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  1.  Die Zäsur        Eppler-1975 

 

 I   II   III    IV  


    I.   

11-22

In die erste Hälfte der siebziger Jahre fällt eine historische Zäsur, deren Tiefe erst in einigem Abstand sichtbar werden wird: Die Menschheit ist auf Grenzen gestoßen, von denen sie zumindest in den zwei Jahrhunderten zuvor nichts wußte oder [nichts] wissen wollte. 

Es war das Pathos der europäischen Geschichte, zumindest seit Beginn der industriellen Revolution, wenn nicht schon seit der Renaissance, die Überwindbarkeit von Grenzen immer neu zu demonstrieren: Grenzen des Wissens und Erkennens, Grenzen der Leistung, Grenzen der Geschwindigkeit, Grenzen der Produktivität und der Produktion, Grenzen des Raumes, schließlich Grenzen des Erdballs selbst. 

Auch im Pathos des wirtschaftlichen Wachstums schwang und schwingt noch mit, was die Geschichte Europas seit Jahrhunderten bestimmt hat. Daß es sich hier nicht allein um einen Systemzwang des Privatkapitalismus handelt, beweisen die kommunistischen Staaten, die - abgesehen von China - ihren Erfolg ebenso an Wachstumszahlen messen wie die Länder der OECD.

Daß Menschen den Erdball verlassen und auf dem Mond landen können wohl die spektakulärste aller Grenzüberwindungen hat die Menschheit keineswegs beflügelt, sondern auf sich zurückgeworfen: im Weltall war nichts zu gewinnen außer der Einsicht, daß wir auf einen Erdball verwiesen sind, der in seiner Schönheit und Fülle seinesgleichen sucht, von dem es aber auch kein Entrinnen gibt. 

Der Mensch mußte über den Erdball hinausgreifen, um ihn - von außen - als seine Grenze zu begreifen. Die faszinierenden Fotos vom Raumschiff Erde forderten die Fragestellung des Klubs von Rom heraus: Was hält diese unsere Erde aus? Wieviele Menschen kann sie tragen, versorgen mit Rohstoffen, Energie, Wasser, Nahrung, Raum zur Entfaltung?

Daß ein endlicher Erdball kein unendliches materielles Wachstum zuläßt, ist eine Binsenweisheit. Daß diese Binsenweisheit erst zur Kenntnis genommen wurde, als Computer sie errechnet hatten, ist eine Parodie auf die Experten­gläubigkeit unserer Zeit.

Man sollte es den Politikern nicht verübeln, wenn sie mit dem ersten Bericht des Klubs von Rom (Meadows-Studie) wenig anfangen konnten, sogar dann, wenn sie ihn nicht als Hirngespinst wildgewordener Futurologen abtaten. Von der - überdies umstrittenen - Globalrechnung, wonach die Fortschreibung von Wachstumsraten gegen die Mitte des kommenden Jahrhunderts zur Katastrophe führen müsse, bis zu einer verantwortbaren politischen Entscheidung hier und heute ist ein zu weiter Weg.

 

Die zweite Studie des Klubs von Rom (Mesarovic-Pestel)(1) hat ein gutes Stück auf diesem Weg zurückgelegt: Berechnungen für die einzelnen Regionen der Erde (insgesamt zehn) führen schon näher an den Bereich heran, der politische Umsetzung erlaubt, und die Alternativrechnungen (Szenarios) weisen auf Entscheidungs­spielräume hin, die genutzt werden können. Mit der Warnung vor dem großen Zusammenbruch ist politisch weniger zu bewirken als mit der Darstellung von zahlreichen Einzelkrisen und ihren — denkbaren oder vermeidbaren — Verknüpfungen. Daß dies Mesarovic und Pestel in allen Bereichen schon überzeugend gelungen sei, werden allerdings die Autoren selbst nicht behaupten.

