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4. Maßstäbe

 

  I  

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Schon als es noch schick war, sich progressiv zu nennen, wurde immer zweifelhafter, was Fortschritt sei. Noch zu Beginn der siebziger Jahre gab es zumindest in einem wichtigen Punkt Übereinstimmung: 

Was immer sonst noch Fortschritt sein mochte, Erhöhung des Lebensstandards, Wachs­tum der Wirtschaft und des Pro-Kopf-Einkommens war es in jedem Fall. Dies glaubten Liberale und Sozialisten, Struktur­konservative und Kommunisten, die einen inbrünstiger als die anderen, und dies seit Jahrzehnten.

Alle waren sie der Meinung, es werde sich eines Tages eine Fülle der Güter produzieren lassen, die Verteilungsprobleme gegenstandslos mache. Sie stritten darüber, ob man dazu die Produktivkräfte von den Fesseln der kapitalistischen Rechtsund Eigentumsordnung befreien müsse. Ob man es getan hat oder nicht, überall sind Produktivkräfte mit einer Dynamik gewachsen, gegen die wir immer hilfloser werden, schließlich so hilflos, daß viele sich achselzuckend in sogenannte Sachzwänge fügen, andere glauben, was hier wachse, sei der Krebs, an dem die Menschheit zugrunde gehen müsse.

Die Frage ist nicht mehr, ob Wachstum automatisch Fortschritt sei, sondern ob die technische und wirtschaftliche Entwicklung nicht längst unserer Kontrolle entglitten ist.

Das Bruttosozialprodukt wächst, wenn immer mehr Abfälle die Umwelt belasten. Und es wächst noch einmal, wenn wir Mittel einsetzen, um Umweltschäden zu beseitigen. Es wächst, wenn der Lärm in unseren Städten zunimmt. Und es wächst noch einmal, wenn wir Lärmschutzanlagen anbringen. Es wächst, wenn der Verbrauch von Medikamenten, Drogen und Alkohol zunimmt. Und es wächst noch einmal, wenn die durch Medikamente, Drogen oder Alkohol Geschädigten behandelt werden müssen.

Daß Wachstum nicht Fortschritt ist, wird heute nur von denen geleugnet, die es für systemgefährdend halten, daraus Folgerungen zu ziehen. Daß nicht alles gut für uns ist, was wir ökonomisch und technisch leisten können, ist schon zur Binsenweisheit geworden. Daß wir für erhöhte Produktion von Zigaretten, Pflanzenschutzmitteln, Medikamenten oder Kunststoffen einen Preis bezahlen müssen, ist inzwischen kaum mehr umstritten. Diskutiert wird, wo jeweils der Punkt erreicht ist, von dem ab wir mehr bezahlen, als wir dafür bekommen. Daß es diesen Punkt gibt, wird ernsthaft nicht mehr bezweifelt.

Was aber ist dann Fortschritt?

Daß nur Forschritt sein kann, was dem Menschen, seiner Verwirklichung in der Gemeinschaft mit anderen dient, mag abgedroschen klingen, ganz so selbst­verständlich ist es nicht. Haben wir nicht noch vor wenigen Jahren gehört, gemessen an dieser oder jener technischen Aufgabe, etwa der Raumfahrt, sei der Mensch eine Fehlkonstruktion, daher müsse man notfalls andere Menschensorten — mit Affengenen — züchten?

Zugegeben: Es wird nie volle Übereinstimmung darüber geben, wie der Mensch sich verwirklicht. Wir werden z.B. darüber streiten müssen, ob es primär um die Selbstverwirklichung eines autonomen Individuums geht oder um die Verwirklichung in der solidarischen Zuwendung zum Nächsten. Aber es gibt doch eine Unzahl von Feststellungen, die sich unabhängig davon treffen lassen: Daß vergiftete Nahrung dem Menschen weniger zuträglich ist als unverdorbene, daß ein Arbeitsplatz, der seinen Inhaber binnen weniger Jahre gesundheitlich ruiniert, durch die beste Bezahlung nicht zu rechtfertigen ist, daß eine Stadt durch großzügige Grünanlagen und Kinderspielplätze gewinnt, all dies ist unter ernsthaften Menschen nicht umstritten. 

Die Frage ist nur, mit wievielen — strukturkonservativen — Interessengruppen man es aufnehmen will, was man politisch in Kauf zu nehmen und zu wagen bereit ist, um unvergiftete Nahrung, gesunde Arbeitsplätze oder eine vernünftigere Stadtplanung durchzusetzen.

Der Versuch, die Chancen menschlicher Verwirklichung zum Maßstab für Fortschritt — und Rückschritt — zu machen, ist unter dem Stichwort »Lebensqualität« in die öffentliche Diskussion gekommen.24 Es war der todkranke Otto Brenner, der für April 1972 jene internationale Tagung der IG Metall zu diesem Thema nach Oberhausen einberief, die einmal als ein Einschnitt in der politischen Diskussion unseres Landes gewertet werden wird. Sicher war es gefährlich, daß dieser Begriff sich allzu rasch durchgesetzt und — vor allem im Wahlkampf 1972 — auch vorzeitig abgenutzt hat. Aber inzwischen ist er bereits in die Rechtsprechung eingegangen.25 Welche Anstrengungen auch immer unternommen wurden — und werden —, diesen Begriff zu zerreden — um die Aufgabe, neue Maßstäbe zu gewinnen, nachdem die alten offenkundig nicht mehr taugen, kommen wir nicht herum.26

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  II  

 

Je ärmer Menschen sind, desto näher liegen Lebensqualität und Lebensstandard, Wohlbefinden und materieller Konsum zusammen. Lebensqualität bestand im Deutschland des Jahres 1945 in einem Stück Brot, wasserdichten Stiefeln, einem reparierten Dach über dem Kopf. Je reicher Menschen werden, desto deutlicher entfernt sich die aufsteigende Kurve des Lebensstandards von der rasch abflachenden Kurve der Lebensqualität. Im Deutschland der siebziger Jahre hängt Lebensqualität eher davon ab, ob die Arbeit Freude macht oder nur Langeweile und Rückenschmerzen, ob der Kontakt mit anderen Anerkennung oder Demütigung einbringt, ob der Schlaf durch Lärm und das Abendessen durch das Telefon gestört wird.

Wenn ein Arbeiter statt 1300 DM 1500 DM im Monat nach Hause trägt, kann er sich damit etwas leisten, was er sich schon lange gewünscht hat, was ihm oder seiner Familie Freude macht. Es erhöht sich also in der Regel seine Lebensqualität. Wenn ein Manager statt 30.000 DM im Monat 40.000 DM verdient, so hebt dies allenfalls sein Prestige, seine Einstufung unter seinesgleichen. Mit der Qualität seines Lebens hat dies ansonsten nichts zu tun.

Primitivste Voraussetzung für die Qualität eines Lebens ist die Erhaltung des Lebens. