Start   Weiter

4.  Der Weg in die Großgesellschaft  

 

 

91-119

In der Konkurrenz der traditionellen Kleingruppen haben jene Vorteile, die es schaffen, mehr Menschen in einer Solidar­gemein­schaft zusammen­zuhalten als ihre Widersacher, und die darüber hinaus auch in der Lage sind, sich mit anderen dauerhaft zu verbünden (wir erwähnten Kriegs­bündnisse). Dauerhafter sind Vernetzungen der Gruppen über Heirats­bindungen und über die ebenfalls sehr alten Formen der zur sozialen Absicherung auf individueller Basis entwickelten sozialen Netzwerke (wir erwähnten den reziproken Geschenketausch). 

Bei den Himba, die als Rinderhirten der Trockensavanne den Norden Namibias und den Süden Angolas bewohnen, stellt das Okuumba-Verleihsystem eine vergleichbare Absicherung für Notzeiten dar. Es funktioniert wie ein Bankguthaben: Man gibt an eine befreundete andere Gruppe Rinder zur Pflege ab. Die Rinder verbleiben als Besitz dem ursprünglichen Besitzer, ihre Nutzung hat jedoch der, dem sie überlassen wurden. Die Milch kann von diesem verbraucht werden, und die Weiterzucht wird nach einem vereinbarten Schlüssel (Zinsen) geteilt. In Notzeiten kann eine Gruppe, die ihr Vieh verloren hat, wieder auf die verliehenen Rinder zurückgreifen.

Diese gruppenübergreifenden Absicherungssysteme auf Gegenseitigkeit überwinden die Kleingruppe, aber sie schaffen noch keine einheitliche größere Solidargemeinschaft. Sie können jedoch die Bildung von solchen fördern. Auf der kulturellen Entwicklungsstufe der Jäger und Sammler ist die Zahl der Menschen, die an einem Ort versorgt werden können, schon aus ökologischen Gründen begrenzt. Auf die gleiche Fläche bezogen ist die für Menschen verwertbare Produktion an Eiweiß und Kohlehydraten weiter gestreut und daher geringer als bei Kulturen, die Haustiere züchten und Land kultivieren. Außerdem müssen Jäger und Sammler ihr Wild erjagen. Bei starker Bejagung weicht das Wild jedoch aus und wird scheu. 

Es bedarf größerer Anstrengung, um das begehrte tierische Eiweiß zu erjagen, ein Faktor, der zum Beispiel bei den Yanomami (Regenwald-Indianern am Oberen Orinoko) zu Irritationen und schließlich zu Konflikten sowohl zwischen den verschiedenen Lokalgruppen als auch innerhalb derselben führt (Good 1995). Die Gruppengröße wird auf der Kulturstufe des Wildbeuters schließlich auch dadurch begrenzt, daß die Sozialkontrolle einer Gesellschaft ohne Führungshierarchien, die nur über das Band persönlicher Bekanntheit zusammengehalten wird, mit zunehmender Größe der Gruppe immer schwieriger wird. Neigungen zu repressiver Dominanz, die durch persönliche Bekanntheit normalerweise unterdrückt wird, beginnen sich bemerkbar zu machen. Bei den Yanomami, einer Übergangskultur vom Wildbeuter zum Gartenbauer, spaltet sich eine Gruppe, wenn sie eine Kopfzahl von 100 bis 150 Personen erreicht hat. '

Mit der Entwicklung von Viehhaltung und Landbestellung erhöht sich die Tragekapazität eines Gebietes, und das gestattet die Bildung größerer Gemeinschaften, was im Kriegsfall von Vorteil ist. Allerdings verstärken sich mit zunehmender Gruppengröße und der damit zunehmenden Anonymität ihrer Mitglieder die internen Schwierigkeiten. In einer anonymen Gemeinschaft neigen Menschen zu größerer Rücksichtslosigkeit. Es bedarf einer Führung, die diese Tendenzen unterdrückt, und der Gesetze, die den Einsatz von Regierungsgewalt in gewissen Situationen legitimieren, in Verbindung mit einer Rechtsprechung, die das Faustrecht ablöst. Auf Macht begründete Autorität liegt bei der Führung, die mit zunehmender Größe einer Gemeinschaft hierarchisch gegliedert ist, und bei den gesetzlich legitimierten machtausübenden Organen wie der Polizei, dem Militär und den Justizorganen. Dabei werden im Dienste der Erhaltung der Ordnung und des inneren Friedens durchaus uns angeborene Verhaltenstendenzen genützt wie jene, sich unterzuordnen.

92


Die Bereitschaft, sich zu unterwerfen, ist wahrscheinlich altes Erbe. Zu dem innerartlichen Kampfrepertoire bereits der niederen Wirbeltiere gehört sehr oft die Demutsstellung, mit der sich ein Verlierer unterwerfen und den Kampf beenden kann. Die Verhaltensweisen des Folgens, die auch eine Art der Unterordnung darstellen, sind dagegen, wie so viele Voranpassungen für das Gruppenleben, familialen Ursprungs. Bereits bei nichtmenschlichen Primaten folgen Jungtiere den sie führenden Müttern und später ranghohen Gruppenmitgliedern. Sie tun dies insbesondere, wenn sie Angst haben. Die Automatik dieser Folgereaktion ist so blind, daß Jungtiere sogar dann bereit sind, ihrer Mutter zu folgen, wenn sie dafür im Experiment elektrische Strafreize erhalten. Das Verhalten ist nicht durch Bestrafung abdressierbar, es wird vielmehr durch sie bekräftigt, und das macht auch Sinn. Selbst ein von seiner Mutter mißhandeltes Junges kann es sich nicht leisten, ihr nicht mehr nachzulaufen — allein wäre es auf jeden Fall verloren.

Auch bei uns Menschen verstärkt Angst die Folgebereitschaft. Das wußten religiöse und politische Führer zu allen Zeiten zu nützen, um eine Gruppe über Angst an sich zu binden. Noch in einem anderen Zusammenhang sind wir zu Folgebereitschaft und damit im übertragenen Sinn zu Gehorsam vorbereitet: Ranghohe sind für uns Menschen auch soziale Modelle, wir sind bereit, sie uns zum Vorbild zu nehmen und Strafe als erzieherische Aggression zu akzeptieren, wenn wir sie als gerecht empfinden. Verstößt ein Mensch gegen die Normen seiner Gesellschaft, dann erlebt er ein »schlechtes Gewissen«. Er weiß aufgrund internali-sierter Normen, was gut und was böse ist, und erwartet bei Regelverstoß Sanktionen. Manche Normen, nach denen wir uns im Alltag verhalten, sind uns angeboren (vgl. Objektbesitznorm, S. 39), und an solche primären Normen knüpft auch die Gesetzgebung an. Allerdings fordert das Leben in Großgesellschaften gelegentlich auch, daß wir gegen die uns angeborenen Neigungen handeln, zum Beispiel mit der auferlegten Pflicht, im Krieg unser Leben einzusetzen und damit unsere engeren familialen Interessen zurückzustellen.