Dabei sind die Berechnungen des zweiten Berichts keineswegs optimistischer als die des ersten. Dies gilt nicht nur für die Bereiche Rohstoffe, Energieträger, Wasserversorgung oder Umweltschutz. Die erregendsten Berechnungen haben die Autoren über das Verhältnis von Bevölkerungs­vermehrung und Lebens­chancen angestellt. Sie gehen — wie andere auch — davon aus, daß die Menschheit, auch wenn sie einmal ein Gleichgewicht in der Fruchtbarkeits­rate erreicht haben sollte, noch weiterwächst. Den Bremsweg veranschlagen sie mit 40 Jahren. 

Sogar wenn es gelänge, im Süden der Erde die Fruchtbarkeitsrate Null (praktisch die Zweikinderfamilie) in 35 Jahren zu erreichen, so wäre das Ende der Explosion erst in 75 Jahren, also um 2050, zu erwarten, und auch dies nur, wenn man schon heute mit aktiver Bevölkerungspolitik beginnt. Verschiebt man den Start um zehn Jahre, so tritt das Gleichgewicht im Süden erst bei acht Milliarden, verschiebt man um 20 Jahre, erst bei zehn Milliarden ein. 

Zu deutsch: Lassen wir die nächsten zehn Jahre verstreichen, so bedeutet dies zusätzlich zum ohnehin unausweichlichen Bevölkerungswachstum 1,7 Milliarden Menschen mehr, also soviele, wie nach dem Ersten Weltkrieg auf dieser Erde lebten. Verschlafen wir 20 Jahre, so bedeutet dies vier Milliarden Menschen zusätzlich, also mehr Menschen zusätzlich, als heute leben.

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Makaber ist eine andere Berechnung: 

Die Verschiebung einer »drastischen Bevölkerungspolitik« in Südasien von 1990 auf 1995 würde - da die Lebens­grund­lagen fehlen - den Tod von 170 Millionen Kindern bewirken. Zehn Tage Verzug würden also den Tod von einer Million Kinder verursachen, jede Sekunde Säumen ein verendetes Kind, und zwar nicht irgendwann, sondern bis die heute Geborenen 50 Jahre alt sind. Hier hört das Rechnen auf, hier beginnt die Apokalypse.

 

Ein schwer verzeihlicher Mangel in diesen Berechnungen liegt darin, daß hier völlig isoliert von Bevölkerungspolitik die Rede ist. Indien betreibt seit eineinhalb Jahrzehnten Familienplanung — ohne greifbaren Erfolg, weil man arbeitslosen oder unterbeschäftigten Analphabeten ohne ausreichende Ernährung und ohne soziale Sicherung nicht mit Familienplanung kommen kann. Hunderte von Millionen Eltern in Entwicklungsländern haben keine Chance, die Zahl ihrer Kinder selbst zu bestimmen. Neue Untersuchungen und Rechnungen müßten hier ansetzen: Wie können Arbeitsbeschaffung, Alphabetisierung, Gesundheitsdienst, Alterssicherung die Geburtenrate verringern, wie kann eine niedrigere Geburtenrate die Befriedigung der Grundbedürfnisse erleichtern? Wo ist der Teufelskreis von Elend und Bevölkerungsexplosion aufzubrechen? 

Jedenfalls:  

Eine Fertilitätsrate Null in 35 Jahren ist nicht allein durch Familienplanung, sondern nur durch ungeheure Anstrengung auf allen Gebieten zu erreichen. Es ist auch aussichtslos, eine Senkung der Geburtenrate allein von einem höheren Pro-Kopf-Einkommen zu erwarten. Dieser Weg würde wesentlich mehr Zeit in Anspruch nehmen als zur Verfügung steht. Eine Senkung der Geburtenrate muß möglich sein, ehe diese Länder das Pro-Kopf-Einkommen Westeuropas in den zwanziger Jahren erreicht haben. Die Senkung findet aber nicht statt, solange elementare Grundbedürfnisse nicht befriedigt sind.

Ob dies die astronomischen Summen erfordern wird, die Mesarovic und Pestel errechnet haben, mag man füglich bestreiten. Unbestreitbar ist, daß das Aufbrechen des Elendszirkels uns um so teurer zu stehen kommt, je später wir es versuchen. Es ist durchaus eine Situation abzusehen, wo es dazu keine Chance mehr gibt.  

