2. Stammesgeschichtliche Belastungen (1)
Eibl-1998
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Im Spätsommer 1975 lernte ich im westlichen Bergland von Neuguinea die Eipo kennen, eine Gruppe neusteinzeitlicher Gartenbauer, die zu jenem Zeitpunkt noch völlig ihren steinzeitlichen Traditionen gemäß lebten. Ihre Gärten brachen sie mit Grabstöcken um. Holz bearbeiteten sie mit Steinbeilen. Ihre Taro-Wurzeln säuberten und schnitten sie mit Schiefermessern. Ihre Kriege führten sie mit Pfeil und Bogen. Sie verzehrten gelegentlich auch ihre Feinde, zeigten also eine Reihe von archaischen Verhaltenszügen. Wulf Schiefenhövel, der wenige Monate zuvor mit einigen Kollegen den Erstkontakt mit dieser Gruppe aufgenommen hatte und der als Felddirektor die Forschungsarbeiten organisierte(2), hatte einen kleinen Landestreifen angelegt. wikipedia Wulf_Schiefenhövel *1943 in Siegen
Als nun die ersten Kleinflugzeuge landen konnten, fragte Schiefenhövel — er hatte mittlerweile die Sprache der Eipo gelernt —, ob nicht zwei der Männer einmal ihre Gegend von oben aus der Luft betrachten wollten (Schiefenhövel 1993). Zwei Mutige fanden das interessant und sagten ja. Allerdings meinten sie, er sollte die Türen aushängen. Sie wußten, daß dies möglich war, denn bis zur Errichtung des Landestreifens war die Forschergruppe durch Abwurf versorgt worden. Die Männer gaben vor, dann besser sehen zu können. Als es zum Start kam, schleppten sie in ihren Armen Felsbrocken herbei. Befragt, wozu, sagten sie: Die wollen wir jetzt, wenn wir über das Fa-Tal fliegen, unseren Feinden aufs Dorf werfen!
Da haben Menschen, die bis dahin Metalle nicht kannten, die Flugzeuge für Boten aus einer anderen Welt und uns selbst als Geister betrachtet hatten, nun zum erstenmal Gelegenheit, diese Werke der Technik zu benutzen und ihre Welt aus einer neuen Perspektive zu betrachten — und was kommt ihnen in den Sinn? Wie praktisch doch diese Instrumente gegen ihre Feinde einzusetzen wären!
Denken die Eipo also modern oder denken wir gar archaisch? Auf jeden Fall denken wir nicht sehr viel anders.
1891 schaffte Otto Lilienthal die ersten Gleitflüge über 300 Meter, 1896 stürzte er dabei ab. 1900 experimentierten die Gebrüder Dayton und Wilbur Wright mit einem Doppeldecker, 1901 gelangen ihnen die ersten Gleitflüge bis 100 Meter. 1903 bauten sie einen Motor in ihren Doppeldecker ein, der zwei Luftschrauben antrieb. Sie schafften nun schon vier Geradeausflüge bis zu einer Minute Dauer, im folgenden Jahr flogen sie die ersten Bögen und im Jahr darauf die erste größere Strecke über 45 Kilometer. 1908 stellten sie ihr Flugzeug bereits in England vor. Es dauerte nur noch wenige Jahre bis zum Ersten Weltkrieg, und die Flieger bekämpften sich in der Luft. Kaum hatte sich der Traum des Ikarus erfüllt, wurde auch schon eine Waffe daraus.
Kein wesentlicher Unterschied also zwischen unserer und der Mentalität der Eipo. Aber was liegt dieser Gemeinsamkeit zugrunde? »Wer lange zusah, hat erfahren: nur Waffen ändern sich, die Menschen nicht«, schreibt Rolf Hochhuth im Sommer 14 — Ein Totentanz im Prolog Toteninsel. Es sind wohl alte, affektiv besetzte Verhaltensdispositionen, die hier eine Rolle spielen. Sie werden zum Problem, je größer das Machtpotential ist, das uns die technische Zivilisation in die Hände gibt.
Wir müssen uns zunächst einmal mit dem Gedanken vertraut machen, daß Individuen mit steinzeitlicher Emotionalität heute in politischen Führungspositionen das Geschick von Supermächten und damit unter Umständen das von Abermillionen Menschen bestimmen. Und nicht nur die Vernunft und das Engagement der Führenden für Staat und Gesellschaft spielen bei ihren Entscheidungen eine Rolle. Auch Verstimmungen, Ehrgeiz oder Liebesaffären haben politische Auswirkungen, und das sicher nicht immer zum Wohle der Allgemeinheit.
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Unser soziales Verhalten ist in weit größerem Umfang durch stammesgeschichtliche Anpassungen mitbestimmt als unser Verhalten gegenüber der außerartlichen Umwelt. Angeboren sind uns zunächst die unserem sozialen Verhalten zugeordneten und unser konkretes Verhalten subjektiv entscheidend beeinflussenden Gefühlsregungen, also Liebe, Haß, Angst und Eifersucht. Angeboren ist uns ferner das Bedürfnis nach Abgrenzung in Gruppen, das Streben nach Dominanz und manch anderes mehr (siehe Kapitel »Vorprogrammierungen«).
All das, was als Disposition, Antrieb oder konkrete Verhaltensanweisung unser soziales Verhalten mitbestimmt, hat sich in jener Zeit entwickelt, in der unsere Vorfahren als altsteinzeitliche Jäger und Sammler in Kleingesellschaften lebten, in denen jeder jeden kannte. In jener Zeitspanne, die 98 % unserer Geschichte ausmacht, bildeten sich alle Anpassungen, die unsere Auseinandersetzungen mit der außerartlichen Umwelt ebenso wie unser soziales Miteinander in gewisser Weise gegen allzu große Modifikabilität und damit auch gegen Irrtümer absichern.
Viele Überlebensstrategien, die auch heute noch zu der uns angeborenen Aktions- und Reaktionsausstattung gehören, erfüllen ihre Angepaßtheit in der Gegenwart aber nur noch zum Teil, ja sie erweisen sich in manchen Situationen sogar als stammesgeschichtliche Belastung. Die explosive kulturelle Entwicklung änderte die sozialen und ökologischen Umweltbedingungen. Wir schufen uns eine Umwelt, auf die wir biologisch weniger gut vorbereitet sind und in der bestimmte uns angeborene Verhaltensdispositionen zu Problemanlagen wurden.
Die Biologen wissen, daß die Phänomene des Lebens und insbesondere die des menschlichen Verhaltens durch ein komplexes Zusammenwirken von Ursachen zustande kommen.
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Im Alltag lassen sich aber zunächst Hauptursachen feststellen, und diese schnell zu erkennen, darauf wurden wir selektiert — denn wie viele Ursachen auch immer zusammenkommen müssen, damit ein Stein geworfen wurde, überlebenswichtig ist, daß ich rechtzeitig erkenne, daß da jemand einen Stein geworfen hat. Diese Selektion auf die Wahrnehmung einer Ursache verbaut uns sehr oft die Einsicht in die Komplexität der Phänomene. Das monokausale Denken ist unter anderem eines der Handikaps, das auf unserer stammesgeschichtlichen Vorprogrammierung beruht.
Andere Handikaps betreffen unser Sozialverhalten, das in weit umfangreicherem und auch bedeutenderem Ausmaß durch angeborene Verhaltensdispositionen kontrolliert wird als bisher allgemein angenommen. Dasselbe gilt für unsere Gefühlsregungen, für unsere Programmierung auf den Wettlauf im Jetzt und für unser ausgeprägtes Machtstreben: Alle erweisen sich in ihrer unbewußten Dynamik heute als höchst gefährlich. Ihre Auswirkungen sind vielfältig, im politischen wie im wirtschaftlichen Bereich, in den zwischenmenschlichen Beziehungen ebenso wie in unserem Verhalten zur Umwelt. Insbesondere das Kurzzeitdenken und das Machtstreben werden in einer fatalen Allianz leicht zu einer unsere Zukunft gefährdenden Falle. Es ist in dem vorliegenden Buch mein Anliegen, diese Problemanlagen zu erörtern und einige Vorschläge zur Problemlösung in Form von Thesen zu machen.
Zunächst scheint es mir wichtig, auf die verschiedenen Anlagen einzugehen, denen wir unseren erstaunlichen, wenn auch leider oft blutig errungenen Erfolg verdanken. Das gilt in erster Linie für jene Eigenschaften, die uns zum Kulturwesen von Natur machen und denen wir vor allem unsere intellektuelle und technische Souveränität über die Natur verdanken und die uns schließlich befähigen, daß wir uns Ziele setzen. Danach werde ich unsere sozialen Anlagen vorstellen, den Werdegang der Großgesellschaft diskutieren und auf Grenzen der menschlichen Belastbarkeit hinweisen, die, wie die Geschichte der Revolutionen lehrt (Lasky 1976), von Utopisten häufig übersehen werden.
