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5  Die Falle des Kurzzeitdenkens

 

 

1. Problemanlagen

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Konstitutionelle Anpassungen hinken immer hinter den Anforderungen her, die eine sich ständig ändernde Umwelt an die Organismen stellt, und das um so mehr, je schneller die Umweltänderung erfolgt. Das gilt für körperliche Merkmale ebenso wie für solche des Verhaltens. Die geradezu stürmische kulturelle Entwicklung des Menschen in den letzten 15.000 Jahren, die vom paläolithischen Wildbeuter zum technisch zivilisierten Großstadtbewohner führte, brachte es mit sich, daß eine Reihe der uns angeborenen Verhaltensmuster zu »Problemanlagen« wurden (S. 13), da sie sich in bestimmten Situationen als eignungs­gefährdend erweisen.

Ich erwähnte unsere Neigung zu monokausalem, linearem Denken, das es uns zwar erleichtert, Hauptursachen schnell zu erkennen, und das damit in einer konkreten Gefahrensituation lebensrettend sein kann, das aber oft dort Lösungen von Problemen behindert, wo verschiedene Ursachenketten zusammenlaufen, die es zu erkennen gilt.

An anderer Stelle (Eibl-Eibesfeldt 1984, 1988) erörterte ich das Schablonendenken, das heißt die Neigung zum Dogmatismus, die eine ihrer Hauptwurzeln in der »Ordnungsliebe« unserer Sinne hat. Wir kategorisieren gern, indem wir zum Beispiel Phänomene nach Gegensatzpaaren ordnen und, der Prägnanztendenz unserer Wahrnehmung gehorchend, uns charakteristisch erscheinende Merkmale durch Pointierung hervorheben, uns weniger wichtig vorkommende dagegen einebnen, gewissermaßen unter den Tisch fallen lassen.


So ordnen und typisieren wir die Erscheinungen dieser Welt, werden aber zugleich blind für die Unregelmäßig­keiten, die auf das Wirken anderer Kräfte hinweisen. Das führt zu Aussagen wie jenen, der Mensch sei »nichts anderes« als ein höherentwickelter Affe, oder seine Geschichte sei eine der Klassenkämpfe, woraus dann folgt, daß man um des inneren Friedens willen die klassenlose Gesellschaft anstreben müsse, und dies rechtfertige jedes Mittel.

Im vorangegangenen Kapitel diskutierten wir die Problematik unserer Indoktrinierbarkeit und unserer Begeisterungsfähigkeit, die leicht eskaliert. Emotionalität führt dann zur Denkblockade, in Panik ebenso wie im Überschwang von Liebe und Haß. In diesem Zusammenhang ist auch das Phänomen der Stimmungs­übertragung und der starken Beeinflußbarkeit (Suggestibilität) des Menschen durch ranghohe soziale Vorbilder oder Majoritäten zu nennen. Hans Christian Andersen schildert sie trefflich in seinem Märchen Des Kaisers neue Kleider. Der Kunstmarkt lebte in diesem Jahrhundert von unserer Suggestibilität ganz gut.

Ich möchte im folgenden Abschnitt auf zwei Problemanlagen hinweisen, von deren kultureller Zügelung das Glück der kommenden Generationen abhängen wird. Es handelt sich um unsere Programmierung auf den Wettlauf im Jetzt und um unser Machtstreben.

 

2. Die Programmierung auf den »Wettlauf im Jetzt«

Die stammesgeschichtlich vermutlich älteste Problemanlage ist unsere Programmierung auf den Wettlauf im Jetzt. Seit die ersten Organismen vor vielleicht zwei Milliarden Jahren damit begannen, um begrenzte Ressourcen zu konkurrieren, zählte, wer in diesem Wettlauf im Jetzt schneller war. 

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Die Algen, die andere schneller überwucherten und ihnen so das Licht raubten, die Organismen, die anderen schneller die Nahrung wegnahmen, kurz, die im Jetzt erfolgreicher waren, machten das Rennen und überlebten in Nachkommen. Dieser Wettlauf im Jetzt formte auch uns Menschen. Er bewirkte eine opportunistische Grundhaltung, die dazu drängt, sich bietende Chancen ohne Rücksicht auf Spätfolgen maximal zu nützen.

Für unsere altsteinzeitlichen Vorfahren bewährte sich diese opportunistische Grundhaltung. Sie bevölkerten diesen Planeten in dünner Besiedlung und konnten mit ihrer einfachen Technologie auf die Lebensgemeinschaften, die ihre Existenzgrundlage bildeten, keinen auf Dauer zerstörerischen Einfluß ausüben. Daher hat uns die natürliche Auslese für den Umgang mit der Natur keine Bremsen angezüchtet. Man liest oft, der Mensch der Vorzeit hätte in Harmonie mit der Natur gelebt und sich umweltfreundlich verhalten. Das ist eine romantische Verklärung. Der Mensch hat bereits als steinzeitlicher Wildbeuter manche Tierarten ausgerottet, und er hat Feuer gelegt, damit sich auf den neu begrünenden Flächen das Jagdwild konzentrierte. Im großen und ganzen hielten sich jedoch seine Einwirkungen in ökologisch verkraftbaren Grenzen.

Die exploitative Grundhaltung konnte man bis vor kurzem noch an den verbliebenen Jäger- und Sammler­völkern beobachten. Solange sie ihre eigene traditionelle Gerätekultur verwendeten, hielt sich der Schaden in Grenzen. Aber als die Prärieindianer Nordamerikas gelernt hatten, die Bisons mit Feuerwaffen zu erjagen, unterschieden sie sich in ihrem Jagdrausch wenig von ihren weißen Vorbildern. Als die Eskimos Gewehre bekamen, gefährdeten sie mit ihrem Jagdeifer ihre eigene Subsistenzbasis, so daß die dänische Regierung Schutzgesetze für Walrosse erlassen mußte, die wegen ihrer Zähne besonders begehrt waren. Auch wir Heutigen haben diese ausbeuterische Mentalität geerbt.

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Für dieses Konkurrenzverhalten hat uns die Natur mit einem Dominanzstreben begabt, dessen anspornende physiologische Mechanismen und Funktionen wir bereits besprachen und dessen weitere Auswirkungen als »Problemanlage« für die Gegenwart wir noch erörtern werden. An dieser Stelle ist es wichtig festzustellen, daß dies Streben auch den Wettlauf im Jetzt antreibt und der Erfolg im Jetzt über den schon erwähnten Hormonreflex belohnt wird. Daß wiederholter Erfolg dadurch eine Art Erfolgsrausch induziert, der unkritisch macht, sei in diesem Zusammenhang in Erinnerung gerufen. Wir setzen das Dominanzstreben auch instrumental ein, wenn wir mit Naturgewalten kämpfen und uns die Natur Untertan machen. 

Das Streben nach Ansehen und Macht liegt ferner einer Erscheinung zugrunde, die ich als systemimmanente Dynamik menschengeschaffener Organisationen beschrieb. Widmen sich Menschen einer Aufgabe, deren gute Erfüllung ihnen Ansehen verleiht, dann sind sie bestrebt, diese bestens zu erfüllen und ihren Aufgabenbereich zu erweitern. Hat jemand einen Betrieb, dann wird er sich um dessen Wachstum und die Erschließung von neuen Märkten bemühen, gleich, ob es sich um Straßenbau oder die Produktion von Autos handelt. Da uns die Natur hier keine Begrenzungen auferlegte, neigt solches Wachstum zum Ausufern.

Glücklicherweise sind wir in der Lage, die Folgen unseres Handelns über längere Zeit im voraus abschätzen zu können, und wir wissen daher, daß der gegenwärtig mit archaischen Kurzzeitstrategien ausgetragene Konkurrenzkampf unsere Ressourcen wie Wasser oder urbares Land und damit die Lebensgrundlagen künftiger Generationen gefährdet. Dieses Wissen sollte uns in verantwortlicher Weise zu einem generationen­übergreifenden Überlebensethos verpflichten, das die Zukunft der uns nachfolgenden Generationen absichert. Wir sind immerhin die ersten Wesen auf diesem Planeten, die sich Ziele dieser Art setzen können. Aber wir erweisen uns in der Praxis als ausgesprochen behindert, das aus Einsicht als notwendig Erkannte in die Tat umzusetzen.

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Seit es Großgesellschaften gibt, plagen wir uns mit Experimenten wirtschaftlicher und politischer Führung, mehr durch Eingebung und daraus entwickelte Überzeugungen denn durch faktisch begründetes Wissen geleitet. Das gilt selbst für die unser Jahrhundert so entscheidend bestimmenden und bis zum heutigen Tage wirkenden Utopien des Marxismus und des Liberalismus, die ihre Thesen wissenschaftlich zu begründen suchten, sich jedoch allzuschnell in Überzeugungen festfuhren und ihre Thesen zum Dogma erhoben, mit nur geringer Bereitschaft zur Fehlerkorrektur.

Der Marxismus verfolgte das hehre Ziel, die Herrschaft des Menschen über den Menschen und die Ausbeutung von Menschen durch Menschen aufzuheben, und landete bekanntlich bei den blutigen Gewaltherrschaften in der Sowjetunion und anderen fundamentalsozialistisch regierten Ländern. Als Experiment scheiterte er, weil er die uns Menschen angeborenen Verhaltensdispositionen nicht in Rechnung stellte und damit in vielen Bereichen die Grenzen des Zumutbaren überschritt.