93


Obgleich wir also durchaus bereit sind, selbst repressive Dominanz zu akzeptieren, und diese auch prosozial als erzieherische Aggression eingesetzt werden kann, lehrt die Geschichte, daß ein Zuviel an Repression zu Rebellion führt. Als stark prosozial motivierte Wesen bedürfen wir auch des reziprok-freundlichen Umgangs, der gegenseitigen Unterstützung und Fürsorglichkeit und damit auch einer prosozialen Führung. Dominanz und Fürsorglichkeit müssen zueinander in einem ausgewogenen Verhältnis stehen. Es können dabei auch Verlagerungen der Gewichte, zum Beispiel in Kriegs- und Krisenzeiten, notwendig werden. Auf dem Gebiet der politischen Führung experimentiert der Mensch mit sozialen Techniken der Führung, seit es Großgesellschaften gibt. Und immer werden dabei vorhandene Dispositionen angezapft und dann den neuen Anforderungen entsprechend kulturell ausgestaltet. Von besonderer Bedeutung ist dabei unsere Fähigkeit zur Symbolidentifikation und unsere Indoktrinierbarkeit, auf die ich noch in einem eigenen Abschnitt eingehen werde.

Da die Sozialtechniken der Bindung und Führung vorhandene Verhaltensdispositionen nutzen, ähneln sie einander bei aller kulturellen Ausgestaltung doch weitgehend, dem Prinzip nach, in den verschiedenen Kulturen. Wir können die Entwicklung von der Kleingesellschaft zur Großgesellschaft und die damit einhergehenden Anpassungsprozesse zum Teil aus der Geschichte rekonstruieren. Wir können sie ferner auch in der Gegenwart bei Völkern beobachten, die auf verschiedenen Entwicklungsstufen leben, zum Beispiel bei den Mek-Sprechern im westlichen Bergland von Neuguinea, von denen wir die Eipo eingangs bereits kennenlernten. Diese neusteinzeitlichen Pflanzer leben in kleinen Gemeinschaften. Die Dörfer sind in der Regel an strategisch leicht zu verteidigenden Orten angelegt. Die Eipo gehören zu den Mek-Sprechern, die sich in mehreren Dialektgruppen über einige Haupttäler und viele Seitentäler des Oranje-Zentral-massivs verteilen. Bei ihnen ließen sich die ersten Ansätze zur Großgruppenbildung in Form von Tälergemeinschaften verfolgen.

94


In ihrem westlichen Verbreitungsgebiet, das offenbar erst in jüngerer Zeit besiedelt wurde, waren die größten politischen Einheiten die Dörfer des von den Jalenang bewohnten In-Tales. Dort gab es häufig kriegerische Auseinandersetzungen, meist um Gartenland. Die Eipo dagegen, die das Eipomek-Tal schon viel länger besiedelten, fühlten sich bereits in einer Tälergemeinschaft verbunden, die anderen Tälergemeinschaften, wie den Bewohnern des Fa-Tals, in Dauerfehde gegenüberstand. Das Wir-Gruppengefühl der Tälergemeinschaft wurde durch eine Ausdehnung des fami-lialen Kleingruppenethos auf die etwa 800 Bewohner des ganzen Tals bewirkt. Das geschah zunächst durch Berufung auf eine gemeinsame Abstammung. Nach dem Schöpfungsmythos der Eipo kam der Urahn von den Bergen herab. Er machte durch das Einfügen von Felsen in den morastigen Grund das Land bewohnbar und schuf die verschiedenen Kulturgüter (Heeschen 1990).

Diesen Schöpfungsmythos wiederholten die Eipo in einem Ritual, wenn sie ein sakrales Männerhaus gebaut hatten. Sie pflanzten dann anschließend die sakralen Schopfpalmen (Cordylinen), mit denen sie auch Geländegrenzen markieren. Sie tanzten dazu die Schößlinge einzeln heran, und mit jedem, der einen Schößling brachte, tanzte ein anderer mit einem Stein. Beide sangen dabei die Geschichte des Ahnherrn, und sie wiederholten symbolisch den Schöpfungsakt, indem sie mit jeder Schopfpalme einen Stein pflanzten. Eine entsprechende Berufung auf eine gemeinsame Abstammung nehmen auch wir vor, wenn wir von Nationen sprechen.

Eine weitere Vernetzung erfolgt bei den Eipo über ein fingiertes Verwandtschaftssystem. Es gibt etwa zehn Klane, deren jeder sich auf einen gemeinsamen Ahn zurückführt.

95


Mitglieder eines Klans betrachten einander als verwandt. Und wenn einer ein Dorf besucht, in dem er niemanden kennt, dann braucht er nur nach seiner Klanschwester oder seinem Klanbruder zu fragen, um Betreuung zu finden. Es herrscht überdies Klanexogamie, was zu einer echten verwandtschaftlichen Vernetzung der verschiedenen Klane führt. Schließlich werden in zeitlichen Abständen von mehreren Jahren mehrere Jahrgänge von Knaben und jungen Männern des ganzen Tals an einem Ort gemeinsam initiiert. Die Mitglieder einer solchen Initiationsgruppe betrachten einander als Brüder.

Die Klane der Eipo sind übrigens alt. Die gleichen Klane fanden wir auch in anderen Tälern, auch solchen, mit denen die Eipo verfeindet waren. Als einige Jahre nach der Kontaktaufnahme der Pazifizierung der Eipo und ihrer Nachbarn durch eine christliche Mission erfolgte, erleichterte das alte Klansystem den Aufbau tälerübergreifender freundlicher Beziehungen.

Von diesen eine größere Gemeinschaft verbindenden Klanen sind Sippenverbände zu unterscheiden, die sich als Nachfahren eines ihnen bekannten Sippenahnen bezeichnen. Er nahm das von ihnen heute kultivierte Land für sie in Besitz, und ihn ruft man im Kampf an, um seinen Beistand zu erbitten.

Zwischen diesen sippenbegründenden Lokalgruppen ebenso wie zwischen Dorfgemeinschaften einer Tälergemeinschaft kann es auch bewaffnete Konflikte geben, doch werden sie eher als Unfall bedauert, und man bemüht sich darum, eine solche Auseinandersetzung nicht eskalieren zu lassen.

Ein solcher Vorfall ereignete sich Ende 1975, kurze Zeit nach meinem ersten Feldaufenthalt bei den Eipo. Sven Walter, ein Mitglied des interdisziplinären Forscherteams, berichtete mir darüber in einem Brief. Babesikne aus Munggona hatte in einem Streit Mambonang, einem Mann aus Dingerkon, einen Pfeil durch den Hals geschossen. 