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Die beiden Säulen menschlicher Sozialität sind das Dominanzstreben und die auf Empathie und Fürsorglichkeit begründete Prosozialität. Letztere, der individualisierten Brutfürsorge entstammend, nutzen wir kulturell, um über Indoktrination und Symbolidentifikation Großgesellschaften zu Solidargemeinschaften zu binden, die als Stämme, Ethnien und Nationen auftreten.
Wir werden in diesem Zusammenhang noch einmal das ethnische Phänomen und in Verbindung damit das heutige Migrations- und Flüchtlingsproblem diskutieren, das aus der in einigen Gebieten der Erde rasanten Bevölkerungsvermehrung resultiert. Auch bei diesem brisanten Thema behindert das Kurzzeitdenken, das sich hier mit einem oft wenig reflektierten Bedürfnis, anderen zu helfen, und mit kurzfristigen wirtschaftlichen und parteipolitischen Interessen verbindet, eine vernünftige, den inneren Frieden sichernde Handhabung des Problems (zu dem ich übrigens bereits 1988 und 1994 kritisch Stellung genommen habe). Zuletzt werde ich die wichtigsten Aussagen und Vorschläge für die Umsetzung eines generationenübergreifenden Überlebensethos in Thesen zur Diskussion stellen (S. 179 ff.).
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Wer sind wir?
1897 malte Gauguin auf Tahiti eines seiner großartigsten Gemälde. In der üppigen tropischen Landschaft sieht man Menschen verschiedenen Alters bei den verschiedensten Tätigkeiten. Ein Kind ißt einen Apfel, eine Alte sitzt und stützt ihr Gesicht auf ihre Hände, ein junges Mädchen ruht neben ihr, den Blick versonnen in die Ferne gerichtet. Rechts im Bild eine Gruppe von drei Frauen mit einem Säugling — ein Bild voll verhaltener Lebendigkeit, das zur Besinnlichkeit einlädt. Ein Bild auch, auf dem der Blick des Betrachters forschend wandern kann. In der linken oberen Ecke stehen die Fragen: »Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?« — D'où venons-nous? Qui sommes-nous? Où allons-nous?
In diesem malerischen Vermächtnis Gauguins werden die Grundfragen menschlichen Daseins angesprochen, die uns bewegen, wohl seit wir denken können.
Zu diesen drei Fragen kann die Biologie als Lehre vom Leben grundlegende Erkenntnisse vermitteln. Wir wissen heute um unser stammesgeschichtliches Gewordensein. Wir wissen, daß jeder auf der Erde lebende Organismus, gleich ob Einzeller oder Vielzeller, durch eine ununterbrochene Ahnenkette mit Vorfahren verbunden ist, die bereits vor etwa 2,5 Milliarden Jahren auf dieser Erde lebten. Wir wissen um die formenden Kräfte der Evolution, um Mutation, Selektion und die Mechanismen der Weitergabe genetisch kodierter Information.
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Mit dem Wissen um das stammesgeschichtliche Gewordensein haben die Biologen auch ein Denken über längere Zeiträume in die Wissenschaften vom Menschen eingeführt; sie fragen nicht mehr nur nach dem Gestern, Heute und Morgen, sondern auch nach dem Übermorgen. Das heißt, sie denken in weiteren Zeiträumen voraus und erwägen auch die Chancen für unser weiteres Überleben in hundert, ja in tausend Jahren. Sie schätzen diese im allgemeinen durchaus positiv ein. Das mag angesichts der gegenwärtigen Krisen und der allgemeinen Orientierungslosigkeit manchem allzu optimistisch erscheinen, aber die Biologen meinen ja nicht, daß es mit Gewißheit ohne weitere Unfälle und Katastrophen abgeht. Dennoch geben sie uns gute Chancen, solche Katastrophen wenn schon nicht ganz, so doch dem Ausmaß nach begrenzen zu können. Das will ich im folgenden begründen.
Wenden wir uns dazu der zweiten Frage Gauguins zu: »Wer sind wir?« Sicher, wie gesagt, Wesen mit einer langen Stammesgeschichte und, zoologisch definiert, Wirbeltiere, Säugetiere und schließlich Primaten. Desmond Morris (1968) charakterisierte uns dann weiter als »nackte Affen«; er wollte schockieren und das allgemeine Bewußtsein auf die Tatsache unseres Primatenerbes richten. Aber die Vertierung des Menschen, die fast klischeeartig immer wieder in Buchtiteln vorgenommen wird, suggeriert ein falsches Menschenbild, das über den einseitigen Hinweis auf unser Tiererbe das spezifisch Menschliche fast als nebensächlich abwertet. Ich nehme daher Anstoß an popularisierenden Darstellungen über tierisches und menschliches Verhalten, in denen ein wutverzerrtes Affengesicht neben einem wutverzerrten Menschengesicht den Buchumschlag schmückt. Nicht, daß es da nichts Vergleichbares gäbe, doch schon ein altes chinesisches Sprichwort, das Konrad Lorenz oft zitierte, lautet sinngemäß: »Es ist zwar alles Tier im Menschen, aber keineswegs aller Mensch im Tier.«
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Um das spezifisch Menschliche immer wieder zu betonen, habe ich verschiedenen Kapiteln meiner Humanethologie Mottos vorangesetzt, die das ansprechen, so vor das erste Kapitel die Worte Goethes: »Das Tier wird durch seine Organe belehrt, der Mensch belehrt die seinigen und beherrscht sie« und die von Arnold Gehlen: »Ob sich der Mensch als Sohn Gottes versteht, oder als arrivierten Affen, wird einen deutlichen Unterschied in seinem Verhalten zu wirklichen Tatsachen ausmachen, man wird in beiden Fällen auch in sich sehr verschiedene Befehle hören.« Über das Kapitel, das sich mit dem Sexualverhalten beschäftigt, stellte ich als Motto ein Liebesgedicht von den Trobriandern und ein Gedicht von Storm. Das Scientific American schmückte einen Artikel zum gleichen Thema dagegen vor nicht allzulanger Zeit mit einem flirtativ lächelnden Paar, denen man jeweils einen Gorillakopf wie eine Perücke übergestülpt hatte. Derartiges vermittelt einen falschen Eindruck, und es erschwert das Gespräch mit den Kulturwissenschaftlern, das ich suche und pflege und dessen alle bedürfen, die sich mit Gegenwartsfragen befassen.
Es gibt heute so etwas wie ein popularistisches Bemühen, am »Lack« des Menschen zu kratzen, das ich für absolut unnötig halte, da es der Erkenntnis nicht förderlich ist, denn auch dieser Lack ist ein Stück Evolution. In seinem neuen Buch Illusion Fortschritt bemüht sich Stephen Jay Gould aufzuzeigen, daß der Mensch, statistisch gesehen, nichts anderes sei als einer der Wurmfortsätze des Variationsspektrums der Arten im vielgestaltigen Reich der Bakterien und Einzeller, die die eigentlichen Herrscher dieses Planeten seien. In seiner Besprechung des Buches (in der Süddeutschen Zeitung vom 7. Mai 1998) folgt Stephen Wackwitz zunächst der These von der Unbedeutendheit des Menschen, dem Wurmfortsatz in der das Leben repräsentierenden Mikrobenwelt: »Man entwickelt so etwas wie eine staunende Achtung angesichts des überlebenstüchtigen, gestaltenreich und zahllos wimmelnden Lebensdurchschnitts, als dessen entlegener Sonderfall und evolutionsgeschichtlicher Ausrutscher wir uns begreifen müssen.«
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Wackwitz schreibt dann weiter, daß Gould »mit leichter Hand, aber zugleich gründlich« demonstriere, »daß die Fortschrittsidee Darwins seinem Erklärungsprinzip der natürlichen Zuchtwahl erst nachträglich und mit so etwas wie schlechtem wissenschaftlichem Gewissen aufmontiert wurde«.
In Goulds Aussagen werden, wie ich meine, verschiedene Bewertungsmaßstäbe und Beobachtungen durcheinandergebracht. Die Bakterien mit den unzähligen anderen einzelligen Organismen bilden in der Tat, was Organismenzahl und Biomasse angeht, ein kaum abzuschätzendes Vielfaches der Menschenzahl und der Biomasse Mensch. Sieht man nur die Masse und bewertet man danach den Erfolg, dann spielen wir in der Tat neben den Bakterien nur eine untergeordnete Rolle. Diese Gewichtung nach »Masse als Erfolg« erfolgt jedoch nur aufgrund eines unserer menschlichen Ordnungsprinzipien. Wir bewerten auch — ebenfalls nach menschlichem Er-Messen — nach Differenziertheit.
Ein Archaebacterium ist nun sicher bereits ein biochemisches Wunder, aber es ist doch an Differenziertheit nicht mit einem Menschen zu vergleichen, der in seiner Wahrnehmung viele Facetten der Wirklichkeit zu spiegeln vermag, und zwar so weitgehend einer außersubjektiven Wirklichkeit entsprechend, daß wir Sonden zu fernen Planeten senden können, die dort als unsere künstlichen Organe (Hass 1970) Aufgaben erledigen. Wir erleben und betrachten bewußt, über uns und die Welt nachsinnend. Die sich überstürzende Entwicklung birgt für uns sicher viele heute noch gar nicht erahnbare Risiken, aber ebenso unvorhersehbare Chancen. Bakterien sind zahlreich — meinetwegen: vorherrschend — und wie alles Lebendige höchst rätselhaft, aber im Hinblick auf ihre Differenziertheit dürfen sie sicher nicht als Gipfelpunkt des Evolutionsgeschehens gelten.