Der Liberalismus tritt für Rechtsstaatlichkeit und die Freiheit des einzelnen ein und wendet sich damit gegen radikalsozialistische Formen der Volksherrschaft, ja gegen jede staatliche Machtkonzentration, übersieht aber in seinem Plädoyer für die globale freie Wirtschaft, daß auch internationale Kapitalgesellschaften und Konzerne von Personen geführt werden, die wie jeder von uns nach Ansehen und Macht streben. Das kann über Machtzuwachs schließlich zu diktatorischen Formen der Herrschaft von Gesellschaften führen. Ganz abgesehen davon läuft jeder, der sich mit dem Plädoyer für einen absolut offenen, marktwirtschaftlichen Wettbewerb die Natur zum Vorbild nimmt, Gefahr, selbst in Schwierigkeiten zu geraten, handelt es sich dabei doch um eine Hochrisikostrategie, die Organismen im Falle des Versagens mit dem Tode bezahlen, Menschen zumindest mit dem Verlust ihres Vermögens.

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In den frühen achtziger Jahren haben zwei texanische Millionäre zu Spekulationszwecken in solchen Mengen Silber aufgekauft, daß der Kilopreis auf 3000 DM hinaufschnellte. Sie haben sich dabei übernommen, aber mit ihnen verloren auch viele Mitläufer Geld. Die ostasiatische Währungskrise von 1997/98 begann mit dem Zusammenbruch der Währung Thailands. Die Presse beschuldigte wiederholt den Währungsspekulanten George Soros, daß er gegen den Baht spekuliert habe. Ich kann das nicht beurteilen, aber es ist schon möglich, daß bereits heute einzelne Männer über so viel Macht verfügen. Sicher entspricht dies nicht ganz den ursprünglichen Vorstellungen des Liberalismus.

Wettstreit, ob ausgetragen mit den Waffen des Krieges oder mit den Strategien des wirtschaftlichen Wettbewerbs, sortiert immer nach Gewinnern und Verlierern. Mehrere Gründe drängen uns dazu, beide Formen des Wettstreits zu humanisieren. Zunächst die Tatsache, daß es sich bei einem ohne alle Konventionen rücksichtslos ausgetragenen Wettstreit um eine Hochrisikostrategie handelt. Im Falle der kriegerischen Auseinandersetzungen beobachten wir, daß sich Konventionen entwickelten wie zum Beispiel jene, die heute den Einsatz bestimmter Massenvernichtungswaffen tabuisieren. Der Einsatz atomarer, chemischer oder biologischer Waffen wäre für alle am Krieg Beteiligten riskant. In analoger Weise entwickelten sich als stammesgeschichtliche »Konventionen« die Turnierkämpfe vieler Tiere.

Beim Menschen spielen außer dem Bedürfnis nach Risikominderung auch humanitäre Erwägungen eine große Rolle. Unsere emotionale Grundausstattung ist in allen Völkern dieser Erde die gleiche. Zu ihr gehört nicht nur, daß wir uns über andere ärgern, wir empfinden vielmehr auch Sympathie und Mitleid, und diese Gefühle und die ihnen entsprechenden Verhaltensantworten werden durch bestimmte Ausdrucksbewegungen wie Weinen und andere Appelle ausgelöst. 

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Unser Verhalten auch Feinden gegenüber wird daher nicht nur durch die Gefühle des Hasses bestimmt, wie bereits Sigmund Freud bemerkte. Jede Kriegspropaganda bemüht sich zwar darum, Gefühle der Sympathie dem Feinde gegenüber zu unterdrücken, doch gelingt dies nicht völlig (Eibl-Eibesfeldt 1975).

Im wirtschaftlichen Wettbewerb bietet eine vergleichbare Zivilisierung eine Reihe von Vorteilen. Ein rücksichtsloser Wettbewerb verschleudert nicht ersetzbare Ressourcen, ja, er gefährdet den Haushalt der Natur und den Boden, von dem wir leben. Er bedroht ferner den inneren und äußeren Frieden und damit auch auf längere Sicht die in diesen Wettbewerb verstrickten Unternehmen. Ohne einen gewissen allgemeinen Wohlstand als Voraussetzung für den sozialen Frieden kann es auf Dauer keine blühende Wirtschaft geben. Schließlich und nicht zuletzt entspricht rücksichtsloser Wettbewerb nicht ganz dem moralischen Empfinden einer technisch zivilisierten Gesellschaft.

Ich möchte im folgenden an Hand einiger Beispiele die fatalen Auswirkungen des Kurzzeitdenkens in Wirtschaft und Politik aufzeigen. Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte in der Landwirtschaft, Industrie und Migrationspolitik verdienen dabei unsere besondere Aufmerksamkeit, da hier in kurzsichtigen und wohl auch leichtfertigen Experimenten mit dem Glück künftiger Generationen gespielt wird.

Ich schildere die Entwicklungen, die mir Sorge bereiten, als Europäer, als Deutschösterreicher und als Wiener, das heißt aus der Sicht, die sich aus meiner sicher auch affektiv besetzten Identifikation mit Europa und meiner Kulturnation ergibt. Das hat nichts mit ethnischer oder eurozentri-scher Überheblichkeit zu tun, sondern erwächst folgerichtig aus der Einbettung in einen Kulturraum, dem ich nach Abstammung angehöre. Erst das ermöglicht es mir, andere ebenso in ihrer Kultur verwurzelte Menschen zu verstehen und deren Bedürfnis nach Bewahrung ihrer ethnischen Identität zu würdigen. Damit bin ich übrigens auch in Übereinstimmung mit den Statuten der Vereinten Nationen, die jede kulturtötende Dominanz von Völkern über Völker ablehnen.

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Mit den Problemen, mit denen ich mich im folgenden auseinandersetze, sind überdies alle Völker in diesem Gedränge auf der Erde konfrontiert. Für alle stellt sich gleichermaßen die Frage, ob es gelingt, unsere egozentrische Natur etwas zu zügeln. Wie stehen dafür die Aussichten?

 

 

3. Das Kurzzeitdenken in der Landwirtschaft

Die bäuerliche Kultur lehrt, daß Menschen in den verschiedensten Regionen dieser Erde gelernt haben, mit ihren Ressourcen pfleglich umzugehen und zu haushalten. Auch unsere bäuerlichen Vorfahren lebten nicht in den Tag hinein. Sie fühlten sich kommenden Generationen verpflichtet, und sie pflanzten für ihre Enkel Bäume, so wie ihre Vorfahren es für sie getan hatten. Und sie beuteten ihr Land nicht nur aus, zu dem sie eine enge affektive Beziehung hatten, etwas wie eine Liebe zum Land.

Ich fahre täglich von meinem Haus im oberbayerischen Söcking zu meinem Institut in Andechs durch eine bäuerliche Kulturlandschaft, die seit gut zweitausend Jahren bewirtschaftet wird. Kelten und Römer lebten von diesem Land und viele Generationen von Bayern bis zum heutigen Tag. Und es zeigt keinerlei Zeichen von Zerstörung. Auf den bronzezeitlichen Hügelgräbern weiden Kühe; mittelgroße Felder und Wiesen wechseln mit kleineren Wäldern. Dazwischen eingestreut liegen kleine Ortschaften mit Wohlstand verkündenden Höfen. Die auf pflegliche Art erwirtschafteten Produkte waren von hoher Qualität, und sie reichten aus, die Bevölkerung dieses Landes mit gesunden Produkten zu versorgen und den Produzenten einen gewissen Wohlstand zu sichern.

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Dies alles änderte sich in den letzten drei Jahrzehnten durch die industrielle Feldbestellung und durch die Massentierhaltung in dramatischer Weise. Beides gefährdet das bisher Erreichte. In bestimmten Gebieten Deutschlands, Frankreichs, Italiens und Spaniens werden heute sehr große Flächen mit schweren Maschinen bestellt, die den Boden verdichten. Die intensive Düngung tötet zwei Drittel der Bodenorganismen, und zwar vor allem die Regenwürmer, die ihn wieder lockern würden. Daher dringt das Regenwasser nicht schnell genug ein, und das wirkt sich vor allem nach der Ernte verhängnisvoll aus. Denn dann liegen die Felder viele Monate ohne schützende Pflanzendecke, Regen wäscht das Erdreich weg, und bei Trockenheit verbläst es der Wind. Glaubt man, so weitere zweitausend Jahre wirtschaften zu können? Keineswegs, aber das schert wenige. Im Augenblick erwirtschaftet man auf diese Weise die Produkte billiger als auf die traditionelle Art, weil man Arbeitskräfte spart. Und nur die Gegenwart zählt. Die industriellen Feldbesteller pflegen das Land nicht mehr, sie beuten es aus und lassen es verkommen. Einige werden dabei reich, aber viele Bauern dadurch arbeitslos. Ähnliches gilt für die Massentierhaltung.

In manchen Gegenden der Europäischen Union werden Hunderte von Schweinen und Rindern in Massenställen gehalten. Solche Massentierhaltung verdrängt die bewährten bäuerlichen Methoden der Viehhaltung. Auch hier werden einige wenige wohlhabend, während viele der kleineren und mittelgroßen bäuerlichen Betriebe zugrunde gehen. Daß die Produkte vom seuchenhygienischen Standpunkt aus nicht unbedenklich sind, dürfte mittlerweile bekannt sein. So haben wir uns mit dem Rinderwahnsinn eine höchst heimtückische Seuche eingehandelt, die uns eigentlich lehren sollte, daß wir mit der Massentierhaltung geradezu ein Experimentierfeld für die Züchtung pathogener Viren schaffen und durch die Viehtransporte kreuz und quer durch Europa auch noch deren weite Verbreitung fördern. Aber man experimentiert munter weiter. 

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Die virale Schweinepest, die ist ja, wie uns ein Landwirtschaftsminister versichert, für den Menschen ganz ungefährlich. Wie lange noch? Wohl nie etwas von Mutanten gehört? In Hongkong hat sich erst kürzlich ein Hühnervirus zu einem für die Menschen sehr gefährlichen Grippevirus mutiert. Dagegen sind die Salmonellen in den Eiern der Batteriehühner noch vergleichsweise harmlos.

