4 Dominanz und Fürsorglichkeit — die Eckpfeiler menschlicher Sozialität
Eibl-1998
4.1 Eine Sternstunde der Verhaltensevolution
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In allen Gebieten der Erde beobachten wir gegenwärtig ein Wiederaufleben von Stammesdenken und ethnischen Konflikten. Wir sind mit weltweiten Äußerungen des Ethnozentrismus und der Xenophobie (Fremdenfurcht) konfrontiert und stehen dem Problem der zunehmenden Gewalttätigkeit gegen Ausländer ziemlich ratlos gegenüber. Wie so oft in solchen Fällen macht man es sich dann zu bequem, indem man das Phänomen in seiner Bedeutung herunterspielt, es als schlechte Gewohnheit für eine Therapie empfiehlt oder schlichtweg seine Existenz verleugnet.
»Nations are an invention«, las ich kürzlich. Da ist was dran, denn Jäger- und Sammlervölker bilden im allgemeinen keine Nationen. Menschen grenzen sich allerdings auch auf einer vorstaatlichen Entwicklungsstufe von anderen als Lokalgruppen, Dorfgemeinschaften, Tälergemeinschaften und dergleichen mehr ab. Und ethnische Nationen entwickeln sich ziemlich häufig, und das Phänomen der Ethnizität beschränkt sich nicht nur auf die avancierte technisch-zivilisierte Welt. Es ist daher zu hinterfragen. Warum definieren sich zum Beispiel Armenier als Armenier, Kurden als Kurden und Serben als Serben? Und warum sind viele sogar bereit, ihr Leben im Kampf für die Erhaltung ihrer Identität zu opfern?
Die sind eben irregeführt, könnte man argumentieren — aber das lädt dann doch nur zu der Frage ein: Warum werden Menschen in der ganzen Welt so leicht irregeführt?
Wir gegen die anderen — dieser Gegensatz beinhaltet eines der größten Probleme der Menschen. Wie kam diese Unterscheidung in die Welt? Sie ist interessanterweise das Ergebnis einer höchst positiv zu bewertenden Entwicklung, die die Weichen der Evolution in eine ganz neue Richtung stellte, so daß ich von einer Sternstunde der Verhaltensevolution spreche. Es handelt sich um die Evolution der fürsorglichen, mütterlichen Brutpflege bei den Vögeln und Säugetieren. Mit ihr kam nämlich die Liebe, definiert als persönliche Bindung, in die Welt. Diese starke, affektiv getönte Beziehung diente zunächst zur Absicherung der Mutter-Kind-Bindung, was wiederum garantiert, daß Mütter nur ihre eigenen Jungen umsorgen. Mit der Mutter-Kind-Bindung kam die persönliche Bindung und damit das »Wir und die anderen« in die Welt - und auch, wie wir im folgenden ausführen werden, das gerade aufgezeigte Problem.
Vor der Entwicklung der individualisierten Brutfürsorge gab es unter den Wirbeltieren keine persönlichen Beziehungen und daher auch keine Liebe. Das Schlüsselerlebnis zu dieser Erkenntnis hatte ich, als ich im Januar 1954 bei Punta Espinosa an der westlichen Galápagos-Insel Fernandina landete. Die meerumbrandeten Felsen waren hier buchstäblich mit Hunderten dunkler Meerechsen bedeckt. Sie lagen dicht gepackt nebeneinander, als wären sie gesellig (Abb. 10). Aber bald kam ich darauf, daß ihre Art der Geselligkeit von jener, die ich bis dahin von Vögeln und Säugetieren kannte, stark abwich. Während diese im sozialen Verbund einander beistehen, als Pärchen einander oft füttern und sich gegenseitig die Federn oder das Fell putzen, kurz, Freundlichkeiten erweisen, fehlten den Meerechsen jegliche Bekundungen von Verbundenheit. Wenn die Echsen aufeinander Bezug nahmen, dann taten sie das mit Verhaltensweisen des Drohimponierens, auf die die angedrohten Partner entweder mit Gegenimponieren, Ausweichreaktionen oder Verhaltensweisen der Submission reagierten.
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Abb. 10 Meerechsenansammlung an der Küste von Fernandina (Narborough, Galápagos-Inseln). - Foto: I. Eibl-Eibesfeldt.
Es war gerade der Beginn der Paarungszeit, und einzelne Meerechsen-Männchen begannen auf den Uferfelsen kleinere Reviere für sich abzugrenzen, aus denen sie andere Männchen vertrieben. Die Anwesenheit von Weibchen duldeten sie. Drang ein Rivale in ein bereits besetztes Gebiet ein, dann bedrohte der Revierinhaber den Eindringling, indem er ihm seine maximal vergrößerte Breitseite zeigte und kopfnickend mit aufgerissenem Maul, als würde er beißen wollen, vor diesem paradierte. Wich der Eindringling nicht zurück, dann kam es zum Kampf. Nach weiterem Drohimponieren mit Kopfnicken und Maulaufreißen stürzten die Rivalen aufeinander los. Aber anstatt sich ineinander zu verbeißen, senkten sie kurz vor dem Zusammenstoß ihre Köpfe, so daß sie, Schädeldach gegen Schädeldach, aufeinanderprallten. Es entwickelte sich eine Art Schiebeduell, in dessen Verlauf jeder den anderen, Schädel gegen Schädel, drückend vom Platz zu schieben trachtete.
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Merkte einer schließlich, daß er dem anderen nicht gewachsen war, dann setzte er sich mit einem Ruck von ihm ab und legte sich in Demutsstellung ganz flach vor seinem Gegner auf den Bauch. Der stellte dann in der Regel das Kämpfen ein und wartete in Drohstellung darauf, daß der Besiegte das Feld räumte.
Im weiteren Verlauf beobachtete ich auch das Paarungsverhalten. Die Männchen warben mit Drohimponieren. Paarungsbereite Weibchen unterwarfen sich in Demutsstellung. Das gesamte soziale Verhaltensrepertoire der Meerechsen basierte auf den Verhaltensweisen der Dominanz und Unterwerfung. Und das gilt, wie ich in den folgenden Jahren feststellen konnte, für alle heute lebenden Reptilien und dürfte demnach einen für die Landwirbeltiere ursprünglichen Zustand repräsentieren.
Damals kam mir der Gedanke, der Ausgangspunkt der Fähigkeit, freundliche Beziehungen herzustellen, könnte die individualisierte Brutfürsorge gewesen sein. Diese Vermutung konnte ich seither durch vergleichende Beobachtungen bekräftigen. Im Dienste der Brutpflege entwickelten sich bei den Elterntieren die Motivation, Junge zu betreuen, das Repertoire betreuender Verhaltensweisen wie das Füttern, Wärmen, Verteidigen und Säubern der Jungen und kindlicherseits die Motivation, sich betreuen zu lassen, sowie ein Repertoire von Signalen, über die Verhaltensweisen der Betreuung ausgelöst werden können. Ferner entwickelten beide Seiten die Fähigkeit, persönliche Bindungen auszubilden.