Es gereicht Stephan Wackwitz zur Ehre, daß er sich im Verlauf seiner Besprechung dann doch noch von der eher quantitativen Bewertung Goulds absetzt. Er schreibt:
»Es mag ja sein, daß wir biologisch-statistisch gesehen nicht die Krone der Schöpfung sind. Offenbar ist dieser Planet wirklich das Herrschaftsgebiet der Bakterien. Bloß kommt man, je länger, verblüffter und empörter man Goulds spannendes Buch liest, immer weniger umhin zu fragen: gibt es denn wirklich nur den biologisch-statistischen Blickwinkel? Ist denn ein bißchen humaner Ethnozentrismus nicht die richtigere Perspektive — für uns?«
Ich kann Stephan Wackwitz beruhigen: Goulds Sicht ist nicht die biologische Sicht, sondern eine in Kollegenkreisen eher seltene Sehensweise. Die meisten Biologen unterscheiden verschiedene Differenzierungsstufen und werten diese entsprechend nach »höher« und »nieder«. Im Vergleich zu einem Bakterium ist eine Orchideenblüte schon etwas fast Anbetungswürdiges und ein Menschenkind, das die ersten Fragen stellt, ein kleines Wunder. Mit viereinhalb Jahren überraschte mich mein Sohn einmal mit der Frage: »Wie kommt es, daß ich mit meinen kleinen Augen eine so große Welt sehen kann?«
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Der Mensch als Generalist und weltoffenes Neugierwesen
Im 18. Jahrhundert gab der schwedische Botaniker Carl von Linne uns Menschen den wissenschaftlichen Namen Homo sapiens, was eine gewisse Zuversicht ausdrückte. Es gibt mittlerweile eine Fülle von weiteren Benennungen, die auf charakteristische Facetten des Menschen Bezug nahmen. Arnold Gehlen (1940) sprach vom Menschen als dem »riskierten Wesen«, dem »Wesen auf des Messers Schneide«, dem »weltoffenen Neugierwesen« und schließlich auch vom »Mängelwesen«.
Letzteres bezieht sich auf unsere biologische Ausstattung, von der Herder meinte, sie würde uns nur unzureichend für den Lebenskampf rüsten. Das trifft aber nicht einmal für die körperliche Ausstattung zu; bereits in ihr erweist sich der Mensch den meisten Tieren, die auf der Erde leben, überlegen. Konrad Lorenz versuchte das an einem fingierten Wettkampf zu veranschaulichen. Er machte sich erbötig, aus irgendeinem Büro einen dreiundzwanzigjährigen Mann auszuwählen, keineswegs einen Sportler, sondern einen normalen, durchschnittlich gesunden Menschen. Seine Wettkampfgegner sollten sich aus dem Tierreich Vertreter beliebiger Arten auswählen können — im sportlichen Wettkampf würde keiner imstande sein, den Menschen zu besiegen. Die Forderungen lauteten: 100 Meter sprinten, mit Kopfsprung in einen See eintauchen, aus vier Metern Tiefe gezielt drei Gegenstände hochtauchen, eine Strecke von vielleicht 100 Metern ans andere Ufer schwimmen, an einem Seil fünf Meter hochklettern und anschließend zehn Kilometer weit marschieren.
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Es gibt im Tierreich Spezialisten, die in den einzelnen Leistungen besser sind als wir: Eine Gazelle läuft schneller, ein Delphin schwimmt schneller, ein Affe klettert besser. Aber keine Tierart ist in allen diesen Bereichen so gut wie wir. Und trainiert jemand seine sportlichen Fähigkeiten, dann ist er sogar in all diesen Leistungen erstaunlich gut. Der Mensch ist, in der Sprache der Biologen, ein Generalist, fähig zu vielseitiger Anpassung. Auch seine Sinne weisen ihn als Generalisten aus.
Der Begriff »Mängelwesen« bezieht sich auf die Tatsache, daß der Mensch zum Überleben Kultur benötigt. Er muß sich bekleiden, er braucht Waffen, ein schützendes Heim, das Feuer. Ohne all dies wäre er sicher verloren. Aber die Kultur, definiert als der gesamte Schatz des über Vorbild und Lehre vermittelten Erfahrungswissens, gehört zur Menschennatur so wie das Netz zur Spinne und der Termitenbau zur Termite. Der körperliche Generalist ist ein Kulturwesen von Natur, er ist dazu mit einem hochentwickelten Zentralnervensystem ausgerüstet, das Informationen speichern und intelligent verarbeiten kann und das vor allem über Strukturen verfügt, die es ihm erlaubten, Sprache zu erwerben und sich mit Hilfe dieser Wortsprache über Vergangenes, Zukünftiges und Abwesendes zu unterhalten. Der Begriff »Mängelwesen« ist also irreführend.
»Weltoffenes Neugierwesen« charakterisiert dagegen eine wichtige Facette unseres Wesens. Die Menschen zeichnet in der Tat eine gewisse Offenheit aus. Wir sind bereit zu lernen, ja Neugier ist einer unserer hervorragenden Wesenszüge. Uns kennzeichnet der Drang, aktiv neue Situationen aufzusuchen, um neue Fertigkeiten zu erproben.
In einem seiner Fernsehfilme hat Hans Hass diese Neugier anschaulich vermittelt. Er versetzte sich dazu in die Rolle eines Beobachters von einem anderen Stern und sieht zum Beispiel aus größerer Distanz in Zeitrafferaufnahmen, wie die Besucher der Akropolis in Athen ameisenhaft die Treppen hinauf- und hinabwimmeln.
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Der Besucher von einem anderen Stern fragt sich: »Was tun diese Wesen hier? Suchen sie Nahrung?« Und er muß feststellen: Offensichtlich nicht. »Handelt es sich um Paarungsplätze, an denen sich die Geschlechter zusammenfinden?« Mag sein, daß der eine oder die andere bei dieser Gelegenheit eine Beziehung anbandelt. Aber der Beobachter wird feststellen, daß auch dies nicht der Hauptzweck ist, zu dem sich so viele verschiedene Menschen an einem Ort zusammenfinden. Nein, sie kommen, weil sie neugierig sind und sich die Akropolis anschauen wollen.
Eine weitere Einstellung zeigt, ebenfalls im Zeitraffer, das Treiben an einem Skihang. In rastloser Folge werden Menschen hinauftransportiert, und ebenso rastlos fahren sie in Serpentinen wieder den Hang hinab. Abermals fragt der Beobachter vom anderen Stern: »Was suchen die hier?« Beobachtet er lange genug, dann wird er entdecken, daß die Menschen diese Aktivitäten um ihrer selbst willen ausüben. Bei weiteren Studien wird er darauf kommen, daß die Menschen einen starken Drang verspüren, neue Situationen zu erkunden, neue Informationen aufzunehmen und im Dialog mit ihrer Umwelt neue Fertigkeiten zu erwerben und ihre Leistungsgrenzen auszuloten. Der Mensch ist von Neugier geradezu besessen. Er wartet nicht darauf, daß ihm Informationen zugeführt werden, sondern sucht von sich aus neue Situationen auf, um daraus zu lernen. Das tun zwar auch höhere Säuger im Spiel, aber die Neugierphase beschränkt sich dort meist auf eine kurze Jugendzeit. Beim Menschen bleibt diese jugendliche Eigenschaft bis ins hohe Alter erhalten.
Wieder eine andere Zeitrafferaufnahme zeigt eine alte Frau am Strand, die mit den Wellen spielt. Barfuß, den Rock mit beiden Händen leicht geschürzt, steht sie am Spülsaum des Meeres. Immer wenn die Wellen zurückweichen, geht sie ein bis zwei Schritte vor und dann, wenn die Wellen heranlappen, wieder zurück. In der Zeitraffung sieht das wie ein Tanz aus. Selten hat mich eine Aufnahme so berührt wie diese Szene der verspielten Alten.
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Neugier ist ein persistierendes Jugendmerkmal. Sie erhält uns jung, wenn wir der Welt zugewandt bleiben. Sie ist ferner sicher ein — wenn auch nicht der alleinige — Antrieb zur Forschung. Das Streben nach Erkenntnis kann auch aus dem Wunsch, das Leben der Menschen zu verbessern oder Macht zu gewinnen, motiviert sein. Aber Neugier ist wohl meist mit dabei.
Wir Menschen sind aktiv Lernende; wir sind offen, Informationen aufzunehmen, wenn wir nicht aus ideologischen Gründen diese spezifisch menschliche Bereitschaft unterdrücken. Das geschieht tatsächlich bisweilen - wie ja der Mensch überhaupt dazu neigt, die Wirklichkeit auszublenden, wenn sie ihm ideologisch nicht in den Kram paßt.