Auch qualitativ sind die Produkte der Massentierhaltung minderer Qualität, da sie oft mit Medikamenten überfrachtet sind. In der Tiermast verfüttert man, unter das Futter gemischt, als Leistungsförderer Antibiotika an Rinder, Schweine und Hühner. Von dem 1997 von den EU-Behörden verbotenen Mittel Avoparcin, das dem Medikament Vonco-mycin ähnelt, schütteten allein die Dänen 1994 ganze 24000 Kilogramm in die Futtertröge. Für die Behandlung von Patienten wurde im gleichen Zeitraum gerade ein Tausendstel (24 kg) verbraucht (Witte 1998). Auf diese Weise züchtet man resistente pathogene Keime. Muß erst die Katastrophe eintreten, damit wir etwas unternehmen? Die Massentierzucht ist weder sozial noch volkswirtschaftlich noch gesundheitspolitisch zu verantworten. Ganz abgesehen davon, daß sie nicht unseren ethischen Vorstellungen von Tierhaltung entspricht. Aber das alles wird verdrängt. Nicht die Interessen der Allgemeinheit zählen, sondern die der Massentierhalter, und diese fahren voll auf den Wettlauf im Jetzt ab, da sie gegen die Langzeitrisiken und andere Folgekosten durch die Allgemeinheit abgesichert sind. Das geht so weit, daß die Massentierzüchter vom Staat Unterstützung erhalten, wenn eine Seuche sie dazu zwingt, den Tierbestand umzubringen. Hier profitieren sie von den Gesetzen, die zum Schutz der Bauern erlassen wurden. Die industriellen Fleischerzeuger tarnen sich gewissermaßen als solche.

Wirtschaftlich macht sich das alles nur bezahlt, solange der Staat die Risiken und vor allem die von den Massentierzüchtern verursachten Soziallasten trägt. Wer die Allgemeinheit schädigt, schädigt aber letzten Endes auch sich selbst.

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Aber da sich die der Volkswirtschaft aufgehalsten Kosten auf viele verteilen, der Nutzen jedoch allein den auf Kosten der Allgemeinheit wirtschaftenden Betrieben zufällt, lohnt sich das zumindest vorübergehend für den so wirtschaftenden Unternehmer. Das alte Problem der allgemeinen Güter in neuer Form! Würden die vom Staat übernommenen Kosten in die betriebswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Rechnung einbezogen, die so erwirtschafteten, keineswegs vollwertigen Produkte dürften sich überdies als ziemlich teuer erweisen.

 

4. Folgen für Industrie und Handel

Die neuen Technologien des elektronischen Zeitalters führten in den letzten zwei Jahrzehnten zu einer weltweiten Öffnung und Internationalisierung der Finanzmärkte, und mit dem progressiven Abbau der Handelsschranken entwickelte sich auch ein globaler Markt für Dienstleistungen und Produktion. Die als »Globalisierung« bezeichnete Entwicklung hat gravierende Rückwirkungen auf die Volkswirtschaften, die sich der internationalen Verflechtung nicht entziehen können und die sich somit einem verschärften Wettbewerb ausgesetzt sehen, der mit der zunehmenden Anonymisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen zunehmend rücksichtsloser wird. Diese Entwicklung engt den Handlungsspielraum der nationalen Volkswirtschaften ein und gefährdet soziale und kulturelle Errungenschaften. Vagabundierendes Kapital - Abermilliarden Dollar, die sich dem Zugriff der Nationalstaaten entziehen - schränkt die Entscheidungsmöglichkeiten der Nationalstaaten ein und schwächt sie und in Staaten mit demokratischer Verfassung auch die Volkssouveränität.

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Eine solche schleichende Entmachtung im Verbund mit einer zunehmenden Verarmung breiter Bevölkerungskreise könnte auch bei uns zu Unruhen führen, die unsere Demokratie gefährden. Setzen sich die Staaten Europas überstürzt diesen Entwicklungen aus, dann gefährden sie somit ihre Existenz. Es ist daher wichtig, die systemimmanente Dynamik dieser Prozesse zu erkennen und sie unter Kontrolle zu bringen, solange noch Regierungen von ihrer Souveränität Gebrauch machen können.

Der Zusammenschluß der Staaten in der Europäischen Union, die sich auch für den europäischen Osten öffnet, schafft die machtpolitischen und kulturellen Voraussetzungen, um den demokratie- und kulturgefährdenden Folgen einer Globalisierung entgegenzutreten und so von positiven Folgen der Globalisierung zu profitieren, die, abgesehen von wirtschaftlichen Vorteilen, das geistige und kulturelle Leben ungemein bereichern und damit auch über die gegenseitige Achtung eine echte Verbrüderung fördern könnte. Dazu sollten wir aber der Globalisierung zunächst mit einer gewissen Zurückhaltung begegnen, um das in Europa bereits Erreichte nicht leichtsinnig zu gefährden. 

Wir hatten in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft in Industrie und Landwirtschaft bereits einen hohen Standard umweltfreundlichen und zugleich sozial verantwortlichen Wirtschaftens erreicht. »Soziale Marktwirtschaft« hieß die seinerzeit von Ludwig Erhard propagierte Parole. Sie zivilisierte den Kapitalismus, indem sie umweltfreundliches und sozial verantwortliches Wirtschaften mit im übrigen freiem Wettbewerb verband. Schnelligkeit der Leistungserfüllung, Qualität des Angebots und der Dienstleistungen, Innovation und Geschicklichkeit der Märkteerschließung unter anderem durch kundenorientiertes und daher nicht notwendigerweise nur gewinnmaximierendes Verhalten waren dabei die Konkurrenzfaktoren, während dem ökologischen und sozialen Unterbieten durch Auflagen Grenzen gesetzt wurden. An diesem System gibt es sicherlich mancherlei zu korrigieren. 

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Arbeitgeber und Arbeitnehmer müßten in Vereinbarungen symbiotische Beziehungen erarbeiten zu beiderseitigem Vorteil, in denen sich beide bereitfinden sollten, sich an die jeweilige Wirtschaftslage anzupassen und sowohl der Ausbeutung der Arbeitnehmer als auch dem Mißbrauch von Sozialleistungen gegenzusteuern. Hier befinden wir uns in der Experimentierphase, aber mit der Sozialen Marktwirtschaft sicherlich auf einem guten Weg. Gelingt es, die richtige Balance zu finden, dann sichern wir unsere Zukunft durch Erhaltung des inneren Friedens.

Was nützt die schönste Villa, wenn ich sie, wie in manchen Ländern der Neuen Welt, mit stacheldraht­bewehrten Mauern umgeben muß, wenn ich nachts nicht ungefährdet die Straßen der Großstädte betreten darf und wenn mein Gewissen durch den Anblick krasser Armut bedrückt wird, von Menschen, die im Winter in Kartons in Kaufhauseingängen übernachten oder über Entlüftungsschächten, aus denen warme Luft strömt. Es gehört eine gewisse soziale Blindheit dazu, wenn ein Land wie die USA sich des höchsten allgemeinen Lebensstandards brüstet, in dem soziales Elend dieser Art zum Alltag gehört. Mag sein, daß es sich statistisch so errechnet, aber einem Optimum an Lebensqualität ist das gewiß nicht gleichzusetzen.

Wir müssen befürchten, daß sich bei uns in Europa eine ähnliche Entwicklung anbahnt. Die globale Entwicklung fordere den freien, sprich rücksichtslosen Wettbewerb und den Abbau der Zollschranken, den freien Verkehr von Waren, Geld und Menschen. Man verkauft als Freizügigkeit, was in Wirklichkeit Ungezügeltheit bedeutet. Wir leben davon, daß wir unser Verhalten kultivieren, und dazu gehört auch ein umweltfreundliches und sozial verantwortliches Wirtschaften. Aber das kann man nicht, wenn man zuläßt, daß Billigprodukte aus Ländern, denen es an sozialer und ökologischer Verantwortung mangelt, importiert werden. Man kann auch nicht verlangen, in kostspielige Filteranlagen zu investieren, um Luft und Wasser sauberzuhalten, wenn man es dann vorzieht, dort einzukaufen, wo es billiger ist, weil dergleichen Auflagen fehlen.

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Die Wirtschaft neigt heute dazu, sich die Natur beziehungsweise deren über die natürliche Auslese gesteuerten Konkurrenzkampf zum Vorbild zu nehmen. Aber die Natur kennt keine Moral und vor allem keine langfristige Zukunftsperspektive. Die Evolution lernt allzu oft aus Katastrophen. Auf Massenvermehrung folgen Bevölkerungszusammenbrüche mit Massensterben. Die Natur kann uns Lehrmeister sein, aber nicht in allem Vorbild. Wir können schließlich Handlungsfolgen über längere Zeit abschätzen, und wir können uns als erste Art auf diesem Planeten auch Ziele setzen — anders als die Natur verfügen wir über Gewissen und Moral. Beides verpflichtet uns, den Wettbewerb weiter zu zivilisieren, indem wir ihn auf Leistungen der schon genannten Art beschränken. Kurzfristig mag eine am natürlichen Vorbild orientierte Marktwirtschaft Vorteile bringen, langfristig gefährdet sie den sozialen Frieden und die Ökosysteme. All jene, die nur auf den Wettlauf im Jetzt fixiert wirtschaften und dabei die für ihr langfristiges Gedeihen notwendige partnerschaftliche Einbindung in die Solidargemeinschaft eines Staates vergessen, zerstören schließlich ihre eigene Zukunft.