Die im Dienste der Mutter-Kind-Beziehung entwickelten Anpassungen konnten sekundär in den Dienst der Erwachsenenbindung gestellt werden. Untersucht man bei Vögeln und Säugetieren die Verhaltensweisen des Werbens, Beschwichtigens und der Bindungsbekräftigung, dann stellt man schnell fest, daß es sich in der Mehrzahl um aus dem Brutpflegerepertoire und dem kindlichen Repertoire abgeleitete Symbolhandlungen handelt.
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Abb. 11 Das symbolische Anbieten von Nestmaterial, hier ein winziges Steinchen, im Paarungsvorspiel des Maskentölpels der Galápagos-Inseln. - Foto: I. Eibl-Eibesfeldt.
Viele Vögel überreichen einander beim Werben und auch, wenn sie verpaart sind, zur Begrüßung Nestmaterial. Das drückt ursprünglich Nestbaustimmung aus und damit die Bereitschaft, sich mit einem Partner zu verpaaren. Die funktionelle Handlung wurde dabei zu einer reinen Symbolhandlung. Bei Maskentölpeln der Galápagos-Inseln ging das Nestbauverhalten sekundär verloren, sieht man von einigen Steinchen ab, die sie auf dem Nestplatz ablegen und die vielleicht das Abrollen der Eier vom relativ glatten Fels verhindern. Bei der Balz überreichen sie einander dennoch winzige Steinchen (Abb. 11). Als Symbolhandlung des Nestbauens spielt das Steinchenüberreichen weiterhin eine wichtige, die Kontaktbereitschaft fördernde Rolle. Beim flugunfähigen Kormoran der Galápagos-Inseln überreichen die verpaarten Altvögel einander Nestmaterial zur Brutablösung.
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Wenn einer vom Fischen zurückkommt, bringt er seinem brütenden oder die Jungen beschattenden Partner einen Seestern, ein Ästchen oder ein Algenbüschel. Versäumt er es, mit einer Gabe anzukommen, dann wird er mit Schnabelhieben empfangen und vertrieben. Dies kann man leicht auslösen, indem man dem Herankommenden seine Gabe wegnimmt3. Da das normalerweise nicht passiert, sind sie an ein solches Ereignis nicht angepaßt, sie schreiten daher weiter zum Partner. Erst wenn der droht und angreift, bemerkt der Ankommende, daß etwas nicht stimmt, und sucht sich schnell ein Hölzchen, das er nun ordnungsgemäß grüßend seinem Partner überreicht. Wenn Sperlinge umeinander werben, dann verfallen sie abwechselnd in die Rolle des futterbettelnden Jungvogels: Einer bettelt wie ein Junges mit den Flügeln zitternd um Futter, worauf ihn sein Partner füttert. Dann wechseln sie meist die Rollen. Das zärtliche Schnäbeln vieler verpaarter Vögel ist ein ritualisiertes Füttern. Manche Vogelmännchen bauen in ihren Werbegesang kindliche Bettellaute ein.
Wie diese Appelle in der ersten Phase der Paarbildung wirken, beschrieb Niko Tinbergen sehr eindrucksvoll von den Lachmöwen. Bei dieser Art tragen beide Geschlechter eine schwarze Gesichtsmaske als Drohsignal. Das erschwert das Zueinanderfinden der Geschlechter. Hat ein Männchen durch Rufe ein Weibchen in sein Revier gelockt, dann löst dessen Erscheinen über das schwarze Gesicht häufig aggressive Abwehr aus. Ein Weibchen kann diese Aggressionen allerdings abblocken, indem es sich in geduckter Haltung mit kindlichem Futterbetteln dem Männchen nähert. Dann kann das Männchen gar nicht anders: Es muß Futter hochwürgen und füttern.
Ein weiteres beschwichtigendes Verhalten ist das Hinterkopfzudrehen, ein betontes Wegwenden der schwarzen Gesichtsmaske, das beide in der ersten Phase der Paarbildung demonstrativ immer wieder als Beschwichtigungsgebärde ausüben. Auf diese Weise werden die Tiere miteinander bekannt, und sobald sie einander persönlich kennen, bedarf es interessanterweise dieser beschwichtigenden Verhaltensweisen nicht mehr. Persönliche Bekanntheit blockiert oder mindert die Wirkung aggressionsauslösender Signale des Partners.
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Soziale Gefieder- und Fellpflege stiftet und bekräftigt Verbundenheit bei vielen Vögeln und Säugern. Mir gelang es, mich über soziale Fellpflege mit einem scheuen Riesengalago anzufreunden. Das in meinem Zimmer frei lebende Halbäffchen wich mir immer aus, wenn ich mich ihm näherte. Aber einmal saß es günstig, und ich vermochte ihn mit meinem Zeigefinger zart an einer Schulter zu kraulen. Das Äffchen zuckte kurz, gab sich aber dann mit sichtlichem Wohlbehagen dieser Behandlung hin. Zu meiner Überraschung hob es dann einen Arm und ließ mich auch seine Achselhöhle kraulen. Von da ab war es zahm! Kam ich in seine Nähe, dann hob es oft zum Kraulen auffordernd einen Arm.
Bei in Gruppen lebenden Tieren werden Aggressionen oft durch infantile Appelle abgeblockt. Rangniedere Wölfe, die von ranghohen angegriffen werden, werfen sich häufig auf den Rücken wie Welpen, die sich ihrer Mutter zur Säuberung darbieten. Sie harnen dabei häufig, was Trockenlecken auslöst. Wir können diese Verhaltensweisen auch bei Haushunden beobachten. Was als aggressive Auseinandersetzung begann, kann auf diese Weise in eine fürsorgliche Beziehung umgestimmt werden.
Auch bei uns Menschen ist der Ursprung der freundlichen Verhaltensmuster aus den fürsorglichen Eltern-Kind-Verhaltensweisen klar erkennbar: in der Umarmung und anderen Formen betreuender Berührung ebenso wie im Kuß, der sich vom Kußfüttern ableitet, einer Verhaltensweise, mit der Mütter auch heute noch in verschiedenen Kulturen in der Phase des Abstillens ihre Kleinen mit vorgekauter Nahrung zusätzlich Mund-zu-Mund füttern (auch in unserer Kultur war das früher üblich). Älteren Kindern wird die Nahrung übergeben. Dieses in der mütterlichen Fürsorge verwurzelte Füttern steht an der Basis der vielgestaltigen Rituale des Bewirtens, die Bindungen zwischen Erwachsenen bekräftigen.