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Werkzeugkultur und sachliches Denken
Bereits höhere Affen lernen und geben Erfahrungen und Erfindungen weiter, indem sie als soziales Modell anderen und insbesondere ihren Jungen bestimmte Fertigkeiten vorführen. So lernten Rotgesichtsmakaken, die man auf einer japanischen Insel mit Süßkartoffeln fütterte, diese in Salzwasser zu waschen — ein Weibchen kam darauf, andere Tiere ahmten das Kartoffelwaschen nach, und seit dieser Zeit hält sich die Erfindung als lokale Tradition. Auch die uns nächstverwandten Schimpansen entwickeln lokale Traditionen. In einem Gebiet, verstehen sie es zum Beispiel, Palmnüsse mit Steinen aufzuknacken, in anderen Gebieten sind sie noch nicht darauf gekommen.
Entscheidend ist allerdings, daß ein Affe es von einem anderen immer absehen muß, wie man so etwas macht. Der Mensch kann seinem Kind dagegen sagen: »Wenn du Nüsse aufknackst, nimm ein Stück Holz oder einen Stein als Unterlage und schlag mit einem anderen Stein auf die Nuß — nicht zu fest — und paß auch auf, daß du dir nicht auf deine Finger schlägst. Morgen werden wir das üben.« Der Mensch kann so objektunabhängig tradieren — durch die Aufrichtung wurden seine Hände frei zum Werkzeuggebrauch und zur Werkzeugherstellung.
Wir sprechen im Alltag von Natur und stellen ihr als Kultur all das gegenüber, was der Mensch schafft: die Werkzeuge des Überlebens, wie Bekleidung, Waffen und Hausgeräte, ebenso wie die Städte, Fabriken und Universitäten, aber auch etwa Musikinstrumente oder Bücher.
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Werkzeuge sind künstlich hergestellte Organe. Sie haben den Vorteil, daß sie nicht mit unserem Körper verwachsen sind. Nimmt jemand eine Schaufel, dann wird er vorübergehend zum Spezialisten für Graben, aber anders als der Maulwurf, der das zeitlebens bleibt, weil er mit seinen Grabschaufeln verwachsen ist, kann der Mensch seine Schaufel ablegen und kurz danach ein Ruder ergreifen oder sich in ein Motorboot setzen und zum Spezialisten für Fortbewegung im Wasser werden. Setzt er sich in ein Flugzeug, dann wird er zum Flieger. Hans Hass hat in mehreren Büchern auf die Bedeutung dieser künstlichen Organe, zu denen auch die vom Menschen geschaffenen Organisationen gehören, hingewiesen, und er bemerkt treffend, daß der Mensch dadurch zum Spezialisten für vielseitige Spezialisierung wird (Hass 1970,1994).
Werkzeuggebrauch und Werkzeugherstellung zogen darüber hinaus geistige Entwicklungen nach sich, die der Freiheit des menschlichen Denkens zugrunde liegen und die uns eine objektive Betrachtung der Welt — relativ entlastet von den Fesseln der Emotionalität — gestatten. Diese Entwicklung vollzog sich bei den Säugetieren in zwei Schritten. Im Spiel der jungen Säuger beobachten wir zum erstenmal, daß Tiere ihr Handeln von den im Ernstfall triebmotivierte Verhaltensabläufe begleitenden Affekten abkoppeln können (Eibl-Eibesfeldt 1950,1987). Befreit vom Triebdruck, schaffen sie sich so ein entspanntes Feld, in dem sie sich dialogisch mit ihrer Umwelt auseinandersetzen können, mit Artgenossen und Umweltobjekten experimentieren und das eigene Bewegungskönnen erproben und perfektionieren können. Sie können ferner »neugierig« Informationen aufnehmen.
Diese Fähigkeit fiel mir auf, als ich als Student auf der Biologischen Forschungsstation Wilhelminenberg bei Wien einen kleinen Dachs aufzog, der, als er abgestillt war, mein Spielgefährte wurde. Er lebte frei unter meiner Baracke am Rande des Wienerwalds. Am späteren Nachmittag besuchte er mich, und wir spielten eine Weile auf einer abfallenden Wiese in der Nähe meiner Baracke.
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Der Dachs forderte mich dann gerne zu Kampfspielen auf. Mit übertrieben hohen Galoppsprüngen — alle Haare gesträubt — kam er angerannt, um kurz vor mir abrupt auf steifen Beinen abzubremsen. Er schüttelte seinen Kopf und hüpfte seitlich vor mir hin und her, dann machte er plötzlich kehrt und lief eilig wie auf der Flucht davon. In 10 oder 15 Metern Entfernung hielt er, drehte sich um und wiederholte das Hüpfen und Kopfschütteln. Ging ich darauf ein, indem ich auf ihn zulief, dann entwickelte sich ein Verfolgespiel, bei dem wir öfter die Rollen des Verfolgers und Verfolgten tauschten, und es gab auch eingeschaltete kleine Balgereien, bei denen der Dachs mich packte und schüttelte. Er zeigte dabei deutliche Beißhemmung, die aber auf Dachsschwarte abgestimmt war, so daß die spitzen Zähne des öfteren auf meinen Armen und Beinen Kratzer und blutunterlaufene Stellen hinterließen. Daß er nicht ernsthaft zubiß, war aber offensichtlich.
Die Tatsache, daß der Dachs im Spiel Verhaltensweisen des Kämpfens und Flüchtens beliebig wechselte, fiel mir auf. Im Ernstfall kämpft ein Tier, bis es siegt oder verliert. Verliert es, dann flüchtet es und bleibt dabei, bis es sein Fluchtziel erreicht hat. Offenbar werden im Spiel die Verhaltensweisen des Kämpfens und Flüchtens unabhängig von den ihnen normalerweise vorangesetzten zentralnervösen Instanzen aktiviert und stehen damit dem Tier für sein spielerisches Experimentieren zur Verfügung.
Arnold Gehlen, dem ich meine Dachsarbeit 1950 schickte, meinte zu diesen Beobachtungen, sie hätten ihn besonders interessiert, da er die Fähigkeit, Handlungen von den Antrieben abzulösen, bisher als typisch menschliche Eigenschaft betrachtet habe. Im tierischen Spiel könne man allerdings wirklich die Vorläufer zu dieser beim Menschen in besonderer Weise entwickelten Fähigkeit sehen.
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Die Unterschiede zwischen Spiel und Ernst waren bei meinem Dachs dramatisch. Er konnte auch ärgerlich werden, zum Beispiel wenn man ihm das Futter wegnehmen wollte. Dann brummelte er und biß zu, und zwar fest. Außerdem gab es gleitende Übergänge von Spiel zu Ernst, oft mischte sich echte Kampfappetenz ins Spiel. Auch lehrt das Spiel verschiedener Säuger, daß es artspezifisch vorgegebenen Verhaltensdispositionen folgt. Fluchttiere wie Eichhörnchen praktizieren Fluchtspiele. Wenn zwei an einem Baumstamm miteinander spielen, dann versucht jedes, den Baumstamm zwischen sich und den anderen zu bringen, so wie sie in Deckung um den Stamm laufen, wenn ein Raubvogel auftaucht. Schnell huschen sie voreinander um den Baumstamm herum, immer wieder die Richtung wechselnd, und keines ist dabei Verfolger. Jedes Eichhörnchen flüchtet gewissermaßen spielerisch vor dem anderen, es kommt nicht auf das Einholen an (Eibl-Eibesfeldt 1951).
Ganz anders bei jagenden Raubtieren wie Mardern, die im Spiel auch das Einholen und Fangen von Beute praktizieren. Zicklein verteidigen im Spiel gerne einen Platz. Dazu suchen sie sich oft einen Felsblock oder einen hohen Baumstrunk, auf dem sie sich aufstellen, um von oben herab nach andrängenden Spielpartnern zu stoßen. Alles natürlich im Spiel ohne den im Ernstfall diese Verhaltensweisen begleitenden Affekt. Allerdings gibt es, wie gesagt, auch gleitende Übergänge vom Spiel zum Ernst, und was bei einem zahmen Kaninchen als spielerische Flucht beginnt, kann durchaus in ernstgemeinter Flucht enden, ebenso wie Spielkämpfe von Raubtieren gelegentlich eskalieren können. Sie werden dann allerdings meist über aggressionshemmende Signale wie Notrufe beendet.
Für die Spiele des Menschen gelten die gleichen Regeln wie für das Spiel der Tiere. Angst und Wut, die als Ernstaffekte eine kämpferische Auseinandersetzung begleiten, werden im Spiel nicht oder nur in geringem Ausmaß aktiviert. Subjektiv erleben Kinder Spielfreude, Neugier und starke freundschaftliche Regungen. Es gibt allerdings auch Kampfspiele, bei denen Spiel und Ernst zusammenfließen.
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Fußballspiele ließen sich als ritualisierte Gruppenkämpfe einordnen, die als Ventilsitten kollektiver Aggressionsabfuhr dienen. Sieg und Niederlage werden dabei auch von den Zuschauern miterlebt, einschließlich der physiologischen Begleiterscheinungen wie der Testosteronausschüttung (S. 71) bei Sieg des eigenen Klubs oder Landes.