96


Noch am selben Tag kämpften die Männer beider Dörfer mit Pfeil und Bogen eine Stunde lang, bis der Nachmittagsregen einsetzte. Am anderen Tag wurde der Kampf fortgesetzt, aber eher mit sportlicher Fairneß.

Statt der sonst üblichen Verhöhnung machten die Leute von Dingerkon den Munggona-Leuten Vorwürfe, und diese versuchten sich zu rechtfertigen. Hatten die Munggona-Leute ihre Pfeile verschossen, dann sammelten sie die ihrer Gegner auf. Auf die Männer, die dazu vorliefen, schössen die Männer von Dingerkon bemerkenswerterweise nicht.

Obgleich für den wenige Tage nach der Schußverletzung verstorbenen Mambonang kein Ausgleich erzielt wurde, schloß man Frieden. Babesikne, der Mambonang angeschossen hatte, kam mit dessen Mutterbruder Bubungde zusammen. Sie standen Seite an Seite im vormaligen Kampfgelände, einen Arm um die Schulter des anderen gelegt, mit der freien Hand die Hand des anderen fassend.

Bubungde: »Wir haben keine Lust zu kämpfen.« 
Einer der Umstehenden, das Dorfoberhaupt von Munggona, als Kommentator: »Wir [die Männer von Mung-gona und Dingerkon] haben gemeinsam gegen die Marikla gekämpft.«
Simor, der Bruder von Babesikne: »Wir haben uns zusammen satt gegessen.«
Wimban aus Munggona: »Haben wir nicht gemeinsam einen Süßkartoffelacker angelegt?« 
Bubungde darauf: »Ihr habt gegen mich gekämpft. Daß du geschossen hast, ist jetzt deine Angelegenheit. Ich habe dich nicht ins Fleisch getroffen, die Larje-Männer wollen ein Schwein töten und geben, du willst es garen, das ist jetzt deine Sache, du willst Wildtiere erlegen. Wir haben alle Delmong vom Boden aufgelesen.«

97


Die Reden sind wegen der in ihnen vorkommenden Appelle bemerkenswert. Sie bekräftigen Gemeinsamkeit, indem sie sich auf frühere gemeinsame Kämpfe und andere Tätigkeiten wie das gemeinsame Essen (wohl Hinweis auf Feste) und das gemeinsame Anlegen von Gärten beziehen. Die abschließende Bemerkung von Bubungde mit dem Hinweis auf das gestiftete Schwein und die Jagdabsichten beziehen sich wohl auf ein von den Munggona-Leuten zu veranstaltendes Versöhnungsfest.

Um die Bedeutung des Auflesens der Delmong-Schnüre zu verstehen, muß man wissen, daß ein durch Feindeinwirkung Getöteter auf einem Baum bestattet wird, bis er gerächt oder auf andere Weise ein Ausgleich erreicht wurde. Delmong heißen die bei der Baumbestattung zum Festbinden des Toten verwendeten Schnüre. Die Formulierung dürfte den Hinweis verschlüsseln, daß man keinen weiteren Ausgleich suche, sondern Frieden wünsche.

Die Solidarisierung der Talgemeinschaft der Eipo wurde sicher auch durch die Bedrohung aus anderen Tälern gefördert. Ihre Tälergemeinschaft blieb jedoch ein loser Verband, denn es gab keine Führungspersönlichkeiten, die der ganzen Gemeinschaft vorstanden. Jedes Dorf hatte seinen eigenen Kriegsführer und Sprecher. Die Bildung größerer Solidargemeinschaften setzt die Bildung von Führungshierarchien voraus, die dann gut funktionieren, wenn die Personen einer Führungsebene einander auch noch persönlich kennen. Das hat sicher mit unserer familialen Kleingrup-penveranlagung zu tun.

Wenn sich Großgruppen bilden, erfolgt die Solidarisierung ebenfalls über familiale Appelle. Wir sprechen auch in den modernen Großgesellschaften von unseren »Brüdern« oder »Schwestern«, von einem Vaterland, einer Muttersprache, vom »Landesvater« und von Nation unter Berufung auf ein gemeinsames Geborensein. Kulturell betonen wir Ähnlichkeiten, die uns verbinden, denn Ähnlichkeit ist ein wichtiger Indikator für Blutsverwandtschaft. Völker betonen sie durch gemeinsame Trachten, gemeinsames Brauchtum und schließlich über die verbindende und zugleich abgrenzende Sprache. In diesem Zusammenhang ist der lokale Dialekt als Wir-Gruppenmerkmal bemerkenswert.

98


Es scheint, als ob man die Sprachmelodie seines Dialekts nie ganz ablegen könne, ob man nun die jeweilige Hochsprache oder gar eine andere Sprache spricht - ein Berliner wird dann doch stets einen Berliner und ein Wiener einen Wiener erkennen. Wir scheinen hier prägungsähnlich festgelegt. Die Identifikation über gemeinsame Symbole und gemeinsame Bekenntnisse, all dies schafft Verbundenheit, auch in anonymen Großgesellschaften. Sie kann in Krisenzeiten sehr stark sein, da im Kriegsfall archaische Mechanismen der Gruppenverteidigung ansprechen. Dies um so mehr, je ähnlicher die Bürger einer Millionengesellschaft einander sind, da Ähnlichkeit, wie gesagt, als Indikator der Verwandtschaft gilt. Sie wird daher auch kulturell durch Tracht und Schmuck gefördert.

Dennoch ist die Verbundenheit in einer anonymen Großgesellschaft nie so groß wie in einer individualisierten Kleingruppe, und es bedarf dauernder ideologischer Bekräftigung, um das Wir-Gefühl zu schaffen oder zu erhalten. Die Grundmuster des »Wir und die anderen« bleiben jedoch für die traditionellen Kleingruppen und die anonymen Großgesellschaften die gleichen. Eine familiale Ethik bindet die Mitglieder einer Kleingruppe ebenso wie die einer Großgruppe. Allerdings sind wir für das Leben in der Kleingruppe bereits stammesgeschichtlich besser vorbereitet. Wir sind für sie gewissermaßen anständig genug. Die Übertragung der familialen Ethik auf die Großgruppe bereitet uns dagegen Schwierigkeiten. Für sie sind wir, wie Konrad Lorenz einmal bemerkte, nicht anständig genug, und die schon erwähnte Neigung der Mitglieder einer anonymen Großgesellschaft, im Wettstreit die Ellenbogen einzusetzen, stört den inneren Frieden. Das gilt unter anderem in unserer »Streitkultur« auch für den Parteienhader. Er läßt an Kultiviertheit sicher zu wünschen übrig, und oft bleibt über dem kurzfristigen Parteieninteresse das langfristige Interesse des Staates auf der Strecke. 

