überspannt, neue Immigranten für niederrangige Arbeiten aufzunehmen, zumal an die künftigen Arbeitskräfte höhere fachliche Ansprüche gestellt werden."*

 

Und weiter zum angeblich positiven Beitrag der Immigranten zu den Sozialleistungen: "Zuwanderung ändert wenig für die soziale Wohlfahrt und Familienbeihilfe, da die Migranten diese Kosten sowohl verdienen als auch konsumieren." Bleibt noch zu ergänzen, daß die Arbeitslosenquote der in Deutschland lebenden Ausländer mit 15,2 % (Stand März 1993) mittlerweile gut doppelt so hoch ist wie die der einheimischen Erwerbstätigen, die insgesamt 7,2 % beträgt. Weniger Arbeitskräfte werden immer mehr produzieren und unter Vollbeschäftigung die Rentenlasten wahrscheinlich leichter tragen können als mehr Menschen unter den Bedingungen der Arbeitslosigkeit und steigender Sozialempfängerzahlen. Verbessert man die Arbeitsbedingungen und zahlt man mehr für die ungeliebten Tätigkeiten, dann wird man aus dem Heer der Arbeitslosen die benötigten Arbeitskräfte rekrutieren können.

 

"It seems eccentric to propose the resumption of Immigration for low-grade labor, when there are 15 million unemployed in Europe, most under age 25 and many themselves immigrants, especially since future demand for labor emphasises high skills." Zum gleichen Ergebnis kommt eine Untersuchung von Jeremy Salt117.

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Zur Hiobsbotschaft "Renten in Gefahr!" wäre schließlich noch zu sagen, daß vor 100 Jahren keineswegs wohlhabende Menschen durchaus in der Lage waren, eine vielköpfige Familie zu ernähren, 4 bis 6 Kinder waren keine Seltenheit. Dazu kam dann noch die Betreuung der Eltern eines der Ehepartner. Bei den heutigen Produktionstechniken und bei der geringen Kinderzahl dürfte es in Wirklichkeit keine größeren Schwierigkeiten bereiten, die nötigen Renten für die Alten zu verdienen. Wahrscheinlich wird man sich dazu nicht einmal einschränken müssen, aber selbst wenn, wäre das immerhin noch eher in Kauf zu nehmen als das Risiko der sozialen Konflikte zwischen Immigranten und Einheimischen in wirtschaftlichen Krisensituationen. Oder glaubt man ernsthaft, daß es solche nicht geben würde und daß wir den Immigranten eine Sicherheitsgarantie auf Wohlstand über Generationen abgeben könnten?

Nach Hochrechnungen soll im Jahr 2030 das Verhältnis der Beitragszahler in die Sozialversicherung zu den Rentnern 1:1 betragen. Daß jeder somit einen Rentner mitversorgen muß, ist sicher eine große Belastung, aber kaum ein Katastrophen­szenario und überdies durch Immigration nicht zu ändern.

 

Das demographische Argument

 

Gerne wird in diesem Zusammenhang außerdem das demographische Argument gebracht: Ganz unabhängig von den Renten müßten wir auch den Bevölkerungsschwund ausgleichen. Denjenigen, die auf die bereits spürbare ökologische Überfrachtung hinweisen, wird entgegengehalten, es würden in Deutschland heute gar nicht mehr Menschen leben als vor dem Zweiten Weltkrieg. Das stimmt nicht, wenn man die Einwohnerzahl auf die Fläche bezieht. 1932 lebten in Deutschland 140 Einwohner pro km2.

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Heute* sind es durch die Gebietsverluste nach dem Zweiten Weltkrieg und durch die Aufnahme von Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen aus den ehemals deutschen Ostgebieten bzw. aus den Staaten Mittel- und Osteuropas 227 Einwohner/km2. Ich habe daher immer ein Gesundschrumpfen auf ein ökologisch verträgliches Maß gutgeheißen.

Daß man überdies schließlich durch eine familienfreundliche Politik Einfluß auf die demographische Entwicklung nehmen kann, wollen wir noch einmal in Erinnerung bringen.

