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8. Gerüstet fürs dritte Jahrtausend ?

 

 

 

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Ein verwirrendes Jahrhundert geht zu Ende, ein Jahrhundert voller Bewegung, erschüttert von sozialen Revolutionen, wider­hallend vom Streit der Ideologien und vom Donner der Kriege. Ein Jahrhundert, berstend vor Schöpferkraft, gezeichnet von Zerstörung und Aufbau, Reichtum und Elend und einer Bevölkerungs­explosion nie gekannten Ausmaßes. 

In nur zehn Jahren wird die Erdbevölkerung um eine weitere Milliarde Menschen gewachsen sein – was der gegenwärtigen Bevölkerung von Südamerika und Afrika zusammen­genommen entspricht! Der Zuwachs wird vor allem die Not der Armen dieser Welt vermehren. In einer nie dagewesenen Dynamik überstürzen sich die Ereignisse und rauben uns den Atem. Wir stehen an einer Zeitwende und fragen uns, wie es weitergehen soll.

Zwei Möglichkeiten stehen uns offen: es treiben zu lassen oder vorauszuplanen. Sollten wir auf die Selbst­regulations­prozesse der Natur hoffen? Die Korrektur über Selektion wäre schmerzvoll, sie vollzieht sich oft über Bevölkerungs­zusammen­brüche und andere Katastrophen. Mancherorts zeichnen sich solche Szenarien bereits ab.

Der Mensch ist allerdings auch Zielsetzer und überdies fähig, seinen Verstand zu gebrauchen, voraus­zuschauen und Fehler zu korrigieren. Es entspricht seiner Würde, sich nicht passiv einem "Schicksal" zu unterwerfen. Dies Vorausplanen stößt allerdings auf Schwierigkeiten, die in unserer Veranlagung begründet sind.

Wir wiesen bereits auf solche Stolperstricke unserer Vorprogramm­ierungen hin. Ein Haupthindernis für die Entwicklung von Langzeitstrategien des Überlebens liegt in unserem gegenwartsbezogenen Kurzzeitdenken begründet. Zwar können wir einsichtig die Folgen der zunehmenden Umweltzerstörung abschätzen, aber wir haben Schwierigkeiten, das als notwendig Erkannte auch durchzusetzen.

Unser Handeln zielt auf den unmittelbaren Erfolg, den wir zu maximieren suchen, auch wenn uns daraus langzeitlich gesehen Schaden erwächst. Das hat uns die Selektion angezüchtet. In der Konkurrenz mit anderen zählt, wer jetzt schneller läuft, und nicht, wer es morgen tut. Mit anderen Worten: Im Wettstreit der Individuen und Kulturen trimmte uns die Selektion, den unmittelbaren Erfolg ohne Rücksicht auf Langzeitfolgen zu maximieren, nach dem Erfolg hier und jetzt zu streben. Die Konsequenzen des Heute zählen für uns und nicht die des Morgen, auch wenn diese fatal sein können.

Diese "Konkurrenzfalle", wie ich es nennen möchte, macht es notwendig, bestimmte Konkurrenzfaktoren aus Einsicht in die Langzeitfolgen auszuschalten. Das kann allerdings in der gegenwärtigen Situation nur über entsprechende Konventionen und sicher nur in sich abgrenzenden Gebieten geschehen. Ein weltweiter Freihandel, wie ihn die Verfechter einer liberalen Marktwirtschaft anstreben, würde heute auf Kosten des Lebensstandards jener Völker gehen, denen durch umweltschonende Fertigungs­techniken und durch eine gute Bezahlung ihrer Arbeiter hohe Kosten erwachsen. Andere sparen an diesen Kosten und gewinnen damit Konkurrenzvorteile, die jene, die Hochlohn zahlen und umweltbewußt wirtschaften, dazu zwingen würden, in diesem Bereich zu sparen*.

Ein Wirtschaftsraum, der über soziale Kontrakte ein vergleichbares Lohnniveau und die gleichen Umweltauflagen einhielte, würde seinen sozialen Frieden und seine Umwelt sichern.

*  Die Neigung, im Wettstreit der verschiedenen Wirtschaftsgebiete den anderen durch Sparen bei umweltfreundlichen Investitionen auszutricksen, wird durch die Tatsache gefördert, daß es sich bei Luft und Wasser um allgemeine Güter handelt. Sie gehören zwar auch dem, der sie mißbraucht, aber der Schaden, den jemand verursacht, verteilt sich auf ihn und all die anderen, während der Nutzen allein ihm zufällt. Das Problem ist als das der Allmende bekannt: Ein Bauer, der auf eine Gemeindewiese eine Kuh mehr, als ihm gestattet ist, einschmuggelt, schädigt zwar die Wiese und damit sich selbst, aber den Schaden tragen alle, den Nutzen hat nur er.

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Die Konkurrenz beschränkte sich dann auf Qualität der Leistung, Perfektion der Produkte, der Service­leistungen, der Produktion und Innovation. Ein sozial verantwortlich und umweltfreundlich produzierender Wirtschaftsraum müßte sich abschotten, um diese Errungenschaften zu erhalten.

Immigration von Niedriglohnarbeitern würde den inneren Frieden und Freihandel mit aller Welt die weitere Entwicklung umweltschonender Fertigungstechniken gefährden und wohl auch manche Sektoren der Schlüsselindustrien, was einen Wirtschaftsraum wie die Europäische Union abhängig und extrem verwundbar machen könnte — und deshalb schon aus strategischen Gründen nicht zu verantworten wäre.

Jene Gemeinschaften, die sozial bewußt und zukunftsverantwortlich wirtschaften (wozu auch eine entsprechende Geburtenkontrolle gehört), sollten sich zu großräumigen wirtschaftlichen und sozialen Friedenszonen zusammenschließen. Durch ihr Vorbild und mit ihrer Hilfe könnte dann eine schrittweise Angleichung der in dieser Richtung weniger Avancierten erfolgen.

Die Europäische Union könnte sich zu einem solchen Friedensgroßraum unter allmählicher Einbindung Osteuropas einschließlich Rußlands entwickeln. Diese wirtschaftliche, ökologische und soziale Friedenszone wäre groß genug, um, auf sich gestellt, auch kommende Krisensituationen heil zu überstehen. Sie könnte sich auch mit anderen, ähnlich avancierten Wirtschaftsräumen zusammenschließen. Und von diesen Friedenszonen könnte schrittweise den Schwellen- und Entwicklungsländern geholfen werden*. Entscheidend für deren Zukunft ist, daß sie ihre eigene Bevölkerungsvermehrung unter Kontrolle bekommen.

* Zunächst allerdings müssen die angeblich so reichen Länder ihr eigenes Haus in Ordnung bringen. Im Herbst 1993 gab es nach Angaben der stellvertretenden Sprecherin der Nationalen Armutskonferenz Erika Biehn in Deutschland eine Million Arme. Mehr als eine Million Kinder und Jugendliche leben von der Sozialhilfe. Die Zahl der Arbeitslosen erreichte mit rund 3,5 Millionen beängstigende Ausmaße; sie ist weiter im Steigen. In der EU gibt es heute (1993) 17 Millionen Arbeitslose.

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Nur dann werden die bessergestellten Länder in der Lage sein, wirkungsvoll zu helfen. Gelingt es den Schwellen- und Entwicklungs­ländern nicht, die Bevölkerungs­explosion einzudämmen, dann werden sich die wirtschaftlich und sozial sanierten Regionen wohl oder übel abschotten müssen, um dem allgemeinen Populations­zusammenbruch zu entgehen.

Die von den Befürwortern der Immigration oft wiederholte Behauptung, wir könnten unsere Grenzen gar nicht schützen, ist leichtfertig und leistet einem Fatalismus Vorschub, der gefährlich ist. Jedes Land hat das Recht, unerwünschte Zuwanderer an seiner Grenze abzuweisen.

Sicher wird jedes Land auch weiterhin Flüchtlingen und Asylsuchenden helfen. Das kann aber nicht durch die jährliche Aufnahme vieler Hunderttausender durch die verschiedenen Staaten geschehen. 1993 wuchs die Zahl der Flüchtlinge weltweit um 10% auf rund 20 Millionen. Und es ist nicht abzusehen, daß es weniger werden. Bei dieser Lage der Dinge müssen andere Modelle diskutiert werden. Man könnte zum Beispiel daran denken, das Problem den Vereinten Nationen zu übertragen. Deren Aufgabe wäre es, in den verschiedenen Krisenregionen der Erde Gebiete zu pachten und dort mit der Finanzhilfe aller Staaten der UN Flüchtlingsstädte mit eigener Infrastruktur (Schulen, Universitäten, Theater) einzurichten.

Das hätte den Vorteil, daß die Menschen in der Nähe ihrer Heimat blieben, in einer ihnen vertrauten Umgebung im Kontakt mit ihnen kulturell Nahestehenden. Das Problem der Entfremdung von ihresgleichen wäre gemildert, und es bestünde schließlich mehr Anreiz für internationale Organisationen, sich um die Problemlösung zu bemühen, da sie das ungelöste Problem vor ihren Augen hätten. Man spricht ja gerne davon, daß wir die Fluchtursachen beseitigen sollen, aber es bleibt bei humanitären Wortübungen.

In einer übervölkerten Welt kann aber kein Land dieser Erde Bevölkerungs­überschüsse anderer Regionen aufnehmen, selbst wenn es noch über dünner besiedelte Regionen verfügen sollte, denn diese sind eine wichtige Reserve.

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Ich betone dies, da man in Deutschland neuerdings erwägt, den Teil des Bevölkerungsverlustes, der durch Abwanderung aus einigen der neuen Bundes­länder entsteht, durch Ansiedlung von Auswärtigen und Ausländern auszugleichen. Länder, die noch über dünner besiedelte Gebiete verfügen, sollten über solche Landreserven froh sein, von wo aus die Natur sich regenerieren kann und die im Notfall für das Überleben notwendig sein können. Wir müssen über längere Zeiträume denken und planen, wenn wir das dritte Jahrtausend überleben wollen.