99


Gegenwärtig scheinen wir wirklich »nicht gut genug« für die Großgesellschaft. Aber wir schaffen es immerhin leidlich, und wenn wir unsere prosozialen Anlagen kultivieren, dann dürfte ein harmonisches Miteinander in der Großgesellschaft durchaus zu erreichen sein.

 

Auch die modernen Millionengesellschaften grenzen sich als Staaten gegen andere ab, und sie reagieren xenophob und territorial, wenn sie sich in ihrer Identität oder durch Landnahme bedroht fühlen. Die Selektion findet beim Menschen, wie wir in Erinnerung rufen wollen, sowohl auf der Ebene des Individuums und der Blutsverwandten als auch auf der Ebene der Gruppe statt, innerhalb der die Mitglieder einer Gemeinschaft bevorzugt heiraten. In solchen Gruppen — es kann sich um mehrere Lokalgruppen, um eine Tälergemeinschaft oder um Stammesgemeinschaft handeln — sind daher in der Regel auch näher Verwandte miteinander verbunden. In solchen sich abgrenzenden Populationen kommt es über Individual- und Sippenselektion zur Anreicherung von bestimmten Allelen im Genpool der Gemeinschaft6, die ihrerseits die Gesamteignung der Gruppe in der Konkurrenz mit anderen bestimmen. Kulturelle Innovation ist dabei häufig Schrittmacher der weiteren Evolution, denn die Gruppe, die über neue Waffentechniken und neue Strategien eine andere unterwirft oder vertreibt, fördert ihr Überleben in Nachkommen. In früheren Zeiten pflegten selbst hohe Zivilisationen mit den Besiegten ziemlich rücksichtslos umzugehen und Genozid zu praktizieren (Douglas 1994). Um aber in diesem Sinne unmenschlich zu sein, das heißt, sein Mitleid überwinden zu können, bedarf es einer starken ideologischen Indoktrination. Die Bereitschaft, in-doktriniert zu werden, dürfte als Lerndisposition im Dienst der Familienbindung entwickelt worden sein und damit eine für das Zusammenleben der Völker potentiell besonders gefährliche Disposition darstellen, die wir zur Kenntnis nehmen müssen, wenn wir Indoktrination zur Unmenschlichkeit fürderhin verhindern wollen.

100


Angleichung über Glaube, Ideologie und Bekleidung sowie Identifikation über Symbole, ferner die Berufung auf familiale Verbundenheit, unter anderem durch Betonung der gemeinsamen Abstammung, das sind die wichtigsten Strategien, mit denen die Führungen in ethnischen Nationalstaaten die vielen Millionen einander Unbekahnter zusammenhalten. In Notzeiten, wenn innere Unruhen den Zusammenhalt der Gemeinschaft stören könnten, aktivieren sie über fingierte Bedrohungen von außen oft auch bindende Ängste. Angst infantilisiert in gewisser Weise, und wenn sie sehr stark ist, dann bewirkt sie Denkblockaden. Bei Gefahr neigen Menschen dazu, bei Ranghohen und in politischen Ideologien, die Sicherheit versprechen, Zuflucht zu suchen.

Mit der Übertragung des familialen Kleingruppenethos auf die Großgruppe zapft der Mensch Dispositionen an, die im Dienst der Eltern-Kind-Beziehung entwickelt wurden. Die Notwendigkeit, mit Millionen von Menschen zusammenzuleben, die man nicht kennt, bringt es mit sich, daß sich manche Gesetze aber gegen die uns angeborenen Neigungen richten. So gibt es in vielen Gesellschaften einen starken Druck etwa gegen den Nepotismus. Vor allem Staatsdiener sollen in erster Linie die Interessen des Staates und dann erst die ihrer Familie vertreten. Im Kriegsfall gilt der Einsatz des Lebens für die Gemeinschaft — die größere Familie — als die höchste Tugend. Hier handelt es sich um eine klare Umkehrung der Rangfolge der Werte durch Erziehung. Das führt zu inneren Konflikten, wenn der einzelne die Solidarität zur größeren Gemeinschaft nicht mit der Solidarität zu seiner Familie in Einklang bringen kann.

Bei der Durchsetzung der Großgruppenethik spielt die Berufung auf gottgesetzte Normen eine große Rolle. Franz L. Roess (1995) fand beim Kulturenvergleich eine positive Beziehung zwischen der Gruppengröße und dem Glauben an Hochgötter, die die menschliche Gruppenmoral stützen.

101


Die kulturelle Anpassung an die Großgesellschaften ist ein dynamischer Prozeß, die Entwicklung ist noch in vollem Gang. Der Mensch experimentiert, seit es Großgesellschaften gibt, mit Strategien der politischen Führung, der Gesetzgebung, mit Techniken wie der Entwicklung neuer Rituale zur Förderung der Identifikation der Bürger mit dem Gemeinwesen und anderem mehr. Der Lösungsversuche gibt es viele, und wir können aus jenen, die gescheitert sind, lernen. Wir wiesen bereits darauf hin, daß allzu repressive Systeme am Widerstand der eigenen Bevölkerung mißglückten, weil der Mensch aus seiner familialen Veranlagung heraus nicht nur die Mächtigen, sondern wahrscheinlich bevorzugt die Fürsorglichen in Führungspositionen sehen möchte. 

Auch scheitern Systeme, die sich allzu radikal gegen die Familie wenden, wie es etwa der sowjetrussische Kommunismus nach der Oktoberrevolution zunächst einmal versuchte. Auch die von den Gründern des traditionellen Kibbuz in Israel ursprünglich angestrebte Auflösung der Familie zugungsten der Kibbuz-Gemeinschaft ließ sich nicht durchsetzen. Der Mensch sucht eben heterosexuelle Dauerpartnerschaften, und Eltern wollen ihre Kinder selbst betreuen. In bestimmten Situationen, etwa während eines Pionierdaseins oder in Krisenzeiten, kann ein Zurücktreten der Familie oder eine straffere Führung als zeitlich begrenztes Programm dem Überleben einer Gruppe dienen. Hier suchen die in Großgesellschaften lebenden Menschen nach Lösungen und neuen Wegen, wobei wohl alle von einem Leben in Frieden und Wohlstand träumen. An gutem Willen mangelt es sicher nicht, aber leider auch nicht an kontroversen Überzeugungen über den zu beschreitenden Weg.

Thomas Hobbes meinte, der Mensch könne nur über Zwang gebändigt werden, da er von Natur aus egoistisch und rücksichtslos sei. Dies trifft, wie wir ausführten, nicht ganz den Kern des menschlichen Wesens. Dem Dominanzstreben des Menschen wirken eine Reihe prosozialer Ablagen als natürliche Gegenspieler entgegen. Sie sind allerdings auf das Leben in der Kleingruppe zugeschnitten, in der die repressiven Verhaltenstendenzen einzelner durch das Band persönlicher Bekanntheit und durch einen Normierungsdruck seitens der Gemeinschaft nach außen abgeleitet werden (S. 77). Prosoziale Verhaltensweisen der gegenseitigen Hilfeleistung und Fürsorglichkeit binden dort die Gruppenmitglieder.

