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7. Exkurs zur Ethik des Teilens  

 

 

 

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Wir hören heute oft das Wort "Verteilungsgerechtigkeit". Was ist das für eine Gerechtigkeit? Wann und was teilen Menschen? Für die Begründung einer Ethik des Teilens ist ein Wissen um die Rahmenbedingungen Voraussetzung. Was ist Besitz, und welche Regeln gelten für den Besitztransfer?

Nur wer etwas besitzt, kann auch teilen, nur wer hat, kann geben – eine fast triviale Feststellung. Aber Eigentum galt und gilt für manche als etwas, was eigentlich abgeschafft werden sollte. Die Verurteilung des Wunsches nach Besitz übersieht die wichtige prosoziale Funktion des Schenkens und Teilens, die Besitz zur Voraussetzung hat.*

Bekanntlich besitzen wir Menschen Verschiedenes, z.B. eine Vielzahl von Objekten, die wir verleihen und verschenken können. Auch Nahrungsmittel gehören dazu. Wir besitzen ferner ein Heim und oft auch ein Stück Land, ferner Wissen. Auch diese Art Besitz können wir mit anderen teilen oder auch ganz abgeben. Nicht so dagegen Liebe und Freundschaft. Die betrachten wir zwar ebenfalls als eine Art Besitz – wir sprechen davon, die Liebe einer anderen Person zu "besitzen". Aber bekanntlich bleiben Liebe und Freundschaft unerfüllt, wenn sie einseitig sind. Ein Partner muß die Liebe erwidern. Die Beziehung ist wechselseitig und personengebunden. Man kann seine Liebe geben, aber über die des Partners verfügt man nicht, die kann man nicht verschenken. 

Die Bindung an einen Mitmenschen unterscheidet sich auch in ihrer affektiven Tönung von der zu einem Objekt, obgleich es da fließende Übergänge geben kann. Objekte dienen bisweilen als Ersatzobjekte für Sozialpartner (Beispiel: Kuscheltier, Puppe), und sie können daher wie ein solcher geliebt werden. Werkzeuge, Bekleidung und dergleichen sind ferner in einem gewissen Sinne ablegbare Organe, und wenn wir sie lange besitzen und sie uns gute Dienste leisteten, fühlen wir uns mit ihnen affektiv verbunden.

*detopia: Hier scheint mir der Professor zu pauschal.  - Wer sind denn diejenigen "manche"? Das können doch nur moderne Armutsmönche sein. Wenn sie sogar den Wunsch nach Besitz verurteilen... Also irgendwelche radikalen Christen? In der Bundesrepublik können es allerdings nicht viele sein, sonst hätte ich schon mal von ihnen gehört.


Wir pflegen sie, stellen sie auch mit Liebe her und schmücken sie oft auf besondere Weise. Das hat sicherlich zur Verfeinerung der materiellen Kultur geführt und als Nebeneffekt zu einem pfleglicheren Umgang mit Ressourcen — eine Entwicklung, die mit der Wegwerfgesellschaft zum Stillstand kam.

Im allgemeinen ist jedoch die Qualität und Intensität der affektiven Bindung an Objekte anders getönt als eine Bindung an Personen. Wir sind durchaus bereit, uns von Objekten zu trennen, es sei denn, sie hätten für uns einen besonderen Symbolwert, z.B. als Talisman oder Andenken. Bindungen an Mitmenschen schätzen wir als Besitz besonderer Art, und unsere Bereitschaft, sie zu teilen, ist deutlich geringer. Bekanntlich haben Kinder zunächst einmal Schwierigkeiten, ihre Bindung an die Eltern mit nachgeborenen Geschwistern zu teilen. In aller Welt rivalisieren Geschwister miteinander. Und wie eifersüchtig Erwachsene ihre Bindungen an Ehepartner hüten, ist genügend bekannt. Soziobiologisch ist dies nicht schwierig zu erklären.

Objekte spielen dagegen eine wichtige Rolle im Dienste der Vermittlung freundlicher Sozialbeziehungen. Bereits Kinder im vorsprachlichen Alter erweisen sich in diesem Punkt als sozial kompetent. Sie bieten Gästen ihr Spielzeug oder auch Leckerbissen an, wenn sie die erste Scheu überwunden haben und zu freundlichem Kontakt bereit sind. Ferner teilen sie mit ihren Geschwistern und Spielgefährten. Im Leben der Erwachsenen spielt Bewirten und Beschenken schließlich eine große Rolle, und das Geben erfährt in den Geschenkritualen der verschiedenen Kulturen eine mannigfaltige Ausgestaltung.