Jedenfalls: Um die Zahlenspielereien, daß die Erde ja auch 50 oder 60 Milliarden Menschen »ernähren« könne, wird es endgültig still werden.

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Ein Kind, 1975 geboren, wird, wenn es volljährig wird, die Güter der Erde mit knapp sechs Milliarden Menschen teilen. Wenn es dreißig Jahre alt ist, dürften es ungefähr sieben Milliarden sein. Davon ließen sich auch dann nur wenige hundert Millionen abhandeln, wenn Industrie- und Entwicklungsländer in den nächsten Jahren zur Eindämmung der Bevölkerungsexplosion das Zehnfache dessen unternähmen, wozu sie sich heute aufraffen können. 

Aber politisch wird entschieden werden, ob diese Kinder, vierzigjährig, mit acht, neun oder elf Milliarden und ob sie, fünfundsechzigjährig, mit zehn, vierzehn oder sechzehn Milliarden Menschen die Ressourcen der Erde werden teilen müssen. 

Wer heute Kinder in die Welt setzt, kann sich vor der Frage nicht drücken: Wie können in zehn Jahren fünf Milliarden, in zwanzig Jahren sechs Milliarden so leben, daß wenigstens dann die Eltern der folgenden Generation eine Chance haben, die Zahl ihrer Kinder zu bestimmen?

 

  II  

 

Bis 1973 hat die Menschheit mit ihren Hilfsquellen gewirtschaftet, als seien sie unbegrenzt. Und dafür sprach auch manches: Rohstoffknappheit war bislang immer durch Erschließung neuer Ressourcen aufgefangen und überspielt worden. Letztlich schien sich alles wieder einzuspielen. Mit dieser Illusion haben die Computer des MIT aufgeräumt, auch wenn es nicht schwierig ist, die Berichte des Klubs von Rom auf hohle Stellen abzuklopfen. Wichtiger als alle — sicher fragwürdigen — Einzelberechnungen ist die Einsicht, daß wir, sobald wir zur Überwindung einer Grenze ansetzen, auf eine andere stoßen.

Wahrscheinlich ließen sich zehn oder fünfzehn Milliarden Menschen ernähren, wenn Wüsten bewässert werden könnten. Die Wüsten werden aber nicht bewässert, sie werden nicht kleiner, sie wachsen rapide, weil Übervölkerung, Überweidung, Zerstörung des Baumbestandes zusammen mit Dürreperioden das ökologische Gleichgewicht am Rande der Wüsten (keineswegs nur der Sahara) auf Jahrzehnte irreparabel zerstört haben und weil Bewässerung von Wüsten riesige Mengen billiger Energie voraussetzt, etwa zur Entsalzung von Meerwasser. Tatsache ist, daß in vielen Ländern das Öl für die primitivsten Wasserpumpen zu teuer wird. Wer in diesem Zusammenhang seine Hoffnung allzu naiv auf Kernenergie setzt, sollte die Zahlen von Alvin Weinberg überdenken.

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Danach verlangt die Versorgung von 15 Milliarden Menschen mit durchschnittlich 20 kWh durch Kernspaltung 24.000 Reaktoren, 150.000 t Plutonium­inventar, 15.000 t Plutonium Jahresproduktion, 480 Reaktoren Ersatzbedarf, 210.000 Transporte pro Jahr, davon 26.000 ständig unterwegs.2) Wie man dann noch so etwas wie Sicherheit vor atomarem Terrorismus erreichen will, ist mehr als unklar. Dabei zeichnet sich schon für die nächsten Jahre eine rasche Verteuerung des Urans ab.

