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6  Das Europa der Nationen als Chance

 

 

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Im Laufe der Geschichte vereinigten sich Menschen zu immer größeren Verbänden: zu Stammes­gemein­schaften, Völkern und Nationen, die sich gegenwärtig wieder zu größeren Unionen nach Art der Europäischen Union verbünden. Der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington von der Harvard-Universität meint, diese Entwicklung würde hier und anderswo weitergehen und schließlich die Zivilisationen des europäischen Abendlandes, des Islam, der Hindus, Japans und der Vereinigten Staaten und wohl auch andere umfassen. Zwischen diesen Zivilisationen würden sich bald auch Konflikte entwickeln.

Das kann wohl eintreten, muß aber nicht so sein, denn schließlich könnten sich die großen Blöcke auch verbünden in dem Bemühen, ein lebenswertes Dasein und eine Zukunft für alle zu sichern. Gemeinsame Aufgaben festigen Bindungen, so wie das der Kampf gegen gemeinsame Feinde bewirkt.

Aber viele meinen, Stämme, Völker, Nationen hätten immer wieder Kriege gegeneinander geführt, und einen Weltfrieden werde es daher erst nach Aufhebung der Grenzen, bei freiem Handel und Niederlassungsfreiheit für jedermann geben, dann würden sich die Nationen vermischen und auflösen. Sie wären ohnedies ein überholtes Modell, Weltbürger sollten wir werden. Ein sicher freundlicher Wunsch, den die Universalisten auch damit begründen, daß die Unterschiede zwischen uns Menschen nur oberflächlich wären. Außerdem säßen wir alle in einem Boot.

Nun haben wir ja bereits erörtert, daß das Leben nach Diversifikation drängt und natürlich der Mensch diesem Drang nach Vielfalt unterworfen bleibt. Es bedürfte extrem repressiver Maßnahmen, diesen im Grunde positiven evolutiven Prozeß zu unterdrücken, der sich zunächst in der kulturellen Diversifikation äußert, die Schrittmacher der weiteren Evolution ist. Und die Metapher des »einen Bootes« betreffend bemerkte ich bereits in der genannten Streitschrift, daß dies gottlob noch nicht der Fall sei. Zum Glück befahren wir die stürmische und klippenreiche See noch in getrennten Booten mit unterschiedlich erfahrenen und verantwortlichen Kapitänen. Sich einem einzigen Boot anzuvertrauen, das wäre eine gegenwärtig doch kaum zu verantwortende Hochrisikostrategie. Hinzu kommt, daß die Unterschiede zwischen den verschiedenen morphologischen und physiologischen Anpassungsformen des Menschen, die man heute (um den belasteten Begriff Rasse zu vermeiden) auch als geographische Morphotypen bezeichnet, sicher nicht nur hauttief sind.

Da die Meinung vorherrscht, daß jedes Eingestehen von genetisch begründeten Unterschieden, seien es nun solche der Morphologie, Physiologie, Wahrnehmung, Denkweise oder gar in dem, was wir Europäer in sicher eurozentrischer Weise als Intelligenzquotienten messen, einen Rassismus rechtfertigen könne, das heißt einen Dominanzanspruch der sich höher Einstufenden über die niedriger Bewerteten, gehört es zum guten Ton, Unterschiede zu leugnen und dort, wo das beim besten Willen nicht geht, sie zu trivialisieren oder auf besondere Umweltbedingungen während der Jugendentwicklung zurückzuführen. Alles, nur genetisch begründet dürfen sie nicht sein. 

Ullica Segerstrale fragte einen Gegner soziobiologischer Thesen, was es für ihn bedeuten würde, wenn sich denn doch herausstellen würde, daß Rassenunterschiede existierten. »Nun, dann müßte ich ein Rassist werden« (Well, then I had to become a racist), lautete die überraschende Antwort (Segerstrale 1992). 

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Diesen Kurzschluß: Wer nicht ist wie wir, ist nicht ebenbürtig und daher weniger wert, und das gibt mir das Recht auf ihn herabzublicken und ihn zu dominieren, diese wirklich rassistische Konsequenz kann ich nicht nachvollziehen. Ich war viele Jahre zu Gast unter fremden Völkern, beobachtend und miterlebend, und fand sie in vielem uns gleichend, in manchem allerdings auch unterschieden. Die über das verbindende Erbe hinausgehenden Unterschiede fand ich ebenfalls sehr reizvoll und achtenswert. In meinen Augen müßte man schon wertblind sein, um das anders wahrzunehmen. Ich halte daher auch nichts von dem Bestreben, möglichst alle Unterschiede zwischen den Völkern zu nivellieren. 

Gelänge es einer Weltdiktatur, eine zwanghafte Amalgamierung durchzusetzen, sie würde sich überdies wohl nicht lange halten, denn eine kulturelle Diversifizierung würde bald wieder eintreten, es sei denn, ein extrem repressives System würde das zu verhindern trachten. Im Weltkonzert der Völker hat jedes seinen Part und seine Chance. Die Statuten der Vereinten Nationen wurden geschaffen, um jedem zahlenmäßig auch noch so kleinen Volk auf der Erde das Recht auf Eigenständigkeit zu bewahren und damit die Vielfalt der Kulturen zu sichern.

Die Nationen Europas bemühen sich heute darum, ihre Konkurrenz auf friedliche, zivilisierte Weise unter Achtung der jeweiligen nationalen Besonderheiten auszutragen. Europa hat so zueinander gefunden und denkt nun daran, sich schrittweise nach dem europäischen Osten zu öffnen. In nicht allzu ferner Zeit wird hoffentlich auch Rußland eingeladen werden, der Europäischen Union beizutreten10).

Allerdings sollte der Zusammenschluß zu einer erweiterten Europäischen Union nicht überstürzt, sondern in Schritten erfolgen. Gerhard Konow (1998) äußerte Bedenken gegen ein in Eile beschlossenes Mammuteuropa. Ein Parlament mit so vielen Stimmen wäre auch schwerlich funktionstüchtig. 

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Konow schlägt daher vor, den östlichen Reformstaaten nahezulegen, ihrerseits nach dem Vorbild der Europäischen Union sich zu regionalen Wirtschaftsgemeinschaften zusammenzuschließen, etwa in eine baltische, mittelosteuropäische und südosteuropäische Wirtschaftsgemeinschaft. Diese könnten mit Rußland in einem weiteren Schritt einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beitreten, zunächst noch ohne Währungsunion und ohne politische Union, und sich so schrittweise an die EU heranarbeiten.

Ein neues Abendland, reich an Traditionen und dynamisch in der Entwicklung neuer Ideen, ist im Erblühen. Sicher ist nicht alles eitel Harmonie, aber der Modellfall Südtirol zeigt, wie zwei zerstrittene Völker wieder zueinander finden können. Und so bleibt die Zuversicht, daß auch die Probleme der Basken, Nordiren oder der Balkanvölker friedlich gelöst werden.