Der völlig freie Verkehr von Menschen und Waren würde zu einem sozialen und ökologischen Dumping in jenen Ländern führen, die bereits einigermaßen zivilisiert miteinander und mit ihrer Umwelt umgehen. Auch bei uns in Europa sieht es ja mittlerweile nicht mehr rosig aus. Die moderne Technik, zunächst als Entlastung des Menschen gedacht, schafft sicher Probleme, das war schon bei der Einführung der Dampfmaschinen so, die bekanntlich viele Arbeiter überflüssig machte. Aber solche Entwicklungen wirkten sich auf längere Sicht immer segensvoll aus, da sie aufgefangen werden konnten. Innovation schuf neue Märkte und neue Produktionsmöglichkeiten, und der allgemeine Lebensstandard hob sich bis in die Gegenwart. Aber es gab immer Probleme mit Umschulung und Krisenzeiten, die man bewältigte.

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Betriebswirtschaften, die meinen, nur ihr Eigeninteresse ohne Rücksicht auf die Volkswirtschaft vertreten zu können, laufen Gefahr, auf lange Sicht sich selbst zu schädigen, denn sie gefährden den Staat, der sie schützt und der ihre Interessen auch im Ausland vertritt. Stehen sie allerdings in einem globalen Wettbewerb, dann sind sie zu rücksichtslosem Vorgehen gezwungen. Wenn wir daher unseren in Europa erarbeiteten sozialen und umweltfreundlichen Standard halten wollen, können wir uns nicht einem völlig freien Wettbewerb hingeben, wir müssen versuchen, die soziale und ökologisch verantwortliche Marktwirtschaft notfalls über Zollschranken zu erhalten.

Wieviel Markt hält die Demokratie aus? fragen Hans Peter Martin und Harald Schumann (1996) in ihrer bemerkenswerten Untersuchung zur Globalisierung, die sie als einen Angriff auf Demokratie und Wohlstand bezeichnen. Sie weisen darauf hin, daß die Nachfolger des IG Farbenkonzerns 80 % ihres Umsatzes im Ausland machen und nur noch ein Drittel der Belegschaft in Deutschland arbeitet. Nach Sitz und Firmenzentrale sind Bayer und Hoechst noch deutsche Firmen. Aber ein kuwaitischer Aktionär hat heute mehr Anteile an Hoechst als alle deutschen Aktionäre zusammen. Jürgen Dormann, Topmanager von Hoechst, stellte selbst die Frage: »Was ist noch deutsch an Hoechst?« (Die Zeit, 22.7.1996).

Wie Hans Peter Martin und Harald Schumann bemerken, ist es für den Manager eines global organisierten Konzerns kaum mehr möglich, gesellschaftliche Verantwortung nach Artikel 14 des Grundgesetzes zu erfüllen. (Art. 14 lautet: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.«)

Martin und Schumann schreiben: »Eine demokratisch verfaßte Gesellschaft ist nur dann stabil, wenn die Wähler spüren und wissen, daß die Rechte und Interessen eines jeden zählen, nicht nur die der wirtschaftlich Überlegenen. Demokratische Politiker müssen daher auf den sozialen Ausgleich dringen und die Freiheit des Einzelnen zugunsten des Gemeinwohls beschneiden. Gleichzeitig bedarf die Marktökonomie unbedingt der unternehmerischen Freiheit, wenn sie prosperieren soll« (S. 312).

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Sicher ein Dilemma. Auf die Ausgewogenheit wird es ankommen, und diese ist durch die Abkehr von der Sozialen Marktwirtschaft zur Zeit ziemlich aus dem Gleichgewicht geraten. Man kann nur hoffen, daß es sich nach einer die Wirtschaft zu sehr mit sozialen Nebenkosten belastenden Phase um einen extremen korrigierenden Ausschlag in die Gegenrichtung handelt und daß ein Einpendeln auf ein vernünftiges Maß erfolgt, das volkswirtschaftliche und damit nationale und europäische Interessen mit betriebswirtschaftlichen Interessen in Einklang bringt.

Politiker haben grundsätzlich die Aufgabe, die Gesellschaft zu schützen, die sie vertreten. Für die demokratisch gewählten Politiker Europas sind dies die Gemeinden und weiter aufsteigend in den Bundesrepubliken die Länder, die Staaten und schließlich durch das Europäische Parlament die Europäische Union. Zum Schutz der einzelnen Staaten ebenso wie der Europäischen Union ist eine gewisse Abschottung unerläßlich. Dem stehen Kurzzeitinteressen der Wirtschaft entgegen, die völlige globale Freiheit fordert. Diese könnte, wie ausgeführt, erst bei Erreichen eines gemeinsamen sozialen und ökologischen Lebensstandards sowie nach Institution verbindlicher Regeln für den Güterund Kapitalverkehr vereinbart werden. Der zügellos freie Kapitalverkehr kann, wie die gegenwärtige Krise in Ostasien lehrt, Staaten empfindlich schwächen. Überdies stellt er auch für die Kapitalgesellschaften und für die international verflochtene Wirtschaft einen Risikofaktor ersten Ranges dar, da sich ja in diesem fast gesetzlosen Raum eine Art wirtschaftliches Faustrecht mächtiger, mafiaähnlicher Organisationen etablieren könnte. Und herrschen schließlich Monopolgesellschaften, dann dürfte das dem jetzt so gepriesenen Wettbewerb sicherlich nicht förderlich sein.

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Das traditionell seriöse Unternehmertum lebt letzten Endes, wie wir bereits hervorhoben, von dem jeweiligen Staat, der seinen Heimathafen darstellt und der es gegen Enteignungen, Erpressungen und andere Formen der Piraterie schützt. In einer übervölkerten Welt, in der der Wettstreit immer rücksichtsloser zu werden droht, dürfen die zivilisierten Formen menschlichen Umgangs auch im Bereich der Wirtschaft nicht über Bord gehen. Jene Wirtschaften, denen es gelingt, eine ausgewogene Partnerschaft zwischen Wirtschaft und Staat zu erreichen, werden im gegenwärtigen globalen Wettbewerb bestehen, weil sie sich so gegen allzugroße Risiken durch den Erhalt der sicheren Basis ihres Heimatlandes absichern.

»Die Marktwirtschaft darf nicht das Soziale und dieses nicht die Marktwirtschaft fressen«, meinte Josef Schmid in einem höchst bemerkenswerten Beitrag zur Globalisierungsdebatte. Und weiter: »Globalisierung ist nicht nur Schicksal oder Ausgeliefertsein, demgegenüber nichts als Anpassung gefragt wäre. Sie zwingt dazu, sich über die eigenen Vorlieben klarzuwerden und darüber, was gegenüber Weltbewegungen als erhaltenswert erscheint.« Und schließlich: »Eine Wirtschaftspolitik, die den Menschen dient und nicht nur den Betriebseinheiten, wird in gewissem Umfange Nationalökonomie bleiben müssen. Die verzweifelte Suche nach dem patriotischen Unternehmer, der nichts auslagert, dem unverdrossenen Biologen, der nicht nach Asien geht, nach dem Arbeiter, der nicht pausiert, kann beginnen« (J. Schmid, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. 8. 1996).

Wir dürfen uns den ungezügelten Wettbewerb in der Natur nicht zum Vorbild nehmen, wenn wir unsere Zukunft nicht riskieren wollen. Die Natur kann nicht anders, als mit dem vollen Risiko des Wettlaufs im Jetzt zu operieren. Wir aber können es wohl.

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Nach der Niederschrift dieser Zeilen erschien im Spiegel ein bemerkenswertes Gespräch zwischen Schimon Peres und George Soros über die Grenzen und Möglichkeiten nationaler Politik in Zeiten der Globalisierung. Ich halte diesen Dialog für sehr wichtig und gebe daher einen Auszug wieder, den ich dem Spiegel (mit Erlaubnis) entnehme:

Soros: Wirtschaftlich und politisch wird weiterhin einseitig auf Konkurrenz und Konflikt gesetzt. Kooperative Ansätze, wie die der Vereinten Nationen und ihrer Organisationen, haben bisher versagt. Doch der einseitige Glaube, daß Ökonomie und Sozialdarwinismus die Richtlinien für unsere Gesellschaft sein können, ist genauso falsch. Und dies wird nirgends deutlicher als auf den globalen Finanzmärkten.

Peres: Einspruch. Schließlich sind die Finanzströme der Schlüssel der globalen Wirtschaft. Weltweit erreicht der Handel nur ein Zehntel des Werts der Bewegungen auf den Finanzmärkten.

Soros: Das weltweite kapitalistische System basiert auf der falschen Prämisse, daß man nur die Wettbewerber ihre freien Entscheidungen treffen lassen muß, und dann wird sich das ganze System ins Gleichgewicht bewegen. Die Instabilität liegt im System. Märkte können sich selbst korrigieren: Teilnehmer erkennen, daß sich ihre Erwartungen nicht erfüllen, und korrigieren ihre Entscheidungen. Darin liegt der Vorteil der Marktwirtschaft gegenüber der Planwirtschaft. Aber Finanzmärkte bergen die Gefahr selbstzerstörerischer Entwicklungen. Die »unsichtbare Hand« muß nicht notwendigerweise ausgleichend eingreifen. Asien hat gezeigt, daß sie wie eine Abrißbirne wirken kann. Die Finanzmärkte brauchen Aufsicht und Regeln. Wir haben nationale Institutionen wie die Notenbanken, die auf Geldwertstabilität achten, auf den Markt reagieren und intervenieren. Aber uns fehlen vergleichbare Institutionen auf globaler Ebene. Ohne solche Einrichtungen laufen wir auf einen Kollaps des globalen kapitalistischen Systems mit unabsehbaren Folgen zu.