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Viele unserer Lebensbereiche sind durch Fürsorglichkeit gekennzeichnet, aber, wie wir wissen, keineswegs alle. Das stammesgeschichtlich alte Reptilhirn bildet noch einen faustgroßen Anteil unseres Hirns. Das Dominanzstreben wurde bei uns Menschen zwar in manchen Bereichen durch Fürsorglichkeit überlagert, doch keineswegs in allen. Selbst in der Beziehung zwischen den Geschlechtern, die sicher in erster Linie durch Fürsorglichkeit, gegenseitigen Beistand und Liebe charakterisiert ist, spielen noch Dominanz und Unterwerfung eine Rolle. Das spiegelt sich sowohl im Verhalten als auch in der Physiologie wider. So hat man festgestellt, daß Tennisspieler, die ein Match gewinnen, einen deutlichen vorübergehenden Anstieg des Bluttestosteronspiegels erleben. Verlieren sie, dann sinkt der Spiegel des männlichen Hormons im Blut deutlich ab. Entsprechendes beobachtet man bei Schachspielern, und wenn Medizinstudenten ihre Prüfung erfolgreich bestehen, erleben sie ebenfalls einen Anstieg des männlichen Hormonspiegels im Blut. Fallen sie durch, dann sinkt der Hormonspiegel vorübergehend ab (Mazur und Lamb 1980).
Über diesen hormonalen Reflex wird gewissermaßen Erfolg in einer Situation des Wettstreits, also Dominanz, belohnt. Der Anstieg des Bluttestosteronspiegels wirkt sich ja subjektiv in einem positiven Lebensgefühl aus. Auch im Geschlechtlichen gibt es so etwas wie eine Dominanzlust. Sie wird normalerweise durch Liebe und Fürsorglichkeit überlagert. In der Sexualpathologie tritt sie bei Wegfall der affiliativen Komponente und oft auch der persönlichen Bindung in Erscheinung, im Extremfall als Sadismus. Es scheint ferner ein weibliches Gegenstück hierzu als Unterwerfungslust zu geben, die sich allerdings nicht nur im weiblichen Geschlecht äußert. Aus der Sexualpathologie weiß man, daß es Männer gibt, die sich gern quälen und unterwerfen lassen. Kleptomanie gilt im wesentlichen als weibliche Deviation. Robert Stoller (1979) befragte Kleptomaninnen. Er fand heraus, daß viele von ihnen die Aufregung der Angst suchten, weil diese sie sexuell erregte, häufig bis zum Orgasmus.
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Nach Sheila Kitzinger (1984) spielen in den sexuellen Phantasien der Frauen Akte der Submission eine große Rolle, was allerdings nicht zur Annahme verleiten sollte, daß Frauen mit solchen Phantasien das Phantasierte auch unbedingt wünschen. Liebe und Zärtlichkeit gehören zum normalen Sexualverhalten des Menschen. Ihr Wegfall bedeutet einen Rückfall in archaische Muster. Dominanz und Unterwerfung sind demnach im menschlichen Sexualverhalten nachzuweisen, bleiben aber normalerweise der fürsorglichen Liebe untergeordnet.
In anderen Funktionszusammenhängen spielen Dominanzstreben, Unterwerfungsbereitschaft, Kampf und Flucht allerdings eine große Rolle, vor allem in der Konkurrenz um begrenzte Güter wie Land, wobei das Dominanzstreben auch instrumental (S. 123) zur Bewältigung verschiedenster Aufgaben eingesetzt wird. Wie viele andere Wirbeltiere leben auch wir Menschen in Gruppen, die sich von anderen abgrenzen und die ein Gebiet als ihr Territorium besetzen, oft symbolisch abgrenzen und bei Bedrohung verteidigen. Menschen unterscheiden bei diesem Wettstreit sehr deutlich zwischen Gruppenmitgliedern und Gruppenfremden, und dafür sind bereits im Kind angelegte Verhaltensdispositionen verantwortlich.
2. »Wir und die anderen«
Die erste Manifestation des »Wir und die anderen« können wir schon sehr früh in der Kindesentwicklung feststellen. Im Alter von sechs bis acht Monaten beginnt ein gesundes Kind zwischen ihm bekannten und ihm fremden Personen zu unterscheiden. Während die ihm vertrauten Personen Verhaltensweisen freundlicher Zuwendung auslösen, zeigen die Kinder bei der Begegnung mit Fremden eine Mischung von Verhaltensweisen der Zuwendung mit solchen deutlich angstmotivierter Meidung.
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Im typischen Fall lächelt das Kind den Fremden an und birgt sich dann nach einer Weile scheu an der Brust der Mutter, um danach wieder freundlichen Blickkontakt mit der ihm unbekannten Person aufzunehmen. Es verhält sich ambivalent, offenbar werden hier zwei Verhaltenssysteme gleichzeitig aktiviert: eines der freundlichen Kontaktbereitschaft — man könnte von einem affiliativen oder prosozialen Verhaltenssystem sprechen — und eines der Meidung, das dem abweisend-feindlichen (agonistischen) System zuzuordnen ist. Denn wenn sich der Fremde nähert, kann das starke Angstreaktionen auslösen, auch wenn das Kind auf dem Schoß der Mutter sitzt. Und versucht er (oder sie) gar, das Kind an sich zu nehmen, dann wehrt es sich.
Schlechte Erfahrungen mit Fremden sind keineswegs die Voraussetzung für die Entwicklung einer solchen kindlichen Fremdenscheu, und da wir sie überdies in allen daraufhin untersuchten Kulturen antreffen, dürfte es sich um eine uns angeborene universale Reaktionweise handeln. Sie kann kulturell gefördert oder gemildert werden. Ich habe von den Tasaday (Philippinen), den Yanomami (Südamerika), den Buschleuten (Südafrika) und von Menschen in vielen anderen Kulturen sinngemäß des öfteren gehört, wie eine Mutter in meiner Gegenwart ein unfolgsames Kind ermahnte, wenn es dies oder jenes nicht täte, würde der Fremde hier (»der mit den stechenden Augen«, wie eine Tasaday einmal sagte) es mitnehmen.
Nach Mario Erdheim (1997) löst »bedrohliche Abwesenheit« der Mutter »Fremdenfurcht« aus. »In seiner primitivsten Form ist das Fremde die Nicht-Mutter. Und die bedrohliche Abwesenheit der Mutter läßt Angst aufkommen. Angst wird auch später mehr oder weniger mit dem Fremden assoziiert bleiben, und es bedarf immer einer Überwindung, um sich dem Fremden zuzuwenden« (S. 103). An dieser Aussage ist richtig, daß die kindliche Fremdenscheu funktionell die Mutter-Kind-Bindung absichern hilft.