Europa, das sowohl mit seinen sozialen Bewegungen, seinem ökologischen Engagement und vor allem im wissenschaftlich-technischen Bereich das Bild der modernen Welt prägte, könnte, an seine Traditionen anknüpfend, weiter als progressives Modell der übrigen Menschheit von Nutzen sein. Europas Völker werden allerdings nur dann diese Aufgabe erfüllen können, wenn sie sich in ihrer Eigenart erhalten.

Dem ursprünglichen Konzept de Gaulles entsprechend wurde die Europäische Union als ein Europa der Vaterländer konzipiert. Damit sollte auch die ethnisch kulturelle Vielfalt Europas erhalten bleiben, was auch dem Bedürfnis seiner Völker entspricht, ihre Identität zu bewahren. Nun wurden sie endlich Partner, und es knüpften sich auch viele Bande persönlicher Freundschaft über die Grenzen hinweg, die wir mittlerweile ungehindert überschreiten.

Daß das alles nach zwei katastrophalen Weltkriegen gelang, grenzt an ein Wunder. Sicher hat dabei geholfen, daß uns nicht nur eine leidvolle Geschichte blutiger Auseinandersetzungen gemeinsam ist, sondern auch ein reiches kulturelles Erbe und eine nahe genetische Verwandtschaft, eine Verbundenheit, die auf dem griechisch-römischen und dem christlich-jüdischen Erbe der Mittelmeerkulturen und dem Kulturerbe der Völker des europäischen Nordens und Ostens basiert.

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Unser verbindendes Kulturerbe sollte publizistisch mehr gepflegt werden, um ein Gefühl europäischer Solidarität einen abendländischen Patriotismus gewissermaßen zu wecken, einen kritischen allerdings, der sich nicht über andere erhebt, sich nicht aggressiv abgrenzt, sondern den Bürgern aus der Geborgenheit der Einbindung in die jeweilige Nation und in Europa jene Sicherheit gibt, die es ihnen ermöglicht, anderen freundlich zu begegnen. Der Hinweis auf die blutigen Bruderkriege zwischen den Nationalstaaten Europas darf nicht fehlen. Aber es ist ein Hinweis auf eine hoffentlich überwundene Geschichte, aus der wir lernen. Wer ihn allerdings nur demagogisch benützt, um auf die Gefährlichkeit der Nationen hinzuweisen, sät Mißtrauen und Angst und treibt damit Keile zwischen das, was zusammen­wachsen soll.

Jedes Gruppenethos geht stammesgeschichtlich auf das familiale Ethos zurück. Alle unsere Prosozialität ist, wie wir ausführten, familialen Ursprungs. Diese in der individualisierten Fürsorge für den Nachwuchs wurzelnden Anlagen verkümmern leicht in Gesellschaften, die die Familie nicht hochhalten und die es versäumen, durch Erziehung, anknüpfend an diese Veranlagungen, die uns nicht persönlich bekannten Mitglieder der Nation, des Staates oder des Staatenbundes in das familiale »Wir-Gefühl« einzubeziehen. Versäumen wir es, das Wir-Gefühl von der Basis her zu bekräftigen, dann wird uns eine weltweite Verbrüderung wohl kaum gelingen. Ungeachtet dieser Tatsache wird immer wieder behauptet, die Nationen wären Auslaufmodelle, sie gehörten abgeschafft, weil sie einer weltweiten Verbrüderung im Wege stünden. Von einem »Irrweg des Nationalismus« spricht Heiner Geißler (1990) und empfiehlt einen »Verfassungs­patriotismus«, eine Wortschöpfung, die er Dolf Sternberger verdankt.

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Nur Bürokratenseelen können glauben, man werde eine Verfassung lieben. Menschen sind es, die wir lieben oder auch ablehnen. Liebe erfahren wir im freundlichen, mitmenschlichen Kontakt, zunächst in der Familie, des weiteren im kleineren Verband der Dorfgemeinschaft, im Freundeskreis, in der Schulklasse und den vielen anderen Möglichkeiten persönlicher Begegnung, die sich uns auch im Alltag der Großstadt bieten. Und dieser persönliche Umgang legt die Vertrauensbasis, die es uns ermöglicht, freundlich auch in der Großgesellschaft einer Nation und einer Europäischen Union aufzutreten. Vorausgesetzt, daß andere es ebenso halten auf die Bedeutung der Reziprozität für das Funktionieren einer Gemeinschaft wiesen wir schon hin. Mitmenschliche Identifikation auf diesen verschiedenen Ebenen ist schließlich Voraussetzung für die Identifikation mit der Menschheit.

Die Vorstellung, daß man eine friedliche Weltgemeinschaft nur über die Zerstörung der Familie, der Nation und anderer untergeordneter Solidargemeinschaften erreichen könne, beherrschte einst den Internationalismus sowjetischer und maoistischer Prägung. Er ist dort gescheitert, daraus sollte man lernen.

Rudolf Burger (1997) spricht von einer »falschen Wärme der Kultur«. »Jede Behauptung oder Beschwörung einer wesenhaften Identität, sei sie definiert oder konstruiert wie immer, biologistisch oder kulturalistisch, impliziert aber an sich schon die Ausgrenzung des Fremden, weil sie als Position nur als Negation dessen gewonnen werden kann, was nicht sie selber ist. Jede Identifikation ist eine Negation.« Mit der Wahl des Begriffes »Negation« belastet Burger jede Form der Identifikation. Wer sich zu seiner Kultur bekennt, begeht nach ihm die Sünde der Negation. Darf sich also niemand mehr zu seinem Volk bekennen? Die Statuten der Vereinten Nationen sehen das sicher anders, da sie ja für die Erhaltung der ethnisch kulturellen Vielfalt eintreten.

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Würde man Burgers Argument akzeptieren, dann müßte man auch von einer falschen Wärme der Familie sprechen, denn auch diese grenzt sich normalerweise gegen andere ab, und das wird letzten Endes als Naturrecht überall anerkannt. Wo Besitz vererbt wird, wird die Erbfolge immer nach dem Grad der Verwandtschaft geregelt. Familien leben zwar von Abgrenzung, aber deshalb negieren sie doch nicht die anderen, mit denen sie ja interagieren und auf vielfältige Weise freundschaftlich, beruflich oder weltanschaulich verbunden sind. Wer das Bedürfnis hat, seinen familialen Bereich als Privatbezirk gegen eine Öffentlichkeit abzugrenzen, ist deswegen noch lange nicht ungesellig. Auch die Buschmannfamilie in der Kalahari legt Wert darauf, ihre Hütte für sich allein zu haben.

Jedes Wir setzt notwendigerweise Andere voraus. Und wenn man so will, »diskriminieren« wir in der ursprünglich wertfreien Bedeutung des Wortes als »unterscheiden« in unserem Alltag unentwegt. Das hat durchaus auch seine positiven Seiten, wird doch unsere Fürsorglichkeit nicht nach dem Gießkannenprinzip so verteilt, daß für niemanden genügend Liebe übrigbleibt. Daß eine Mutter ihr Kind vor allem liebt und ein Liebespaar nur eben seinen Partner, ist soziobiologisch ebenso sinnvoll wie gesellschaftlich. Und dabei »diskriminieren« wir nun allemal.