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Im weiteren Verlauf bemerkt Peres, daß der Markt zwar Mauern niederreißen, Wohlstand produzieren, aber nicht Stabilität sichern könne. Er könne nicht für die Gesundheitsvorsorge der Kinder und die Renten der Alten in Verantwortung genommen werden. Schließlich stellt er die Frage, wo denn die soziale Gerechtigkeit bleibe:

Soros: Ich bin für soziale Verantwortung. Ich liebe das kapitalistische System, aber ich weiß, daß es unvollkommen ist. Mich beunruhigt die globale Freizügigkeit des Kapitals, das erschwert seine Besteuerung. Dies beeinträchtigt die Fähigkeit der Staaten, soziale Leistungen anzubieten. Die Armen müssen mehr zahlen, weil die Reichen abhauen.

Peres: An diesem Punkt finden wir zusammen. Wenn die Staaten nicht mehr wahrnehmen, daß es soziale Herausforderungen gibt, die gemeinsames Handeln verlangen, sind wir verloren.

(Der Spiegel, Nr. 15,1998, S. 121; hier auszugsweise Wiedergabe. Ursprünglicher Verteiler: Los Angeles Times Syndicate, C. Schimon Peres.)

Zur Zeit sehen wir uns mit der erstaunlichen Situation konfrontiert, daß viele Politiker durch eine kritiklose Befürwortung der Globalisierung an der Selbstdemontage ihrer Staaten aktiv mitwirken, indem sie vieles treiben lassen und damit auf das Regieren verzichten, ja selbst in den Tag hineinwirtschaften. Dazu gehört auch, daß sie sich dem Ausland gegenüber durch Kreditaufnahme verschulden und daß sie Staatsbesitz an das Ausland verkaufen. Erfolgt hingegen eine Kreditaufnahme auf dem inländischen Markt, dann werden Inländer zu Gläubigern und profitieren über die Zinseinnahmen an den Einnahmen des eigenen Staates, was zum allgemeinen Wohl beiträgt und daher volkswirtschaftlich zu verantworten ist. Auch bleiben die Steuereinnahmen im Lande. 

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Das gleiche gilt für den Verkauf von Betrieben und anderen Vermögenswerten an Inländer oder Europäer. Der gegenwärtig betriebene Verkauf von Staatseigentum im Rahmen der Privatisierung macht den Staatsbürger oder Deviseninländer zum Miteigentümer. Solange der Staat bei Aktiengesellschaften Miteigentümer mit Stimmenmehrheit bleibt, ist diese Art »Volkskapitalismus« durchaus im Sinne einer sozialen Marktwirtschaft. Auch innerhalb der Europäischen Union ist ein freier Transfer dieser Art unbedenklich, da er ja auf Reziprozität basiert und die Europäische Union ein wirtschaftliches und soziales Gemeinwesen darstellt. Außerhalb der Union wäre darauf zu achten, daß ein Staat nicht mehr, sondern eher weniger verkauft, als er selbst im Ausland anlegt. 

Ein Staat, der darauf nicht achtet, gerät leicht in die Abhängigkeit von anderen, er läßt sich von anderen gewissermaßen wirtschaftlich erobern. Global herrscht eine Art Wirtschaftskrieg. In diesem gibt es sowohl Verbündete wie Gegner. Und die Bündnisse wechseln bekanntlich. Staatsbankrott, der zum Ausverkauf führt, kommt einer Niederlage gleich, mit allen wirtschaftlichen und damit sozialen Folgen für das schlecht geführte Land. Wir würden zwar gern in einer friedlichen Welt leben. Aber noch sind wir von einer solchen weit entfernt, und wer blind vertraut oder gar als einseitiger Altruist auftritt, ist nicht lange auf dem Markt.

Unsere mangelnde Fähigkeit, wirtschaftliche oder politische Entwicklungen vorauszusehen, beruht auf einer unzureichenden Kenntnis der dem Verhalten von Personen und Personengruppen zugrunde liegenden Gesetzlichkeiten. Nur so konnten die Wallstreet-Ökonomen glauben, sie handelten vernünftig, als sie in den späten siebziger Jahren den unterentwickelten Ländern Geld liehen, das durch die Erhöhung der Erdölpreise durch die OPEC-Staaten ausreichend zur Verfügung stand und nach Anlagen suchte. Im Juni 1997 waren einige der Spitzen-Ökonomen der Meinung, daß in Ostasien wirtschaftlich alles in Ordnung sei. Hier könne nichts schiefgehen. Es kam ganz anders als erwartet.

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In einem Editorial der Samstagsausgabe des International Herald Tribüne vom 30.5.1998 meinen Ethan Kapstein und Thierry Malleret, man hätte die familialen und patriarchalen Netzwerke nicht in Rechnung gestellt, sondern nur die Exporterfolge gesehen. Wir sollten, schreiben die Genannten, den Regierungen, die unsere Investitionen wünschen, die Nachricht zukommen lassen: »We are watching you and we will publicize your misdeeds. Only in that way can we hope to eliminate the political rot that lies at the core of most economic crises.« Aber wäre nicht auch nach der blinden Gier in uns zu fragen, nach dem kurzsichtigen Streben nach Macht? Eine Gier, die ungezähmt uns alle wohl zu Hasardeuren macht, wie die Massenspekulationen an den Börsen zeigen.

 

5. Die neue Völkerwanderung

Klimawechsel, Hungersnöte und Kriege haben zu allen Zeiten Menschen zu Wanderungen gezwungen. Die Völkerwanderung der germanischen Stämme vom dritten bis sechsten Jahrhundert und ihre Auswirkungen auf Europa sind allgemein bekannt, ebenso die sich über Jahrhunderte wiederholenden Einfälle mongolischer Reitervölker in Europa. Unsere Vorfahren lebten in einer unruhigen Welt, und unser Jahrhundert ist nicht gerade ruhiger geworden. Nach zwei katastrophalen Kriegen haben allerdings die technisch zivilisierten Nationen der nördlichen Halbkugel allmählich zu einer Friedensordnung gefunden, die sich bisher bewährt hat. Wir dürfen darüber aber nicht übersehen, daß gegenwärtig etwa 40 bis 50 Millionen Menschen als Flüchtlinge leben. Sie kommen aus den übervölkerten Armutsregionen der Erde, die nicht mehr in der Lage sind, ihre rasch zunehmende Bevölkerung zu ernähren. Die Situation ist kritisch, da die ökologische Tragekapazität in vielen Gebieten dieser Erde bereits überschritten ist.

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Die Bevölkerungen Europas, der USA, Kanadas und Japans sowie einiger anderer Regionen leben dagegen in Wohlstand, der vor allem auf dem bisher ungebremsten Verbrauch fossiler Energieträger beruht, die sich nicht erneuern. Die bis heute bekannten Erdöllager reichen für 150 Jahre, aber selbst wenn sie dann nochmals für weitere hundert Jahre reichen würden - begrenzt sind sie allemal. Das gilt auch für viele mineralische Rohstoffe und schließlich auch für das Land, in dem wir leben, das zunehmend von Verkehrswegen, Siedlungen, Fabrikationsanlagen verbaut und zersiedelt wird und das nur noch schwer die Abwässer und unseren Müll verkraften kann. Nicht nur die Flüsse, auch unser Grundwasser und unsere Luft sind in manchen Gebieten in einem gesundheitsbedrohenden Ausmaß belastet. Deutschland gehört mit 227 Bewohnern pro Quadratkilometer zu den übervölkerten Ländern. In den USA kommen im Vergleich dazu 24 Einwohner auf den Quadratkilometer.

Auch die anderen Länder Europas sind bis an die ökologische Tragfähigkeit bevölkert oder sogar schon darüber hinaus. Alle sind vom Import von Gütern abhängig und damit krisenanfällig, so daß ein gleichmäßiges Gesundschrumpfen auf das Optimum einer kulturellen Tragekapazität durchaus vernünftig wäre. Bei der gegenwärtigen Weltlage kann auch die Wohlstandsregion Europa vom einen Tag auf den anderen zu einer Problemregion werden. Wie schnell das auch ohne ökologische Katastrophen passieren kann, hat die jüngste Entwicklung in den sogenannten Tigerstaaten Ostasiens gezeigt.

Und wir haben immerhin zwei Ölkrisen hinter uns — eine deutliche Warnung! Aber unser Kurzzeitdenken — die mangelnde Fähigkeit, vorauszudenken — wird durch ein ebenso fatales Kurzzeitgedächtnis ergänzt. 

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Wir erinnern uns zwar, aber das liegt ja schon so lange zurück: Am 17. Oktober 1973 beschlossen die erdölexportierenden Länder (OPEC), ihre Ölproduktion zunächst um 5% und bald darauf, am 25. November, um 25% zu drosseln, um Israel zum Rückzug aus den besetzten arabischen Gebieten zu veranlassen. Das traf uns Europäer hart. Es gab Sonntagsfahrverbot und damit leere Autobahnen — eine kurze Erholungszeit für unsere arg geplagte Kleintierwelt.

Nicht allzulange liegt es zurück, da brannten die Ölquellen in Kuwait. Was haben wir daraus gelernt? Offenbar doch nur, daß wir wieder einmal Glück hatten — und dies bekräftigt uns in der Meinung, daß es schon irgendwie weitergehen wird. Aber was, wenn einmal die ganze Arabische Halbinsel brennt? Gar so ausgeschlossen ist das ja nicht. Aber wir sind Meister in der Verdrängung unangenehmer Gedanken.

Im Wettlauf im Jetzt verstrickt, transportieren wir die in der Nordsee gefangenen Garnelen nach Nordafrika, um sie dort von billigen Arbeitskräften von ihrer Körperhülle befreien zu lassen, dann geht's auf riesigen Lastern wieder zurück nach Norddeutschland. Kartoffeln fährt man mit Lastern nach Italien zum Waschen, und Kälber exportiert man lebend nach dem Vorderen Orient, und die Europäische Union fördert dieses jeder Vernunft und jedem moralischen Empfinden Hohn sprechende Verhalten durch Prämien. Und trotz der an Wochenenden immer wiederkehrenden Staus, trotz der zugeparkten Städte fahren wir alle mit dem Auto. Wir können vielfach nicht anders, denn die öffentlichen Verkehrsmittel reichen nicht aus. Unrentable Nebenstrecken werden nur spärlich mit Autobussen versorgt, Bahnstrecken, die unrentabel sind, werden stillgelegt. Der Staat zieht sich aus seiner Verantwortung zurück.