 

 

6.2.  Abwege des politischen Moralismus 

 

Mit ihren Analysen handeln sich Wissenschaftler oft den Vorwurf ein, sie würden auf ethische Überlegungen verzichten, da Wertfreiheit als oberster Grundsatz der Wissenschaft gelte. Ihre Botschaft wird daher von manchen Ideologen für "gefährlich" gehalten, besonders wenn sie diesen nicht in den Kram paßt, und das letztere ist bei einigen Aussagen der Biologen zur Immigrationsdebatte sicher der Fall. Biologen sehen sich daher Angriffen ausgesetzt, die oft die Grenzen der Fairneß überschreiten und in denen selbst die Waffe der Diffamierung eingesetzt wird. Bevor wir uns aber mit den Attacken auseinandersetzen, einige klärende Worte zur "Wertfreiheit" der Forschung.

Verzichten Forscher auf ethische Überlegungen, wenn sie für eine wertfreie Wissenschaft eintreten? Gewiß nicht. "Wertfrei" bezieht sich auf das Bemühen, Erkenntnisse zu gewinnen mit Hilfe von Methoden, die auch für andere den Weg der Erkenntnis­gewinnung nachvollziehbar machen. Beschreiben und Bewerten, das sind zwei verschiedene Sichtweisen.

 

* 1932 lebten in Deutschland auf 470.440 km2 rd. 66 Millionen Menschen.
1992 (Stichtag 30.9.) lebten in Deutschland auf 356.733 km2 rd. 81 Millionen Menschen.

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Wir können als Wissenschaftler die Blüte einer Rose beschreiben, und tun wir dies mit der nötigen Genauigkeit, dann kann auch jemand, der zum erstenmal in seinem Leben eine Rose sieht, diese nach unserer Beschreibung bestimmen. Den meisten Wissenschaftlern wird eine Rose natürlich auch gefallen. Und der Dichter wird in erster Linie von ihrer Schönheit berichten. Der Wissenschaftler wird aber vielleicht weiterfragen: Wie kommt es, daß wir Blumen schön finden? Und diese Frage führt ihn auf das Gebiet der Sinnespsychologie, Wahrnehmungsforschung und der biologischen Ästhetik.

Wir Menschen bewerten aber nicht nur ästhetisch, sondern auch ethisch. Wir heißen dieses Verhalten gut, jenes andere schlecht. Wir sprechen bewertend von Tugenden, wie der Nächstenliebe, dem Mut, der Freigebigkeit, und manche von diesen Tugenden gelten, soweit uns bekannt ist, in allen Kulturen. Oft allerdings werden sie unterschiedlich gewichtet oder auf bestimmte und nicht überall gleiche Personenkreise begrenzt. Schließlich gibt es Tugenden wie jene der Sparsamkeit, die nur in einigen Kulturen gepflegt werden. Eine problematische Tugend zum Beispiel ist die Gefolgsbereitschaft, die keineswegs in allen Völkern in gleicher Weise kultiviert wird, die aber sicher eine biologische Basis in der Unterordnungs- und Gefolgsbereitschaft eines sozialen, Rangordnungen bildenden Wesens hat 22,26.

Abrahams Opfer ist ein Beispiel für die kulturelle Ausgestaltung einer Tugend, die hier fordert, was gegen die Natur geht. Ähnlich liegt der Fall in Schillers "Don Carlos", wo der Großinquisitor zu König Philipp sagt: "Vor dem Glauben gilt keine Stimme der Natur" und damit dessen Sohn als Opfer fordert (Akt V/10).

Naturforscher bemühen sich, Wertungen aus ihrer Forschung herauszuhalten, es sei denn, diese selbst sind Objekt ihres Forschungsinteresses. Aber sie sind deswegen nicht wertblind. Sie überlegen die Folgen ihres Handelns, und ihre Zielsetzungen basieren auf Wertungen, in denen sich Gefühlsethik und Wissen in einer Vernunftehe verbinden. Dieses Konzept stellen wir einer rein gefühlsmäßig, unter Verzicht auf Wissen und Vernunft begründeten Zielsetzung entgegen.