Und dabei vor allem auch an uns selbst denken — sicherlich mit Rücksichtnahme auf andere. Aber wenn jeder sein Haus in Ordnung brächte, dann wäre damit schon viel gewonnen. In diesem Zusammenhang fand ich eine Bemerkung von Hans Magnus Enzensberger34 interessant, der meinte:

"Es ist an der Zeit, sich von moralischen Allmachts­phantasien zu verabschieden. Auf die Dauer kommt niemand darum herum, kein Gemeinwesen und auch kein einzelner, die Abstufungen seiner Verantwortung zu prüfen und Prioritäten zu setzen... Wer von der Endlichkeit und Relativität unserer Handlungsmöglichkeiten spricht, sieht sich sofort als Relativist an den Pranger gestellt. Doch insgeheim weiß jeder, daß er sich zuallererst um seine Kinder, seine Nachbarn, seine unmittelbare Umgebung kümmern muß. Selbst das Christentum hat immer vom Nächsten und nicht vom Fernsten gesprochen" (S. 73).

Enzensberger führt dann weiter aus, daß es bei diesen Abstufungen der Verantwortung nicht unbedingt auf räumliche Nähe und Verwandtschaft ankomme, es gäbe auch Adoption und Patenschaft — was sicher richtig ist, aber nicht den Blick auf die ursprüngliche biologische Funktion verstellen sollte, die in familialer Verwandten­förderung im Dienste der Eignung (siehe S. 35) besteht. Aber der Biologie steht Enzensberger wohl noch etwas reserviert gegenüber.

Unnötigerweise, wie ich hinzufügen möchte, denn die aus der Biologie gewonnenen Einsichten sind es, auf die sich unsere Hoffnungen auf eine bessere Zukunft begründen. Durch sie wissen wir, daß wir mit fürsorglichen Anlagen ausgestattet wurden.

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Sie sind stammesgeschichtliches Erbe, das zunächst Familie und Kleingruppe persönlich verbindet. Diese Anlagen werden im Prozeß der kulturellen Anpassung genützt, um größere menschliche Gemeinschaften bis zu den Millionengesellschaften moderner Nationen zu einigen. Dieser Sozialisationsprozeß für die Großgemeinschaft läuft, wie wir zeigten, für jeden von uns über die normalerweise in der Familie stattfindenden Sozialisationsprozesse, die Urvertrauen stiften. Im Verlauf des weiteren Heranwachsens finden wir uns in anderen, auf der Basis von Freundschaft und persönlicher Bekanntheit verbundenen Gemeinschaften, die uns als sichere Basis dienen, zu der wir, wie das Kind zur Mutter, zurückkehren können. Sie stärken das Vertrauen auch in die vielen anderen uns Unbekannten, die uns als Angehörige der noch größeren Solidargemeinschaft einer Nation umgeben. Auch sie vermitteln Sicherheit auf einer anderen, höheren Ebene und damit die Bereitschaft, uns anderen zu öffnen. Die Erziehung zum Staatsethos muß jedoch an das familiale Ethos und das der Kleingruppe anknüpfen.

Gelingt dieser Sozialisationsprozeß und entwickeln Menschen eine kritische Liebe zum eigenen Land, dann kann auf dieser Basis auch zu einer übergreifenden höheren Ebene der Gemeinschaftlichkeit erzogen werden, zur kooperativen, freundschaftlich verbundenen Völkergemeinschaft, eine Entwicklung, die sich in Europa anbahnt. Sie würde empfindlich gestört, würde den Nationen dabei der Kampf angesagt. Es gibt einen Nationalismus, der blind und zerstörerisch wirkt, aber der wird durch die Unterdrückung von Ethnien bewirkt und durch Ideologen, die Völkern mit dem Argument ihrer Unbedeutendheit das Recht auf Selbstbestimmung absprechen (siehe S. 122).

Warum erkennt die Völkergemeinschaft nicht an, daß Kurden nun einmal nicht auf vier Staaten verteilt unter Fremdherrschaft leben wollen, in geschlossenen Gebieten lebende Serben nicht unter Bosniern oder Kroaten, Bosnier nicht unter Serben, Kroaten nicht unter bosnischer Herrschaft? Keine dieser Gruppen, die heute so blind gegeneinander wüten, ist im Kern böse. Aber jede ist mißtrauisch, ratlos und voller Angst, dem anderen ausgeliefert zu werden.

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Ein Schlüssel zum Weltfrieden liegt sicher in der Beachtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Das gegenwärtige Abflauen des Europa-Enthusiasmus ist nicht nur auf die berechtigte Angst vor einer undurch­schaubaren Verwaltungsbürokratie begründet, die es Interessengruppen gestattet, in fast unkontrollierbarer Weise Eigeninteressen durchzuboxen, sondern auch in den Bestrebungen, die auf eine zunehmende Entmachtung der Nationen zielen. Europa ist unsere große Chance, und wir brauchen eine Europabegeisterung, aber die gedeiht nicht, wenn man Nationen und Provinzloyalitäten als Atavismen abwertet. Im Gegenteil! Europa braucht starke Nationen wie Frankreich, England, Italien u.a.

Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal auf das Phänomen der Indoktrinierbarkeit hinweisen. In aller Welt können wir beobachten, daß sich Menschen bis zur Selbstaufgabe indoktrinieren lassen. Der Selbstmord der Volkstempelsekte von Jim Jones in Guyana im Jahre 1978 ist sicher ein extremes Beispiel dafür. Aber für den Glauben starben immer wieder Menschen. Der Glaube ist in solchen Fällen Marker der Gemeinschaft, und wir sind bereit, uns auf solche Marker einzuschwören, und zwar sowohl auf die Ideologie als auch auf ihre Symbole — man denke etwa an die Fahnensymbolik und die mit ihr verbundenen Rituale.

Ich vermute, daß bei dieser starken affektiv besetzten, über Dressur erworbenen Bindung an eine größere Gemeinschaft und ihre Symbole angeborene Lerndispositionen eine Rolle spielen, die zunächst für den affektiven Zusammenhalt von Familie und Kleingruppe in Gefahrensituationen bestimmt waren. Konrad Lorenz wies darauf hin, daß Menschen im Zustand kollektiver Begeisterung archaische Verhaltensweisen zeigen. Bei Aufmärschen, Fahnenweihen, dem Absingen von Hymnen und ähnlichen Situationen erleben Menschen den "Schauder der Ergriffenheit". Er wird durch die Kontraktion der Haaraufrichter verursacht, was bei uns bestenfalls eine Gänsehaut erzeugt, bei unseren Primatenvorfahren jedoch zum beeindruckenden Sträuben des Pelzes führte.

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Bei diesen Prozessen der Solidarisierung über Rituale werden offenbar Verhaltensweisen kollektiver Verteidigungsbereitschaft angesprochen, und wir sträuben im kollektiven Imponieren einen nicht mehr vorhandenen Pelz. Die Bereitschaft, uns mit Symbolen der Gemeinschaft zu identifizieren, dürfte ebenfalls familiale Wurzeln haben. Sie schafft Verbundenheit über gemeinsame Abzeichen der Ähnlichkeit, und bereits auf der familialen Ebene wirkt Ähnlichkeit affektiv bindend.

Sicher gehört die Bereitschaft zur Indoktrinierung zu den Problemanlagen des Menschen, aber nur über sie wird andererseits ein Mensch in einem bestimmten Lebensalter zum Deutschen, Franzosen, Engländer, Italiener oder Österreicher und stellt damit eine affektive Bindung an eine Kultur und deren Kollektiv her, was keineswegs nur negativ zu bewerten ist, solange dieses Bekenntnis nicht zu einem blinden Nationalismus ausartet.

Ethnische Vielfalt ist in einer eng werdenden Welt Reichtum und Störfaktor zugleich. Reichtum, weil sie Alternativen zum eigenen kulturellen Umgang mit der täglichen Realität vorgibt und durch andere Formen des Brauchtums und der künstlerischen Äußerungen das kulturelle Angebot mehrt. Störend wirkt sich Ethnizität aus, wenn sie zum Ethnozentrismus führt, was der Fall ist, wenn eine Bevölkerung um ihre kulturelle Identität bangen muß. Diese Angst gilt es aus der Welt zu schaffen.

Wir Europäer sind recht ethnozentrisch, und das trifft auch für diejenigen von uns zu, die sich philanthrop weltoffen und internationalistisch gebärden. Wir bilden uns ein, daß unsere materiell reiche, aber sozial verarmte Kultur die Antwort für jedermanns Probleme darstelle, und mit aggressiver Werbung versuchen wir, diese Meinung aller Welt aufzuprägen, um unsere Produkte zu verkaufen. Aber wenn dann alle Welt an unsere Türen klopft, erschrecken wir.

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Die biologische Verhaltensforschung lehrt uns, daß wir Menschen auf prosoziale Führung angelegt sind (siehe S. 74 ff.). Fürsorgliche Dominanz akzeptieren wir, gegen repressive rebellieren wir, ausgenommen in Krisenzeiten, in denen wir auch eine straffere Führung vorübergehend akzeptieren. Die demokratischen Regierungsformen, an deren Verbesserung man arbeiten sollte, stellen besondere Anforderungen an die soziale und fachliche Kompetenz der Regierenden. Hier liegt noch manches im argen, sowohl was menschliche Führungsqualitäten und damit die Vorbildfunktion als auch was das fachliche Wissen betrifft. Die Vertreter aller Parteien müssen hier mehr Sorgfalt in der Auswahl ihrer Kandidaten für höhere politische Ämter walten lassen. Die Parteilaufbahn allein sollte dafür nicht mehr ausreichen.

Eine karrierebegleitende Ausbildung in Form eines noch im einzelnen festzulegenden Studium generale sollte Voraussetzung für höhere Ämter werden. Diejenigen Parteien, die dieser Forderung als erste entsprechen, werden sicher einen politischen Vorteil für sich verbuchen. Der Wähler akzeptiert auf die Dauer nicht, daß zum Teil höchst durchschnittliche Persönlichkeiten ohne besondere Fachkenntnisse abwechselnd Gesundheitsminister, Verkehrsminister, Wirtschaftsminister usw. werden. Sicher werden bei wichtigen Entschlüssen Experten gehört, aber auch deren Meinung muß man beurteilen und gegeneinander abwägen können, denn zu einem Problem gibt es meist mehrere begründbare Lösungsvorschläge.

Seit der Mensch gezwungen ist, in Großgesellschaften zu leben, kämpft er mit Anpassungsschwierigkeiten. Als Kleingruppen­wesen verfügt er über eine funktionierende Kleingruppenethik sowie über universale, ihm angeborene Strategien sozialen Umgangs. Das Leben in der Großgesellschaft stellt ihn vor die schon genügsam geschilderten Probleme, die eine Neuanpassung erfordern. Hier experimentieren wir Menschen seit einigen Jahrtausenden mit sozialen Techniken der Führung, mit repressiven und fürsorglichen Herrschaftsformen, mit kapitalistischen und planwirtschaftlichen Wirtschaftssystemen und einer Vielzahl zielsetzender Ideologien. Und wir befinden uns nach wie vor in diesem Experimentierstadium der Neuanpassung.

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Ein Experiment löst das andere ab, mit Umbrüchen, bei denen es mangels führender Autorität zu Erscheinungen sozialer Desorganisation kommt. Die wird von den nach Macht strebenden neuen Kräften sogar noch gefördert, denn im Chaos entsteht der dringende Ruf nach Sicherheit und Ordnung, den sie dann zu erfüllen versprechen. So passen wir uns über die Prozesse der Umbrüche und der darauf folgenden Reorganisation laufend an neue Erfordernisse an, in einem Prozeß des Experimentierens, oft nach dem Prinzip eines Versuch-und-Irrtum-Lernens. Etwas mehr vernunftbegründete Planung und etwas weniger Irrtum wäre erwünscht. Aber da wir noch weit davon entfernt sind, die vielfältige Vernetzung der Kausalketten zu verstehen, wird wohl auch das Experimentieren mit uns bleiben und damit auch der Irrtum. Wir müssen uns daher vor dogmatischer Festlegung hüten und den Weg zu möglichst rascher Fehlerkorrektur offenhalten.

Unser Jahrhundert war von besonderer Unruhe erfüllt. Feudalistische Systeme, Priesterherrschaften, parlamentarische Demokratien, Volksdemokratien, Diktaturen nationalistischer, militaristischer und sozialistischer Prägung, Vielvölkerföderationen und die verschiedensten Mischformen der eben genannten Systeme wechselten einander ab, und von allen gibt es zur Zeit noch Vertreter.

Aus den bisherigen Experimenten der Kulturen scheint hervorzugehen, daß die auf dem Prinzip der Fürsorglichkeit und fachlicher Autorität basierende Führung demokratischen Musters dem Bedürfnis der Menschen am meisten entspricht, wohl weil sie einer biologischen affiliativen Prädisposition entgegenkommt (siehe S. 71, 74 ff.).

In der menschlichen Geschichte wechseln Phasen der Stabilität mit solchen der Unruhe. Wir können verfolgen, wie Gruppen funktionierende soziale Organisationen aufbauen und wie diese wieder zerfallen und sich neu organisieren.

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Es würde sich lohnen, diese Anpassungsprozesse der Kulturgeschichte mit einer biologischen Frage­stellung zu studieren, um zu erfahren, was den Erfolg oder Mißerfolg der zahlreichen Experimente der Geschichte bedingt hat. Das könnte uns auch Aufschluß über die Modifikationsbreiten menschlichen Verhaltens in den verschiedenen Funktionsbereichen geben, denn diese werden in den Experimenten der Geschichte ausgelotet.

Gegenwärtig leben wir in einer Zeit besonderer Unruhe. Das ist sicher unter anderem auf den durch Übervölkerung verursachten Gedrängefaktor zurückzuführen. Die großen Menschenmassen sind schwer zu führen. Sie zerfallen in Interessengruppen, die miteinander konkurrieren und sich oft in Machtkämpfen gegenseitig zu zermürben trachten. Den Kampf aller gegen alle erkannte bereits Thomas Hobbes, der meinte, dies entspreche unserer Natur, weshalb Hobbes auf repressivdominante Regierungstechniken setzte. Unsere starken prosozialen Anlagen übersah er. Mein Optimismus, die weitere Entwicklung des Menschen betreffend, basiert auf dem Wissen um unsere fürsorglichen Anlagen. Sie haben es allerdings schwerer, sich in der anonymen Großgesellschaft durchzusetzen.

In Europa laufen gegenwärtig Prozesse sozialer Desintegration gleichzeitig mit Prozessen sozialer Reorganisation ab. Während ein vereinigtes Europa im Werden ist, arbeiten viele um die Macht kämpfende Interessengruppen emsig an der Zerstörung traditioneller Werte. Wir diskutierten die antinationale Propaganda bei gleichzeitiger Ideologisierung des Individualismus. Sie hat zu einer Schwächung der größeren Solidargemeinschaften der Staaten geführt und einem Egozentrismus Vorschub geleistet, der zur Erosion von Ehe und Familie führte. Die Unverbindlichkeit vieler moderner Menschen fördert mit der Anonymität das Mißtrauen und das rücksichtslose Streben nach dem eigenen Gewinn.

Mir bereitet die zunehmende Agonalität und Egozentrik auch im politischen Leben Sorge. Politische Führung und Meinungs­bildner sind aufgerufen, der Pflege des freundlich-kooperativen Verhaltens durch Vorbild und Werbung mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

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Die seit 1968 praktizierte radikale emanzipatorische Pädagogik hat nun über Jahre hinweg die Bindung der jungen Menschen an die Gesellschaft und ihre tragenden Werte zur Zielscheibe von Attacken gemacht35. Sie überlastet die jungen Menschen dabei mit einseitigem Wissen über die Schattenseiten der Welt und überfordert sie mit der unlösbaren Aufgabe, sich und die Welt radikal zu verbessern.

"Gesellschaftskritisch" und geschichtsfeindlich ziehen Moralisten heute gegen Leistung, Erfolg, Pflichterfüllung, Familie und Nation ins Feld. Was der Aufhebung menschlicher Fremdbestimmung, der Herrschaftsfreiheit dienen sollte, führte zu einem repressiven Gesinnungsterror, zu einer Sprachregelung, die Probleme verschleiert. "Politically correct Speech" wird gefordert. Wie gefährlich nahe das dem Orwellschen "Neusprech" ist und den unseligen Bücherverbrennungen in der Nazizeit und wie schädlich für die freie Meinungsäußerung, auf der unsere Demokratie basiert, das sehen die Sprachregler offenbar nicht.

Der Bevölkerungswissenschaftler Josef Schmid120) sieht in den politischen Moralisten eine Gefahr für die Demokratie. "Sie maskieren sich als Gutsein zur Welt und wirken um so zerstörerischer. Öffentliche Güter (Existenzsicherheit, Freizügigkeit, Großzügigkeit) werden so lange zum Schleuderpreis vergeben, bis sie eingeschränkt werden müssen oder verlorengehen. Staatliche Entscheidungen im linken Aversionsbereich (wie Nation, Volk, Souveränität, Industriegewinne, Rolle der Armee) werden torpediert, durch den Einbau von Gesinnungstests auf allen Entscheidungsebenen, um den Vorgang darin versanden zu lassen oder die Entscheidungsthematik derart zu sentimentalisieren, daß sie abgesetzt wird." Diese Feststellungen meint Schmid ausdrücklich nicht als ein Plädoyer für eine morallose Politik, sondern als Warnung vor Moral anstelle von Politik121).

Mittlerweile erfaßt der Destruktivismus viele Lebensbereiche: Gewalt ist eines der Hauptmotive der Unter­haltung, und Devianz wird zur Norm. Pornographen bekommen Literaturpreise. Wer in den blutigen Eingeweiden frisch geschlachteter Tiere wühlt, gilt als Künstler.

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Über die Destruktion hinaus wird nichts Neues angeboten. Eine orientierungslos und ohne Zukunftsperspektiven gelassene Generation kapselt sich mehr und mehr von der Gesellschaft ab, mit der sie sich nicht identifiziert. 

In den westlichen Bundesländern lebten 1992  9,8 Millionen Menschen in Einzelhaushalten. Die Zahl der allein lebenden Frauen im Alter zwischen 25 und 35 Jahren hat sich seit 1970 vervierfacht. Es wird von einer "Privatlebenskultur" gesprochen, der Individualismus wird gepriesen. In Wirklichkeit sind viele Menschen einsam, und sie werden noch einsamer, wenn sie ohne Kinder älter werden und mit Verbitterung erkennen, daß sie um ein Lebensglück betrogen wurden - weil sie sich oft genug selbst darum betrogen haben.

Wofür lebt man, was ist der Sinn des Lebens?  

Diese Frage stellte das Allensbacher Institut für Meinungsforschung99 den Bundesbürgern von 1974 an bis 1992. Die Antwort "Daß ich glücklich bin und viel Freude habe" erhielt 1974  48%, "Das Leben genießen" 27%, "Tun, was mein Gewissen mir sagt" rangierte mit 46 % knapp unter dem Glücklichsein und "An meinem Platz mithelfen, eine bessere Gesellschaft zu schaffen" mit 36% über dem "Das Leben genießen". Über die Jahre stieg die hedonistische Sinngebung an: "Glücklich sein" nannten 1992 63 % als Lebenssinn und "Das Leben genießen" 46 %. Die gewissens- und gesellschaftsorientierten Sinngebungen fielen dagegen ab (44% bzw. 30%). Man ist sehr mit sich und seinem Glück beschäftigt, und das entartet oft in einen gefühlskalten Egozentrismus.

Unser kurzzeitorientiertes Erfolgsstreben belastet auch unseren Umgang mit der Natur und führt über deren Schädigung langfristig zu Selbstschädigung. Wir "erobern" die Natur, "besiegen" sie im Kampf mit den Elementen. Die aggressive Terminologie, mit der wir im Grunde durchaus positive Leistungen beschreiben, weist auf die Motivationswurzeln hin, die sie speisen. Zurückhaltung war im Umgang mit der Natur für den alt-steinzeitlichen Jäger und Sammler nicht erforderlich.

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Im Gegenteil! Wenn er jede sich bietende Chance maximal nutzte, war dies für ihn förderlich. Mit seiner einfachen Technologie und bei der damals geringen Bevölkerungsdichte konnte er der Lebensgemeinschaft, die ihn trug, keinen bleibenden ökologischen Schaden zufügen.