Nun dürfen wir nicht übersehen, daß in Europa in den letzten Jahrzehnten durchaus über diese Problematik nachgedacht wurde. Man denkt an die Umwelt, denkt an den Abgasausstoß und hat dabei schon viel erreicht. Allerdings darf man auf unseren Autobahnen immer noch ein Wahnsinnstempo fahren. Acht- bis zehntausend Verkehrstote im Jahr, mehrere hunderttausend Verletzte und Milliarden an Sachschäden vermögen uns nicht zu bremsen.

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Abb. 21   Der Anteil der Bevölkerung der Europäischen Gemeinschaft/Union an der Weltbevölkerung (in Prozent). Von 1960 bis heute ist ein kontinuierlicher Rückgang zu verzeichnen. Quelle: Eurostat 1993, Statist. Amt der EU, Luxemburg.  

Seit 40 Jahren herrscht Krieg auf Europas Straßen. Mit der Katastrophenvorsorge ist es ebenfalls nicht gut bestellt. Ich erinnere mich noch an die ständigen Klagen über die Butter- und Fleischberge in den Kühlhäusern. Es gelang, sie zu Schleuderpreisen zu leeren, man spricht nicht mehr davon. Aber was, bitte, wenn aus klimatischen Gründen einmal zwei Mißernten hintereinander die nördliche Halbkugel heimsuchen? Die Weltgetreidevorräte reichten in den letzten Jahren immer gerade für zwei Monate. Auf Anfrage im zuständigen Ministerium in Bonn erfuhr ich, daß man davon ausgeht, auf dem Weltmarkt jederzeit die benötigten Lebensmittel einkaufen zu können. Ich schätze Zuversicht, aber das scheint mir ein bißchen zu optimistisch. Wir brauchen Vorsorge für den Ernstfall und dürfen uns nicht aller Reserven entblößen.

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Unsere Befangenheit im Gegenwartsdenken wirkt sich, wie wir gehört haben, in vielfacher Weise aus. Besonders problematisch scheint mir die Art, wie wir uns seit den späten sechziger Jahren mit der Migrations­problematik auseinandersetzen. Ich bin in zwei Schriften ausführlicher auf sie eingegangen (Eibl-Eibesfeldt 1984, 1994), kann aber nicht umhin, hier noch einmal auf sie hinzuweisen. Die Migrationsproblematik entwickelte sich in Westdeutschland in der Konjunkturphase der sechziger Jahre mit der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte. Man ging damals davon aus, daß die Gastarbeiter nach einiger Zeit in ihre Heimat zurückkehren würden. Das hätte auch eine Art Entwicklungshilfe für die ärmeren Länder sein können, denn die Heimkehrer hätten mit der erworbenen Ausbildung und dem Ersparten ihrem Land wirtschaftlich helfen können, und wir hätten Freunde gewonnen. Man versäumte es jedoch, die Arbeitsverträge generell als Zeitverträge abzufassen, und da es den Zugewanderten hier gefiel und sie hier mit allen Sozialleistungen angestellt wurden, blieben mehr hier als zurückwanderten. Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe brachten ja für viele mehr ein als eine Anstellung in ihrem Heimatland. Außerdem war die einheimische Bevölkerung zunächst ausgesprochen ausländerfreundlich.

Das Gesetz über die Familienzusammenführung erlaubte dann den Nachzug von Familienangehörigen. Daß es Krisenzeiten geben könnte mit Massenarbeitslosigkeit, daran dachte niemand. Erst als die erste Ölkrise eintrat, bemerkte man plötzlich, daß sich hier ein Problem aufbaute. Die ins Land Gerufenen stellten einen großen Teil der Arbeitslosen. Man zahlte Prämien für jene, die in ihre Heimat zurückgingen, versäumte es aber, weitere Einwanderung wirksam zu begrenzen, etwa durch Änderung des Gesetzes über die Familien­zusammen­führung.

Ein weiterer Fehler war, daß man Einwanderer aus unserer Kultur ferneren Bereichen dazu ermunterte, ihre Kultur hier zu pflegen, zunächst wohl, um sie ihrer Kultur nicht zu entfremden und damit die Heimkehr zu erleichtern. 

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Damit förderte man jedoch die Bildung von Minoritäten, die sich abgrenzten und ihre Eigeninteressen vertraten. Die Situation war von Anfang an verkorkst. Und man scheute sich, zur rechten Zeit Korrekturen vorzunehmen, da man wohl den Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit fürchtete, baute aber damit erst Spannungen auf.

Vor allem die einheimische Bevölkerung der niederen und mittleren Einkommensklassen spürte die Konkurrenz der Zugewanderten um Arbeitsplätze, Sozialleistungen und Wohnungen. Spannungen wurden dadurch verschärft, daß die Zuwanderer sich nicht gleichmäßig verteilten, was eine Assimilation erleichtert hätte, sondern sich auf bestimmte Stadtviertel konzentrierten, so daß zum Beispiel der Stadtteil Kreuzberg in Berlin bald als die größte türkische Stadt nach Ankara galt7).

Die Zuwanderungsproblematik verschärfte sich, als Menschen aus wirtschaftlichen Notgebieten herausbekamen, daß die deutschen Asylgesetze forderten, jeden, der sich als politisch Verfolgten ausgab, zunächst aufzunehmen — geschickte Anwälte nutzten dies, denn wenn ein Asylsuchender Rechtshilfe verlangte, mußte man diese gewähren. Wurde schließlich das Asylgesuch als unbegründet abgelehnt, dann konnte Einspruch erhoben und die Heimkehr über viele Jahre verzögert werden. Schlepperbanden brachten aus Afrika, Indien, Afghanistan und anderen Notstandsregionen Wirtschaftsflüchtlinge ins Land, die ganz offensichtlich die Asylgesetze mißbrauchten, was den Unmut der einheimischen Bevölkerung schürte, zumal es sich bei diesen Zuwanderern um Menschen handelte, die nur darauf aus waren, ihre Gastgeber auszunützen. Die Problematik ist genügsam bekannt. Zunehmend wurden auch Kriegsflüchtlinge zur Belastung.

Unterschiede im Brauchtum und in den Alltagsgewohnheiten verschärften die Gegensätze zwischen Einheimischen und Zuwanderern, die bald merken mußten, daß sie nunmehr weniger willkommen waren. Sie entwickelten ihrerseits zu der üblichen Abgrenzung noch eine Abwehrhaltung, die vor allem bei den durch die Entwurzelung frustrierten Jugendlichen zu zunehmender Gewaltbereitschaft führte.

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Mit der Erklärung dieser Entwicklung waren selbsternannte deutsche Gesellschaftskritiker schnell zur Hand: Die Ablehnung der Fremden durch die Deutschen sei daran schuld beziehungsweise deren unbelehrbarer Rassismus. Auch in England und Frankreich waren es immer die eigenen Landsleute, die als gutmeinende Befürworter der Immigration den Inländern die Schuld an den sich entwickelnden Spannungen in die Schuhe schoben.

Daß beim Scheitern der Assimilation bestimmter Gruppen von Einwanderern außer kulturellen Traditionen auch biologische Faktoren eine Rolle spielen könnten, wurde und wird in den meisten Diskussionen der Einwanderungsproblematik in den westeuropäischen Ländern überhaupt nicht zur Sprache gebracht. Man meidet jeden Hinweis auf eine solche Möglichkeit, es sei denn, man verbindet ihn sogleich mit dem Bekenntnis, daß dergleichen als »biologistische Interpretation« gar nicht ernsthaft zu erwägen, ja als rassistisch abzulehnen sei. Man spricht in Deutschland von einer Sackgasse des Gesetzes der Abstammung (jus sanguinis), demzufolge die Staatsangehörigkeit eines Kindes in erster Linie derjenigen der Eltern folgt, ein Gesetz, das übrigens nicht nur für Deutschland und Österreich, sondern auch für andere Länder Europas sowie für die meisten asiatischen Völker gilt.

Man fordert, Deutschland möge dem Vorbild Frankreichs folgen und das liberale jus solis übernehmen, das Territorialitätsprinzip, demzufolge sich die Staatsbürgerschaft nach dem Territorium bestimmt, auf dem ein Kind geboren wird. Man übersieht, daß dies ursprünglich ebenfalls eine Regel war, die dazu diente, durch Abstammung Verbundene zusammenzuhalten, denn in den meisten Territorien lebten ja zunächst über viele Generationen durch Blutsverwandtschaft verbundene Menschen.

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Im Grunde dienten also beide Prinzipien dazu, biologisch-anthropologisch nach Verwandtschaft einander näherstehende Menschen in einer größeren Interessengemeinschaft zusammenzuhalten, und erst mit der Masseneinwanderung von Immigranten aus der eigenen Kultur fernen Gebieten kamen Länder wie Frankreich mit ihrem Territorialitätsprinzip in Schwierigkeiten. Aus Nordafrika stammende muslimische Franzosen haben als ethnische Solidargemeinschaft andere Interessen als Franzosen europäischer Herkunft. Es gibt daher auch in Frankreich zunehmend Stimmen, die sich um eine Änderung des Staatsbürgerschaftsgesetzes bemühen, und sie kommen keineswegs nur von rechtsradikaler Seite.