Knapp und teuer werden auch die Stickstoffdünger, die auf Ölbasis hergestellt werden. Phosphate, deren Preis seit 1972 von 11,7 Dollar auf 48,5 Dollar pro Tonne 1976 gestiegen ist, dürften bei ständig wachsendem Bedarf allenfalls noch wenige Jahrzehnte ausreichen. Was aus den Gewässern der Erde werden müßte, wenn alle Böden so massiv mit Kunstdünger versorgt würden wie die in den USA, ist offen. Wahrscheinlich ist, daß das rasche Wachstum der Algen den Gewässern soviel Sauerstoff entziehen dürfte, daß sie »umkippen«. Auch die künstliche Düngung stößt an mehr als eine Grenze.

Der Fischfang — eine der wichtigsten Eiweißquellen —, der von 1950 bis 1970 von 21 auf 70 Millionen Tonnen anstieg, nimmt seit Anfang der siebziger Jahre stetig ab, weil die verschmutzten Meere auf eine unvernünftige Weise geplündert werden. Verdoppelung der Bevölkerungszahl bedeutet mehr Flächenbedarf für Industrie, Verkehr und Wohngebiete, Verringerung des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens. Das mögen einige Länder Afrikas und Lateinamerikas eben noch verkraften, für Süd- und Ostasien schlägt es zu Buche.

Je mehr hungrige Menschen, desto größer die Umweltzerstörung. Je mehr Umweltzerstörung, desto mehr hungrige Menschen. Übervölkerung oder kommerzielle Interessen führen zu rücksichtsloser Abholzung von Wäldern, dies wiederum zu rapide wachsender Bodenerosion, manchmal durch Wind, wie im Falle des indischen Staates Rajasthan, dessen Ackerboden sich als Staub auf den Diplomatenwagen in New Delhi niederschlägt, oder — häufiger — durch Wasser, wofür die immer verheerenderen Flutkatastrophen auf dem übrigen indischen Subkontinent zeugen.

Von Jahresende 1971 bis Juli 1975 stieg der Weltmarktpreis für amerikanischen Weizen von 58,5 auf 134,8 Dollar pro Tonne. Jedes Jahr werden wir damit vertröstet, die hohen Getreidepreise hätten eine ganz spezielle Ursache: Mißernten in Indien, Rußland oder im Mittleren Westen der USA.3)

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Nach Berechnungen der FAO dürfte jedoch am Ende des Jahrzehnts der Bedarf an Nahrungsmitteln in Entwicklungsländern um 72 Prozent über dem der Jahre 1969 bis 1971 liegen, die Produktion nur um 46 Prozent. Wer die Lücke (73 Millionen Tonnen) schließen soll, weiß niemand. Und es gibt zahlreiche Experten, die auch diese Berechnungen noch für allzu optimistisch halten.

Es ist richtig, daß die Berichte des Klubs von Rom manche Faktoren außer acht lassen, die das Bild verändern könnten. Aber würde das Bild dadurch freundlicher?

Sicher: Es fehlt z.B. der Aspekt der Macht. Die Verfasser der Cocoyoc-Erklärung haben recht, wenn sie gegen den Klub von Rom einwenden, hier und heute gebe es im Weltmaßstab noch keine akute Knappheit, wohl aber eine unerträgliche Willkür in der Verteilung der Ressourcen. Nur: Wo ist die Macht, die eine vernünftigere erzwingen könnte? Die Bildung eines neuen Machtzentrums in den OPEC-Staaten hat eine gerechtere Verteilung nicht leichter, sondern komplizierter gemacht. Wo die Interessen von Industriestaaten sich mit denen der Ölstaaten verbinden, entsteht eine ökonomische Macht, gegenüber der Entwicklungsländer in die hoffnungslose Position mehr oder minder erfolgreicher Bettler gedrängt werden könnten.