Bei den Menschen ist nun die Fähigkeit, sich ohne Zorn und Eifer mit Problemen auseinanderzusetzen, in ganz besonderer Weise entwickelt. Wir sprechen von nüchterner Sachlichkeit, mit der wir Probleme erörtern, von der Objektivität einer Betrachtungsweise. Die Wortwahl weist auf den Zusammenhang, der die Entwicklung dieser Fähigkeit in spezieller Weise förderte. Die weiteren Anstöße kamen von der Entwicklung des Werkzeuggebrauchs und der Werkzeugkultur. Der Einsatz von Werkzeugen und die Manipulation von Objekten erfordern eine ausgeprägte Feinmotorik, deren willkürlicher Einsatz gelernt werden muß, was Geduld erfordert.
In den frühen achtziger Jahren war es mir vergönnt, mit Jane Goodall im Gombe-Schimpansenreservat Tanzanias zusammenzuarbeiten. Unter anderem filmte ich das von Goodall (1973, 1986) beschriebene Termitenfischen. Die Schimpansen führen dazu Sonden aus Halmen und dünnen Zweigen in die zuvor geöffneten Gänge von Termitenbauten ein. Die Termiten beißen sich an diesen Sonden fest und werden daran aus dem Bau herausgezogen (Abb. 1 a-c). Im gleichen Gebiet benutzen Schimpansen Blätter wie einen Schwamm, um aus Baumlöchern Wasser aufzutunken, das sie mit den Lippen nicht erreichen können, und sie verwenden solche Blätter auch, um sich zu säubern. Zwischen verschiedenen Schimpansenpopulationen dürfte es kulturelle Unterschiede geben. Die Schimpansen der Elfenbeinküste knacken Palmnüsse mit Hilfe von Steinen auf (Struhsacker und Hunkeler 1971, Boesch und Boesch 1981), was die Schimpansen des Gombe-Gebietes noch nicht entdeckt haben — sie beißen die Nüsse noch auf.
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Von all den verschiedenen Formen des Werkzeuggebrauchs bei Primaten ist das Termitenfischen wohl am bemerkenswertesten, weil der Vorgang Geduld und besonderes Geschick erfordert und weil die Schimpansen ihre Werkzeuge dazu selbst herstellen. Sie brechen ein Ästchen ab, entfernen die Seitenzweige oder nehmen einen Grashalm, den sie auf die richtige Länge kürzen, und produzieren so eine Sonde, die sie zwischen Daumen und Zeigefinger festhalten; allerdings nicht mit unserem Präzisionsgriff, bei dem der Daumen gegen den Zeigefinger opponiert wird, so daß die Endglieder von Daumen und Zeigefinger einander gegenüberstehen. Der Daumen drückt vielmehr seitlich gegen den Zeigefinger und hält so die Sonde fest.
Nach kurzem, vorsichtigem Stochern wird die Sonde herausgezogen, und haben sich die großen Termitenkrieger an ihr festgebissen, dann werden sie mit den Lippen, manchmal auch mit der Hand, gepflückt und verzehrt. Beim Fischen im Termitenbau halten die Schimpansen oft die andere Hand in Auffangstellung unter die Sonde. Fallen Termiten von der Sonde herab, dann verfangen sie sich meist im Fell des Unterarms und können von dort mit den Lippen aufgenommen werden. Termiten, die auf den Boden fallen, werden oft aufgenommen, indem der Unterarm mit einer leichten Drehbewegung über den Untergrund gerollt wird, so daß die dort liegende Termite sich im Fell verfängt und mit den Lippen aufgenommen werden kann. Nach McGrew und Marchant (1992) zeigen Schimpansen beim Termitenfischen eine deutliche individuelle Präferenz für eine Hand. Dabei ist ein schwacher Trend für Linkshändigkeit nachzuweisen.
Bevor Jungtiere selbst Termiten fischen, beobachten sie ihre Mütter sehr aufmerksam bei dieser Tätigkeit. Im Alter von sieben bis acht Monaten beginnen sie, Termiten vom Fell der Mutter aufzuklauben. Jungtiere spielen ferner mit Gräsern und Stöcken, die sie gerne stochernd in Hohlräume einführen. Hier scheint eine angeborene Disposition zum Werkzeuggebrauch vorzuliegen, aber die konkrete Anwendung des Stocherns als Termitenfischen wird wohl gelernt.
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In einem von uns veröffentlichten Film (Eibl-Eibesfeldt und Goodall 1992) sehen wir, wie die zweijährige Darbi zum erstenmal nach Termiten fischt. Als sie endlich Erfolg hat, reicht sie die erste Termite der Mutter, so als würde sie anfragen: »Ist das eßbar?« Die Mutter pflückt die Termite von der ihr vorgehaltenen Sonde, worauf Darbi mit großem Eifer weiterfischt und die nächste Termite mit reichlichem Grimassieren selbst verzehrt.
Darbi war beim Termitenfischen zunächst nicht sehr erfolgreich. Sie verwendete Grashalme, die sich oft bogen, und sie wechselte wiederholt das Werkzeug und biß es auch in der Länge zurecht. Ihre Geduld war höchst bemerkenswert, sie fiel mir auch bei den anderen Schimpansen auf und steht in scharfem Kontrast zu der leichten aggressiven Erregbarkeit, die die Schimpansen bei vielen anderen Gelegenheiten zeigen. Frustrationen der verschiedensten Art führen zu gesteigerter Aggressivität, ja oft zu richtigen Wutanfällen. Beim Termitenfischen und bei der sozialen Fellpflege gehen die Schimpansen jedoch mit großer Ruhe und einer geradezu überraschenden Geduld zu Werke, auch wenn ihre Bemühungen anfangs keinen Erfolg zeitigen.
Ich vermute, daß im Zusammenhang mit dem Werkzeuggebrauch die bereits im Spiel angebahnte Fähigkeit, agonistische Emotionen vom Verhalten abzukoppeln, weiter entwickelt wurde. Die Auseinandersetzung mit Objekten und der Einsatz von Werkzeugen erfordern Ruhe, und die Worte »Sachlichkeit« und »Objektivität« bezeichnen für uns Menschen diese Interessenlage sehr treffend.
Beim Menschen ist es wirklich »Interesse«, welches das Explorierverhalten motiviert. Und wenn ein Kind seine Umwelt mit einem Stöckchen erkundet, dann sollte keine andere Motivation störend dazwischentreten. Führt vergebliches Bemühen dennoch gelegentlich zu einem Ausbruch von Ärger, dann blockiert dies vorübergehend die Aufgabenlösung.
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Wolfgang Koehler (1921) lieferte dazu eine wichtige Schlüsselbeobachtung. Als er dem Schimpansen Sultan zum erstenmal die Aufgabe stellte, mit Hilfe von zwei ineinandersteckbaren, aber einzeln viel zu kurzen Stöcken eine außerhalb des Käfigs liegende Banane herbeizuangeln, da bemühte sich Sultan zunächst vergeblich mit dem einen Stock, dann mit dem anderen. Nach wiederholten fruchtlosen Versuchen bekam er einen »Wutanfall«, schmiß die Stöcke hin und drehte der Banane den Rücken zu. Als nach einer Weile seine Erregung abgeklungen war, begann er jedoch wieder, sich spielerisch mit den Stöcken zu beschäftigen und steckte sie schließlich ineinander. Kaum war dies geschehen, wandte er sich erneut der Banane zu und angelte sie mit dem nunmehr verlängerten Stock herbei.
Beim Menschen ist die Fähigkeit zur sachlichen Auseinandersetzung mit seiner Umwelt sicher am weitesten entwickelt. Mit der Ausdifferenzierung der Werkzeugkultur bildete sich die Händigkeit aus, vermutlich weil es vorteilhaft ist, wenn die meisten Mitglieder einer Gruppe die Werkzeuge benützen können. Außerdem ist es bei rituellen Interaktionen wie Zweikämpfen sicher vorteilhaft, wenn die Gegner in voraussagbarer Weise aufeinander abgestimmt handeln können. Das gilt auch für freundliche Interaktionen wie zum Beispiel Händegeben beim Gruß.
Mit der Rechtshändigkeit entwickelte sich die unterschiedliche Spezialisierung der beiden Hirnhemisphären des Menschen, was die Fähigkeit, Emotionen abzukoppeln, verbesserte — zumindest soweit es den Umgang mit der außerartlichen Umwelt betrifft. Die prädominante Rechtshändigkeit beschränkt sich in erster Linie auf den manipulatorischen Umgang mit Werkzeugen. In anderen Bereichen ist der Mensch durchaus zweihändig (Marchant, McGrew und Eibl-Eibesfeldt 1995). Interessant ist schließlich in diesem Zusammenhang, daß in der linken, rationalen Hirnhälfte auch jene zentralnervösen Spezialisierungen liegen, dank deren wir über die Sprachmotorik verfügen. Das Sprechen ist sicher auf einer höheren Ebene ein willentlicher Akt, auch wenn der Ablauf der Motorik durch Training weitgehend automatisiert ist.