Die deutsche Ausländerpolitik wird oft als eine Mischung von Ängsten, Verbohrtheit, Tabus und Hilfsbereitschaft beschrieben. Das trägt nicht zur Klärung der Problemlage bei. Sicher ist es richtig, wenn Antonia Grunenberg (in der Süddeutschen Zeitung vom 23. 3. 1998) als Rezensentin des wichtigen Buches von Emmanuel Todd über das Schicksal der Einwanderer in Deutschland, den USA, Frankreich und Großbritannien schreibt, daß es »vorpolitische Mentalitäten und Habitusformen, Aberglauben und archaische Ängste« sind, die die politische Einsetzung eines liberalen Einbürgerungsrechts und damit auch einer, wie sie schreibt, »vernünftigen« Einwanderungspolitik verhindern. Aber ist eine Einwanderungspolitik, die den inneren Frieden eines Landes so massiv gefährdet, wie wir das in Frankreich, in manchen Städten Englands, Deutschlands und in den Vereinigten Staaten beobachten können, wirklich so vernünftig? Die »archaischen Ängste« gehen wohl, wie wir aufzeigten, auf Programme der Abgrenzung zurück, die als stammesgeschichtliche Anpassungen sowohl der Entstehung wie auch der Erhaltung ethnokultureller und, im Gefolge, biologischanthropologischer Vielfalt dienen. Und damit muß man eben rechnen.

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Diese Vielfalt wird von den Statuten der Vereinten Nationen als schützenswert anerkannt, und es gibt, wie wir ausgeführt haben, durchaus vernünftige Gründe, diese überlebenssichernde und damit evolutionistisch bedeutungsvolle Vielfalt zu erhalten. Sie spiegelt auf einer höheren humanspezifischen Ebene die Strategie wider, mit der sich der Lebensstrom in der organismischen Evolution absichert. Bauen sich in einem Land über Immigration, sei sie nun massiv oder infiltrativ, Minoritäten auf, dann geht dies nur gut, solange sich keine Interessenkonflikte mit der autochthonen Bevölkerung entwickeln. Sobald solche jedoch bemerkbar werden, wird der innere Friede bedroht.

Hinter den »irrationalen Ängsten«, die das Miteinander erschweren, stehen demnach durchaus begründete Sorgen um die Erhaltung des inneren Friedens. Ist ein Land allzu großzügig in der Gewährung der Staatsbürgerschaft an Ausländer, die zwar bleiben wollen, aber wegen der großen ethnischen und biologisch-anthropologischen Unterschiede zur Bevölkerung des Landes ihrer Wahl keine wirkliche Bereitschaft zur Assimilation zeigen, dann lädt sich ein Land unter Umständen ein schweres Problem auf, wird doch mit der Verleihung der Staatsbürgerschaft über das Wahlrecht die politische Mitbestimmung gewährt. Das kann bedeuten, daß eine Minorität als Interessengruppe die weiteren Einwanderungsgesetze und Einbürgerungsgesetze auf entscheidende Weise selbst gegen die Interessen der Autochthonen bestimmt. »Die Serben haben die Panzer, die Albaner die demographische Bombe — ein mörderisches Patt«, lautet der Kommentar der Süddeutschen Zeitung vom 1.7.1998 zur Lage in der Provinz Kosovo. Die Albaner haben seit Generationen die höchste Fortpflanzungsrate Europas. 1948 war das Kosovo von 498000 Albanern und 234000 Serben bewohnt. 1994 stieg der albanische Bevölkerungsanteil um 275 % auf 1871000, der serbische sank um 11 % auf 207 000.

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In den letzten Jahren mehren sich auch deutsch-türkische Stimmen zum Immigrationsproblem und zu Fragen der Staatsbürgerschaft. Lala Agkün, eine in Deutschland aufgewachsene und ausgebildete Psychologin, beschreibt die Integrationsschwierigkeiten klar. Fremdheit führe zur Abkapselung, und dies sei ein Grund für die neuerdings festzustellenden mangelhaften Deutschkenntnisse hier geborener türkischer Kinder: »Obwohl sie zum großen Teil selbst schon in Deutschland aufgewachsen sind, ziehen es viele junge türkische Männer vor, sich ihre Ehepartner aus dem Heimatland zu holen. Dieser Trend zur Rückwendung zur Herkunftsgesellschaft, der sich dann auch auf die Kinder auswirkt, wird umso stärker, je weniger sich die Gesellschaft, in der die Zuwanderer leben, öffnet und ihnen eine neue Identität anbietet« (so laut Süddeutscher Zeitung vom 9.3.1998). 

In diesem letzten Satz wird den sich abgrenzenden Deutschen die Schuld an dieser Entwicklung zugeschoben. Sie sollen sich gefälligst ändern. Daß dieser Konflikt auf gegenseitiger Abgrenzung beruht und nicht auf einseitig abweisenden Ortsansässigen und freundlich nach Assimilation und voller Identifikation mit den Deutschen strebenden Türken, wird übersehen. Lala Agkün übt Kritik am deutschen Staatsbürgerschaftsgesetz und meint, man solle den türkischen Zuwanderem die Möglichkeit zum Erwerb der doppelten Staatsbürgerschaft gewähren, weil dies deren Integration erleichtern würde. Die Möglichkeit, daß dadurch eventuell auch ein starker Kern deutscher Türken mit türkisch-ethnischer Loyalität entstehen würde, der durch den Erwerb des mit der Staatsbürgerschaft verbundenen Wahlrechts türkische Interessen vertreten könnte, wird nicht angesprochen. Da Experimente dieser Art in Hinblick auf ein friedliches Miteinander riskant sind, sollte man sich zunächst um die loyale und auch emotionelle Eingliederung der Zuwanderer bemühen und erst wenn diese sich auch kulturell als Angehörige des Landes ihrer Wahl fühlen, die Staatsbürgerschaft verleihen.

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Abb.22   Bevölkerungsprognosen des Weltbevölkerungsberichts (mittlere Variante). Nach Regionen in Milliarden. Quelle: UNFPA 1992, United Nations Fund for Population Activities.

Um dies zu erreichen, könnte man denken, erzieherisch auf die Zugewanderten einzuwirken. Das heißt nicht, daß kulturelles Eigenleben unterdrückt werden soll, aber man könnte sich um »Abwerbung« im Interesse des inneren Friedens bemühen. Und um das zu erleichtern, sollte man sich mit der Aufnahme weiterer Immigranten, insbesondere durch das Gesetz über die Familienzusammenführung, zurückhalten. En-bloc-Einwanderung führt fast stets zur Abgrenzung der einwandernden Minoritäten. Und haben diese einmal ein Stadtviertel in Besitz genommen, dann bleibt eine feste Minorität weiterhin türkisch, selbst wenn es einen steten Abfluß in die deutsche Bevölkerung mit Identitätswechsel und Einheirat in deutsche Familien geben würde.

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Die Erfahrung lehrt, daß die europäische Binnenwanderung dagegen keine Langzeitprobleme schuf, da sich die Zuwanderer stets voll integrierten, was bei der nahen kulturellen und biologisch-anthropologischen Verwandtschaft nicht sonderlich zu verwundern braucht. Mit dem Aufbau sich abgrenzender Minoritäten in einer relativ homogenen Nation Europas werden jedoch bald Grenzen der Belastbarkeit erreicht, und wer dies nicht in Rechnung stellt, handelt im Kurzzeitdenken befangen unbedacht und damit, wenn in verantwortlicher Position, auch unverantwortlich. Es ist erstaunlich, daß viele Politiker trotz all der Schwierigkeiten, die man sich in Deutschland und Österreich aus gutem Willen mit der großzügigen Aufnahme von Arbeitssuchenden und Notleidenden aller Art einhandelte, dafür eintreten, den hier geborenen Kindern aus den Problemgruppen die Staatsbürgerschaft zu gewähren und damit ihr Hierbleiben festzuschreiben. Sie meinen, das würde ihrer »Ausgrenzung« entgegenwirken, was höchst zweifelhaft ist. Der Glaube, es werde schon gutgehen, legitimiert noch nicht zu solch möglicherweise folgenschweren Experimenten mit Menschen.

Die Gefahren, die einem dichtbevölkerten, ethnisch relativ homogenen Land durch starke Zuwanderung von Personen aus seiner Kultur fernen Bereichen erwachsen, haben führende Politiker der Bundesrepublik Deutschland bereits in den frühen achtziger Jahren erkannt. Im November 1981 faßte die SPD/FDP-Regierung unter dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt den Beschluß: »Es besteht Einigkeit, daß die Bundesrepublik Deutschland kein Einwanderungsland ist und auch nicht werden soll. Das Kabinett ist sich einig, daß für alle Ausländer außerhalb der EG ein weiterer Zuzug unter Ausschöpfung aller rechtlichen Möglichkeiten verhindert werden soll.« Im Februar 1982 beschloß die gleiche Regierung: »Nur durch eine konsequente Politik der Begrenzung ... läßt sich die unverzichtbare Zustimmung der deutschen Bevölkerung zur Ausländerintegration sichern. Dies ist zur Aufrechterhaltung des sozialen Friedens unerläßlich.« 

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Abb. 23 Das Absinken der Geburtenrate in Europa unter das bestandserhaltende Niveau. - Aus Miegel (1997).  

 

Damals waren 4,6 Millionen Ausländer in der Bundesrepublik. Heute (1998) sind es 7,31 Millionen. Allein der türkische Bevölkerungsanteil zählt 2,2 Millionen, was der Bevölkerung von 22 Großstädten à 100.000 Einwohnern entspricht. In den letzten fünf Jahren (1991-1996) vermehrte sie sich trotz Zuwanderungs­beschränkung um die Einwohnerschaft von fünf Großstädten. Es gibt Türkenviertel, in denen die dort aufwachsenden Kinder kaum noch mit Deutschen in Berührung kommen. Zur Schulausbildung werden viele in die Türkei geschickt.