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Die Gefühlsethiker neigen zum Überschwang. Viele berauschen sich geradezu an ihrer Tugend. Sie nutzen ihren Einsatz für das Gute zur positiven Selbstdarstellung, um Ansehen zu genießen, und werden vom Beifall in positiver Rückkoppelung emporgetragen. Der Tugend­rausch wirkt ansteckend und kann zur Massenhysterie entarten28. Auch macht die Begeisterung für die gute Sache blind für die Realitäten des Alltags, und das ist nicht ungefährlich.

Ralph Giordano48 wies auf die Gefahr einer übertriebenen Xenophilie, einer "Pathologie der Umarmung" hin. Er möchte sie zwar nicht in einem Atemzug mit den Rassisten nennen, "aber in der Problem­verstrickung aller Beteiligten üben sie meiner Erfahrung nach einen überaus negativen Einfluß auf die Lösungs- und Verbesserungs­möglichkeiten aus. Und das bei erklärt ›guter Absicht‹ — denn davon sind sie unbestritten beseelt" (S. 293). 

Nur würden sie eben die Ursache für die Schwierigkeiten immer bei den Einheimischen suchen. Jede Beklemmung gegenüber massenhafter Anwesenheit von Fremden werde als Feindseligkeit denunziert, jede Sorge, Angst und Abwehrreaktion als rassistisch kriminalisiert, und die Zuwanderer würden undifferenziert und pauschal zu "Schützlingen" erklärt – eben "umarmt".

Eine solche Haltung sei aber nicht hilfreich, da sie die Doppelproblematik leugne und sich damit der Erkenntnis verschließe, daß beide Seiten sich um eine Verbesserung ihrer Beziehung bemühen müßten. Giordano meint, hinter dieser Pathologie der Umarmung stecke ein Entmündigungsdenken. Die Umarmer würden sich als Beschützer über die Benachteiligten erheben, die aus der Not ihrer Situation immer recht hätten, weshalb Kritik an ihnen als Sakrileg empfunden würde. Dieser höchst hierarchische Protektionismus enthebe die Schützlinge der Eigenverantwortung und deklassiere sie zu Objekten der "Protektionswut".

Das führe zu dem Stereotyp vom "guten" Ausländer und vom "bösen" Deutschen, wofür Giordano eine Reihe wahrhaft grotesker Beispiele anführt.

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Dem Feindbild "Inländer" wird ein idealisiertes Ausländerbild gegenübergestellt: Auf Plakaten*, mit denen Stadtverwaltungen Front gegen Fremdenhaß machen, erscheint der (die) Deutsche: dick, dumm, egozentrisch, häßlich, ausbeuterisch, ablehnend — der (die) Ausländer(in): freundlich, kontaktbereit, hübsch, liebenswert in der traurigen Situation des Verfolgten**.

Slogans machten die Runde wie "Ausländer rein, Rheinländer raus" oder "Ausländer, laßt uns mit diesen Deutschen nicht allein" oder die an Einfalt schwer zu überbietende Parole "Alle sind Ausländer oder fahren Sie nie auf Urlaub". Als ob es bei dem Problem der Ausländer um Fragen des Tourismus ginge!

 

Zum Overkill der guten Absichten gehören auch die Kinderbefragungen zum Ausländerproblem in Fernsehen, Rundfunk und Presse. Sie dienen der Stimmungsmache und sollen ein als unkritisch eingeschätztes Publikum für die Immigrations­befürworter einstimmen. Die Kinder selbst sind gar nicht in der Lage, die Problematik zu erfassen; sie geben wieder, was man ihnen suggerierte. Übertreibungen dieser Art belasten die gegenwärtige Diskussion um die Immigrations­problematik. Wer vor den ökologischen und sozialen Folgen der Massenimmigration warnt, dem tönt die Anschuldigung "Ausländerfeind" entgegen.

Und wer sein Volk für ebenso erhaltenswert hält wie ein anderes und daher rät, Immigranten aus kulturnahen Ethnien jenen aus kulturfernen Ethnien vorzuziehen, um einem dramatischen Bevölkerungs­wandel vorzubeugen, der muß damit rechnen, als "Rassist" diffamiert zu werden. Wir seien moralisch verpflichtet, so heißt es, zu helfen und die Armen unterschiedslos aufzunehmen.