Und wie alles Familiale könnte man das ohne weiteres auf das eigene Vaterland übertragen, ohne damit die geringsten überheblichen und aggressiven Vorstellungen zu verbinden. Man muß ideologisch schon einigermaßen verbohrt sein, um das nicht nachempfinden zu können.

Abgrenzung ist kein aggressiver Akt, auch wenn andere es so sehen, die meinen, man solle alle gleich lieben und niemanden bevorzugen — Brigitte Sauzay meint dazu treffend: »Wer keine Umgrenzung hat, weiß nicht, wo er hingehört, und wer auf der Erde nur Freunde hat, hat überhaupt keinen, denn der Begriff Freundschaft basiert auf Vorlieben, auf Auswählen, sie kann sich nicht auf alle erstrecken, wenn sie nicht ihren Sinn verlieren soll.« (B. Sauzay 1999, S. 198f.)

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Burger drückt sich in seinem Aufsatz so aus, als würde eine ethnische Gemeinschaft Fremde immer als Feinde ansehen. Das gilt nur insofern, als sie es potentiell sein können und wir Menschen, die wir nicht kennen, mit Vorsicht begegnen (vgl. Fremdenscheu, S. 73). Ich betone jedoch immer unsere starke prosoziale Bereitschaft zum freundlichen Kontakt und wies auf das deutlich ambivalente Verhalten in Begegnungssituationen hin. Auf diese Ambivalenz nimmt übrigens auch Sigmund Freud Bezug, der Kultur als einen Prozeß ansieht, der im Dienste des Eros zunächst einzelne Personen, später Familien, Stämme, Völker, Nationen zu Einheiten zusammenfassen wolle (zitiert nach Erdheim 1997). Warum dies geschehe, wisse man nicht, es sei eben das Werk des Eros.

Für heutige Begriffe ist das sicher zu finalistisch gesehen. Es sind genau definierbare prosoziale Dispositionen in Wahrnehmung, Antrieben, Lerndispositionen und konkretem Verhalten, die uns dazu befähigen und motivieren (S. 64), wobei mit der zunehmenden Größe die basaleren Gemeinschaften in der Reihenfolge von der Familie aufsteigend als Gemeinsinn förderndes Agens zunehmende Bedeutung gewinnen.

Erstaunlicherweise sind auch Frankreich, England und andere Länder Westeuropas sowie die USA, Australien und Neuseeland von dieser Mode der Selbstzerstörung erfaßt. Die Selbstbezichtigungen reichen vom »Kolonialismus«, der »kriegerischen Expansion«, »Unterjochung« fremder Völker und »Landnahme« bis zur »wirtschaftlichen Ausbeutung«, und sie beziehen sich mittlerweile nicht nur auf bestimmte Länder, sondern pauschal auf die Rolle der Europäer oder Weißen in der Welt, die für ihre Untaten büßen sollen.

Die Fähigkeit, eigene Schuld einzugestehen und so Selbstkritik zu üben, ist sicher eine der Tugenden, in der sich Europa durch eine lange Tradition vor anderen auszeichnet. Beides darf jedoch nicht zu einem Ritual erstarren. 

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Und vielleicht sollte man gelegentlich auch darauf hinweisen, daß viele von denen, die sich als Wir-die-Schuldhaften aufspielen, dies nur tun, um sich selbst darzustellen und ihr eigenes Ego herauszustreichen, indem sie unentwegt darauf hinweisen, wie es blutet. Das alles führt letzten Endes zu unnachsichtig polarisierten Positionen und dient sicher nicht der Förderung eines europäischen Gemeingefühls und noch weniger dem übernationalen Anliegen der Menschheit.

Hans Jonas (1986) hält die Herstellung einer »irgendwie geeinten Menschheit« für ein vordringliches Ziel für die Welt. Er meint allerdings, die ganze Menschheit sei ein übergroßer, in seiner Gesichtslosigkeit fast ungreifbarer Gegenstand, der deshalb auch nicht leicht Begeisterung einflöße. Allerdings sei dem Menschen die Bereitschaft, sich einem Größeren, Umfassenderen hinzugeben, nicht fremd, und er weist als Beispiel aus der Vergangenheit auf den Patriotismus hin, der dem Gefühl vergleichsweise leicht falle, da sich mit der eigenen Nation, zahlreich und raumweit wie sie auch sei, konkrete Vorstellungen verbinden würden. Sie würden durch Bande vielfältiger Intimität — sprachlicher, kultureller, geschichtlicher und staatlicher — bewirkt, wobei der Feind, der das Nationalgefühl »wachrufe«, außen sei und die sonst diffus empfundene »Meinigkeit« der eigenen Nation plötzlich scharf und deutlich mache11.

»Sorge um die Menschheit zu fühlen ist demgegenüber schwer, denn sie ist abstrakt, meistenteils fremd in mehr als einem Sinne, und der Feind, der sie bedroht, ist innen, nämlich die eigenen Gewohnheiten und Begierden, darunter die meinen« (Jonas 1986, S. 114).

Ohne Begründung durch die Vernunft, meint er, könne sich dieses 

»ohnehin fernliegende und etwas künstliche Gefühl« für die Menschheit nicht gegen die spontaneren Regungen naher Solidaritäten und Egoismen behaupten, und er knüpft daran die höchst bemerkenswerte Feststellung, daß es zu bezweifeln sei, ob der einzelne je ohne die näheren Solidaritäten und »Ganzheitsgefühle« auskommen könne, also ohne die Nation: »Die übernationale Sache der Menschheit wäre praktisch unhaltbar, wenn sie die Verleugnung des Näheren zur Bedingung machte, und der Versuch, dies zu erzwingen, könnte zum Unheil führen« (Jonas, S. 114).

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Ich bin, was die Entwicklung eines Gefühls für die Menschheit betrifft, sogar optimistischer, weil ich weiß, daß wir Menschen einander im Gefühlsbereich — allen ethnischen Unterschieden zum Trotz — durch die schon diskutierte gemeinsame Ausstattung verbunden sind. Ich sprach vom uns verbindenden Erbe (Eibl-Eibesfeldt 1991). Und dies rückt täglich durch die modernen Massenmedien wie Fernsehen und Rundfunk in das Bewußtsein breiter Bevölkerungsschichten. Wir erleben die Freuden und Nöte von Menschen ferner Kulturen ganz unmittelbar. Auch wenn wir die Wortsprache der auf dem Fernsehschirm Agierenden nicht verstehen, wissen wir, ob sie traurig sind oder froh auf eine unmittelbare Weise, die sich aus der Tatsache eines uns verbindenden Erbes ergibt. Wir stehen einander bei aller ethnischen Buntheit und Vielfalt im Grunde doch sehr nahe.