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Sie kommen danach wieder nach Deutschland zurück. Von Integration im Sinne einer Eindeutschung kann keine Rede sein. Es bilden sich türkische Siedlungen, die wachsen, während gleichzeitig die deutsche Bevölkerung kontinuierlich durch Geburtenverweigerung abnimmt.

Zu diesen demographischen Änderungen lieferte Wilhelm Heitmeyer (1999) für einige nordrhein-westfälische Städte bemerkenswerte Daten. Sie geben in Prozentangaben die Anteile der Zwanzig- bis Vierzigjährigen ohne deutschen Paß an der gesamten Bevölkerung dieser Altersspanne wieder:

1992

2010

Duisburg

17,4

49,9

Remscheid

18,1

44,7

Köln

19,3

42,9

Gelsenkirchen

14,8

42,0

Düsseldorf

17,8

41,6

Wuppertal

17,2

40,9

Solingen

17,5

40,9

Die Zunahme der Bevölkerungsanteile ausländischer Herkunft geht mit der stetigen Abnahme der verfüg­baren Arbeitsplätze und Wohnungen einher, was höchstwahrscheinlich zu einer Verarmung und weiteren Segregation dieses Bevölkerungsanteils führt.

Weist man darauf hin, daß der Aufbau einer multikulturellen Immigrationsgesellschaft in einem ethnisch relativ homogenen Nationalstaat den inneren Frieden gefährdet, ja daß Immigration in einem der am dichtesten bevölkerten Staaten auch die ökologischen Probleme verschärft, dann besteht die Reaktion der Befürworter der Immigration im wesentlichen darin, daß sie das Problem leugnen. So antwortete Heiner Geißler in unserem Spiegel-Streitgespräch, das im übrigen in einer freundlichen Atmosphäre stattfand, auf meinen Hinweis auf die Übervölkerung: »Übervölkerung ist ein falsches Argument. Es leben heute nur zweieinhalb Millionen Menschen mehr in Deutschland als zu Beginn der neunziger Jahre« (Der Spiegel, Nr. 14, 1998, S. 48).

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Ein falsches Argument? Kann man so blind sein? Man braucht doch nur in die vom Verkehr erdrosselten Großstädte zu gehen, nur in die Randbezirke, um zu sehen, in welche Quartiere sich Menschen drängen — in Deutschland wie überall in Europa —, wo die Luft kaum atembar, die Straßen ungepflegt sind. Wo alte Architektur dem Verfall preisgegeben wird, um Platz für neue Wohnsilos zu schaffen. Schon vor Jahrzehnten hatten wir die Grenze der ökologischen Belastbarkeit unseres Landes erreicht. Es gilt nach wie vor, daß wir die Umwelt mit Schadstoffen überfrachten, daß Deutschland vom Import fossiler Energieträger abhängig ist und daß es sich energetisch keineswegs aus eigenen Ressourcen ausreichend versorgen kann.

Nimmt man aus den genannten Gründen kritisch zu Fragen der Einwanderung und Einbürgerung Stellung, mahnt man etwa davor, europäische Länder zu Einwanderungsländern zu erklären, dann gilt man oft als ausländerfeindlich, oder es trifft einen der Vorwurf, man würde mit seinen Thesen Rechtsradikalen Futter geben, weil diese sich auf solche Äußerungen berufen könnten, wenn sie Personen anderer Hautfarbe attackierten. Mit diesem Vorwurf sah ich mich wiederholt konfrontiert.

Ich verstehe nicht, wie man dies aus meinem Hinweis auf eine Problematik ableiten kann, ganz abgesehen davon, daß wohl kaum einer von jenen, die als Brandstifter auftreten, eine meiner Schriften gelesen hat oder lesen wird. Im übrigen ist jeder verpflichtet, die Wahrheit nach bestem Wissen zu vertreten, und hätten sich die großen politischen Parteien der Problematik zur rechten Zeit angenommen, gäbe es wahrscheinlich bei uns kein Rechtsradikalenproblem und keine Ausländerfeindlichkeit. Ich möchte in diesem Zusammenhang wie in vielen vorangegangenen Publikationen noch einmal betonen, daß Fremdenscheu nicht gleichzusetzen ist mit Fremdenhaß.

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Die ambivalente Haltung Fremden gegenüber gehört zu den Universalien. Stammesgeschichtliche Anpassungen liegen dieser Verhaltensdisposition zugrunde. Sie können jedoch kulturell verschieden ausgestaltet werden. Fremdenhaß ist ein Produkt der Erziehung. Die Bereitschaft zur Fremdenablehnung ist vorhanden, und sie wächst, wenn eine Gruppe ihre Identität durch eine andere gefährdet glaubt. In der Regel sind es beide Seiten, die sich im Bemühen um die Bewahrung ihrer Identität von der jeweils anderen abgrenzen.

Jede einseitige Schuldzuweisung ist bei der Bewertung solcher Entwicklungen völlig unangebracht. Daß heute in Armutsländern Wohnende in anderen Ländern ihr Glück suchen, aber ihre Identität nach Möglichkeit nicht aufgeben wollen, ist ebensowenig als Fehlverhalten einzustufen wie das abweisende Verhalten einer autochthonen Bevölkerung, das ja dem Selbstschutz dient. Jedes Land hat aber das Recht, seine Zuwanderer so auszuwählen, daß der innere Friede gewahrt bleibt. Und Politiker müssen das als ihre Pflicht wahrnehmen. Der Amtseid verpflichtet dazu wohl nicht nur den deutschen Bundespräsidenten8.

Die Politiker haben aber nicht nur die Interessen der alteingesessenen Bürger zu berücksichtigen. Sie sind vielmehr dazu verpflichtet, sich auch über die Zukunft der Zuwanderer Gedanken zu machen. Mit ihrer Aufnahme als Staatsbürger übernimmt ein Staat auch die Verantwortung für ihr Wohlergehen. Aber kann irgendein Staat im heutigen Europa diese Wohlergehensgarantie mit gutem Gewissen übernehmen? Und kann er in dieser von Arbeitslosigkeit und Sozialkrisen erschütterten Zeit den inneren Frieden und damit die Sicherheit seiner Alt- und Neubürger garantieren? In Frankreich bereitet die aus Nordafrika stammende moslemische Bevölkerung vieler Vorstädte zunehmend Schwierigkeiten, die extreme Gegenreaktionen wachruft. 

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Von Zeitbomben in den deutschen Vorstädten und daß Deutschland zum »Ausplünderungsland« verkomme, sprach der Spiegel (Nr.16, 1997)9). Auch in anderen Presseorganen wie der Zeit und der Süddeutschen Zeitung mehren sich zunehmend kritische Stimmen. Verantwortlich denken heißt zukunftsorientiert denken.

 

Abb. 24 Die Zunahme des Anteils in Asien Geborener an der Bevölkerung Australiens von 1966-96.

 

Um für die Absicherung des inneren und äußeren Friedens humane Überlebensstrategien auszubilden, ist es vernünftig, bisherige Entwicklungen im Verlauf der Menschengeschichte hier und anderswo bis in die Gegenwart zur Kenntnis zu nehmen. Man wird dabei feststellen, daß so manches Volk im Laufe der Geschichte von einem anderen verdrängt wurde. Keine Vorsehung irgendwelcher Art schützt Völker oder die Menschheit. Wir allein sind für unsere Zukunft verantwortlich.

Wie allerdings Europäer gegenwärtig in Australien, den Vereinigten Staaten und in Europa ihre eigene Selbstverdrängung durch Aufnahme nichteuropäischer Einwanderer fördern, das dürfte wohl einmalig sein. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren demographisch eine europäische Nation. Noch 1950 stellten Amerikaner europäischer Abkunft rund 90 % der Bevölkerung. 

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Mit dem Immigration and Naturalization Act von 1965 wurde die Einwanderung von Migranten nichteuropäischer Herkunft in einer Weise gefördert, die das Verhältnis der Europäer zu Nichteuropäern in dramatischer Weise verschob. Von den zwischen 1968 und 1996 legal eingewanderten Personen kamen 83% aus nichteuropäischen Ländern. Aber auch von jenen, die aus Europa und Kanada kamen, waren viele Asiaten, Lateinamerikaner und Afrikaner, die diese Länder gewissermaßen als Sprungbrett für die Einreise nach den USA benutzen. Von den zusätzlich 2.684.892 illegalen Immigranten, denen 1996 Amnestie gewährt wurde, kamen 98% aus der Dritten Welt. Von 1965 bis 1990 ist der Prozentsatz der Weißen in den USA von 89 auf 75 % zurückgegangen, und das amerikanische Zensus Bureau schätzt, daß die Weißen nach dem Jahr 2050 weniger als 50 % der Population der Vereinigten Staaten stellen werden. 

In meiner Streitschrift Wider die Mißtrauensgesellschaft publizierte ich einige Graphiken, die diese Entwicklung veranschaulichen. Sie zeigen, daß sowohl Immigration als auch unterschiedliche Reproduktionsraten für diese Entwicklung verantwortlich sind. Wichtige Angaben zur demographischen Entwicklung der USA findet man in Peter Brimelow (1995).

Ähnliche Entwicklungen fanden nach dem Krieg in Australien statt. Auch hier führte eine richtig auf eine Asiatifizierung abzielende Immigrationspolitik weißer Politiker zu demographischen Veränderungen. John Lack und Jacqueline Templeton (1995) beschreiben und begrüßen diese Entwicklung in ihrem Buch The Bold Experiment, das man sowohl mit das »kühne«, »rücksichtslose«, aber auch mit das »unbedachte Experiment« übersetzen kann.

Um die Jahrhundertwende belief sich der weiße Anteil an der Weltbevölkerung auf rund ein Drittel. Heute schwanken die Schätzungen zwischen 10 und 15 % (vgl. auch Abb. 21 und 22). Für Europäer ein Grund zum Feiern? Wohl nur für Zyniker.

 

 

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