102


In einer Großgemeinschaft, wo der einzelne im Alltag mehr mit ihm Unbekannten zu tun hat als mit ihm persönlich Vertrauten, muß dem weniger gebremsten Dominanzstreben des einzelnen entgegengewirkt werden. Dies geschieht über die Gesetze und über die zur Machtausübung befugten ausführenden Organe des Staates. Befehle werden allerdings oft abgemildert, etwa durch Einbettung in Floskeln der Bitte oder des Vorschlags, oft begleitet von freundlichen Signalen. Häufig erfolgt eine Distanzierung von Befehlenden durch schriftliche Anordnung. Auch kann die Überwachung der Befehle rangniederen Personen überlassen werden, die nicht für die Befehle verantwortlich zeichnen. 

Eine wirksame Infrastruktur von Regeln, Sanktionen und Symbolen befreit den Befehlshaber von der Aufgabe, persönlich zu dominieren. Das entschärft die Situation und schafft ein Klima der Akzeptanz, zumal auch die für die Rechtsprechung Verantwortlichen dem Gesetz unterworfen sind. Vergeltungstendenzen nach dem Gesetz der Reziprozität werden dadurch abgeblockt. Willkür seitens der Machthaber muß allerdings vermieden werden. Bisweilen wurde versucht, die egalitäre Konstellation und das Zusammengehörigkeitsgefühl nach dem Vorbild der Wildbeuter-kulturen wiederzubeleben, doch ohne Erfolg (Newman 1980; Flanagan und Rayner 1988). Es scheint, daß anonyme Großgesellschaften stets auch einer Kommando-Hierarchie bedürfen, wie sie uns seit ihrer Erfindung in den frühesten Zivilisationen des Mittleren Ostens bekannt ist.

Im Grunde kommt es an auf die rechte Balance zwischen einer sozial unterstützenden Politik, gekennzeichnet durch Begriffe wie Wohlfahrtsstaat, Gemeinschaftsgefühl und persönliche Freiheit, und den Erfordernissen der inneren und äußeren Sicherheit durch organisierte Machtstrukturen zur Durchsetzung der Gesetze und für den Erhalt der nationalen Unabhängigkeit. 

103


Je mehr die angeborenen Verhaltensdispositionen für diesen Zweck genützt werden und je weniger sie unterdrückt werden müssen, desto besser für ein harmonisches Miteinander. Eine hinreichende Bedingung für diese Art der Entwicklung sozialer Techniken ist, daß die für Jäger-Sammler typischen Verhaltensweisen sich abkoppeln lassen vom Kontext ihrer Entstehung in kleinen Menschengruppen und sich zu neuen funktionalen Komplexen rekombinieren lassen. Die Rekombination erfolgt nach Maßgabe neuer, eher formalisierter Techniken. Sie sind deshalb erfolgreich, weil sie sich in Systeme biologischer Verhaltenssteuerung einklinken, die das Erteilen und Empfangen von Direktiven etwa in den überschaubaren Gruppen traditioneller Ethnien oder im familialen Kontext regeln. Zwei dieser Verhaltenssysteme sind Dominanz und Affiliation (Eibl-Eibesfeldt 1984,1994), und man kann die institutionalisierten Kontrolltechniken nach der Art ihrer Komposition aus den eben genannten Verhaltenssystemen einer »Dominanz-Infrastruktur« bzw. einer »Affiliations-Infrastruktur« zuordnen (Salter 1995).

In seiner Untersuchung der Kommandostrukturen im Kulturenvergleich hat Frank Salter gezeigt, daß alle Kommandohierarchien auf einem begrenzten Satz von sozialen Wahr-nehmungs- und Verhaltensweisen aufbauen, daß sie gewissermaßen um angeborene Elemente des menschlichen Biogramms herum »gebastelt« sind. Ganz allgemein dürfte gelten, daß die kulturelle Ausformung neuer sozialer Prozesse und Strukturen im Rahmen des durch stammesgeschichtliche Anpassungen vorgegebenen Systems von Regeln, der »universalen Grammatik menschlichen Sozialverhaltens« (Eibl-Eibesfeldt 1984), stattfindet und damit vorgegebene Dispositionen nützt. Das ist auch der Kern der »Infrastruktur-Theorie sozialer Kontrolle« von Salter. 

104


Dies gilt auch für das Recht, das vielfach an die ungeschriebenen Regeln des Verhaltens anknüpft, die uns angeboren sind. Hagen Hof (1996) führt in einer höchst bemerkenswerten Untersuchung aus, daß Achtung, Vertrauen, Freiheit, Bindung, die individuelle Zuordnung von Verhalten, Gegenständen und Bereichen, Sicherheit, Wettbewerb, Gleichbehandlung und Gerechtigkeit, auf denen allen das deutsche Recht aufbaut, solche angeborenen Schlüsselwertungen sind.

 

5. Indoktrination, Symbolidentifikation und Ideologie

 

Die Fähigkeit, große Solidargemeinschaften zusammenzuhalten, basiert auf Sozialtechniken, die, wie wir ausführten, auf vorhandene soziale Dispositionen zurückgreifen und diese kulturell ausgestalten. Wir erörterten in diesem Zusammenhang unsere biologisch vorgegebenen Prädispositionen für Gruppenbindung, Reziprozität und Gefolgsgehorsam.

Zwei weitere wichtige Voraussetzungen für die Bildung von Großgesellschaften sind die Fähigkeit des Menschen zur Symbolidentifikation und seine Indoktrimerbarkeit mit kulturell entwickelten Zielsetzungen und Werten, den Ideologien.

Bereits in den traditionellen Kleingesellschaften, und noch ausgeprägter in traditionellen Stammesverbänden, dienen gruppenspezifischer Schmuck, Bekleidung, Haartrachten, Stammestattoos und in den frühen Staatsverbänden religiöse Symbole und Feldzeichen der Angleichung und Identitätsstiftung. Um Fahnen mit Zeichen scharten sich schon im Altertum Krieger. Im Zeichen des Kreuzes und des Halbmondes wurden blutige Kriege ausgefochten, und daran hat sich prinzipiell wenig geändert. Rekruten werden auch heute noch in vielen Ländern auf die Fahne vereidigt.