Sicher: Feudale und halbfeudale Gesellschaftsstrukturen, mit Gewalt aufrechterhalten, versperren in vielen Ländern den Ausweg aus Hunger und Analphabetismus. Aber es gilt eben auch das Umgekehrte: Von arbeitslosen Analphabeten, denen Proteinmangel in den ersten Lebensjahren die volle Entfaltung ihrer geistigen und körperlichen Fähigkeiten für immer verwehrt, sind in der Regel nur Hungerrevolten, allenfalls mehr oder minder unpolitisches Banditentum zu erwarten, nicht aber der Aufbau eines neuen Sozialsystems. Und wo der Versuch doch gemacht wird, ist er häufig verbunden mit grotesken Mißgriffen und entsprechenden Rückschlägen, die den ohnehin langwierigen Prozeß der Umwandlung gefährden oder doch um Jahre und Jahrzehnte verzögern. Daß es auch multinationale Konzerne und fremde Regierungen gibt, die ihre mit feudalen Schichten verflochtenen Interessen durchzusetzen wissen, ist ein zusätzlicher Grund dafür, wie selten sozialer Wandel ohne schwerste Opfer gelingt.

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Entwicklungsplaner unterstellen gern, daß das Vernünftige, ist es erst erkannt, auch getan werde. 

Dem ist natürlich nicht so. Regierungen verwenden immer den größeren Teil ihrer Energie darauf, sich an der Macht zu halten. Und in den meisten Industrieländern verbreitet der Verlust von einer Million Wählerstimmen bei Regierung oder Opposition mehr Schrecken als der Hungertod von einer Million Menschen in Südasien. Getan wird überall, was die Machtkonstellationen zu erlauben oder zu gebieten scheinen, nicht, was die Zukunft der Menschen sichert. Den Regierungen, und zwar keineswegs nur denen in Entwicklungsländern, wachsen die Schwierigkeiten über den Kopf. Je mehr dies geschieht, umso weniger können sie sich Anstrengungen und Ziele leisten, die nicht der Erhaltung ihrer Macht dienen. Anders gesagt: die Energien einer Regierung wenden sich um so weniger den Zukunftsaufgaben zu, je dringender dies geboten wäre.

Daraus ergibt sich ein anderer Zirkel: Wo Hoffnung rar wird, wo eben dafür Schuldige gesucht werden, breitet sich Gewalt aus. Sie führt meist nicht zu angemessenen Gesellschaftsstrukturen, sie ruft entweder überlegene Gegengewalt auf den Plan und führt zu faschistischen Gewaltregimen, oder sie erodiert alle politischen Strukturen und blockiert damit gezielte Entwicklungsbemühungen. Das erste kennzeichnet Gefahren und Realitäten Lateinamerikas; Südasien versucht verzweifelt, der zweiten Gefahr zu entkommen.

 

In den Industrieländern des Westens könnten beide Tendenzen parallel laufen: Die Krise der inneren Sicherheit könnte zu autoritären Regierungsformen führen, die ihrerseits diese Krise eher verschärfen als überwinden dürften. Noch nie war eine Zivilisation so verletzlich gegenüber winzigen Gruppen, die — aus welchen Motiven auch immer — entschlossen sind, die Apparaturen dieser Zivilisation außer Tritt zu bringen. Noch nie waren psychische Störungen und Kurzschlußreaktionen häufiger, noch nie folgenreicher als heute. Derselbe mitleidlose Konkurrenzkampf um Macht und Erfolg, der immer mehr Menschen psychisch überfordert, unterspült auch die sittlichen Fundamente, die bislang die Rechtsordnung getragen haben. Und die überall — mit unterschiedlichem Tempo — steigende Kriminalität wird ihrerseits wieder zum Schlagstock im Konkurrenzkampf um politische und wirtschaftliche Macht. Romantische Schwärmerei für Terror und Gewalt verhärtet Machtstrukturen, und eben diese Verhärtung provoziert neuen Terror. Wenn nur einer von tausend jugendlichen Arbeitslosen in aller Welt sich einer wohlorganisierten Terroristengruppe anschlösse, ließe sich Sicherheit im Flugverkehr oder in der Energieversorgung — zumal wenn es sich um Kernenergie handelt — nur unter einem Aufwand an