 

* "Wer hilft mit, Beinah anzünden?" steht auf einem Poster unter dem Porträt eines hübschen Mädchens mit dunklen Augen, mit dem eine Stadtverwaltung gegen die Ausländerfeindlichkeit ankämpfen will. Ein anderes zeigt einen fetten Deutschen in Shorts, auf einem Kamel reitend. Ihm schallt der Ruf entgegen: "Ausländer raus!" Auf wieder einem anderen Plakat westdeutscher Agenturen floß Blut aus einer schwarzrotgoldenen Fahne.
** Der Spiegel 1992, 1, 56-62: "Jeder streichelt seinen Bimbo" und Der Spiegel 1993, 5, 170-172: "Overkill der guten Absichten".

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Die Verpflichtung dazu wird oft mit dem Hinweis begründet, wir Europäer hätten über Jahrhunderte die Länder, aus denen die Armen herandrängen, als Eroberer und Kolonialisten ausgebeutet. Von daher würde unser Reichtum stammen — es sei nur fair, wenn wir jetzt zur Kasse gebeten würden. Diese Anschuldigungen sind reichlich überzogen. Osterreich, Deutschland, die Schweiz und viele andere Länder Europas haben ihren Wohlstand selbst erarbeitet. Deutschland gründete seine erste Kolonie (Südwestafrika) im Jahre 1884, und es verlor sie kurz danach im Ersten Weltkrieg, kaum daß es die Infrastruktur aufgebaut hatte, die Eisenbahnen, Schulen, Farmen, Bergwerke und Industrieanlagen, die dann auch Gewinn eingebracht hätten.

Die anderen europäischen Kolonialmächte haben sicherlich einen großen Teil ihres Reichtums aus ihren Kolonien bezogen. Aber in den vergangenen Jahrhunderten liefen nicht allzuviele Altruisten umher. Die Europäer hatten durch ihr Wissen um die Beschaffenheit der Erde, durch ihr nautisches Können, ihre avancierte Technologie und die wissenschaftlichen Kenntnisse einen großen Startvorteil. Im übrigen verhielten sie sich nach den zu ihrer Zeit gültigen Umgangsformen, wie das die anderen auch taten. Aber die Europäer waren es, die in erster Linie aufgrund ihrer christlichen Ethik allmählich umdachten und die begannen, von Menschenrechten zu sprechen und humanitäre Entwicklungen einzuleiten.

Leben wir heute auf Kosten der Armen der Dritten Welt?  

Das wird oft behauptet und mit dem Argument gestützt, daß die Industrieländer (einschließlich Japan und USA), obgleich sie nur 25 % der Weltbevölkerung ausmachen, etwa 75 % der Weltproduktion verbrauchen. Aus dieser Tatsache kann man aber zunächst nur auf eine ungleiche Verteilung des Reichtums auf dieser Erde schließen, nicht auf eine Ausbeutung der Ärmeren durch die Reicheren74. Um das als wahr zu unterstellen, müßte nachgewiesen werden, daß die Reichen mehr konsumieren als produzieren, was erwiesenermaßen nicht der Fall ist.

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Der Anteil der Entwicklungsländer am Welt-Bruttosozialprodukt beträgt etwa 25 %, der der Industrieländer 77%. Über den Welthandel werden die Produkte zwischen den Industrieländern und den Entwicklungs­ländern zu einem gewissen Prozentsatz ausgetauscht. Aber 70 % des Handels findet ausschließlich zwischen den Industrienationen statt. Da der Welthandel vor allem zwischen den Industrieländern und nicht zwischen Entwicklungsländern und Industrieländern stattfindet, kann der "Reichtum" der Industrieländer nicht auf der Ausbeutung der Dritten Welt basieren.

Bleibt die Anschuldigung, die Industrieländer würden als Rohstoffkäufer Ausbeutung betreiben. Aber von den schwankenden Rohstoffpreisen, die der Weltmarkt bestimmt, sind alle Rohstoffproduzenten betroffen, und der Anteil der westlichen Industrieländer an den Rohstoffexporten betrug 1986 221,3 Milliarden Dollar (von insgesamt rd. 348), der der Entwicklungs­länder 100,2 Milliarden Dollar. Überproduktion ist einer der Hauptgründe für den Verfall der Rohstoffpreise, unter dem die USA ebenso wie die Länder der Dritten Welt zu leiden haben.