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Ein Kind zeigt bei Annäherung des Fremden jedoch auch dann Scheu, wenn es auf dem Schoß der Mutter sitzt. Diese als »Trennungsfurcht« zu beschreiben, wie es oft geschieht, ist insofern problematisch, als das dem Säugling unterstellt, er würde die Situation so interpretieren. Aber darüber, was der Säugling erlebt und denkt, können wir keine Aussage machen. Außerdem löst ein Fremder nicht nur Meidereaktionen aus, sondern auch deutliche Anzeichen sozialer Kontaktbereitschaft wie Lächeln und Blickkontakt. Alle solche Reaktionen scheinen ganz unreflektiert spontan aufzutreten als Ausdruck einer klaren Ambivalenz (Abb. 12a-b).
Offenbar ist der Mensch Träger von Merkmalen, die sowohl Zuwendung wie Abkehr auslösen. Das Verständnis der letzteren reift offenbar bereits während des Säuglingsalters heran. Die Fremdenscheu sichert die Bindung des Kindes an die Mutter ab, was ja überlebenswichtig ist. Ein Kleinkind, das sich leicht Fremden anschlösse, brächte sich wohl in große Gefahr. Die kindliche Xenophobie ist auch bei vielen nichtmenschlichen Primaten ausgeprägt. Beim Menschen wird sie über persönliches Bekanntwerden abgebaut. Sie neutralisiert bis zu einem gewissen Grad die Wirkung angstauslösender Signale.
Bei normalsichtigen Kindern ist es vor allem der Blickkontakt, der Angst auslöst. Untersuchungen von W. Waters, L. Matas und W. A. Sroufe (1975) haben gezeigt, daß die Herzschlagfrequenz bei Blickkontakt zunimmt. Die Kinder können aber durch Wegschauen ihren Erregungsspiegel manipulieren. Blickkontakt signalisiert Kontaktbereitschaft. Er wird als Zuwendung interpretiert, als Mitteilung, daß die Kanäle für die Kommunikation offen sind. Allerdings dürfen wir den Partner nie zu lange anschauen, denn sonst empfindet er dies als Anstarren, und das wirkt als Ausdruck der Dominanz bedrohlich. Es sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß Augendarstellungen an Schiffen, Gebäuden und anderen Artefakten angebracht werden, um diese vor bösen Geistern und anderem Übel zu schützen.
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Abb. 12 a) Die Ambivalenz von Zuwendung und Abkehr im Flirt einer jungen Inderin. Sie hält einen Sonnenschirm in der Hand, hinter dem sie sich wie schutzsuchend verbirgt. b) Die Überlagerung von Verhaltensweisen der Zuwendung (Blickkontakt, Lächeln) mit Verhaltensweisen der Abkehr (Körperorientierung) bei einem weiblichen Säugling der G/wi-Buschleute (Zentrale Kalahari) bei Kontakt mit einem Fremden, der sich links seitlich von ihm befindet. Typisch ist auch das Verbergen des Lächelns durch die vorgehaltenen Hände. - Fotos: I. Eibl-Eibesfeldt (aus einem 16-mm-Film).
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Wenn zwei Menschen sich unterhalten, dann bricht der Sprechende immer wieder den Blickkontakt ab. Nur der Zuhörende darf sein Gegenüber dauernd anschauen, er muß ja an nichtverbalen Zeichen erkennen, wann ihm die Rede übergeben wird. Auch taub und blind geborene Kinder zeigen Fremdenscheu, sie reagieren dabei auf geruchliche Merkmale.
Die Fremdenscheu ist gewissermaßen Ausdruck eines Urmißtrauens, das über Bekanntwerden abgebaut wird. So lernt das Kind zunächst, zu den übrigen Familienmitgliedern eine Vertrauensbeziehung herzustellen und dann zu den weiteren Freunden und Bekannten der Familie. Die Engländer haben für diesen Prozeß des Bekanntwerdens den sehr treffenden Ausdruck familiarisation. Über ihn werden Menschen durch persönliche Bekanntheit zu quasi familialen Wir-Gruppen verbunden, die sich mit einer gewissen Scheu gegen andere Gruppen abgrenzen.
Die altsteinzeitlichen Jäger- und Sammlervölker lebten in solchen kleinen Lokalgruppen, die selten über 50 Personen zählten. Untersuchungen über das Zusammenleben von Völkern, die noch heute oder bis vor kurzem in Kleinverbänden lebten, zeigen, daß in derartigen Gemeinschaften Äußerungen repressiver Dominanz unterdrückt und fürsorgliche Verhaltensmuster gefördert werden. Personen von Ansehen, die es auch in solchen Gesellschaften gibt, beziehen ihre hervorgehobene Stellung im wesentlichen dank ihrer sozialintegrativen Fähigkeiten. Sie schlichten Streit, stehen Schwächeren bei, teilen und tragen so und auf andere Weise zum sozialen Frieden bei. Sie zeigen überdies meist noch besondere Begabungen als Sprecher für die Gruppe, als Kriegsführer oder Heiler. Aber es ist vor allem das prosoziale Geschick, das ihre Stellung bestimmt. An solche Personen wenden sich die übrigen Gruppenmitglieder, wenn sie Rat oder Schutz suchen. Sie orientieren sich nach ihnen, was das Wort Ansehen treffend beschreibt. Verlieren diese Personen ihr soziales Geschick, dann verlieren sie auch ihr Ansehen.
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Barbara Hold (1976) hat in Kindergärten verschiedenen Erziehungsstils in Deutschland und Japan sowie in Kindergruppen der Buschleute Selbstorganisationsprozesse untersucht und festgestellt, daß auch hier die Kinder, die Spiele organisieren können, Streit schlichten, Schwächere schützen und mit den anderen teilen, Ansehen genießen. Ihnen zeigen die anderen Kinder Dinge, an sie wenden sie sich, und zählt man aus, wer von den Kindern am häufigsten von den anderen angeschaut wird, dann findet man auch schnell heraus, wer »Ansehen« genießt.
Natürlich gibt es auch in der individualisierten Kleingesellschaft einzelne, die sich über Prahlerei und mit der Hilfe ihrer Ellenbogen über andere erheben wollen. Wie wir ausführten, ist die Neigung zu repressivem Dominanzstreben uns Menschen angeboren. Sie wird aber in den individualisierten Kleingesellschaften nicht geduldet. Ein Buschmann der Zentralen Kalahari, der mit seinem Jagderfolg prahlt, wird von den anderen zurechtgewiesen. Das meint man wohl, wenn man diese Gesellschaften auch als egalitär bezeichnet. Der Normierungsdruck ist sehr stark.