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Abb. 2 Der Werkzeug gebrauchende Spechtfink der Galápagos-Inseln. Er ist im Begriff, den Kaktusstachel zum Stochern in den Bohrgang einer Insektenlarve einzuführen. - Foto: I. Eibl-Eibesfeldt.
Ich habe davon gesprochen, daß Spiel- und Werkzeuggebrauch in erster Linie bei höheren Säugetieren zu beobachten ist. Diese Aussage möchte ich noch ergänzen: Es gibt auch einen Vogel, der spielt. Und er gebraucht sogar Werkzeuge. Es handelt sich um den Spechtfinken (Cactospiza pallida), der auf den Galäpagos-Inseln die ökologische Nische eines Kleinspechts besetzt. Er reißt die Rinde von den Zweigen und öffnet die Bohrgänge von Insektenlarven. Es fehlt ihm aber die lange Spechtzunge, mit der unsere Kleinspechte die Insektenlarven aus den Gängen holen. Der Spechtfink löst sein Problem, indem er sich für diesen Zweck einen Kaktusstachel oder ein Zweiglein pflückt, das er als Sonde längs in den Bohrgang des Insekts einführt (Abb. 2).
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Mit hebelnden Bewegungen fördert er seine Beute zutage. Er bearbeitet auch sein Werkzeug, wenn es notwendig ist, kürzt es auf die richtige Länge, bricht Seiten-ästchen ab und entwickelt dabei großes manipulatorisches Geschick (Eibl-Eibesfeldt 1965, Eibl-Eibesfeldt und Sielmann 1962). Ein junges Männchen, das ich hielt, beherrschte diese Technik noch nicht. Es stocherte zwar mit Hölzchen, die es fand, aber immer nur spielerisch und nie, um ein Insekt herauszuholen. Bot ich ihm ein Insekt in der Ritze eines Stammes an, dann ließ es sein Werkzeug sofort fallen und versuchte, die Beute mit dem Schnabel zu greifen. Erst nach und nach kam es darauf, dazu auch das Werkzeug zu benutzen. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, daß Spechtfinken richtig spielen. Sowohl ein einzelnes Männchen wie auch später ein Pärchen versteckten nach Sättigung die ihnen angebotenen Mehlwürmer in Ritzen oder Spalten und stocherten sie dann wieder hervor, nur um sie sogleich wieder zu verstecken.
Im Spiel der höheren Säuger werden Fluchtmotivation und aggressive Motivation von den ihnen normalerweise zugeordneten Bewegungsabläufen abgekoppelt, so daß das Tier — in diesem Bereich entlastet — frei über sein Bewegungsrepertoire verfügen und mit ihm spielerisch experimentieren kann. Mit der Entwicklung des Werkzeuggebrauchs wurde diese Fähigkeit, sich »sachlich« mit der Umwelt auseinanderzusetzen, weiter perfektioniert. Im Zuge der zunehmenden Spezialisierung auf Rechtshändigkeit und der damit verbundenen Lateralisation der beiden Großhirnhemisphären kam es zu einer weiteren Trennung der emotionellen und rationalen Bereiche, die es dem Menschen erlaubt, auch seine sozialen Probleme distanziert, gewissermaßen »objektiv«, zu betrachten. Wir haben damit eine Freiheit gewonnen, die die Voraussetzung für eine rationale Lösung auch unserer sozialen Probleme ist. Durch diese Freiheit wird es uns möglich, uns wenigstens vorübergehend auch von den Fesseln instinktiv-emotioneller und ideologischer Gebundenheit zu lösen und mit anderen Menschen über die durch Ideologie gesetzten Barrieren hinweg zu kommunizieren. Allerdings handelt es sich um eine Freiheit, die des Trainings bedarf.
Eine derartige geistige Freiheit sollte nicht mit der sozialen Freiheit von Dominanz verwechselt werden. Wenn Menschen nach »Freiheit« rufen, dann meinen sie im allgemeinen, daß sie die Freiheit wünschen, ihr Leben selbst — frei von Dominanz durch andere — zu gestalten, daß sie frei ihre Meinung in Wort und Schrift äußern können und ihr Leben frei gestalten können. Diese Art sozialer Freiheit wird von der Gemeinschaft gewährt oder vorenthalten; sie kann auch in politischen Kämpfen errungen werden. Die Freiheit der Rede bedeutet aber noch nicht, daß der Redner freie Gedanken äußert. Es steht ihm genauso frei, ein dogmatisches Bekenntnis abzulegen.
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Wie frei sind wir in unseren Entscheidungen?
Moralisch handeln heißt in des Wortes ursprünglicher Bedeutung: der Sitte gemäß handeln. Sittlichkeit gründet sich bei uns Menschen auf Regeln, die jeder einzelne von uns in Übereinstimmung mit anderen befolgt oder zumindest befolgen sollte, um zum Beispiel ein harmonisches Miteinander-Leben zu garantieren. In den neuronalen Netzwerken unseres Gehirns, den zentralen Referenzmustern, muß dazu ein Wissen um die zu befolgenden Regeln vorliegen. Dieses Wissen kann als stammesgeschichtliche Anpassung vorgegeben sein oder auch kulturell tradiert und damit über Lernprozesse internalisiert werden. Darüber hinaus sind wir in der Lage, moralische Entscheidungen auch aufgrund von Überlegungen zu treffen, selbst in Situationen, mit denen wir bisher noch nie konfrontiert waren, gewissermaßen in persönlicher Verantwortung.
Angeboren sind uns zum Beispiel die Regeln, die dem Geben zugrunde liegen. Objekte spielen als Vermittler von sozialen Beziehungen in allen Kulturen eine große Rolle (Abb. 3-5). Wir geben und erhalten Geschenke, bewirten einander und pflegen so auf Gegenseitigkeit freundschaftliche Beziehungen. In traditionellen Kulturen dienen Geschenkpartnerschaften der gegenseitigen sozialen Absicherung. Eine der bemerkenswertesten Untersuchungen über solche sozialen Netzwerke verdanken wir Polly Wiessner (1977,1982) (S. 78).
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Abb.3 Bereits einjährige Kinder geben bereitwillig ab, und zwar in der Regel als Füttern. Hier füttert ein einjähriges Mädchen, auf dem Schoß seiner Mutter sitzend, spontan eine ihm gut bekannte Frau. Man beachte die Mitbewegungen mit dem Mund. -Foto: I. Eibl-Eibesfeldt (aus einem 16-mm-Film).
Für jeden Objekttransfer gilt, daß der Gebende als Eigentümer der Gabe respektiert wird (Objektbesitznorm) und daß man sich zu Dank verpflichtet fühlt. Der Dank kann, er muß aber nicht durch eine Gegengabe abgestattet werden, doch irgendeine Gegenleistung wird stets erwartet (Regel der Reziprozität). Die Gegenleistung kann auch in einer Verpflichtung dazu über längere Zeit aufrechterhalten werden. Bereits Kleinkinder teilen freizügig mit ihnen nahestehenden Personen, und sie nehmen auch über das Anbieten von Gaben Kontakt mit Personen auf, denen sie freundlich gesinnt sind. Nur darf man ihnen nichts wegnehmen — sie wollen als Besitzer anerkannt werden. Will ein Kleinkind von einem anderen etwas haben, dann muß es zum Beispiel bitten. Regelverstoß, etwa durch den Versuch zu nehmen, hat Verweigerung zur Folge, und nimmt ein Kind einem anderen etwas weg, dann führt dies zum Protest des Beraub-
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Abb.4 Yanomami-Säugling, der die ältere Schwester füttert. Man beachte auch hier, daß der Säugling in Fütterintention den Mund aufmacht. Aus diesem Füttern wurde ein länger ausgesponnener Dialog des Gebens und Nehmens, den wir im Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung abgebildet haben. - Foto: I. Eibl-Eibesfeldt (aus einem 16-mm-Film).
ten. In solchen Situationen beobachtet man häufig, daß mit Anzeichen der Betroffenheit zurückgegeben wird. Es sieht so aus, als würde ein schlechtes Gewissen die Verhandlungsposition schwächen, oder anders ausgedrückt: Priorität des Besitzes ist eine gute Verhandlungsposition (Abb. 6a-1).
Rituale des Gebens und Bewirtens erfahren kulturell verschiedene Ausgestaltungen. Man kann unter Ausnutzung des Bedürfnisses, durch eine Gegengabe zu vergelten, sogar mit Geschenken kämpfen, wie der Potlatsch der Kwakiutl lehrt. (Ausführlicher über das Geben und seinen Ursprung in Eibl-Eibesfeldt 1984, dort auch weitere Literatur.)
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Abb. 5 Rituelles Teilen und Füttern zwischen Bruder und Schwester im Verlauf der Zahnfeilungszeremonie auf Bali. Ein weiteres Symbol der Verbundenheit ist der um beide Initianten geschlungene Zeremonialschal. - Foto: I. Eibl-Eibesfeldt.