105


Daß man auf dem Schlachtfeld weithin sichtbare Zeichen wie Fahnen trug, an denen man Kampfgefährten von Feinden unterscheiden konnte und um die man sich früher auch scharte, ist zunächst durchaus aus ihrer Funktion als Erkennungszeichen verständlich. Auch heute wäre es ohne Kennzeichnung nicht immer leicht, die Zugehörigkeit eines Panzers oder eines Flugzeugs zu erkennen. Außerdem hat auch heute noch jede Partei, jede Religionsgemeinschaft, ja haben viele der weltlichen Vereine, wie Schützenverbände in Tirol, ihre eigenen Fahnen und Zeichen, und ich glaube nicht, daß der Mensch als symbolisierendes Wesen ohne solche und die mit ihrer Installation und Präsentation verbundenen Rituale größere Solidargemeinschaften bilden könnte. Symbole dieser Art sind auch in traditionellen altsteinzeitlichen Kulturen nachzuweisen.

Bei Besprechung der Territorialität der Zentralaustralier erwähnten wir, daß diese heilige Stätten als das symbolische Zentrum ihrer Reviere verehren. Zu diesen Stätten hatten nur initiierte Männer der Lokalgruppe Zutritt, die ihre Abstammung auf den Totem-Ahnen dieser Stätte zurückführten. Diese Totem-Ahnen waren halb Tier, halb Mensch, und sie repräsentierten Tiere, die als Nahrung eine Rolle spielten. So gab es einen Honigameisenklan, einen Emuklan, einen Hundertfüßlerklan usw. Der jeweilige Totem-Ahn weilte in dem heutigen Gebiet des Klans und hinterließ hier Spuren. Abgerundete Felsen wurden z.B. als Eier einer Totemschlange gedeutet, andere Spuren als Aufenthaltsort, und es wurde in einfachen Zeichen auch die Geschichte seiner Wanderung aufgezeichnet, auf der er das Gebiet in grauer Vorzeit in Besitz nahm, und zwar mit einer einfachen Symbolik (Abb. 14-16). In Linien und Kreisen werden Landmarken, Wanderwege, Rastplätze und andere Spuren des Totem-Ahnen als Felsmalereien, aber auch auf Holz oder Steinplatten eingraviert. Letztere, die Churingas, sind Besitz initiierter Männer. Nach deren Tod werden sie als heilige Steine oder Bretter an den heiligen Stätten aufbewahrt und gepflegt.

106


Abb. 14   Die heilige Stätte der Totemschlange Jarapiri bei Ngama (Zentralaustralien), eine Totemstätte und zugleich symbolische Reviermarkierung der Walbiri. - Foto: I. Eibl-Ei-besfeldt.

 

Es ist interessant, daß wir auch auf Neuguinea eine Steinsymbolik finden. Die den Eipo benachbarten Yale und Dani haben heilige Steine, die den oder die mythische Kulturbringerin symbolisieren. Der Stein ist mit weiblichen (Bin-senschürzchen) und männlichen Attributen (Orchideenbast) geschmückt (Abb. 17). Die Steine werden im Rahmen von Bestattungszeremonien zur Schau gestellt und auch ausgetauscht. Viele dieser Steine kommen von Yalemo. Aufregend finde ich schließlich, daß man bei Pawlow in Südmähren einen 25.000 Jahre alten Mammutzahn fand, mit Gravierungen, die denen auf den australischen Churingas ähneln (Abb. 18). Nach Ansicht von H. Müller Beck und J. Albrecht (1987) handelt es sich um eine Skizze der Landschaft um Pawlow; sie glauben einen Flußlauf sowie Hänge und Berge wiedererkennen zu können. Möglich, daß hier ein altsteinzeitlicher Kulturkontakt zwischen Europa und dem australischen Raum zum Ausdruck kommt.

107


Abb. 15   Bei der Männerinitiation werden die Klan-Zeichen und die Klan-Geschichte (Wanderung des Totem-Ahnen und andere Begebnisse) auf Boden und Felsen gemalt. Hier eine Bodenzeichnung des Emu-Klans. - Nach N. Peterson (1972).

Nachdenklich stimmt die starke affektive Besetzung dieser oft sakralen Charakter tragenden Zeichen und die Blindheit und Begeisterung, mit der wir ihnen folgen. Das weist darauf hin, daß hier über kulturell entwickelte und dressurmäßig dem einzelnen eingeprägte Schlüssel archaische Reaktionen angesprochen werden. Beim Absingen von religiösen und patriotischen Hymnen und Liedern, oft in Verbindung mit der Präsentation der sakralen Symbole einer Gemeinschaft, geraten die Teilnehmer eines solchen Ereignisses häufig in einen Zustand der Begeisterung, in einen geänderten Bewußtseinszustand, der subjektiv als Schauer der Ergriffenheit erlebt wird. 

108


Abb. 16 Stein-Churinga des Honigameisen-Klans der Walbiri von Mt. Allen. Die große zentrale Kreisfigur repräsentiert eine Lehmsenke im Nordosten der Yuendumu-Siedlung, in der man zu Grundwasser kommt. Dort lebte der Honigameisen-Ahnherr des Klans. Dann ging er auf eine Reise und schuf unterwegs Hügel und andere Landschaftsstrukturen. Diese Plätze sind durch weitere Kreise eingezeichnet und die Wege durch Linien markiert. Nur initiierte Männer besitzen Stein- oder Holzchuringas. Sie sind gewissermaßen deren Klan-Wappen und erinnern sie an die Initiation, bei der sie diese Identifikationszeichen herstellten. Mit dem Tod werden sie zu heiligen Gegenständen, die man an den heiligen Stätten aufbewahrt. Männer können an den Zeichen die Geschichte des Totem-Ahnen lesen. Frauen dürfen sie nicht sehen. Über diese Symbolidentifikation werden die Männer ideologisch an Territorium und Gruppe gebunden. - Foto: I. Eibl-Eibesfeldt.

Das Gefühl, das sie überläuft, kommt dadurch zustande, daß sich die Haaraufrichter vor allem am Rücken und auf der Außenseite der Arme kontrahieren, was bei uns eine »Gänsehaut« erzeugt. Es handelt sich wohl um das Ansprechen einer sozialen Verteidigungsreaktion. Wir sträuben gewissermaßen einen nicht mehr vorhandenen Pelz. Unsere bepelzten Vorfahren dürften in vergleichbaren Situationen kollektiven Drohens ihren Körperumriß durch Sträuben des Pelzes eindrucksvoll vergrößert haben. Auch unsere Körperhaltung mit nach außen

109


Abb. 17 Heiliger Stein der Dani, den oder die mythische(n) Kulturbringer(in) symbolisierend. Der Stein ist mit weiblichen (Binsenschürzchen) und männlichen Attributen (Orchideenbast) geschmückt. Diese Steine werden im Rahmen von Bestattungszeremonien zur Schau gestellt und auch ausgetauscht (vgl. S. 107). - Foto: I. Eibl-Eibesfeldt.

gedrehten Ellbogen und angehobenen Schultern erinnert an die Imponierhaltung nichtmenschlicher Primaten. Mimisch ist diese Reaktion beim Menschen vom Ausdruck der »Entschlossenheit« begleitet. Der kühn Blickende fixiert ein entferntes Ziel unter den die Augen beschattenden, vorgezogenen Brauen. Die Mundspalte wird wie bei Anstrengung zusammengepreßt (»Adlerblick«). Die Verhaltensweisen der Gruppenverteidigung leiten sich von der Familienverteidigung ab.