Daran können wir erzieherisch anknüpfen. Wir sollten es allerdings unter Beachtung der basaleren Solidargemein­schaften tun. Bemerkenswert finde ich in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen des Züricher Psychoanalytikers Mario Erdheim (1997). Nachdem er die Vorteile des Universalismus und die Problematik ethnischer Identität diskutiert hat, meint er: 

»Zum Schluß möchte ich noch einige Bemerkungen zur Ethnizität hinzufügen: Es ist eine weit verbreitete Einsicht, daß das Ethnische ein überholtes und sogar reaktionäres Prinzip darstelle. Ich kann diesen Standpunkt nicht teilen: einerseits angesichts der Jahrhunderte andauernden Kämpfe zur Aufrechterhaltung von ethnischer Identität, und andererseits, weil ich als Psychoanalytiker immer wieder mit den Leiden konfrontiert werde, die aus der Entwertung und Zerstörung der ethnischen Identitat eines Subjekts resultieren. Ich bin der Ansicht, daß die kulturelle Identität zur Orientierung in Gesellschaft und Geschichte ebenso wichtig ist wie die Geschlechtsidentität« (Erdheim, S. 123).

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Und Europa und die europäische Identität betreffend fordert Hubert Christian Ehalt, Kulturreferent der Stadt Wien: »Europa hat mühsam, mit vielen existenzbedrohenden Rückschlägen eine Lebens- und Denkform erfunden, für die es sich lohnt, in guter alter europäischer Manier, mit kritischen Worten, mit geschliffenem Witz, mit Bravour zu streiten. Ich sehe es als wundervolle Chance freier europäischer Intellektualität, daß es in Amsterdam, London, Madrid, Paris, Rom und Wien möglich ist, mit der Kontrastfolie amerikanischer, asiatischer, afrikanischer und indigener Lebensentwürfe vor Augen, das Eigene deutlicher und kritisch zu sehen. 

Es erscheint mir jedoch völlig absurd, wenn wir Europäer uns auf der Suche nach unternehmerischen Vorbildern nach Asien, nach kulturellen nach den USA und nach philosophischen u.a. nach der Ideenwelt indigener Völker hin orientieren. Die von Carlos Castaneda dargestellte Ideenwelt der Indianer, die tibetischen Totenbücher und I Ging verdienen sicher ein allgemeines Interesse — nämlich als andere geistige Bewältigungsformen des Lebens. Aber auch Homer, Seneca, Augustinus, Hildegard von Bingen, Spinoza, Montesquieu und Voltaire, Kant und Hegel, Sartre und Camus, Simone de Beauvoir und Hannah Arendt verdienen von uns Europäern studiert zu werden.«12)

Europa hat in Wissenschaft und Kunst das Kulturerbe dieser Welt in hohem Maße bereichert. Die auf der Basis naturwissenschaftlicher Forschung entwickelte technische Zivilisation hat das Bild der Welt geprägt, unsere Medizin die Leiden der Menschen verringert. Im europäischen Kulturraum entwickelten sich die Konzepte der Nächstenliebe, der Freiheitsrechte und der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz und damit die Grundlagen der Demokratie; unsere klassische Musik füllt die Konzertsäle der Welt. Das sollte uns ermutigen, unser Begabungspotential weiter zu pflegen, jede der europäischen Nationen nach bestem Vermögen und in enger Kooperation. Damit würden wir unseren Enkeln und der Menschheit den besten Dienst erweisen.

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Zur Zeit spart man in Deutschland und Österreich gerade am kulturellen Sektor — der Wissenschaft und Kunst — und damit am Hirn der größeren Gemeinschaft, wenn ich es so verbildlichen darf. Deutschland, das hier einst eine Spitzenstellung einnahm, ist in der Europäischen Union, gemessen am Prozentsatz des Bruttosozialprodukts, der für Forschung ausgegeben wird, auf den viertletzten Platz abgerutscht! Es gefährdet durch Sparmaßnahmen Serviceleistungen der Wissenschaft, die, einmal eingestellt, nicht so schnell wieder aufgebaut werden können. Geradezu erschreckend ist die Schließung vieler Goethe-Institute. Kein Tier, das in Not gerät, spart an seinem Hirn, obgleich es die meiste Energie von allen seinen Organen verbraucht. Beim Menschen verbrauchen diese 2 % Individualvolumen nach Hubert Markl (1995) 20 % des für unseren Körper notwendigen Energieaufwands. Wir bescheiden wirken sich da aus die 2,5% der Gesamtwirtschaftsleistung, die Deutschland für die Gehirnleistung des Staates — für Forschung und Entwicklung — ausgibt. Weit weniger als für Versicherungen, sogar »weniger als für unseren exorbitanten Konsum an Drogen in Form von Alkohol, Nikotin, Koffein und anderen Sporen, mit denen wir unser Hirn anstacheln« (Markl 1995, S. 27)13.

Die Länder Europas sollten ihre einmalige Chance, der Weltgemeinschaft als geistige Führung zu dienen, besser wahrnehmen.

 

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7  Das Konzept der sozialen und ökologischen Friedensregionen

 

 

Die Position Europas in der Welt hat sich durch die Bildung der Europäischen Union und durch den Wegfall des Eisernen Vorhangs entscheidend verbessert. Es bleiben jedoch zunächst noch all die Probleme, die wir angesprochen haben und die einer Lösung bedürfen, wenn wir als Europäer weiter einen Beitrag zur Weltkultur und zum Weltfrieden leisten wollen.

Von kardinaler Bedeutung ist die Erhaltung des inneren Friedens und damit die Sicherung des Überlebens der Europäer und ihres reichen Kulturerbes. Dazu müssen wir den Gefahren des Kurzzeitdenkens entgegentreten und sie durch Langzeitstrategien im Sinne eines generationenübergreifenden Überlebensethos absichern. Das läßt sich zur Zeit global nicht durchsetzen, da das Bildungs- und Armutsgefälle zwischen den Industrie­nationen und den Entwicklungsländern zu groß ist, um rechtzeitig ausgeglichen zu werden. Zumal gerade in den Armutsregionen enorme jährliche Zuwachsraten der Bevölkerung die allgemeine Not vermehren ich erinnere daran, daß die Bevölkerung von Afrika von heute rund 695 Millionen bis zum Jahr 2020 auf etwa 1,5 Milliarden anwachsen könnte. 

Da auch in den reichen Ländern die Verschuldung und allgemeine Armut zunimmt, kann von hier aus nur in begrenztem Maße geholfen werden. Völlig ausgeschlossen ist es, dem zunehmenden Migrationsdruck nachzugeben. Wir würden, wie ich bereits sagte, das Problem nur importieren, ohne damit die Not in den Notstandsgebieten zu lindern. 

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Hubert Markl (1995) hat sich dazu sehr offen ausgesprochen. Selbst wenn Europa 15 Millionen aus der Dritten Welt pro Jahr aufnehmen würde, würde das das Übervölkerungsproblem nicht lösen. 