Repressive Dominanz wird nur gegen Gruppenfremde geduldet, und in einigen traditionellen Kulturen genießt der erfolgreiche und mutige Krieger Ansehen. Die Neigung, repressive Dominanzbeziehungen zu Gruppenfremden herzustellen, schließt Bündnisse zwischen Gruppen nicht aus. Im Gegenteil, es ist ein Merkmal des Menschen, daß er dies kann. Aber Bündnisse zerbrechen leicht, wie die Geschichte lehrt; Opportunismus geht über Bündnistreue, und daher geben sich Menschen im Auftreten gegenüber Vertretern anderer Gruppen eher förmlich-zurückhaltend. Vor allem meiden sie es, Zeichen von Schwäche zu zeigen, da dies die anderen zu Dominanzverhalten verleiten könnte. Man gibt sich daher im Umgang mit Fremden und weniger gut Bekannten gern selbstsicher und stark, aber nicht provokant, es sei denn, man sucht Händel. Im allgemeinen verbindet man die Verhaltensweisen oft aggressiver Selbstdarstellung mit beschwichtigenden und bandstiftenden Appellen (Eibl-Eibesfeldt 1970).
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Die Fähigkeit, auf der Grundlage persönlicher Bekanntheit größere Familien und Sippenverbände zu bilden, führte zur Bildung individualisierter kleiner Lokalgruppen, die sich von anderen, ähnlich organisierten abgrenzten. Sippen-selektionistisch entwickelte Verhaltensweisen der Gruppenbindung erweisen sich dabei so effektiv, daß schließlich auch Gruppenmitglieder, die nicht unmittelbar als Blutsverwandte zu einer Familie gehörten, mit Hilfe unterstützender kultureller Einrichtungen in der Lage waren, sich mit anderen Mitgliedern zu solidarisieren, so daß die Gruppen in bestimmten Situationen, etwa im Kriegsfall, als Einheiten auftreten und handeln konnten. Damit wurden Gruppen, zusätzlich zu den Einzelpersonen und Sippen, übergeordnete Einheiten der Selektion, denn schließlich entschieden Sieg und Niederlage oft in dramatischer Weise über ihr Schicksal.
Bindungen werden bei uns Menschen auf allen Ebenen durch Teilen, Geben und andere Formen des reziproken Altruismus gefestigt. Das Schrifttum zur Evolution des reziproken Altruismus in der ethologischen und anthropologischen Fachliteratur ist umfangreich und kann hier nicht im einzelnen referiert werden. Bemerkenswert sind soziale Netzwerke auf der Basis eines verzögerten reziproken Gabentausches, der der sozialen Absicherung dient. Sie stellen gewiß eine der wichtigsten kulturellen Erfindungen in der sozialen Evolution unserer Spezies dar. Wir finden sie bereits in den kleinen auf Sippenbasis begründeten Gemeinschaften. Eines der am besten analysierten Beispiele ist das reziproke Austauschsystem Xharo der Kalahari-! Kung (Wiessner 1977, 1982). Dort pflegt jeder erwachsene Mann und jede erwachsene Frau Beziehungen mit durchschnittlich sechzehn Tauschpartnern, die sich über ein weites Areal, 20 bis 200 Kilometer vom Tauschpartner, verstreuen. Die Tauschpartner erhalten Geschenke und erwidern diese mit einer gewissen Verzögerung.
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Das festigt einen ungeschriebenen Kontrakt, der es den Tauschpartnern erlaubt, einander zu besuchen und in Zeiten der Not auch im Gebiet des Tauschpartners zu jagen und zu sammeln. Gegenseitige Hilfe ist damit gesichert. Wiessner konnte die Wirksamkeit dieser Art Sozialversicherung während der Hungersnot im Jahre 1974 studieren. Als Geschenke werden Perlarmbänder, Pfeilspitzen und in neuerer Zeit auch Objekte wie Decken ausgetauscht. Die Kosten, die jemand aufwendet, um sie zu erwerben oder herzustellen, sind bemerkenswert; im Durchschnitt beträgt der zeitliche Aufwand 15 Tage pro Jahr, um die Tauschobjekte herzustellen oder zu erwerben. Die Tauschnetzwerke dienen sowohl der sozialen Absicherung als auch dem Handel. Entwickeln sich größere Gesellschaften, dann werden die Netzwerke weiter ausgebaut, um weiter ausgedehnte Populationen zu Solidargemeinschaften zu vereinen.
Die Fähigkeit, solche Netzwerke aufzubauen, gründet sich auf einige universale Prädispositionen wie die fürsorgliche Motivation und die ihr zugehörigen affiliativen Verhaltensweisen, ferner die Fähigkeit, zu symbolisieren. Für die bindende Funktion des Gebens ist die universale Objektbesitznorm und die Veranlagung zur verzögerten Reziprozität Voraussetzung. Dazu kommt noch die Fähigkeit, auch nicht Verwandte oder nur entfernt Verwandte in das familiale Verhalten einzubeziehen. Das geschieht insbesondere durch den Aufbau fiktiver Verwandtschaftsbeziehungen über Heirat.
Eine bemerkenswerte Eigenschaft der menschlichen Sozialorganisationen betrifft die männliche Gruppensolidarität, eine Erscheinung, die Lionel Tiger (1969) ausführlich erörterte. Eine Vorbedingung für ihre Evolution könnte die Virilokalität gewesen sein. In der Mehrzahl der sippenbegründeten Gesellschaften bleiben die Männer gewöhnlich in ihrer Lokalgruppe und innerhalb ihres Territoriums, während Frauen oft abwandern.
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Ein ähnliches Muster finden wir übrigens bei unseren nächsten Tierverwandten, den Schimpansen, bei denen die Männchen ebenfalls in dem Territorium bleiben, in dem sie geboren wurden. Nur Weibchen können während ihrer ersten Brunst zu anderen Gruppen abwandern und damit ihre Gemeinschaft wechseln. Die Männchen einer Lokalgruppe der Schimpansen sind daher in der Regel nahe Blutsverwandte, und die männliche Solidarität fördert die Gesamteignung. Bei unseren frühen Vorfahren könnten ähnliche Verhältnisse vorgelegen haben. Selbst heute noch neigen Männer dazu, bei der Gruppe ihrer Geburt zu bleiben, während Frauen öfter mit der Heirat auch den Ortswechsel vollziehen. Aber die Solidarität der Frauen zu ihrer Geburtsgruppe bleibt erhalten, und das erlaubt es, über die Verwandten der Frau wechselseitige Beziehungen zu Mitgliedern anderer Gruppen herzustellen. Solche Allianzen, die vielfach dazu dienen, eine Vielfalt von Risiken aus der Natur und dem sozialen Umfeld zu reduzieren, sind eine wichtige Voraussetzung für die Herstellung von Zwischengruppenallianzen (Wiessner 1977, 1982; Winterhaider 1986; Smith 1988).