Ebenfalls von einer solchen leitet sich die in der gleichen Situation aktivierte Folgebereitschaft ab. Sie ist, wie wir bereits ausführten, auch angstmotiviert. Angriff und Flucht bilden ja ein funktionell zusammengehöriges System. Man schart sich aus Angst um die Führung und folgt ihr. Und wie bei vielen Gruppenphänomenen bei geselligen Vögeln und Säugern beobachten wir auch in Menschengruppen das Phänomen der Stimmungsübertragung, das Mitgerissenwerden vom Tun der anderen. Bei Aufmärschen und Demonstrationen besteht daher die Gefahr des sich Aufschaukeins und schließlich der Eskalation der Stimmung.

110


Abb. 18 Die Pawlow-Landschaft auf dem Endstück eines Mammutzahns (Länge: 37 cm). Sie ist aus vier Motiven kombiniert: wellenartige Linie über Flußverlauf im Talgrund, parallele Felder, darüber Rutschzonen an den Hängen; der mehrfache Bogen steht für Kuppen der Berge, der Koppelkreis in der Mitte für den Ort der Siedlung. - Aus R. Häberlein (1990).

Die affektive Bindung an die Symbole der Gemeinschaft wird gelernt. Das gilt sowohl für die kollektive Verteidigungsreaktion als auch für die Folgereaktion. Beides ist funktionell prosozial motiviert, stammesgeschichtlich jedoch wahrscheinlich verschiedenen Ursprungs. Die soziale Gruppenaggression hat wohl die familiale Brutpflegeverteidigung zum Vorläufer Die Folgereaktion ist dagegen wohl von der infantilen Folgebereitschaft abgeleitet.

111


Die Fixierung auf die Zeichen und Rituale erinnert an die über Prägung bewirkte Objektfixierung, die Konrad Lorenz (1935) beschrieb. Hier wie dort scheint die einmal hergestellte Bindung an ein Objekt gegen Umlernen ziemlich resistent zu sein. Auch ist in beiden Fällen für die Objektfixierung ein Zeitfenster als sensible Periode vorgegeben. Beim Menschen umspannt sie die späte Kindheit und Pubertät. Das ist auch die Zeit, in der sich die politische Führung darum bemüht, in die heranwachsende Generation die Werte und Symbole der Gesellschaft einzupflanzen.

Bei der Prägung auf die Symbole und zielsetzenden Werte einer Gesellschaft in einem Prozeß, den man auch als Indoktrination bezeichnet, spielt das Lied eine große Rolle, und zwar nicht nur in unserer westlichen Zivilisation. Rinderhirten Afrikas, wie zum Beispiel die Himba (Hererosprecher des Kaokolandes in Namibia), singen bei geselligen Anlässen Preislieder, in denen Heldentaten von Ahnen wie der Raub von Rindern gepriesen und damit als soziales Modell vorgestellt werden.

In unserem patriotischen Liedgut werden vor allem die Werte einer Staatsethik vorgetragen, die ja in Krisenzeiten wie im Krieg auch die Selbstaufopferung vor allem des Mannes fordert. Dazu wird durch Glorifizierung des Todes eine Sterbebereitschaft im Dienste der größeren Gemeinschaft und im Dienste der sie verbindenden Werte aufgebaut.

Laßt wehen, was nur wehen kann, 
Standarten wehn und Fahnen; 
wir wollen heut uns Mann für Mann 
zum Heldentode mahnen. 
Auf, fliege, stolzes Siegspanier, 
voran den kühnen Reihen! 
Wir siegen oder sterben hier 
den süßen Tod der Freien.

(Ernst Moritz Arndt, 1812)

In vielen Variationen flattert die Fahne voran, die in die Zukunft führt oder in die Ewigkeit -— »die Fahne ist mehr als der Tod«, heißt es in Baldur von Schirachs Hitlerjugendlied »Vorwärts, vorwärts«. Dort heißt es auch: »Deutschland, du wirst leuchtend stehn, mögen wir auch untergehn.«

112


Hell als Positivbegriff taucht in vielen Kriegs- und Revolutionsliedern der letzten zweihundert Jahre auf und Dunkel als Negativbegriff. Als tagaktive Wesen fürchten wir das Gefahren bergende Dunkel der Nacht und bejahen das Licht. Diese auf angeborenen ästhetischen Wertungen basierenden primären Positivbegriffe werden mit jenen Begriffen zusammen geboten, die man über Assoziation ebenfalls positiv bewertet wissen will, wie etwa die eigene Nation oder als deren Symbol die Fahne. Damit verbunden sind des weiteren Appelle wie der Hinweis auf die eine Gemeinschaft bedrohenden Gefahren, wobei die Berufung auf gemeinsame Herkunft quasi familiale Verbundenheit beschwört. Wichtige, immer wiederkehrende verbale Klischees sind Freiheit - als Freiheit von Fremdherrschaft oder Tyrannei und Freiheit von Not -, ferner der Hinweis auf die Großtaten vorangegangener Generationen, der zum Einsatz für die Zukunft verpflichte.

Der Mensch ist ungeheuer verführbar, wenn man seine in angeborenen Referenzmustern vorliegenden ästhetischen und ethischen Referenzmuster anspricht. Es sind Tugenden, die zu allen Zeiten von Demagogen ebenso wie von demokratischen Führungspersönlichkeiten für ihre Zwecke genutzt werden.

Nur der Freiheit gehört unser Leben,
laßt die Fahnen dem Wind,
einer stehet dem anderen daneben,
aufgeboten wir sind.
Freiheit ist das Feuer,
ist der helle Schein ...

heißt es in einem Lied von Hans Baumann. Und immer wieder stoßen wir auf die Verknüpfung der Werte mit dem Symbol der Fahne.