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Sicherheitskräften gewährleisten, der nicht nur die öffentlichen Haushalte überfordern, sondern auch den liberalen Rechtsstaat aushöhlen müßte. Der Wettlauf zwischen Verbrechen und Sicherheitskräften dürfte — wie die USA zeigen — nicht zu gewinnen sein, solange wir innere Sicherheit nur als eine Frage nach der Stärke und Schlagkraft der Polizei betrachten. Gordon R. Taylor hat recht: »Nicht das Anwachsen der Gewalt ist das eigentliche Problem, sondern das Anwachsen von Ressentiment, Verzweiflung und Zerstörungssucht ...«4)

So wenig sich die Bevölkerungsexplosion allein durch Familienplanung stoppen läßt, so wenig läßt sich die Welle von Kriminalität und Terror allein durch mehr Polizei auffangen. Wachsende Kriminalität zeigt die Krankheit einer Gesellschaft an, die im Wecken von Bedürfnissen allemal tüchtiger ist als in deren Befriedigung, wo die Glorifizierung nackter, oft sadistischer Gewalt mehr Profit abwirft als humorvolle Unterhaltung oder gar die Darstellung sozialer Konflikte.

 

    III   

 

Auch in den Industrieländern stoßen wir also auf mehr Grenzen, als sie der Klub von Rom bisher in seine Rechnung einbezogen hat.

Es gehörte seit John M. Keynes zum gesicherten Bestand der Wirtschaftspolitik in kapitalistischen Ländern, daß Konjunktur steuerbar sei. Bei schwacher oder nachlassender Konjunktur sollten die Mittel der Geld- und Fiskalpolitik Konsum und Investition anregen und Arbeitsplätze schaffen, bei überhitzter Konjunktur Überbeschäftigung und Preisauftrieb dämpfen. Damit sollte ein relatives Gleichgewicht erreicht werden, das größere Zahlen von Arbeitslosen oder eine rasche Erhöhung des Preisniveaus ausschloß. Im schlimmsten Fall, so meinten wir, müßten wir zeitweise zwischen beträchtlicher Arbeitslosigkeit und stärkerem Preisauftrieb wählen.

Seit einiger Zeit kämpfen die meisten Industriestaaten des Westens gleichzeitig gegen erhebliche Arbeitslosigkeit und gegen ungewöhnlich hohe Inflations­raten, und sie tun beides mit dürftigem Erfolg. Die USA schalteten bei einer zweistelligen Inflationsrate auf Expansion, um die Arbeitslosenquote unter acht Prozent zu drücken. Als die Arbeitslosenquote im März 1976 wieder unter der 8-Prozent-Marke lag (7,5 Prozent), und dies bei einer Inflationsrate von 6,1 Prozent, wurde dies als großer Erfolg gefeiert. 

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In anderen Ländern bewegte sich die Inflationsrate um 20 Prozent, ohne daß sich die Arbeitslosigkeit beseitigen ließ. Die Mittel der Globalsteuerung wollen nicht mehr greifen. Wir erreichen offenbar auch eine Grenze in der Machbarkeit von Konjunktur.

Damit zusammen hängt die Krise der öffentlichen Haushalte. Mit dem raschen wirtschaftlichen Wachstum sind die Aufgaben der öffentlichen Hände überproportional gewachsen: Der Verkehr verlangt eine immer kostspieligere Infrastruktur, die modernen Industrien erfordern steigende Ausgaben für Bildung und Ausbildung, das Gesundheitswesen, das moderne Zivilisationskrankheiten reparieren soll, wird immer teurer, die Ausgaben für äußere und innere Sicherheit steigen rapide, und auch beim Umweltschutz wird ein großer Teil der Kosten den öffentlichen Händen zugeschoben. Kurz: Die sozialen Kosten wachsen noch rascher als die private Wirtschaft, die diese Kosten verursacht.

Dabei steigen die Personalkosten meist am raschesten. Wenn in der Industrie der Steigerung der Reallöhne zumindest im Schnitt eine höhere Produktivität gegenüberstand, konnte dies in Verwaltung oder Schule nicht der Fall sein. Wenn in einem Sektor die Nachfrage nach Leistungen überproportional, die Produktivität unterproportional steigt, darf man sich nicht wundern, wenn ein wachsender Teil der Arbeitskraft von diesem Sektor aufgesogen wird, zumal dann, wenn die Löhne und Gehälter dort zumindest nicht langsamer steigen als in der Industrie.'