»Wer also meint, das bestehende und überaus gravierende, aus der schieren steigenden Not angetriebene Wanderungsproblem mit warmem Herzen und gutem Willen dadurch mildern zu können, daß er die entwickelte Welt zu möglichst großzügiger Zuwanderungspolitik auffordert, vielleicht mit der durchaus zutreffenden Begründung: Jahrhundertelang haben die <Kolonialländer> den Überschuß der Europäerbevölkerung aufgenommen, jetzt ist es nur fair, den Gegenstrom hier aufzunehmen, der täuscht sich völlig über die quantitativen Dimensionen, um die es hier geht, und um die realen Möglichkeiten, durch weltweite Verteilung des Bevölkerungszuwachses irgendwo irgend etwas nachhaltig zum Besseren zu wenden« (S. 141). 

Die Bevölkerungskontrolle ist das Schlüsselproblem unserer Zeit. Aber hier kann von auswärts nur beratend geholfen werden.

Wir müssen leider mit der Möglichkeit gewaltiger Bevölkerungszusammenbrüche in der Dritten Welt rechnen. Eine Begrenzung der Katastrophe und damit der Möglichkeit, auch später noch helfend in Notstandsgebieten einzugreifen, steht nur in Aussicht, wenn es den nicht von einer Bevölkerungsexplosion heimgesuchten Regionen der technisch zivilisierten Welt gelingt, sich durch sozial verantwortliches und umweltfreundliches Wirtschaften sowie durch eine auf die Tragekapazität des Landes abgestimmte Kontrolle des Bevölkerungszuwachses vor Verelendung zu schützen. 

Die Staaten der technisch zivilisierten Welt müßten sich dazu zu größeren, möglichst autarken Verbänden zusammenschließen. Ich spreche von sozialen und ökologischen Friedensregionen. Sie setzen eine Abschottung gegen Massenimmigration aus den unter starkem Populationsdruck stehenden Regionen der Dritten Welt voraus, ferner Maßnahmen gegen ein soziales und ökologisches Dumping. Eine solche ökosoziale Friedensregion könnte sich aus einer um weitere europäische Staaten vergrößerten Europäischen Union entwickeln, zu der in möglichst absehbarer Zeit auch Rußland gehören sollte.

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Vergleichbare Friedensregionen könnten sich auch in Ostasien, Nordamerika und anderen Gebieten der Erde entwickeln. Und haben solche Großregionen einmal einen vergleichbaren Standard verantwortlichen Wirtschaftens erreicht, dann können sie sich zu großen Freihandelsregionen zusammenschließen. Wichtig ist, daß sie alle zuerst ihre innere Sanierung betreiben. Dazu sind die Staaten Europas zu einem gewissen Ausgleich zwischen den reicheren und ärmeren Regionen Europas aufgerufen. Das wird ohnedies noch Kopfzerbrechen bereiten, vor allem wegen der nötigen Absicherung gegen Mißbrauch, aber es ist für uns überlebensnotwendig, diesen Ausgleich zu schaffen.

Aber darf Europa sich als ökosoziale Friedensregion abgrenzen? Sind wir nicht verpflichtet, gerade den zunehmend in Not geratenen Regionen der Dritten Welt zu helfen? Das eine schließt das andere nicht aus, ja das eine ist geradezu Voraussetzung für das andere. Nur ein Europa, das sich intakt hält, das seinen inneren Frieden und damit seine wirtschaftliche und moralische Kraft behält, kann weiterhin Entwicklungshilfe leisten, zum Beispiel durch Ausbildung und Hilfe beim Aufbau von Industrien. Firmen der Europäischen Union hätten damit zugleich einen Fuß in sich entwickelnden Märkten. Wenn dort schließlich ein vergleichbarer ökologischer und sozialer Standard der Produktion erreicht ist, dann kann eine solche Region, die vordem Entwicklungsgebiet war, voll in eine größere Freihandelszone eingegliedert werden. Die Industriestaaten der Ersten Welt könnten sich dazu in ihrem Bemühen verbinden. Grundsätzlich muß klar sein, daß jeder einseitige Altruismus Europas auf die Dauer selbstmörderisch wäre. 

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Zu den vielen hier angeschnittenen kulturökologischen und populationsdynamischen Fragen hat Josef Schmid (1992) einen höchst informativen, mit guten Daten versehenen Diskussionsbeitrag vorgelegt. Das Helfen betreffend meint er: »Ein kulturökologisches Denken macht klar, daß es kein problemloses Helfen und Gutsein zwischen Kulturen mit gewaltigen Entwicklungs- und Milieubewältigungsdifferenzen geben kann« (S. 190).

Der Zusammenschluß der großen Handelsblöcke der technisch zivilisierten Welt könnte schon bald stattfinden, doch lehrt die Ostasienkrise, daß dafür zuerst international verpflichtende Abkommen geschaffen werden müssen, und außerdem müßten die Regierungen wieder den Mut finden, zu regieren, auf der Länderebene und auf der Ebene der Nationen und Unionen.

 

Wohin aber mit den Millionen Kriegsflüchtlingen, mit den Asylsuchenden und mit den aus wirtschaftlicher Not nach Europa Drängenden? Ich glaube, der Zeitpunkt ist gekommen, in dem kaum ein Land mehr in der Lage ist, das Problem durch Aufnahme der Notleidenden zu lösen. Hier müssen neue Wege gefunden werden. Heute sind nur noch die Vereinten Nationen finanziell und mit ihren internationalen Verbindungen und ihrer Macht in der Lage, das Problem zu bewältigen. Ein Vorschlag wäre, daß eine internationale Polizeitruppe im oder am Rand eines Krisengebietes eine Stadt oder ein größeres Territorium besetzt und dort Flüchtlingsstädte errichtet, die mit allen Infrastrukturen für Unterricht, Kulturleben und Wirtschaft ausgestattet sind, um den Bedürftigen ein möglichst normales Leben zu ermöglichen. Solche Einrichtungen hätten überdies den Vorteil, daß die Flüchtlinge in der Nähe ihrer Heimat blieben und damit nicht kulturell entwurzelt würden. Schließlich behielten auf diese Weise die Vereinten Nationen und damit die Weltgemeinschaft das Problem als ungelöst im Auge.14)

 

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Vernunft und affektives Engagement

 

Wir sprachen von unserer Begabung zu sachlicher Auseinandersetzung, von unserer Fähigkeit, den affektiven Bereich vorübergehend auszublenden, um »entspannt« Probleme besprechen zu können. Wir wiesen ferner darauf hin, daß starke Gefühlswallungen Denkblockaden setzen. Jede Panik lehrt das, aber auch Wut und allzugroße Liebe machen bekanntlich blind.

Doch helfen ungetrübter Verstand und kühle Vernunft allein, mit unseren Problemanlagen Kurzzeitdenken und Machtstreben zurechtzukommen? Daran habe ich meine begründeten Zweifel, kann man doch an vielen Beispielen, wie etwa an unserem Umgang mit den nichtersetzbaren Ressourcen, erkennen, daß das rational sicher als notwendig Erkannte uns kalt läßt, wenn die negativen Folgen unseres Tuns erst zwei Generationen später spürbar werden. »Nach uns die Sintflut« ist eine Haltung, die der Entwicklung eines generationenübergreifenden Überlebensethos entgegensteht.