113


In Adolf Danzers Buch Unter den Fahnen. Die Völker Österreich-Ungarns in Waffen (Wien 1889) heißt es:

»Die Verehrung für die Fahne, die dem Soldaten in allen Lagen seines bewegten Lebens ein Leitstern ist, wird schon der militärischen Jugend der Bildungs- und Erziehungsanstalten ins empfängliche Herz gepflanzt. .... Jede der beiden Militärakademien besitzt — gleich jedem Infanterieregimente — eine von allerhöchster Huld verliehene Fahne .... Uns klingt aus der Jugend goldnen Tagen ein Sang ins Ohr, der, so einfach und so wahr, unsere jungen Herzen tief bewegte, als wir ihn singen lernten, indes unsere Armee in heißen Kämpfen vor dem Feinde stand:

Flattre, Fahne, flattre, fliege, 
Wie im Frieden, so im Kriege 
Führe deine treue Schar. 
Was geschehe mag geschehen, 
Aber glorreich sollst du wehen 
Immerdar, immerdar! 
Mög' uns von des Feindes Klingen 
Sich ein Eisenwald erbauen; 
Eh wir weichen 
Ihren Streichen 
Sollt als Leichen 
Ihr uns schaun.«

Charakter und Bedeutung der Symbolidentifikation wird in diesem Beispiel offenkundig. Die Fahne ist ein quasi religiöses Symbol, sie wird wie das mit ihr oft verbundene Zeichen geweiht. Anne Christine Brade und Tilman Rhode-Jüch-tern (1991) haben zum Thema »völkisches Lied« eine bemerkenswerte Untersuchung des Liedgutes des Nationalsozialismus und seines Einsatzes im Dienste der Ideologie des Systems vorgelegt. Die Fahnendemonstrationen bei den Aufmärschen und Feiern hatten quasi religiösen Charakter. Es war damals für die jungen Leute sicher nicht leicht, einen klaren Kopf zu behalten und nicht vom Rausch der Gefühle weggetragen zu werden.

114


Abb. 19 Verteilung der Persönlichkeitseigenschaften in den Liedern relativ zur Anzahl der Gesamtnennungen. (Die Abbildungen 19 und 20 sowie die Tabellen 1 und 2 wurden unter geringfügigen Veränderungen entnommen aus: Richard Klopffleisch: Das Menschenbild im Liedgut der Hitlerjugend auf dem Hintergrund der Persönlichkeitstheorie der »Deutschen Charakterkunde«. In: Behne, K.-E. et al. (Hrsg.): Musikpsychologie. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie, Bd. 12,1995. Florian Noetzel Verlag, Wilhelmshaven.)

Richard Klopffleisch (1996) untersuchte das Menschenbild im Liedgut der Hitlerjugend. Bei der Thematisierung der Persönlichkeitseigenschaften werden in erster Linie Emotionen angesprochen, als nächstes der Wille und ihm folgend der Intellekt (Abb. 19). 

115


Abb. 20 Gegenüberstellung der vier häufigsten emotionalen Eigenschaften und der Eigenschaft »natürlich« (Einzelwerte relativ zur Anzahl der Lieder).

Von den Emotionen sind es vor allem die Bereitschaft zur Gemeinschaft und zum Gehorsam und von den intellektuellen Eigenschaften die Zielkonformität (Überzeugung, Idealismus, Glaube), die angesprochen werden. (Abb. 20). Die am häufigsten genannten Willenseigenschaften sind, nach der Häufigkeit der Nennung geordnet, Zielstrebigkeit, Opferbereitschaft, Tatkraft, Ausdauer, Fleiß, Mut (Tab. 1 und 2). Klopffleisch betont die Zeitlosigkeit dieser Eigenschaften. 

116


Liederbuch »Liederblätter der Hl«

Willenseigenschaften

Neue Lieder

%

m

zielstrebig

25

-2

opferbereit

23

-2

energisch

21

-1

aktiv

19

0

ausdauernd

19

-2

mutig

13

-1

fleißig

13

-1

anstrengungsbereit

11

1

tatkräftig

11

-2

handlungsbereit

10

1

Tab.1  Die zehn häufigsten Willenseigenschaften in den neuen Liedern des Liederbuchs Liederblätter der HJ. m = lineare Regression in Prozent. Prozentangaben relativ zur Anzahl der Lieder. 

Einzig die Opferbereitschaft würde sich in das Menschenbild einfügen, das man gemeinhin dem Nationalsozialismus zuschreibt. Aber auch sie wird von anderen Ideologien eingefordert. Es ist die Assoziation dieser allgemein anerkannten Staats- oder gesellschaftstragenden Tugenden mit einer speziellen Ideologie und deren Zeichen, die bei prägungsähnlicher Fixierung so gefährlich wird. »Gott mit uns« stand um das Hakenkreuz im Eichenlaubkranz auf den Koppelschlössern von Millionen deutscher Soldaten.

117


Liederbuch »Junge Gefolgschaft«

Willenseigenschaften

Anzahl der Lieder

%

m

opferbereit

34

0

zielstrebig

26

-5

ausdauernd

26

-2

energisch

19

-2

tatkräftig

16

-2

handlungsbereit

16

3

mutig

14

0

aktiv

13

-2

anstrengungsbereit

12

-1

durchsetzungsfähig

11

-1

Tab.2   Die zehn häufigsten Willenseigenschaften in den neuen Liedern des Liederbuchs Junge Gefolgschaft, m = lineare Regression in Prozent. Prozentangaben relativ zur Anzahl der Lieder.  

Lieder mit eindeutig ideologischen Inhalten sowie Kampf- und Parteilieder sind nach Klopffleisch mit nur 10-20 % unterrepräsentiert. »Bei dem überwiegenden Teil handelte es sich um vordergründig eher harmlose Lieder, die in der Tat, wie es ein Liederbuch-Verleger in den sechziger Jahren äußerte, zu jeder Zeit gesungen werden könnten« (Klopffleisch, S. 156). Aus diesem Grunde sind sie ja so zeitlos verwendbar und damit für jeden Mißbrauch verfügbar.

Häufig wird heute der Fehler begangen, daß man die allgemeinen Werte, die auch im Liedgut des Nationalsozialismus genützt wurden, nun deshalb generell ablehnt, als wären es Unwerte. Man übersieht, daß es sich um Grundwerte handelt, ohne die keine Gesellschaft bestehen könnte. 

Mutig, einsatzbereit, ja sogar aufopferungsbereit zu sein, etwa für die Verteidigung der Werte der Demokratie oder für sein Land, das müßte auch heute noch als Tugend gelten. Auch heute ist es schwer vorstellbar, daß ein Staat auf die Dauer existieren könnte, dessen Bürger bar aller staatstragenden Tugenden nur ihre Eigeninteressen verfolgen würden. Wir wissen allerdings auch, daß unsere Begeisterungsfähigkeit so unproblematisch nicht ist. Der Fanatismus, mit dem Religionskriege ausgefochten werden und mit dem Menschen für politische Ideologien kämpfen, belegt, wie gefährlich das Handeln aus Überzeugung werden kann. Die Verfolgung idealistischer Zielsetzungen muß sich mit vernunftbegründeter Verantwortlichkeit verbinden, die dem Handeln aus einem Überschwang der Gefühle einen einsichtig und humanitär begründeten Rahmen steckt.

118-119

   ^^^^ 

www.detopia.de