Für die bindende Funktion des Gebens müssen allerdings zwei wichtige Rahmenbedingungen erfüllt sein:

1. Derjenige, der etwas bekommt oder bekommen möchte, muß durch sein Verhalten dokumentieren, daß er den anderen als Besitzer des begehrten Objektes anerkennt (Objektbesitznorm)26.

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2. Der Gebende erwartet nach einer Weile eine Gegengabe oder Gegenleistung. Als Gegengabe muß nicht Gleiches mit Gleichem, wohl aber mit Wertentsprechendem vergolten werden (Norm der Reziprozität).

Bereits bei der Übernahme einer Gabe pflegt die beschenkte Person zu danken. Das muß nicht in formalisierter Weise geschehen. Einfache nichtverbale Äußerungen wie ein Lächeln können genügen. Es handelt sich um eine Form der Anerkennung des Gebe-Aktes. Lehnt jemand eine Gabe ab, dann wird dies als beleidigend empfunden.

 

Ursprung des Besitzens

 

Stammesgeschichtlich reichen die Wurzeln des Besitzes weit zurück, und es gibt sicher nicht einen allgemeinen Besitztrieb, sondern sehr spezifische und möglicherweise durchaus unabhängig voneinander entstandene Motivationen, zu besitzen.

In allen Wirbeltierklassen finden wir Vertreter, die Nahrung und Reviere verteidigen. Bei den Reptilien gilt ausschließlich das Recht des Stärkeren. Nahrung teilen sie nicht, und sie respektieren auch nicht die Territorien anderer aufgrund einer ihnen eigenen Besitznorm, sondern weil sie mit der starken Verteidigungsbereitschaft der Revierinhaber rechnen müssen. Revierinhaber genießen dabei einen Heimvorteil. Schon bei Fischen sind sie weniger fluchtbereit und daher bei Auseinandersetzungen mit Eindringlingen meist siegreich. Das gilt bis zu den höheren Säugern.

Bei Vögeln und Säugern wird Nahrung an Jungtiere abgegeben, ferner unter Erwachsenen beim Werben ausgetauscht, bei einigen Arten auch zur Absicherung des Paarzusammenhaltes nach der Verpaarung. Bei einigen in Gruppen lebenden Säugern wie den Hyänenhunden füttern auch nicht verpaarte Erwachsene einander.

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Bei den Primaten bahnt sich die Entwicklung eines Besitzrechtes deutlicher an. Hans Kummer78 stellte fest, daß männliche Dscheladas sich (zum Zwecke des Experiments in ihrem Gebiet freigelassenen) Weibchen nähern. Wer zuerst ein Weibchen erreichte, dem wurde es dann von den anderen überlassen. Es gilt das Recht des Zuerstgekommenen. Das gilt bei vielen Affen auch für die Nahrung. Allerdings beobachtet man bei niederen Affen wie den Pavianen und Rhesusaffen noch häufig, daß Ranghohe einem Rangniederen Begehrtes entreißen. 

Unter Erwachsenen wird nicht gebettelt und nicht abgegeben. Das tun bei den Primaten erst wieder die Menschenaffen. Schimpansen zeigen eine deutliche Hemmung, anderen Nahrung zu entreißen. Hat ein Schimpanse Beute gemacht, dann kann es in den ersten Minuten Streit um sie geben. Behauptet einer seinen Besitz, dann wird er im weiteren als Eigentümer respektiert, auch wenn er keine hohe Rangposition innehat. Wollen andere von der Beute haben, dann betteln sie, z.B. indem sie dem Besitzer die aufgehaltene Hand entgegenstrecken, was deutlich macht, daß sie den anderen als Besitzer des begehrten Objektes respektieren.