Mit der Unterscheidung des »Wir und die anderen« kam eine neue Qualität sozialen Verhaltens in die Welt und ein neues Potential für die weitere Evolution. Mitglieder der gleichen Art wurden je nach Nähe oder Distanz als Freund oder Gegner unterschieden. Agonistische Verhaltensweisen sind sehr alt, wir erwähnten die Rivalenkämpfe der Meerechsen. Reptilien kennen jedoch nur »andere«, und zwar sowohl als potentielle Fortpflanzungspartner wie auch als Rivalen. Die Fähigkeit, eine Wir-Gruppe von den »anderen« zu unterscheiden, finden wir erst bei den Vögeln und Säugern4. Diese neue Fähigkeit drückte sich in einer Vielfalt von Erscheinungsformen aus: in der Paarbindung, der Familie, den individualisierten Gruppen des Menschen, ja selbst in den anonymen Großgesellschaften, den Nationen. Die fürsorglichen, affiliativen Verhaltensweisen der Bindung und die Exklusivität, die mit ihr einherging, brachten ein neues evolutionäres Potential in die Welt.
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Beim Menschen knüpfen Bande der Freundschaft und Zugehörigkeit die Mitglieder der individualisierten Gruppe in einer Art Urvertrauen aneinander. Im Kontrast dazu begegnet man Fremden mit einem gewissen Mißtrauen. Xenophobie ist bekanntlich ein universales Phänomen (Reynolds et al. 1986; Eibl-Eibesfeldt 1989). Ich möchte jedoch betonen, daß man die Fremdenfurcht nicht verwechseln darf mit Fremdenhaß, der ein Ergebnis spezieller Indoktrination ist. Wir müssen allerdings zur Kenntnis nehmen, daß das Urmißtrauen Fremden gegenüber unsere Wahrnehmung mit einem Vorurteil belastet, so daß eine negative Erfahrung mit einem Fremden uns im allgemeinen mehr beeindruckt als eine Vielzahl positiver Erfahrungen. Im Wettstreit mit Fremden neigen wir dazu, repressive Dominanzbeziehungen herzustellen. Die primäre Gefühlsethik gegenüber Fremden ist sicher sehr von der Gefühlsethik gegenüber eigenen Gruppenmitgliedern unterschieden.
Das menschliche Sozialverhalten ist in dieser Weise durch eine fundamentale Ambivalenz dem Mitmenschen gegenüber gekennzeichnet. Verhaltenstendenzen der Meidung und der Kontaktbereitschaft werden gleichzeitig aktiviert, wobei sich die Stärke dieser Tendenzen auf einer gleitenden Skala von Fremd nach Bekannt, vom Agonistischen zum Affiliativen verschiebt. Die agonistischen Verhaltenstendenzen repressiven Dominanzstrebens sind, wie schon ausgeführt, altes Landwirbeltiererbe. Am menschlichen Hirn hat das Reptilhirn immerhin noch beträchtlichen Anteil (Bailey 1987). Ich möchte an dieser Stelle ein weiteres Mal daran erinnern, daß die alten Dominanz- und Unterwerfungsmechanismen auch beim Menschen noch wirksam sind, was sich unter anderem darin bemerkbar macht, daß bei Erreichen einer Dominanzposition beim Mann über Ausschüttung des männlichen Sexualhormons ins Blut eine Art physiologischer Belohnung erfolgt, die, wie wir bereits ausführten, Vitalität und Selbstgefühl bekräftigt. Sie können aber, wie wir schon zeigten, durch die dem Mutter-Kind-Bereich entstammenden fürsorglich-bindenden Verhaltensweisen und Motivationen gebändigt werden.
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Für den individualisierten Kleinverband, in dem jeder jeden kennt, gilt, daß sich keiner über andere erheben darf (Wiessner 1995). Das heißt nicht, daß es in diesen Gruppen keine Rangordnungen gibt, aber sie gründen sich nicht auf repressive Dominanz, sondern auf prosoziale Eigenschaften und werden am besten als »Ansehen« charakterisiert. Personen, die sich durch prosoziales Geschick auszeichnen, sind es, nach denen man sich richtet, denen man Aufmerksamkeit schenkt. Verlieren sie die soziale Kompetenz, dann verlieren sie auch ihr Ansehen, und man orientiert sich nicht mehr an ihnen. Da Frauen besonderes Geschick im sozialen Umgang mit anderen haben und viel zur freundlichen Pflege sozialer Beziehungsnetze beitragen, genießen auch sie in dieser Hinsicht besonderes Ansehen, hier wieder besonders ältere, erfahrene Frauen. Daß nach außen hin Männer für den Beobachter mehr in Erscheinung treten, rührt daher, daß Männer im Zusammenhang mit ihrer territorialen, abgrenzenden Funktion die Gruppe nach außen vertreten. Als männlicher Besucher begegnet man zuallererst ihnen.
Von der repressiven, nach außen gerichteten Dominanz ist eine prosoziale Dominanz zu unterscheiden. Bereits im Tierreich führen die Eltern, die Jungen folgen ihnen. Für uns Menschen gilt das natürlich in besonderem Maß, denn das Menschenkind ist besonders lange von der Fürsorge der Eltern abhängig. Die Eltern, hier insbesondere die Mütter, sind Fluchtziel. Sie nähren und unterweisen, und da viel Wissen an die nächste Generation weitergegeben werden muß und jedes Kind sehr viel zu lernen hat, ist beim Kind eine deutliche physiologische und körperliche Entwicklungsverzögerung festzustellen. Der Mensch erreicht seine Geschlechtsreife im Vergleich zu anderen Primaten ziemlich spät und verharrt bis dahin auf einem kindlichen Entwicklungszustand, der es den Eltern physisch wie psychisch ermöglicht, Kinder zu betreuen, zu führen, zu unterweisen und sie auch bei Fehlverhalten in die Schranken zu weisen.
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Erst in der Pubertät kommt es zu einem dramatischen Entwicklungsschub mit einer gewissen Emanzipation des Kindes, die in einer Loslösung von der mütterlichen oder elterlichen Dominanz besteht.
Hier treten allerdings in modernen Gesellschaften oft auch Störungen auf, wenn das Bedürfnis, zu betreuen, das besonders bei Müttern stark ausgeprägt ist, nicht durch das Betreuen noch vorhandener jüngerer Kinder oder der ersten Enkel abgefangen wird. Das ist in der kinderarmen anonymen Großgesellschaft unserer Tage, die außerdem durch ihre Mobilität Sippenverbände auseinanderreißt, ziemlich oft zu beobachten. Auch in der ehelichen Gemeinschaft kann sich die partnerschaftliche Fürsorglichkeit bisweilen zur fürsorglichen Dominanz auswachsen. Freundlichkeiten und Aufmerksamkeiten werden dann eventuell zur Bedrängnis (oder auch nur als solche empfunden).