Konrad Lorenz (1943) sprach von uns angeborenen ethischen und ästhetischen Beziehungsschemata: Es handelt sich um zentralnervöse Referenzmuster, die nach Prüfung einkommender Meldungen der Programmierung entsprechende Verhaltensentscheidungen treffen, indem sie bestimmte Verhaltensweisen hemmen oder auch auslösen. Das ist bereits bei Tieren so, die etwa auf bestimmte Signale wie Notrufe einem Artgenossen zu Hilfe eilen oder auf Signale der Unterwerfung ihre Aggressionen einstellen. Lorenz sprach allerdings in diesen Fällen von »moralanalogem Verhalten«. Die Tiere können nämlich nicht anders, als ihren Antrieben folgen, wobei im Parlament ihrer »Instinkte« die jeweils stärkste Stimme sich durchzusetzen pflegt. Werden etwa durch Gefahren Tendenzen des Fluchtverhaltens aktiviert, dann können diese die gleichzeitig aktivierten Verhaltenstendenzen des Beistandes unterdrücken.
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Abb. 6 Wegnehmen und Zurückgeben unter Himba-Kindern: Ein Himba-Bub bat mit aufgehaltener Hand ein Mädchen, das gerade mit anderen ißt, um einen Anteil. Da er nichts bekommt, raubt er sich eine Handvoll. Als die Beraubte protestiert, läßt er sich das Genommene widerstandslos, wenn auch schmollend, aus der Hand nehmen. - Fotos: I. Eibl-Eibesfeldt (aus einem 16-mm-Film).
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Was uns Menschen demgegenüber auszeichnet, ist die Fähigkeit, vernünftig, das heißt aufgrund von Überlegungen, zu entscheiden. Wir können uns dazu von unserem emotionellen Bereich, in dem auch für uns das Parlament der Instinkte den Ausschlag geben würde, wie schon erwähnt, abkoppeln, und das ist es, was wir als Freiheit der willentlichen und verantwortlichen Entscheidung erleben.
Über die mühseligen Diskussionen über den Freiheitsbegriff hat sich bereits Bernhard Hassenstein (1979) erheitert, gab es doch Diskussionen, in denen Freiheit mit Indeterminiertheit (Unbestimmtheit) gleichgesetzt wurde. Eine solche Freiheit wäre völlig uninteressant, da ihr ja keine persönliche Entscheidung zugrunde liegen würde. Die willentliche Entscheidung zählt, das Bemühen um Lösungen im Konfliktfall. In unsere Entscheidungen geht stets Wissen ein, Wissen um die möglichen Folgen unseres Handelns. Wissen auch um Verpflichtungen und Werte, und letztere wiederum können in angeborenen oder erworbenen Schemata festgeschrieben sein.
Wenn sich eine Person der Forderung Immanuel Kants entsprechend fragt, ob die Leitsätze ihres Handelns zum allgemeinen Gesetz erhoben werden könnten, dann setzt bereits das Stellen dieser Frage Wissen und eine moralische Grundhaltung voraus, wie zum Beispiel den Wunsch nach einer im harmonischen Miteinander auskommenden Weltgemeinschaft. Entscheidend ist dabei, daß wir durch die weitgehende Abkoppelung des triebhaft-emotionellen Bereichs eine vom Triebhaften abgelöste, entspannte Situation schaffen können, die es ermöglicht, einsichtig und vernünftig abzuwägen und gegebenenfalls selbst gegen elementare Beweggründe, etwa die Angst, zu entscheiden.
Dank dieser Fähigkeit kann der Mensch sich auch gegen elementare Triebimpulse, gegen das Parlament seiner Instinkte, entscheiden. So rangiert unserer natürlichen Neigung zufolge die Familie in unserem fürsorglichen Interesse an erster Stelle. Es gibt jedoch Situationen, in denen ein kulturell aufgeprägtes, aber ebenfalls die angeborenen Dispositionen der Gruppenloyalität ausnützendes Staatsethos gebietet, gegen die »Natur« zu handeln.
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»Ich frevle an der Natur, auch diese mächt'ge Stimme willst du zum Schweigen bringen?« entgegnet König Philipp (in Schillers Don Carlos) auf die Zumutung des Großinquisitors, seinen Sohn der Staatsräson zu opfern. Worauf der Großinquisitor erwidert: »Vor dem Glauben gilt keine Stimme der Natur.« Alle Staaten stehen, wie bereits Herbert Spencer bemerkte, vor der schwierigen Aufgabe, nach außen verteidigungsbereit zu sein und im Inneren den Frieden zu erhalten. Damit besteht nach Arnold Gehlen (1969) ein Gegensatz zwischen dem auf das Staatsvolk ausgeweiteten Familienethos der Friedlichkeit und dem wachsamen Ethos des gerüsteten Staates. Gehlen schreibt dazu:
»Der Pazifismus, der Hang zur Sicherheit und zum Komfort, das unmittelbare Interesse am mitfühlenden menschlichen Detail, die Staatswurstigkeit, die Bereitschaft zur Hinnahme der Dinge und Menschen, wie es so kommt, das sind doch Qualitäten, die ihren legitimen Ort im Schoße der Familie haben und in denen der Feminismus seine starke Farbe dazutut, denn die Frau trägt instinktiv in alle Wertungen die Interessen der Kinder hinein, die Sorge für Nestwärme, verringertes Risiko und Wohlstand. Hier liegen die Vorbedingungen zu einer endlosen Erweiterung des Humanitarismus und Eudämonismus, wenn die Gegengewichte, die im Staatsethos liegen, kompromittiert, verboten oder verfault sind« (Gehlen 1969, S. 149).
Gehlen spricht in diesem Zusammenhang von einer »Moralhypertrophie« und weist darauf hin, daß auch jene, die sie vertreten, den Staat als Hüter der Ordnung und des Rechts brauchen und daß sich eine weltumspannende Verbrüderung nur in einer pluralistischen Welt verschiedener Vaterländer entwickeln könne, es sei denn, man bejahe die Diktatur einer Weltherrschaft.
Wie immer kommt es auf die richtige Balance an, und die zu finden, darum bemühen sich die Menschen, seit es Großgesellschaften gibt.
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Kant begründete seine Ethik auf Vernunft und Einsicht. Er war der Ansicht, man könne nur dann von moralischem Handeln sprechen, wenn jemand seine Neigungen im Dienste einer höheren Aufgabe überwinde. Grundsätzlich müsse man sich die kategorische Frage stellen, ob man wollen könne, daß andere ebenso handeln, wie man selbst es vorhabe. Der Kantianer Schiller antwortete darauf bekanntlich in zwei Xenien: »Gerne dien' ich den Freunden, doch tu' ich es leider mit Neigung, Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.« Und: »Da ist kein anderer Rat, du mußt suchen, sie [die Entscheidung] zu verachten, Und mit Abscheu alsdann tun, wie die Pflicht dir gebeut.«
Welche Entscheidungshilfen kann die Biologie geben? Der Biologe bringt zunächst einmal das Denken in anderen Zeitdimensionen ein. Er weiß um unser stammesgeschichtliches Gewordensein, und er weiß um die Wirkmechanismen der Evolution. Er weiß, daß Überleben immer Überleben in Nachkommen — und zwar in eigenen oder zumindest den Nachkommen naher Verwandter — bedeutet. Er weiß ferner um die Natur des genetischen Codes, um das Wirken von Auslese und Ausmerze, und daß die Natur dabei keine unserem ethischen Empfinden entsprechende Moral kennt.
Manche Wirtschaftler nehmen sich heute die natürliche Selektion zum Vorbild. Sie denken dabei allerdings in viel zu kurzen Zeiträumen und übersehen, daß sie langfristig gesehen eine Hochrisikostrategie anwenden: Eine soziale Verelendung jener, die es nicht auch zu einem (gewissen) Wohlstand bringen, gefährdet den inneren Frieden und damit auch die Erfolgreichen, die mit so hohem Einsatz spielen (vgl. S. 134). Außerdem muß selbst den Hartgesottensten der tägliche Anblick von Elend Unbehagen bereiten, denn das entspricht nicht unseren prosozialen Neigungen. Wir können aus der Natur viel lernen, betonte Wolfgang Wickler (1981), aber auch, wie wir es nicht machen sollten.
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Aus dem So-Sein kann, wie wir Biologen nicht müde werden zu betonen, kein Sollen abgeleitet werden. Dies heißt aber nicht, daß das von Wissenschaftlern erarbeitete Wissen von keinerlei Bedeutung für politische Entscheidungen wäre (Salter 1995). Gute Absichten allein genügen nicht. Viele der gegenwärtig so zahlreichen selbsternannten Volkserzieher meinen, es genüge, einem sozialen Imperativ zu folgen, die Empirie könne man ruhig vernachlässigen. Das mag bei Diskussionen um unser Seelenheil angehen, Offenbarungslehren braucht man nicht naturwissenschaftlich zu begründen. Politische Zielsetzungen sind jedoch von dieser Welt. Und wer das allgemeine Wohl und Wehe vor Augen hat, tut gut, auch die Rahmenbedingungen des Möglichen auszuloten.