Den stark affektiv besetzten Hindernissen, die einer einsichtigen Verhaltenssteuerung entgegenstehen, müssen wir außer unserer Einsicht auch ein affektives Engagement entgegensetzen. Bisher hat man vor allem mit der Erweckung von Ängsten operiert, um ein Umweltbewußtsein zu wecken: Die Luft wird umkippen, das Treibhausklima wird Probleme schaffen.

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Angst ist sicher ein wichtiger Ansporn, um Fehlverhalten zu korrigieren, aber sie wirkt offenbar nur, wenn sie uns unmittelbar betrifft. Gefahren, die nach statistischer Wahrscheinlichkeit nicht innerhalb eines Lebensalters eintreten, erleben wir nicht als bedrohlich, auch wenn wir sie rational als existent anerkennen. So siedeln wir immer wieder an Vulkanabhängen, auch wenn die Dörfer alle paar hundert Jahre verschüttet werden. Die Selektion konnte uns für solche Fälle keine Meidereaktionen anzüchten. Nur was mit Wahrscheinlichkeit in einem Menschenleben eintritt, wird als Gefahr erlebt und gemieden.

Es gibt außer Angst aber auch das positive Engagement für etwas. Das kann sowohl der gerechte Zorn als auch die Liebe sein. Beide schaffen Engagement, und nur durch solches Engagement wird etwas zum Anliegen. Aber wofür engagieren? Welche der uns vorgegebenen Verhaltensdispositionen können wir anzapfen?

Drei scheinen mir dafür besonders geeignet:

  1. unser starkes fürsorgliches Engagement für Kinder;

  2. unser Gefühl für Verpflichtung, das dem Gesetz der Reziprozität gehorcht;

  3. unsere ästhetisch begründete Naturliebe.

Die bewußte Kultivierung dieser uns angeborenen Dispositionen scheint mir für die affektive Besetzung eines nachhaltigen Überlebensethos in besonderer Weise geeignet.

Das Interesse am Schicksal unserer Kinder und Angehörigen bildet die Grundlage des familialen Ethos, das wir bereits mit Erfolg nützen, um über dieses Ethos größere Solidargemeinschaften affektiv zu binden. Wir sprechen von Muttersprache, Landesvätern oder -müttern, von unseren Brüdern und Schwestern, und der Begriff Nation bezieht sich auf die Wurzel gemeinsamer Abstammung. Bereits steinzeitliche Völker, die größere Täler- oder Stammesgemeinschaften bilden, deren Mitglieder einander nicht mehr persönlich kennen, schaffen durch Bezug auf oft fiktive Verwandtschaft Verbundenheit (Eibl-Eibesfeldt 1984). 

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Uns gelang es so, viele Millionen Menschen zu Solidargemeinschaften zu verbinden. Daher sollte es auch gelingen, über eine affektive Besetzung das Engagement für die Zukunft unserer leiblichen Kinder und Kindeskinder herzustellen.

Wir sind auf Grund unserer Familialität auch in der Lage, uns mit einer Gemeinschaft, mit der wir durch Brauchtum, Geschichte und Sprache verbunden sind, zu identifizieren. Dazu muß allerdings erzogen werden, und ich plädiere daher seit vielen Jahren dafür, die Erziehung zu einer kritischen Liebe zum eigenen Land nicht zu vernachlässigen. Ohne solche Bemühungen werden die staatstragenden Tugenden verkümmern, zum Schaden der Länder Europas wie der Europäischen Union, ja der übrigen Welt. Denn wenn uns das eigene Land nichts mehr bedeutet, dann ist uns auch die Zukunft Europas und erst recht der Welt im Grunde gleichgültig.

Die Begeisterung für die Menschheit zu erwecken ist ohnedies im allgemeinen viel schwieriger, da es bei der großen Diversifikation der Religionen, Weltanschauungen und schließlich des Erscheinungsbildes an gemeinsamen Symbolen mangelt, die unserer Neigung zur Symbolidentifikation entgegenkommen könnten. Der Einsatz der Friedenstaube von Picasso durch die Friedensbewegung war ein Versuch in dieser Richtung; aber sie ist wahrscheinlich noch zu wenig menschheitsbezogen. Vielleicht sollte sie mit einer Mutter-Kind-Symbolik ergänzt werden. Sicher sind wir überfordert, wenn wir alle Menschen in gleicher Weise liebhaben sollen. Hier bietet es sich an, allgemein bewußtzumachen, was wir dieser großen Gemeinschaft an kulturellem Erbe verdanken. Wird einem dies bewußt, dann resultiert daraus eine empfundene Verpflichtung, da uns das Bedürfnis, gleiches mit gleichem zu vergelten, angeboren ist (vgl. Reziprozität, S. 40). Ein Gefühl der Verpflichtung für die größere Gemeinschaft ist sicher Voraussetzung für ein Engagement für die Zukunft der Menschheit.

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Hans Hass hat dazu einmal sehr treffend bemerkt: »Kein Mensch ist in der Lage, vier Milliarden ihm unbekannter Menschen zu lieben. Dagegen haben wir sehr wohl allen Grund zu einer kameradschaftlichen Gesinnung. Denn sozusagen alles, was unser <Menschsein> ausmacht, verdanken wir einer anonymen Vielheit anderer Menschen, die vor uns lebten und deren Leistungsergebnisse uns gleichsam als Geschenk Übermacht sind« (Hass 1981, S. 198).

Es gibt aber noch einen anderen affektiven Bezug, den wir für die affektive Besetzung eines Überlebensethos nützen können. Wir sprechen von unserer Liebe zur Natur. Sie ist ästhetischer Art. Sie manifestiert sich vor allem als Vorliebe für Pflanzen (Phytophilie). Es dürfte sich um eine archetypische Biotop-Prägung handeln. Pflanzen charakterisieren einen Lebensraum, der fruchtbar ist und in dem sich gut leben läßt. Der altsteinzeitliche Jäger und Sammler lebte naturnah, in einem Habitat, das etwa der afrikanischen Savanne entspricht, mit reichlichem Pflanzenwuchs und reichem Tierleben. Daß wir ein ästhetisches Bedürfnis nach einer solchen Umgebung haben, zeigt sich, wenn Menschen naturfern leben.

Dann nämlich beobachten wir eine Reihe von Ersatzhandlungen: Sie dekorieren ihre Wohnung zum Beispiel mit Farnen, Gummibäumen und anderen Grünpflanzen, die keinem anderen Zweck dienen, als dem Auge Ersatznatur zu bieten. Wir lieben die Natur, was allerdings nicht verhindert, daß wir sie ausbeuten. Wir erwähnten schon, daß es ursprünglich keine Notwendigkeit gab, uns in dieser Hinsicht Einschränkungen aufzuerlegen. Aber das ästhetische Bedürfnis nach Natur setzt der Zerstörung Grenzen, wenn wir sie unmittelbar betroffen erleben. Wir lieben ferner Gewässer, und wir lieben Tiere, denn auch sie sind Indikatoren für eine gesunde Umwelt.