Am meisten beunruhigt die Kostenexplosion im Gesundheitswesen, ganz gleich, ob es privat, staatlich oder parastaatlich organisiert ist, denn in jedem Fall trägt der Bürger die Kosten, die er als eine Art Steuer empfindet und die daher auch den Spielraum für staatliche Steuern einengen.

Die Bürger der USA gaben 1973 nicht weniger als 17,4 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für ihr Gesundheitswesen aus. Innerhalb von zwanzig Jahren, in denen der Preisindex um 74 Prozent anstieg, kletterten die Kosten für Gesundheitsfürsorge und Gesundheitsvorsorge um 330 Prozent, die Kosten für Krankenhausaufenthalte um 500 Prozent.6 Andere Industrieländerhaben ähnliche Steigerungsraten teilweise hinter sich, teilweise noch vor sich. In der Bundesrepublik dürften die Krankenkassenbeiträge noch in diesem Jahrzehnt eine gefährliche Schwelle erreichen.

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Daß mancher Arbeitnehmer heute schon mehr an seine Krankenkasse als an den Staat abführen muß, ist einer von mehreren Gründen dafür, daß die staatliche Steuerpolitik zunehmend von der Angst vor dem Glistrup-Effekt bestimmt wird. Daher wächst die Tendenz zu höherer Staatsverschuldung. Politisch ist es wesentlich bequemer, in der Rezession — unter Berufung auf konjunkturpolitische Wirkungen — die öffentliche Verschuldung zu erhöhen, als sie in der Hochkonjunktur zu verringern, was konjunkturpolitisch ebenso richtig wäre. Hohe Kreditaufnahme durch den Staat drückt das Zinsniveau nach oben, was unter anderem dazu führt, daß der staatliche Schuldendienst wesentlich rascher wächst als die Staatsverschuldung. 

In den USA wuchs die Bundesschuld von 1954 auf 1964 nur um 14 Prozent, die Zinszahlung jedoch um 68 Prozent. Im Jahr 1972 mußte der Steuerzahler in den USA 21 Milliarden Dollars für den Schuldendienst des Bundes aufbringen.7 Das entspricht etwa dem Zehnfachen der US-Entwicklungshilfe. Was es bedeutet, wenn die Vereinigten Staaten 1975 bei einer zweistelligen Inflationsrate zur Dämpfung der Arbeitslosigkeit ihren Bürgern Steuern zurückzahlten und dafür das Staatsdefizit auf 76 Milliarden Dollars hochschnellen ließen, werden wir in den nächsten Jahren erfahren.

Von der Grenze der Finanzierbarkeit der öffentlichen Haushalte führt ein direkter Weg zur Grenze der Handlungsfähigkeit nationaler Regierungen, zumal in den westlichen Industriestaaten.

Eine Regierung, deren Existenz davon abhängt, daß sie — ohne ausreichende Instrumente — erfolgreich gegen Inflation und Arbeitslosigkeit gleichzeitig ankämpft, eine Regierung, die alle Hände voll zu tun hat, den — durch geringere Wachstumsraten verschärften — inneren Verteilungskampf zu regulieren, hat nur noch einen marginalen Handlungsspielraum. Je mehr sie sich darauf konzentriert, die Maschinerie der Gesellschaft und des Staates in Gang zu halten, umso hilfloser wird sie gegen die Pressionen mächtiger Interessengruppen, vor allem derer, die durch Entscheidungen über Investitionen diese Maschinerie in Gang setzen oder lahmlegen können. Und ausgerechnet solche Regierungen sollen die Kraft finden, aus den globalen Krisen unserer Zeit herauszuführen.