3. Territorialität, Krieg
Menschen grenzen sich in der Regel in Gruppen unterschiedlicher Größe von anderen Menschengruppen ab, und sie nehmen bereits auf der Stufe altsteinzeitlicher Wildbeuter Jagd- und Sammelgebiete, Wasserstellen und ähnliche begrenzte Ressourcen in Besitz, die sie notfalls auch gegen andere verteidigen. Im allgemeinen entwickeln sich jedoch Konventionen, die zur Achtung von Landrechten führen. Die Art und Weise, wie territoriale Rechte gesichert werden, erfährt der speziellen ökologischen Situation entsprechende kulturelle Abwandlungen. In den Trockengebieten Australiens, wo die einzelnen Lokalgruppen über ein großes Gebiet verfügen müssen, kann eine Gruppe ihr Gebiet nicht dauernd patrouillieren. Hier dienen heilige Stätten als Platzhalter. Sie stammen dem Glauben der Zentralaustralier zufolge von Totem-Ahnen ab, deren Geister auch heute noch über das betreffende Gebiet wachen.
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Diese symbolischen Zentren der Territorien sind absolut tabu. Da alle fest an die Totem-Ahnen glauben, werden territoriale Übergriffe tunlichst vermieden. Außerdem sorgt jede Gruppe durch besondere Rituale für das Gedeihen der Totemtiere einer Gruppe, die als Nahrung für alle wichtig sind. Würde man eine Gruppe vertreiben, dann gäbe es dieses Jagdwild nicht mehr. Auch das schützt die Territorien.
Bei den afrikanischen Buschleuten (G/wi, !Ko, Nharo) gibt es unterschiedliche Manifestationen der Territorialität, die E. A. Cashdan (1983) zu deren spezieller Ökologie in Beziehung setzt. Auf welche Weise territoriale Rechte gesichert werden, das wechselt — aber an der Tatsache, daß Menschen nicht erst mit der Feldbestellung und Tierzucht Gebiete für sich beansprucht haben, kann man nach den mittlerweile reichlich vorliegenden Erhebungen nicht mehr zweifeln. Ich betone dies, weil in den sechziger Jahren die Hypothese vertreten wurde, daß die Jäger- und Sammlerkulturen nichtterritorial und friedlich gelebt hätten und jene, die noch existieren, das auch noch heute täten (Lee und DeVore 1968). Diese Offenheit, wurde ferner behauptet, sei auch für die uns nächsten Tierverwandten, die Schimpansen, typisch und sei ein zusätzliches Indiz für die ursprüngliche Friedfertigkeit des Menschen (Reynolds 1966). Mittlerweile hat man die Buschleute der Kalahari näher kennengelernt, und selbst aus den neueren Beschreibungen von Richard B. Lee (1979) kann man entnehmen, daß Buschleute über Landrechte und Rechte an Ressourcen verfügen und auch darauf achten, daß diese von anderen respektiert werden. Man weiß auch, daß sie ihre Reviere bis in die Gegenwart verteidigt haben. Auf ihren alten Felsmalereien kann man sehen, wie sich Buschmanngruppen schon früh mit Pfeil und Bogen bekämpften (Abb. 13). Auch die Geschichte von den friedlichen Schimpansen hielt einer kritischen Überprüfung nicht stand (Eibl-Eibesfeldt 1975, 1997).
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Ich weise darauf hin, weil immer wieder auch in der angesehenen Tagespresse Artikel erscheinen, die die Territorialität als etwas rein Kulturelles betrachten. Selbst Nomaden wandern nicht uneingeschränkt, sondern entlang bestimmter Routen, etwa im Jahreszyklus bestimmte Weiden besuchend oder bestimmte Fangplätze für Fische, deren Zugänglichkeit wieder auf verschiedene Art geregelt sein kann.
Kollektive Verteidigung der Reviere und Gruppenaggressionen finden wir bereits bei einigen in Gruppen lebenden Affen. Sehr ausgeprägt ist sie bei Schimpansen, bei denen Männchen in Gruppen die Reviergrenzen patrouillieren und dabei auch Überfälle auf Mitglieder benachbarter Gruppen machen. Es gibt also Vorläufer für die für uns Menschen charakteristische kollektive Gruppenaggression.
Die Konkurrenz zwischen Gruppen um begrenzte Ressourcen wie kultivierbares Land oder Jagdgebiete wurde bei uns oft in kämpferischer Weise ausgetragen. Solche Kämpfe endeten dann mit der Vertreibung, Unterjochung oder der physischen Vernichtung des Gegners.
Der Krieg, definiert als strategisch geplante, von besonders ausgewählten Männern angeführte und unter dem Einsatz destruktiver Waffen durchgeführte Gruppenaggression, ist jedoch ein Ergebnis der kulturellen Evolution, die zwar angeborene Verhaltensdispositionen in ihre Dienste nimmt, sie aber kulturell auf besondere Weise gewichtet und ausgestaltet. So wird zum Beispiel der Einsatz der Krieger für die Gemeinschaft besonders hoch bewertet. Auch werden Feinde durch Indoktrination zu minderwertigen oder bösen Menschen erklärt, ja selbst zu Nichtmenschen, die es auszurotten gilt. Die Wirksamkeit mitleidheischender Gebärden der Unterwerfung wird so verringert bis ausgeschaltet. Dazu tragen noch wenig untersuchte physiologische Prozesse bei, die bei den Kriegführenden geänderte Bewußtseinszustände verursachen.
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Abb. 13 Der Krieg kam nicht erst mit dem Ackerbau in die Welt. Auch Jäger- und Sammlervölker praktizierten ihn, wie die Felsmalereien der Buschleute in den Drakensbergen belegen, die aus der Periode vor dem Kontakt mit dem Europäer stammen. Die hier gezeigten Felsmalereien befinden sich auf der Farm Godgegeven bei Warden in Südafrika. Die Aufnahmen a) und c) zeigen jeweils zwei einander bekämpfende Buschmanngruppen, die Aufnahme b) wohl eine innerethnische Auseinandersetzung. Die Buschleute kämpfen gegen einen dunkleren, gedrungeneren Menschentypus. Einer trägt in der Hand eine Waffe (Faustkeil?). - Fotos: I. Eibl-Eibesfeldt.
Die Auseinandersetzungen zwischen zwei verfeindeten Gruppen der Enga auf Neuguinea beginnen zum Beispiel wie ein Sportereignis5. Die Kontrahenten stehen einander auf einer Lichtung gegenüber und verhöhnen einander, von ihren Schilden gedeckt. Dann fliegen die ersten Pfeile, und eine große Erregung erfaßt die beiden Gruppen. Sie rücken gegeneinander vor, und einzelne Personen scheinen wie weggetreten.