Auch Werkzeuge wie Hammersteine zum Nüsseknacken oder Sonden zum Termitenfischen werden als Besitz betrachtet, aber nur solange ein Artgenosse sie nützt. Abgelegtes gilt nicht als Besitz. Der Mensch geht eine Stufe weiter. Er respektiert z.B. in der Regel den Besitz von Geräten bei Abwesenheit des Besitzers. Symbolische Besitzergreifung entdeckte Barbara Fruth40 bei den uns Menschen besonders ähnlichen Zwergschimpansen. Dort respektieren Erwachsene die Nester von Artgenossen. Hat einer einen Ast mit begehrten Früchten entdeckt, dann flicht er an der Basis des Astes ein paar Zweige zu einem symbolischen Nest. Die anderen respektieren das "Tabu-Zeichen".

Objektbesitz wird also bereits bei einigen nichtmenschlichen Primaten respektiert, und damit eröffnet sich auch die Möglichkeit, zu teilen. Die Bereitschaft, Nahrung abzugeben, entwickelte sich wohl im Zusammenhang mit der Entwicklung der individualisierten Fürsorge für die Nachkommenschaft (S. 71).

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Die prosoziale Motivation, zu geben, und die ihr zugeordnete Motivation, anzunehmen, bilden die emotionelle Basis des Objekttransfers. Beim Füttern von Jungen geben die Eltern, ohne Gegengabe zu erwarten. Es handelt sich um eine Investition in die Nachkommenschaft, die sich genetisch lohnt. Auch das Paarfüttern oder Überreichen von Nestmaterial im Werbezeremoniell vieler Vögel muß nicht auf Gegenseitigkeit beruhen. Oft aber beobachten wir Reziprozität.

Erwachsene Zwergschimpansen geben an Gruppenmitglieder ab und erwarten dafür Gegenleistung. Hat ein Männchen eine Frucht, die ein Weibchen begehrt, dann kann es sich diesem sexuell anbieten und dafür die Frucht gewissermaßen einhandeln. Auch ein solcher "Handel" setzt den Respekt vor Eigentum voraus.

Was hier in Ansätzen ausgebildet ist, wurde beim Menschen weiter vertieft. Die Besitznorm ist bei ihm stark ausgeprägt. Ich vermute, daß ein entscheidender Selektionsdruck zu ihrer Vertiefung mit der Entwicklung der Werkzeugkultur einsetzte. Das Leben eines altsteinzeitlichen Jägers und Sammlers konnte z. B. davon abhängen, daß seine Waffen jederzeit greifbar waren. Der innere Friede konnte nur über eine sorgfältige Beachtung der Besitznorm erhalten werden. Das bestimmte wohl die weitere Entwicklung.

Die biologische und kulturelle Bekräftigung der Objektbesitznorm machte das Geben zu einem höchst bedeutungsvollen Akt, über den man Bindungen mit anderen Menschen eingehen und bestehende bekräftigen konnte. Zur Regel der Beachtung der Objektbesitznorm kommt die Regel der Reziprozität, die nicht allein auf der Erwartung des Gebenden besteht, eine Gegengabe zu erhalten, sondern auch auf der erlebten Verpflichtung des Geschenkpartners, eine Gabe zu erwidern. Emotionell ist das System abgesichert, indem Menschen sich gut fühlen, wenn sie geben, schlechtes Gewissen erleben, wenn sie geizig sind, und Enttäuschung, wenn ihre Gabe nicht erwidert wird. "Wenigstens danken hätte er können."

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Teilen und Geben

 

Geben ist primär ein freundlicher Akt. Der Mensch kann ihn aber über die kulturelle Ausgestaltung auch zu einer Waffe im Streit um Rangpositionen umgestalten. Durch ein Übermaß an Fürsorglichkeit kann zunächst fürsorgliche Dominanz erreicht werden, und zwar dann, wenn ein Abhängigkeitsverhältnis geschaffen wird. Aber selbst repressive Dominanzbeziehungen können über Bewirtungs- und Schenkrituale aufgebaut werden, dann nämlich, wenn man dem Partner mit Absicht die Möglichkeit nimmt, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Dann fühlt dieser sich in der Schuld, denn das Bedürfnis, mit einer entsprechenden Gegenleistung zu antworten, ist sehr stark. Können Menschen dem nicht entsprechen, dann sehen sie ihren Status gefährdet.