Was in den letzten zweihundert Jahren tatsächlich ausgebeutet wurde, das sind die Reserven an fossilen Energieträgern. Der industrielle Aufschwung Europas basierte einst auf dem Energieträger Kohle, der z.B. in England oder Deutschland ausreichend vorhanden war. Heute spielen Erdöl und Erdgas als Energieträger die Hauptrolle. Beide kommen aber nicht aus den Armengebieten der Welt und werden auch teuer bezahlt. Auf die ökologische Problematik des Raubbaus an fossilen Energie­trägern wiesen wir hin. Energieverschwendung ist sicher die Hauptsünde der Industrieländer. Und die USA erreichen hier mit einem doppelt so hohen Energieverbrauch pro Einwohner wie Europa die Spitzenposition der Energievergeuder. Verprassen ist nicht unbedingt ein Ausdruck von Kultiviertheit.

Die Europäer setzen sich heute in besonderem Maß für Frieden und Gerechtigkeit auf der Welt ein. Die Verpflichtung dazu erwächst aber nicht aus einer besonderen europäischen Schuld.

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Keine der führenden Zivilisationen dieser Erde war besonders friedlich. Aber das Faustrecht im internationalen Verkehr wurde doch tabuisiert. Dazu trägt beschleunigend bei, daß unsere Mitmenschen durch die ständig verbesserten Techniken der Kommunikation uns immer näher kommen. Wir verstehen ihre alltäglichen Sorgen und schätzen ihre kulturellen Leistungen. Die Sympathie beschränkt sich nicht allein auf Vertreter anderer Hochkulturen. Auch das Schicksal entfernter Naturvölker geht uns heute nahe.

Sympathie ist eine Gefühlsregung, die wir nicht lernen müssen. Es gibt Situationen, die dieses Gefühl aktivieren. Kulturell kann ich ihre Wirksamkeit jedoch auf einen bestimmten Personenkreis begrenzen. Aus den genannten Erfahrungen mit Mitmenschen anderer Kulturen sind wir heute bereit, auch Menschen Sympathie entgegenzubringen, die ganz anderen Kulturen angehören. Daraus erwächst das Bedürfnis, zu helfen, eine subjektiv empfundene, nicht aber eine aus Schuld begründete Verpflichtung. Uns verpflichtet vielmehr neben unserem Mitgefühl für die Not anderer eine Ethik des Teilens, auf die ich im folgenden Kapitel eingehe.

 

Zusammenfasssung

 

Die westeuropäischen Länder sind heute bereits weit über ihre ökologische Tragfähigkeit hinaus belastet. Eine Öffnung dieser Länder für den Zuzug von Immigranten ist daher aus ökologischen Gründen abzulehnen. Sollte nicht bald ein umweltfreundlicher Ersatz für die begrenzt vorhandenen fossilen Energieträger gefunden werden, dann müßte die Bevölkerung Europas drastisch reduziert werden, wenn ein zivilisatorisches Leistungsniveau erhalten bleiben soll. Der gegenwärtige Geburtenrückgang ist daher nicht unbedingt bedrohlich, wenn ihm durch familienfördernde Maßnahmen rechtzeitig wieder Einhalt geboten wird. Er kann als Prozeß des Gesundschrumpfens gelten.

Die oft wiederholte Behauptung, die europäischen Länder würden wegen der Überalterung ihrer Bevölkerung auf die Zuwanderung von Arbeitskräften angewiesen sein, hält einer Überprüfung nicht stand. Die Immigration würde aller Voraussicht nach mehr Probleme wirtschaftlicher und sozialer Art aufwerfen, als sie löst. Menschenverachtend ist der Vorschlag, den eigenen Bevölkerungs­schwund durch Immigranten auszugleichen, da er auf lange Sicht die Verdrängung der eigenen Bevölkerung in Kauf nimmt.

Eine lautstarke Minorität öffentlicher Meinungsbildner meint der guten Sache zu dienen, indem sie jene, die gegen eine Öffnung Europas für Immigranten aus aller Welt argumentieren, als Ausländerfeinde und Rassisten diffamiert. Der politische Moralismus entwickelt dabei oft groteske Züge. Ralph Giordano sprach treffend von einer "Pathologie der Umarmung".

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