Die Bejahung des Willens zum Leben sollte als Axiom anerkannt werden. Es könnte ja einer aus misanthroper Veranlagung auch den Untergang allen Lebens, der Menschheit oder seines Volkes wollen: aus Lebenshaß oder aus Entsetzen über das Leid der Welt, in der Tiere wie Menschen davon leben, daß sie anderes Leben zerstören. Schopenhauer meinte:
»Selbst den verstocktesten Optimisten würde das Grausen ergreifen, wenn man ihn durch die Krankenhospitäler, Lazarette und chirurgischen Marterkammern, durch die Gefängnisse, Folterkammern und Sklavenställe, über Schlachtfelder und Gerichtsstätten ... führen würde.«
Schließlich werde er erkennen, wie diese »beste aller Welten« beschaffen sei: »Woher denn anders hat Dante den Stoff zu seiner Hölle gewonnen, als aus dieser, unserer wirklichen Welt? Und doch ist es eine recht ordentliche Welt geworden. Hingegen als er an die Aufgabe kam, den Himmel und seine Freuden zu schildern, da hatte er eine unüberwindliche Schwierigkeit vor sich, weil eben unsere Welt gar keine Materialien zu so etwas darbietet.«
Dennoch sind wir dem Leben verpflichtet, und mit dem Wissen um die Evolution eröffnet sich uns auch die Hoffnung auf eine zunehmende Humanisierung unseres Daseins. Wir teilen den Optimismus, den Karl Popper in seinen Büchern ausstrahlt.
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Ich habe vom »Überleben als Richtwert« gesprochen (vgl. dazu auch Eibl-Eibesfeldt 1988). Das trug mir den Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses vom So-Sein auf das Sollen ein (Falger 1994). Der Vorwurf wäre berechtigt, hätte ich aus der Tatsache, daß alle Arten Strukturen und Verhaltensweisen im Dienste des Überlebens entwickelten, geschlossen, daß damit auch alle Arten überleben sollten oder gar das Recht hätten, zu überleben. Dies habe ich aber nicht getan, vielmehr betone ich immer wieder, daß es kein für uns erkennbares Interesse der Natur an irgendeiner Art von Lebewesen gibt, wohl aber ein Überlebensinteresse als Eigeninteresse, und das zu vertreten wurden alle, auch wir Menschen, im Laufe einer langen Stammesgeschichte programmiert. Darüber muß Bescheid wissen, wer immer vor politische Entscheidungen gestellt ist. Auch muß man wissen, daß beim Menschen die Selektion nicht nur am einzelnen, dem Individuum, angreift, sondern auch auf Gruppenebene und daß daher ein rücksichtsloser Individualismus nicht zu verantworten ist.
»Die menschliche Natur limitiert«, bemerkt Frank Naumann (1994), »ein positiver Lebensentwurf läßt sich aus ihr nicht ableiten.« Dem möchte ich widersprechen. Dem positiven Lebensentwurf, der sich mit dem Wunsch nach Frieden und Wohlstand verbindet, liegt unter anderem unsere prosoziale Emotionalität zugrunde, und diese ist ein spätes Produkt der Evolution. Würden Menschen nicht Sympathie, Liebe und Mitleid für andere empfinden, sondern allein vernunftbegründet ihre Überlebensstrategien entwerfen, dann könnten sie wohl ebenfalls Konventionen für ein Zusammenleben in Frieden entwickeln, aber es bedürfte der repressiven Dominanz, um eine solche »Gesellschaft von Teufeln« funktionsfähig zu halten, und von Harmonie dürfte kaum die Rede sein. Ich betrachte nach wie vor die Evolution von Fürsorglichkeit und Liebe als eine Sternstunde in der Evolution des Wirbeltierverhaltens (vgl. S. 64).
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Ohne affiliatives Engagement gäbe es keine humanitäre Entwicklung. Das fürsorgliche Engagement ist eine entscheidende, bewegende Kraft auf unserer Suche nach einer besseren Welt, in der unter anderem Friede und Wohlstand herrschen sollten, aber wohl auch eine höhere Kultiviertheit, in der eine differenziertere Fähigkeit, wahrzunehmen bzw. zu erkennen, und eine weiterentwickelte, verbesserte intellektuelle Fähigkeit angestrebt werden sollten.
Im Dienste einer solchen Zielsetzung tut man gut, wenn man sich an der Wirklichkeit orientiert. Dogmatisierung und Ideologisierung erschweren die Problemlösung, da sie die Bereitschaft zur einsichtigen Fehlerkorrektur blockieren und diese damit der Selektion überlassen, die auf schmerzliche Weise korrigiert. Was immer wir Menschen tun oder auch unterlassen, kann unsere Fähigkeit, in Nachkommen zu überleben, kurz, unsere »Eignung« fördernd oder hemmend beeinflussen. Die Evolution läuft über die Weitergabe des individuellen Erbgutes, das auch in den Verwandten eines Individuums mit einer berechenbaren Wahrscheinlichkeit weitergereicht wird. Die heute auf eine Restpopulation geschrumpfte polynesische Bevölkerung der Hawaii-Inseln lebt nicht in den eingewanderten Japaner, Europäern oder Chinesen weiter. Würde sie völlig verdrängt, dann bedeutete das ihr Aussterben, ihren Untergang.
Nur ein Zyniker kann hiergegen einwenden, daß es auf dieser Erde ja ohnedies zu viele Menschen gebe und daß es auf das Überleben der Menschheit und nicht der Polynesier, Yanomami-Indianer oder irgendwelcher anderen Völker ankomme. Gewiß, auf ein Interesse der Natur am Weiterleben von Polynesiern oder irgendwelchen anderen Menschen können wir nicht bauen. Aber wir sehen, wie sich alle Geschöpfe, uns Menschen inbegriffen, um ein Weiterleben bemühen, und das verpflichtet uns, das Leben zumindest zu achten, und hier wieder im besonderen das unserer Mitmenschen.
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Die Tatsache, daß nur das Überleben in eigenen Nachkommen, also das Überleben der Gene, zählt, hat zu einer eher unglücklichen Terminologie geführt. Soziobiologen sprachen und sprechen nach wie vor von einem genetischen Egoismus und davon, daß wir alles, was wir tun, auch wenn wir uns gruppenloyal oder sonstwie hilfsbereit verhalten, aus Egoismus täten. Das ist nicht richtig, und diese Ausdrucksweise fördert auch nicht das Verständnis. Es stimmt, daß Liebe, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft Mitmenschen gegenüber von positivem Selektionswert sind und daß wir dazu im Laufe der Stammesgeschichte emotionell und triebhaft ausgestattet wurden. Wir verspüren Mitleid und handeln aus Mitgefühl und erleben dabei durchaus Konflikte mit eigensüchtigen Impulsen.
Für das Erleben und Handeln auf dieser Ebene ist die Terminologie von Egoismus und Altruismus angebracht, denn beides existiert als subjektiv erlebtes Motiv unseres Handelns. Wer von genetischem Egoismus spricht oder wer meint, weil altruistisches Verhalten im Laufe der Stammesgeschichte wegen seines positiven Selektionswertes ausgelesen wurde, wäre alles letztlich egoistisch motiviert und es gäbe keinen Altruismus, der übersieht, daß es sich hier um verschiedene Dinge handelt. Gene werden ausgelesen, sie liegen Eiweißsynthesen zugrunde, die letztlich den Aufbau eines Organismus herbeiführen, einschließlich seiner motivierenden Systeme. Aber nur Individuen entscheiden sich und handeln, und nur an ihnen, den Trägern der Gene, setzt die Selektion an.
Wir werten immer nach menschlichen Maßstäben, eine artneutrale Ethik kann es nicht geben. Sarah Blaffer-Hrdy (1988) stellte die Frage: »Warum finden wir es bewundernswürdig, wenn jemand Kinder aufzieht und nicht Kaulquappen?« Sie gibt damit zugleich die Antwort. Und so sind auch Fragen, ob die Natur oder die Evolution gut oder böse sei oder ob es uns besser nicht gäbe, wenig sinnvoll. Die Natur ist, wie sie ist, und Spinnen wird man nicht zum Vegetarismus bekehren.
Auch wir Menschen sind nun einmal da und sollten dies als Chance und Herausforderung akzeptieren. Daß sich in uns die Schöpfung zum erstenmal ihrer selbst bewußt wurde, verpflichtet uns, das Überleben als Richtwert anzuerkennen und so zu handeln, daß es auch künftigen Generationen möglich ist, sich ihres Lebens zu erfreuen.
Wir Menschen können uns als erste Wesen auf diesem Planeten Ziele setzen. Und wir tun dies auch über die Vielfalt der ideologiegestützten politischen Programme. Verhindern wir, daß diese sich zu Dogmen verhärten, und bleiben wir damit offen für rechtzeitige Fehlerkorrektur, wie Popper (1984) es forderte. Dann eröffnen sich uns einmalige Chancen der weiteren Entwicklung. Eine wichtige Zielsetzung wäre in diesem Zusammenhang die Entwicklung eines generationenübergreifenden Überlebensethos, das die Erhaltung der Subsistenzbasis auch künftiger Generationen und damit die Absicherung des Lebens auch kommender Generationen anstrebt.
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