Bekanntestes Beispiel dafür ist der Potlatch der Kwakiutl-Indianer der Nordwestküste Kanadas. Dort laden Häuptlinge einander wechselseitig zu Festen ein, deren Bemühen darin gipfelt, den anderen in einer Art Wettstreit durch überreichliche Bewirtung, Beschenkung und durch verschwenderische Selbstdarstellung zu übertrumpfen. Hier wird Gastlichkeit zur Waffe im Kampf um das Ansehen. Wer schließlich im Gabentausch nicht mehr gleichziehen kann, hat sein Gesicht verloren und damit den Rangstreit. Er konnte seine Verpflichtung nicht einlösen. Auch Wohltätigkeit kann verstimmen, wenn keine Gegenleistung möglich ist (siehe S. 209).

In der Regel überwiegt jedoch beim Geben auf reziproker Basis die bindende Funktion. Aber die über Geben gepflegten Beziehungen zwischen nicht näher miteinander verwandten Mitgliedern einer Gruppe oder gar über die Gruppengrenzen hinaus müssen auf Gegenseitigkeit beruhen. Wer in dieser Situation nur gibt, wird auf die Dauer zum Verlierer. Die bindenden Geschenkrituale erfahren in den verschiedenen Kulturen reiche Ausgestaltung.

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Das reziproke Austauschsystem der Buschleute ist eine Art Sozialversicherung. Nach den Erhebungen der amerikanischen Völkerkundlerin Polly Wiessner134 pflegt bei den !Kung jede Person über Geschenke Beziehungen zu anderen. Im Durchschnitt hat jeder Erwachsene 17 Geschenkpartner, sowohl Männer wie Frauen, denen er gibt und von denen er bekommt. So kreisen Schmuckketten, Pfeilspitzen, Werkzeuge und Decken. Wer von vielen bekommt, genießt Ansehen, da er offenbar ein begehrter Partner ist. Der Geschenkpartner wird gelegentlich besucht und gestattet dann dem Besucher Zugang zu seinen Ressourcen. Er macht seinerseits Gegenbesuche. In Notzeiten schließlich sind Geschenkpartner verpflichtet, einander beizustehen. Leidet das eigene Gebiet unter einer außergewöhnlichen Dürre, dann darf man im Gebiet der Geschenkpartner jagen und sammeln. Damit diese Sozialversicherung funktioniert, erstreckt sich das Netz der Geschenkpartner über ein weites Gebiet.

Eine besondere Form des Geschenketausches beobachtete ich 1979 bei den Yanomami-Indianern in Venezuela26. In unser Dorf der Hasupiwetheri waren einige junge Männer zu Besuch gekommen. Einer hatte sich zu meinem Nachbarn gesellt, und ich beobachtete, wie er aus seinem Köcher Pfeilspitzen aus Bambus nahm, diese lebhaft erklärend vor seinem Gastgeber ausbreitete. Ich verstand verschiedene Namen von Yanomami-Dörfern und vermutete, daß er die Pfeilspitzen von diesen verschiedenen Orten erhalten habe. Danach holte der Gastgeber seinen Köcher und zeigte seine Pfeilspitzen, und schließlich beschenkten beide einander. Später bestätigte sich meine Annahme, daß es sich hier um einen formalisierten Pfeilspitzentausch handelte62

Mit der Zahl der Pfeilspitzen, die ein Krieger von anderen erhalten hat, wächst sein Ansehen, denn er kann sich als einer ausweisen, der über viele Freunde verfügt, also gute Beziehungen hat. Mich erinnert das an die Visitenkartenschalen, die früher in Wiener Bürgerhäusern im Vorraum zu finden waren, in denen ebenfalls das soziale Beziehungsnetz vorgestellt wurde. Auch das Gästebuch und das "Name-dropping" sind Formen der Selbstdarstellung.

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Geben und Schenken dienen beim Menschen also sowohl der Allianzbildung als auch der Selbstdarstellung auf verschiedenen Ebenen und in verschiedener kultureller Ausgestaltung unter Beachtung der schon erwähnten Regeln: der Achtung der Besitznorm und der Reziprozität. Geben ist immer mit Kosten verbunden, und die Kosten-Nutzen-Berechnungen der Soziobiologen zeigen überzeugend, daß in der Bilanz auf die Dauer die Kosten nicht den Nutzen überwiegen dürfen. Die Bilanz muß ausgeglichen sein. Wer eine Ethik des Teilens propagiert, muß das berücksichtigen. Ein eignungsschädigendes Verhalten kann nicht gefordert werden.