Bei der Tierliebe kommt eine weitere affektive Komponente hinzu. Jungtiere sprechen uns an, wenn sie Merkmale des Menschenkindes aufweisen und damit Betreuungsreaktionen auslösen. Ich habe über viele Jahre immer wieder die Yanomami-Indianer des Oberen Orinoko besucht. Diese Bewohner des südamerikanischen Regenwaldes halten als Haustier nur den Hund.

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Sie sind Jäger, aber wenn sie einen Affen abschießen, der ein Junges trägt, oder ein Aguti oder einen Vogel mit Jungen, dann pflegen sie die Jungtiere aufzuziehen. Eine Ansiedlung der Yanomami gleicht oft einem kleinen Zoo. Da laufen Agutis herum, kleine Tukane, Waldhühner, Papageien, Äffchen, und die Tiere werden gehegt und geliebt. Kein Yanomami würde daran denken, sie später einmal zu verspeisen. Diese Anteilnahme an der Kreatur hat sicher ihre affektive Begründung in unserer Disposition zur Kindesfürsorge, die über bestimmte Kindsignale ausgelöst wird. Die Anteilnahme wird heute durch die Einsicht vertieft, daß es sich beim Leben um ein erstaunliches, einmaliges Phänomen handelt und daß wir selbst nur in einer gesunden Lebensgemeinschaft gedeihen können.

Letztlich dient ein pfleglicher Umgang mit der Natur und der durch sie zur Verfügung gestellten Ressourcen unserem eigenen Interesse der Absicherung unserer Zukunft und damit auch der Zukunft der Menschheit. Hier sind die Völker in einer Interessengemeinschaft in der Tat global verbunden, denn was immer eine Gruppe mit ihrer Umwelt anstellt, hat Rückwirkungen auf andere. Wir brauchen keine Bedrohung durch Außerirdische, um uns zu verbünden. Es genügen die gemeinsamen Aufgaben, die wir zu bewältigen haben.

 

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Zusammenfassung in 33 Thesen

 

 

1.  Eine Reihe von stammesgeschichtlich entwickelten Verhaltensdispositionen des Menschen erschweren die vernünftige Lösung brennender Gegenwartsprobleme.

2.  Die Bewußtmachung dieser Problemanlagen ist eine Voraussetzung für ihre Zügelung. Ihrer bedürfen wir, um den Herausforderungen der Neuzeit zu begegnen.

3.  Das gilt insbesondere für unsere Programmierung auf den Wettlauf im Jetzt, die wohl zur ältesten Erbausstattung der Organismen gehört, gilt doch seit Anbeginn organismischen Lebens, daß nur wer im Jetzt schneller läuft, das Rennen macht.

4.  Das hat auch unsere altsteinzeitlichen Vorfahren mit einer gewinnmaximierenden, den Augenblick in opportunistischer Weise ausschöpfenden Natur ausgestattet.

5.  Der moderne Mensch agiert ebenfalls in erster Linie opportunistisch-gegenwartsbezogen und gerät damit in die Falle des Kurzzeitdenkens, das langfristige, überlegte Planungen behindert.

6.  Bei diesem Wetteifern verbinden sich in fataler Weise Kurzzeitdenken mit einer aggressiven Triebdynamik. Sie stand ursprünglich als Dominanzstreben im Dienste des sozialen Wettstreits, wurde bei uns Menschen jedoch zusätzlich instrumental auch in den Dienst anderer Aufgaben gestellt. Wir »attackieren« bekanntlich auch Probleme, »verbeißen« uns in Aufgaben. Erfolg wird überdies beim Mann durch Testosteronausschüttung in die Blutbahn »belohnt«.

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7.  Die Programmierung auf den Wettlauf im Jetzt paßte zu der altsteinzeitlichen Lebensweise einer die Erde nur dünn besiedelnden Bevölkerung. Bei der heutigen Bevölkerungszahl und ausgerüstet mit einer höchst effizienten Technik wirkt sich unser ausbeuterisches Verhalten zerstörerisch auf lebenswichtige Ressourcen wie zum Beispiel Ackerland aus.

8.  Wir müssen ein Überlebensethos entwickeln, das auch die Interessen künftiger Generationen berücksichtigt. Was jedoch einsichtig als notwendig erkannt wird, bedarf eines affektiven Engagements, um in die Tat umgesetzt zu werden.

9.  Unsere prosozialen Anlagen, unser Interesse an der Zukunft unserer Kinder und unsere ästhetisch begründete Naturliebe würden sich zur affektiven Ankoppelung eines am Glück künftiger Generationen ausgerichteten Überlebensethos anbieten.

10.  Sowohl die traditionelle bäuerliche Ethik als auch die in Europa weit entwickelte Soziale Marktwirtschaft zeigen, daß wir Menschen durchaus zu sozial und ökologisch verantwortlichem Wirtschaften erzogen werden können.

11.  Diese positiven Ansätze werden durch eine gegenläufige Entwicklung gefährdet, die sich wie zur Zeit des klassischen Kapitalismus die Natur zum Vorbild nimmt.

12.  Ein rücksichtsloser Wettbewerb in Landwirtschaft und Industrie gefährdet die Errungenschaften einer sozialen und ökologisch verantwortlichen Marktwirtschaft und damit auch die Staaten, die diese Entwicklung im Rahmen der Globalisierung zulassen.

13.  Richten sich nämlich betriebswirtschaftliche Interessen gegen die volkswirtschaftlichen, dann schwächen sie den Staat und seine soziale Ordnung. Damit gefährden so wirtschaftende Unternehmen auf längere Sicht auch ihre eigene Existenz, denn die staatliche Ordnung und Macht ist es, die sie schützt. Eine rechtzeitige Abstimmung des Wettbewerbs auf die Interessen des Staates und eine Rückkehr zu zivilisierten Formen der Konkurrenz sind daher im unternehmerischen Interesse.

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14.  Mit der Europäischen Union gehen die europäischen Nationalstaaten partnerschaftliche Beziehungen ein, die ein hohes Maß gegenseitiger Rücksichtnahme erfordern und ein gemeinsames Bemühen um die Anhebung der wirtschaftlich in Europa noch im Rückstand befindlichen Regionen, im Rahmen einer ökologisch verantwortlichen und sozialen Marktwirtschaft.

15.  Das erfordert besondere Vorsicht beim Umgang mit globalen Problemen. Die im Rahmen der Globalisierung propagierte Öffnung der Europäischen Union für den globalen Waren- und Personenverkehr gefährdet die ökosoziale Marktwirtschaft durch ökologisches und soziales Unterbieten. Auf lange Sicht entsteht daraus auch für die international operierenden Konzerne Schaden, da sie sich mit der Schwächung ihrer Heimatstaaten ihres Schutzes berauben.