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Was Pierre Viansson schon 1971 im Blick auf seine Regierung in <Le Monde> schrieb, gilt heute allgemein: 

»Die Regierung hat ihren Platz am geometrischen Ort der nationalen Widersprüche, der einander entgegengesetzten Pressionen ... Sie trifft keine rationale Auswahl und besitzt keine wirkliche Voraussicht, sondern muß sich damit begnügen, standzuhalten und, so gut es geht, zu reagieren.« 

Der Aufsatz schloß mit einer Frage, die heute weniger weit hergeholt scheint als 1971, nämlich: »... ob wir in diesem Jahrzehnt den Tod der Politik erleben werden, nicht etwa dieser oder jener Politik, sondern der Politik überhaupt.«8)

Je geringer der Spielraum nach innen, um so wahrscheinlicher die Betonung nationaler Interessen nach außen. Wer den Verteilungskampf im Innern nur mühsam in geordneten Bahnen halten kann, wird dazu neigen, im internationalen Verteilungskampf zwischen Rohstoffproduzenten und Industriestaaten eine harte Linie zu vertreten. Und die Vierte Welt wird in seinen Überlegungen kaum auftauchen. Das heißt: Je schwächer nationale Regierungen nach innen werden, desto starrer werden sie nach außen. Die Schwäche des Nationalstaats führt nicht zum Aufbau internationaler Entscheidungsstrukturen, sondern zum rücksichtslosen Gegeneinander nationaler Interessen und damit möglicherweise auch zur Krise internationaler Institutionen.

   IV  

Vor uns steht nicht der Totalkollaps im Jahr 2050, sondern heute schon eine dramatische Folge von Teilkrisen, die sich gegenseitig bedingen und steigern. 

Wir leben nicht in einer Gewitterfront, hinter der sich demnächst wieder der blaue Himmel auftut. Was uns bedrängt, ist ein Wettersturz, der sich längst angekündigt hat. Es reicht nicht, den Regenschirm aufzuspannen, bis die Sonne wieder scheint. Wir brauchen andere, wärmere Kleider. 

Mit einem Krisenmanagement, das im Grund die Wiederherstellung des alten Zustandes im Visier hat, ist da wenig zu machen. Und mit einer politischen Theorie, die den Wettersturz noch nicht ausreichend zur Kenntnis genommen hat, noch weniger. 

Politik wird zur Krisenbewältigung, ob es uns paßt oder nicht. Fragt sich nur, ob es ein Krisenmanagement nach hinten oder eine Krisenbewältigung nach vorn ist. Über eine Krisenbewältigung nach vorn ist noch wenig nachgedacht worden, auf der Rechten nicht, weil man es für überflüssig und schädlich hält, links nicht, weil das Problem noch zu neu ist. 

Dafür gibt übrigens auch der Klub von Rom wenig Anregungen. Menschenwürdiges Überleben verlangt schließlich nicht nur einen bislang unvorstell­baren Lastenausgleich zwischen Nord und Süd, sondern eine Umstellung in nahezu allen Sparten unserer Politik.

Bislang klafft zwischen Futurologie und Politik eine riesige Lücke. Sie spiegelt den Abstand zwischen Bewußtsein und Realität. Diese Lücke wird gegenwärtig nicht geringer, sie wird größer. Unsere Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit werden immer unangemessener, verzagter oder auch unredlicher, der Abstand zwischen dem Zeithorizont politischer Entscheidungen und dem Zeithorizont unserer Aufgaben unerträglicher.

Ob wir einen Weg in die Zukunft finden, hängt vom Schließen der Lücke zwischen Realität und Bewußtsein ab. Wir müssen erst einmal begreifen, daß wir an einem historischen Wendepunkt stehen: von einem Zeitalter der Grenzüberwindung zu einem Zeitalter der Grenzbestimmung, von einem Zeitalter der unbegrenzten Möglichkeiten zu einem der möglichen Begrenzungen, von einem Zeitalter partiellen Überflusses zu einem Zeitalter, wo wir erkennen, was überflüssig ist. 

Und dann ist zu entscheiden, wie wir den Übergang schaffen von einer Epoche in die andere.

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  Ende oder Wende 1975