Der Wunsch, Notleidenden zu helfen, bewegt heute viele Menschen der westlichen Industrienationen. Insbesondere das zunehmende Elend der Dritten Welt belastet das Gewissen jener, denen es besser geht. Man spricht von der Notwendigkeit einer "gerechten" Verteilung des Reichtums, und daraus wird schnell ein "Wir müssen". Aber wenn wir schon diese Verpflichtung empfinden und als ein "Müssen" deklarieren, dann dürfen wir ja wohl auch die Frage stellen, wie solche Hilfe aussehen kann, ohne daß wir uns als Helfende auf lange Sicht selbst schädigen. Noch darf aus der Hilfe jenen Gefahr erwachsen, denen wir helfen wollen.

Nun können wir den Ausgang von "Experimenten mit Menschen", wie sie meines Erachtens die Befürworter weiterer Immigration nach Europa bedenkenlos propagieren, sicher nicht voraussagen. Aber wir haben die Risiken aufgezeigt, die aus einem unbedachten Teilen, etwa des eigenen Landes, mit anderen entstehen. Bei der gegenwärtigen Bevölkerungsdichte in Europa kann kein Land sein Territorium mit einer großen Zahl von Einwanderern, woher immer diese auch stammen mögen, teilen. Das Risiko, daß in einer sich so entwickelnden multikulturellen Immigrationsgesellschaft Konflikte entstehen, ist für beide Teile zu groß.

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Bleibt die Forderung nach dem Teilen des Reichtums, etwa durch großzügige Finanzhilfen. Eine solche Ethik des Teilens setzt allerdings eine Ethik des Empfängers voraus, die darin bestehen müßte, daß die zur Verfügung gestellten Mittel auch der Bevölkerung des Landes zugute kommen und nicht in dunklen Kanälen versickern. Des weiteren ist Gegenleistung zu fordern. Wer nur gibt, macht sich beim Empfänger unbeliebt. Mary Douglas20 charakterisierte die Situation treffend: "Als Wohltätigkeit gilt die freie Gabe, freiwilliges, unvergoltenes Abtreten von Gütern. Obgleich wir die Wohltätigkeit als christliche Tugend preisen, wissen wir, daß sie verletzt. Ich habe einige Jahre in einer wohltätigen Stiftung gearbeitet, die jährlich aus steuerlichen Gründen große Summen ausgeben mußte. Neulinge in dieser Organisation lernten schnell, daß die Empfänger dieser Wohltaten ihren Spender nicht liebten, wie freundlich er auch immer war."* Die Gegenleistung muß nicht finanziell gleichwertig sein. Sie kann sich auf allgemein-freundliche Kooperations­bereitschaft, etwa im wissenschaftlichen Bereich, beschränken.

Zu fordern wäre ferner eine Begrenzung der militärischen Aufrüstung und schließlich des Bevölkerungs­wachstums auf ein der Tragekapazität des Landes entsprechendes Maß. Dabei ist zu bedenken, daß es eine biologische Tragekapazität und eine kulturelle Tragekapazität gibt. Für den hohen Standard einer Zivilisation besteht nach Garrett Hardin53 eine optimale Bevölkerungsdichte, die weit unter der maximal möglichen Bevölkerungsdichte liegt. Der Mensch lebt nicht von Brot allein, nieint Hardin in diesem Zusammenhang (allerdings in einem anderen Sinne als in der Bibel). Ein kultiviertes Leben setzt ein gewisses Maß an "Luxus" voraus. Das gilt für die Qualität der Nahrung und Wohnung ebenso wie für Unterhaltung, Freizeitgestaltung, Bildung, Theater und Forschung.

 

* "Charity is meant to be a free gift, a voluntary, unrequired surrender of resources. Though we laud charity as a Christian virtue, we know that it wounds. I worked for some years in a charitable Foundation that annually was required to give away large sums at the condition of tax exemption. Newcomers to the office quickly learnt that the recipient does not like the giver, however cheerful he be" (S. 7).