Gelegentlich begegnet man der romantischen Vorstellung, der Mensch der Vorzeit habe natürlich und naturverbunden im Einklang mit der Natur gelebt und habe sie schonend behandelt. Das wäre schön, denn dann wären wir mit den entsprechenden Verhaltens­weisen der Rücksichtnahme begabt. Unser Problem ist aber, daß wir es nicht sind, daß wir eben keine "Bremsen" eingebaut haben. Wir lieben zwar die Natur aus archaischer Biotopprägung; unser ästhetisches Vorurteil findet Pflanzenwuchs und ein reiches Tierleben schön und ein Habitat, das dem der Savanne ähnelt, in dem sich die Menschwerdung abspielte. Aber wir beuten die geliebte Natur hemmungslos aus, und diese Untugend beobachten wir auch bei Naturvölkern, wenn wir ihnen dazu Gelegenheit geben. Nach der Einfuhr von Jagdgewehren bei den Eskimos mußten bald Schutzgesetze für Walrosse erlassen werden, denn die Jäger zeigten keinerlei Hemmungen, sondern knallten in ihrer Gier nach Elfenbein alles ab, was ihnen vor die Flinte kam.

Die Liebe zur Natur ist vorhanden, aber die Einsicht, daß man zu ihrer Erhaltung auch pfleglich mit ihr umgehen muß, entwickelte erst die bäuerliche Kultur. Die Entwicklung des Ackerbaus bestärkte die Liebe zum Land. Diese emotionelle Bindung förderte einen pfleglichen Umgang, denn der Bauer lernte aus Erfahrung, daß sorgloser Umgang das, was er als sein Land liebte, zerstörte.

Über Jahrhunderte waren unsere Bauern Landschaftspfleger und Kulturträger, und die Klein- und Mittelbauern sind es noch heute, anders als in vielen Gebieten der Neuen Welt, wo ihrer Heimat nicht weiter verbundene Menschen nur darauf aus sind, in kurzer Zeit herauszuwirtschaften, was möglich ist, ohne Rücksichtnahme auf das Land. Erosion und Versteppung sind die Folgen.

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Die Maximierungsstrategie bewährt sich im Wettkampf nur auf kurze Zeit, langfristig führt sie zur Katastrophe. Die Gefahr, daß die Landwirtschaft Europas durch den scharfen Konkurrenzdruck einen kulturellen Rückschritt von der pfleglichen zur exploitativen Landwirtschaft erleidet, ist gegenwärtig sehr groß.

 

Ich fahre täglich von meinem Haus in Söcking zu meinem Institut in Andechs31), beide in Oberbayern, südlich von München, durch eine Landschaft, die seit der keltischen Besiedlung, also seit gut zweitausend Jahren, unter dem Pflug ist. Den Kelten folgten die Römer, diesen die Bayern. Der kleine Ort Landstetten wird schon im 7. Jahrhundert urkundlich erwähnt.

Das Gebiet ist trotz der langen Bewirtschaftung gesund. Wiesen, auf denen Rinder und Kälber weiden, wechseln in der leicht hügeligen Landschaft mit Wäldchen und Feldern, die durch Hecken begrenzt sind. Das Land wurde liebevoll gepflegt und zeigt keinerlei Zeichen von Erosion, die Dörfer und Höfe strahlen eine Wohlhabenheit aus, die beglückt.

Kürzlich fuhr ich durch das herbstliche Spanien und Frankreich. Auch dort gibt es gesunde Landschaften, aber weite Landstriche sind in landwirtschaftliche Industriegebiete umgewandelt worden. Frisch umgepflügt lagen sie nach der Ernte da, so weit das Auge reichte, aufgerissen und braun, ohne einen Halm, ohne einen Strauch der Witterung preisgegeben. Die Bestellung mit schweren Maschinen verdichtet den Boden, die intensive Düngung tötet zwei Drittel der Bodenorganismen, die ihn wieder auflockern würden. Regen kann daher nicht mehr schnell genug eindringen. Bei heftigeren Regenfällen läuft das Wasser ab und nimmt Erdreich mit. Erosion ist die Folge. Glaubt man, so zweitausend Jahre lang wirtschaften zu können oder auch nur tausend? Ich vermute, daß es nicht einmal hundert Jahre sein werden. Aber wen kümmert das? In der Konkurrenz der europäischen Landwirtschaft zählen die Kosten. Wer umweltschonend in traditioneller Weise seinen Hof bewirtschaftet, ist unterlegen.

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Den traditionell ihr Land bewirtschaftenden Bauern der Alpen und des Alpenvorlandes droht Gefahr. Daß mit ihrer Verdrängung auch ein entscheidender Teil unserer Kultur stirbt, muß in Erinnerung gebracht werden. Die bäuerliche Kultur hat unser Leben geprägt. Vor zweihundert Jahren machte die Landbevölkerung noch 75% der Gesamtbevölkerung Deutschlands aus, 1982 nur noch 15,4%. Dennoch bleibt die bäuerliche Bevölkerung ein wichtiger Kulturträger, den wir nicht dem Raubbau und der Massentierhaltung opfern dürfen.