Sie scheinen in diesem veränderten Bewußtseinszustand weniger gehemmt, wie in einer Art Rausch, der wahrscheinlich auf die Wirkung des in diesem Zustand verstärkt ausgeschütteten Hirnopioids Endorphin zurückzuführen ist. Wird einer von einem Pfeil getroffen, dann merkt er das wohl, und er zieht sich zurück, aber er scheint keine starken Schmerzen zu empfinden — die kommen erst später, wenn seine Verletzung von den anderen behandelt wird. Daher assoziiert er den Schmerz nicht unmittelbar mit dem Kampfgeschehen, was eine Abdressur kriegerischen Eifers verhindert.
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Interessant ist, daß die Krieger in der Phase des Endorphinrausches auch Massaker begehen; später befragt, leugnen sie, daß sie sich so verhalten hätten (wie Polly Wiessner mir mitteilte, die lange bei den Enga weilte). Ob es sich hier um echte Amnesien oder um Verdrängungen handelt, kann man nicht feststellen. Wahrscheinlich wirkt beides zusammen, wobei der Wunsch nach Verdrängung interessant ist, weist er doch darauf hin, daß durchaus Tötungshemmungen vorhanden sind.
Bereits Freud macht darauf aufmerksam, daß im Verhalten gegenüber Feinden offenbar nicht nur feindselige Gefühle wirksam seien, sondern auch freundliche. Er schloß dies aus der Tatsache, daß erfolgreiche Krieger in verschiedensten Kulturen Säuberungsrituale absolvieren müssen, weil sie als unrein gelten. Da diese Rituale oft schmerzvoll sind und mit Entbehrungen verbunden, sind sie Sühneritualen gleichzusetzen. Wir kennen sie in der Tat von vielen Kulturen. Helena Valero beschrieb sie zum Beispiel von den Yanomami des Oberen Orinoko (Biocca 1970), unter denen sie viele Jahre als weiße Gefangene lebte. Sie erzählt auch, wie die Gruppe, bei der sie lebte, einmal eine andere überfiel und dabei ein Massaker unter Frauen und Kindern anrichtete. Sie diskutierten danach, ob es richtig gewesen sei, das zu tun, und zwar mit dem Ausdruck deutlich schlechten Gewissens. Sie beruhigten sich damit, daß sie ja nicht alle umgebracht hätten und die Frauen wieder Kinder kriegen würden. Überdies sei es notwendig gewesen, da ja sonst die Buben zu waffentüchtigen Kriegern herangewachsen wären, die Rache nehmen könnten.
Der Krieg ist eine Hochrisiko-Strategie, und wir beobachten daher, daß sich im Laufe der menschlichen Geschichte Konventionen entwickeln, die ähnlich wie bei den Kommentkämpfen der Tiere das Risiko beim Kräftemessen mindern. Allerdings hinken bei der rasanten Entwicklung der technischen Mittel die Konventionen immer hinter der Waffentechnik her, wie wir das bis in die Gegenwart beobachten können.
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Der Krieg steckt sicher nicht in unseren Genen, aber als kulturelle Anpassung nützt er angeborene agonistische Dispositionen und unterdrückt die prosozialen Dispositionen dem Feind gegenüber. Er hat insofern mit den Genen zu tun, weil es die Gene der Siegreichen sind, die bevorzugt weitergegeben werden. Als eine kulturell entwickelte Methode des Wettstreits gestattet er Gruppenselektion, das haben kürzlich Untersuchungen über die Kriege in Neuguinea durch J. Soltis, R. Boyd und P. J. Richerson (1995) bestätigt. Die Gruppenausrottung, von der sie berichten, ist beachtlich, obgleich die Autoren betonen, daß viele der Besiegten und ihres Landes verlustig Gegangenen als Flüchtlinge absorbiert wurden. Wir können auch in solchen Fällen davon ausgehen, daß der Verlust der Ressourcen die Überlebenstüchtigkeit der Verlierer nicht gerade förderte.
Bis vor kurzem wurde das Konzept der Gruppenselektion von den meisten Fachleuten abgelehnt, aber sie wurde als Möglichkeit auch nicht ausgeschlossen. E. O. Wilson (1975) wies darauf hin, daß durch Indoktrination geschaffene Konformität Gruppen so eng zusammenschließen könne, daß sie zu Einheiten der Selektion würden. Würde andererseits die Konformität geschwächt, dann stürben Gruppen unter Umständen auch aus. »Gemeinschaften, die eine höhere Frequenz von konformen Genen haben, würden solche, die verschwinden, ersetzen und damit die durchschnittliche Frequenz in den Metapopulationen der Gesellschaften ... Die Gene könnten von der Art sein, die die In-doktrinierbarkeit des Menschen fördern, selbst auf Kosten der Individuen« (Wilson 1975, S. 562).
Ich stellte unabhängig davon die These auf, daß mit der individualselektionistischen Entwicklung der individualisierten Bindung und einiger anderer Anpassungen im Dienste der Brutfürsorge Verhaltensweisen gewissermaßen als Voranpassungen zur Verfügung standen, die es erlauben, auch nicht Blutsverwandte in Gruppen so zu binden, daß Gruppenselektion wahrscheinlich wird — vorausgesetzt, daß die in geschlossenen Großgruppen Vereinten genetisch näher miteinander verwandt sind als mit anderen.
Kulturenvergleichende Untersuchungen belegen die Existenz von kulturellen Strategien, die es Gruppen erlauben, als Einheit aufzutreten, selbst wenn dies gegen die Interessen vieler Individuen geht. Die Kriegsethik, die Indoktrinierbarkeit des Menschen mit Werten der Gruppe und die Ethik des Teilens scheinen schwer allein auf der Basis der Individualselektion erklärbar zu sein (Eibl-Eibesfeldt 1982). Wir werden auf das Phänomen der Indoktrination im folgenden noch genauer eingehen.
Bis zum heutigen Tag beobachten wir, daß Menschen im großen wie im kleinen auf Gruppenbasis kriegerisch und wirtschaftlich scharf miteinander konkurrieren. Der Krieg steckt, wie gesagt, nicht in unseren Genen, er fördert aber die Verbreitung der Gene der Sieger, wir sind alle Nachfahren erfolgreicher Krieger. Mit dieser Wirklichkeit müssen wir uns auseinandersetzen, wenn wir eine friedlichere Weltgemeinschaft wollen.
Der Krieg ist eben nicht, wie manche behaupten, nur eine pathologische Entgleisung einer im Grunde friedlichen Menschennatur. Er ist ein kulturell entwickelter Mechanismus im Dominanzwettstreit um Territorien und andere Ressourcen. Wenn wir den Krieg aus der Welt schaffen wollen, müssen wir darüber nachdenken, welche Konventionen wir dazu entwickeln müssen und wie wir die Konkurrenz entschärfen können. Eine Voraussetzung für friedliche Koexistenz wäre, daß alle Staaten sich verpflichten, ihre Bevölkerung nicht über die Tragekapazität ihres Landes hinaus wachsen zu lassen.
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