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Der größte Reichtum der Industriestaaten der nördlichen Hemisphäre ist sicher ihr Wissen. Dieses Wissen könnten sie durch Lehre und Ausbildung vermitteln, vorausgesetzt, es gibt genügend Lernbereitschaft. Den Ländern der Dritten Welt mangelt es nicht an Naturschätzen, wohl aber an einem geeigneten Management, an ausgebildeten Lehrern, Politikern, Wirtschaftlern, Facharbeitern und Handwerkern. Die Milliarden, die man hierzulande über die Jahre für Asylbewerber aus den Ländern der Dritten Welt ausgab, wären in diesem Sektor wohl nutzbringender eingesetzt worden. Mittlerweile hat sich die Situation in einer Weise zugespitzt, daß in den kommenden Jahrzehnten großräumige Bevölkerungszusammenbrüche nicht mehr ausgeschlossen werden können.

Ist all dies Elend die Folge der mangelnden Bereitschaft der Reichen, zu teilen? Der Vorwurf formuliert sich flüssig. Ralf Dahrendorf 8

"So wie die Mehrheitsklasse der Ersten Welt es versteht, ihre Vorteile in Vorrechte zu verwandeln und die Armen und Arbeitslosen sich selbst zu überlassen, so versteht es die Erste Welt insgesamt, ihren Besitzstand zu verteidigen, auch wenn die Fernsehbilder verhungernder sudanesischer Kinder abends die Wohnzimmer verunzieren. Man kann fast sicher sein, daß es an Argumenten nicht fehlen wird, um weder Umverteilung noch Einwanderung zu erlauben, wenn es um reiche und arme Länder geht."

Die Anklage finden wir in vielen Varianten immer wieder. Sie beschränkt sich auf schöne Worte und kommt meist von Leuten, denen es gutgeht und die es im übrigen dem Staat überlassen, zu teilen und Arme aufzunehmen. Unbestritten ist, daß es eine Dritte Welt gibt, die in Armut lebt. Und es werden der Armen immer mehr. Die Weltgetreideproduktion wächst aber seit 1984 nicht einmal um jährlich ein Prozent, nur halb so schnell also wie das Bevölkerungswachstum. Seit einigen Jahren stagniert sie sogar. Gegen die unkontrollierte Bevölkerungsvermehrung, mit der sie begleitenden Degradierung der Umwelt, helfen keine Lebensmittelhilfen.

Erschwert wird die Situation durch die Bürgerkriege, die Hilfe, wie das Beispiel Somalia lehrt, fast unmöglich machen. Umverteilung ist ein schönes Schlagwort. Aber würden wir erst einmal versuchen, in Europa das Los der Armen zu mildern, für Mütter und Kinder bessere Sozialeinrichtungen wie Kindergärten zu schaffen, das Erziehungssystem zu verbessern und die Forschung zu fördern, von der unsere Zukunft abhängt, dann würden wir feststellen, daß es mit dem angeblichen Reichtum nicht so weit her ist. Wir sehen ja die Schwierig­keiten, die ein reiches Land wie die Bundesrepublik mit der Sanierung der neuen Bundesländer hat. "Man könnte am Wehretat sparen", höre ich als Entgegnung. Gewiß – wenn wir nur in einer friedlichen Welt leben würden.

Über die zunehmende Brutalisierung des Lebens in den "Armenhäusern der Welt" ist genügend berichtet worden, auch über Horrorszenarien der Zukunft. Wir können heute sicher noch verhindern, daß die gesamte Einwohnerschaft der Erde in den Strudel eines solchen Zusammenbruchs hineingezogen wird. Dazu ist allerdings Voraussetzung, daß wir zunächst unsere eigenen Probleme lösen.

Das bedeutet für alle Industriestaaten: Sie müssen ihre eigenen Länder ökologisch und sozial sanieren. Europa hat seine kulturelle Tragekapazität bereits weit über­schritten, und Armut breitet sich bei uns selbst aus, kaschiert durch billige Massenartikel und eine elektronische Unter­haltungs­industrie, die den Menschen in Wohlstands­attrappen täglich Anteil am Wohlstand vorgaukelt. 

Der innere Friede auch der sogenannten reichen Länder – die übrigens gar nicht so wohlhabend sind – ist gefährdet. In England, Frankreich oder Deutschland leben viele Millionen Einheimische an der Armutsgrenze (S. 215). Der Staat verschuldet sich zunehmend. Wir leben auf Kosten unserer Enkel und haben keinerlei Reserven für den Notfall. Wir müßten zunächst einmal die Armut im eigenen Lande und in den übrigen europäischen Ländern beseitigen. Mit dieser unserer eigenen Gesundung würden wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt den besten Beitrag zum Weltfrieden leisten.

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