Hier muß europaweit umgedacht werden. Wir dürfen unseren Kontinent nicht eines kurzzeitigen Vorteils wegen auf Dauer in eine ökologische und kulturelle Wüste verwandeln. Wir müssen mehr auf die Zukunftssicherung bedacht sein, und zwar in allen Lebensbereichen. Geradezu unsinnig ist es zum Beispiel, unter dem Einsatz erheblicher finanzieller Investitionen teure Kohle zu fördern, wenn sie überall billig angeboten wird. In diesem Fall sollte man diese für Notfälle lebenswichtigen Vorräte dort lassen, wo sie sind.

Die Biologie als Lehre vom Leben ist eine Lehre des Wandels, der Dynamik ebenso wie der Kontinuität, ohne die es keine Entwicklung gäbe. Konfrontiert mit der schier unglaublichen Mannigfaltigkeit lebendiger Erscheinungen und selbstbewußt vordenkender Mitträger des Lebensstromes, stellt sich uns die Aufgabe, mit Verstand und Anstand zu überleben. Das heißt, auf Grund von Einsicht das zu tun, was dieses Überleben auf humane Weise sichert, mit der Bereitschaft, Fehler einschließlich der zielsetzenden Ideologien zu korrigieren, bevor die Korrektur durch die Selektion auf radikale und schmerzhafte Weise erfolgt.

 

*  Stern Magazin, 29.12.1995, S. 34.

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In einem Stern-Interview* stellte man dem amerikanischen Zukunftsforscher Dennis L. Meadows die Frage:

"Wenn die Entwicklung unserer Zivilisation jedoch weitergeht wie bisher, wird uns der unausweichliche Kollaps in die Steinzeit zurück­versetzen? Oder wird gar die ganze Menschheit ausgelöscht?"

Darauf erwiderte Meadows:

"Im schlimmsten Fall wird die Bevölkerungszahl, die Nahrungsmittel- und die industrielle Produktion auf das Niveau der Nachkriegszeit zurückgehen. Der Zusammenbruch, den wir voraussagen, wird nicht die menschliche Rasse ausrotten, sondern Auswirkungen zeigen wie etwa die irischen Mißernten durch die Kartoffelfäule in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Nur daß diesmal keine Neue Welt offensteht, wohin die Opfer auswandern können."

Nicht gerade beruhigend! Wie wäre eine solche Entwicklung zu vermeiden? Wir wiesen auf das Schlüssel­problem Übervölkerung hin. Die global bisher ungebremste Vermehrung der Menschheit hat ökologische und soziale Folgen: Umweltzerstörung und die Vergeudung nicht nachwachsender Ressourcen einerseits sowie die Bildung von Massen­gesellschaften mit der Auflösung traditioneller Sozialstrukturen andererseits. Dies wiederum bedingt eine generelle Zunahme auch der kollektiven Aggressivität und des Mißtrauens, der Angst der Menschen voreinander.

Die Natur hat uns für diese Probleme ungenügend ausgerüstet. Sie gab uns allerdings einige wichtige Hilfen an die Hand: unseren Intellekt, unsere fürsorgliche (prosoziale) Motivation und Verhaltensausstattung, und schließlich die sicher nicht ganz ungefährliche, aber grundsätzlich doch positiv zu bewertende Begabung, uns kämpferisch Herausforderungen zu stellen.

Wir sehen ein, daß es so nicht weitergehen kann — aber das Problem stellt sich für die meisten von uns als ein zukünftiges. Daß jetzt die Weichen gestellt werden und jetzt Korrekturen erfolgen müssen, wird nur von wenigen erkannt. Die meisten läßt das, was in hundert Jahren sein wird, kalt. Affektiv besetzt und damit zum Engagement wird etwas normalerweise erst dann, wenn der einzelne selbst betroffen ist, etwa weil er oder seine Angehörigen an den Folgen der Umweltvergiftung erkranken.

Anknüpfend an unsere familial-fürsorglichen Anlagen läßt sich jedoch ein affektiv besetztes, generationen­übergreifendes Überlebensethos anerziehen. Es empfiehlt sich in allen ähnlich gelagerten Fällen, Gefühlsmoral mit vernunftbegründeter Moral assoziativ zu verbinden.

Oswald Spengler meinte, Kulturen würden wie Einzelpersonen einem natürlichen Alterungsprozeß unterliegen. Das Abendland hätte den Höhepunkt seiner Entwicklung erreicht und würde nunmehr unaufhaltsam altern. Die jugendliche Dynamik der Gegenwart, die in allen sozialen Spannungen zum Ausdruck kommt, lehrt allerdings das Gegenteil. Kulturen müssen nicht altern, sie können sich immer von neuem regenerieren.

Die Biologie stellt mit der Evolutionstheorie dem Spenglerschen Pessimismus eine positive Alternative entgegen, die der Weiter- und Höherentwicklung. Gewiß, wir können auch zu Fall kommen, doch nichts ist unausweichlich, alles bleibt offen, und was ganz entscheidend ist: Wir steuern mit! Die Klippen, die vor unserem Kurs liegen, müssen wir aber wahrnehmen. Ideologisches Ausblenden der Wirklichkeit kann unser Schiffchen zum Scheitern bringen.

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Ende 

 

 

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