16.  Wer sich die Natur zum Vorbild nimmt, vergißt, daß diese keine andere Wahl hat, als mit dieser Hochrisikostrategie zu operieren. Sie ist ja keiner vorausschauenden Zielsetzung fähig. Diese Fähigkeit ist allein uns gegeben. Wir allein stellen Fragen nach der Zukunft. Darin liegt eine Verpflichtung unseren Enkeln, ja dem Leben gegenüber.

17.  Eine globale Wertegemeinschaft, die sich zu umweltschonendem und sozial verantwortlichem Wirtschaften und damit zu einer Zivilisierung des Konkurrenzkampfes unter Achtung der ethnischen und territorialen Integrität der Völker bekennt, wäre wünschenswert, dürfte aber bei der gegenwärtig noch kaum gebremsten Bevölkerungsexplosion nicht in der für die Sicherung unserer Zukunft nötigen Geschwindigkeit zu erreichen sein.

18.  Daher gilt es für die technisch zivilisierten Nationen, sich in großräumigen, möglichst autarken ökosozialen Friedensregionen zusammenzuschließen, in denen weiter sozial und ökologisch verantwortlich gewirtschaftet wird, und sich nicht vorschnell der Globalisierung zu öffnen.

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19.  Die Europäische Union könnte sich als eine solche ökosoziale Friedensregion abgrenzen, sanieren und schrittweise den europäischen Osten einschließlich Rußland einbeziehen. Sie müßte sich für Notzeiten eine gewisse Autarkie sichern und sich auch auf nicht auszuschließende Katastrophenfälle vorbereiten. »In den Tag hinein zu leben« ist in der gegenwärtigen Situation von Regierungsseite nicht zu verantworten.

20.  Freier Handel setzt vergleichbare ethische Standards und eine diesen entsprechende rechtliche Kodifizierung voraus. Dergleichen wird in anderen Regionen der technisch zivilisierten Welt am ehesten erreicht werden. Mit solchen, der Europäischen Union vergleichbaren ökosozialen Friedensregionen könnte sich die Europäische Union verbünden, auch in dem Bemühen, Notstandsregionen zu helfen.

21.  Im Interesse der Erhaltung des Friedens dürfen die Politiker einer Hilfe leistenden Gemeinschaft die Identität ihrer politischen Gemeinschaft und damit den inneren Frieden nicht aufs Spiel setzen. Das macht eine Begrenzung der Immigration aus kulturell und anthropologisch ferner stehenden Populationen notwendig.

22.  Daher muß auf längere Sicht auch das Flüchtlings- und Asylproblem anders als bisher gelöst werden. Es fällt in die Kompetenz der Vereinten Nationen. Diese könnten in der Nähe der Krisengebiete Regionen militärisch besetzen, sie mit allen Infrastrukturen für Erziehung und Wohlergehen ausstatten und als Schutzregionen für Flüchtende jeder Art ausweisen- Diese Lösung hätte den Vorteil, daß die Weltgemeinschaft ihre ungelösten Probleme auch stets vor Augen hätte und damit zum Handeln gezwungen bliebe.


23.  Innerartliche Konkurrenz wird bereits im Tierreich durch Ritualisierung dort entschärft, wo Risikominderung für alle Kontrahenten vorteilhaft ist.

24.  Bei all den verschiedenen Lösungen, die wir in der Natur vorfinden, handelt es sich um in der Vergangenheit und im Jetzt Bewährtes, aber keineswegs immer um die bestmögliche Lösung eines Problems.

25.  Jedes Lebewesen ist mit seinen ersten zellulären Vorfahren, die vor vielleicht drei Milliarden Jahren lebten, in einer ununterbrochenen Vorfahrenkette verbunden.

26.  Jene Organismen, die es nicht schafften, ihre Gene in der Generationenfolge weiterzureichen, schieden und scheiden weiterhin aus dem Lebensstrom aus und damit auch aus dem Abenteuer der Evolution.

27.  Als geselliges Wesen ist der Mensch in eine Hierarchie sozialer Gruppen eingebunden, die mit der Familie und dem Sippenverband zur familial gebundenen Kleingruppe und weiter aufsteigend zu ethnischen Stammes-, Volks- und Staatengemeinschaften führt. Wir bleiben in diese Hierarchie der Gruppe, von der Familie aufsteigend, zeitlebens eingebunden. Ohne diese Einbindung von der Basis her wären wir nicht fähig, uns mit Menschen zu identifizieren, die wir nicht kennen.

28.  Die historisch nachvollziehbaren Prozesse der Bildung größerer Solidargemeinschaften sind ein Ergebnis der Konkurrenz sich voneinander abgrenzender Gruppen.

29.  Voraussetzung für die Bildung der anonymen Großgemeinschaften ist die Fähigkeit, unser familiales Ethos auf die Großgruppe zu übertragen. Unsere Indoktri-nierbarkeit und die Fähigkeit zur Symbolidentifikation spielen dabei eine große Rolle.

30.  Die prägungsähnliche Fixierung von Folgereaktionen auf die »sakralen« Symbole der größeren Gemeinschaft ist höchst problematisch, da sie propagandistisch ausgenützt werden kann, um soziale Verteidigungsreaktionen wachzurufen, die sich gegen andere richten.

31.  Andererseits bedarf es der Symbole der Identifikation. Sie müssen sich nicht gegen andere richten. Unsere Fähigkeit zur Bildung von Allianzen ermöglicht es uns, daß wir uns mit anderen Menschen im Dienst einer gemeinsamen Aufgabe verbünden, ohne unsere jeweilige ethnische Identität aufzugeben.

32.  Einheiten, an denen die Selektion ansetzt, sind beim Menschen die Individuen, die Sippen und die kulturell über Sprache und Brauchtum abgegrenzten Völker, die genetische Fortpflanzungspools bilden, deren genetische Distanz voneinander statistisch erfaßbar ist.

33.  Als Generalist, Kulturwesen und Zielsetzer ist der Mensch für seine Zukunft gut gerüstet. Verbindet er seine Zielsetzungen mit humanitärem Engagement, Vernunft und der von Karl R. Popper eindringlich geforderten Bereitschaft zur rechtzeitigen Fehlerkorrektur, dann eröffnen sich ihm einmalige Aussichten für seine weitere Entwicklung. Des Menschen Erfolg wird zwar weiterhin an der Elle der Eignung gemessen, das heißt seiner Fähigkeit, in Nachkommen zu überleben. Aber wir brauchen uns der Selektion nicht blind auszuliefern. Wir sind wie alle Organismen »Sucher nach einer besseren Welt« (Karl Popper). Aber während alle anderen Organismen in erratischem Kurs die Lebensmöglichkeiten erkunden, sind wir zum Sehen begabt und können unseren Kurs daher verantwortlich steuern. Daraus erwächst uns eine einmalige Chance, aber auch die Verpflichtung, sie wahrzunehmen.

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E n d e

 

 

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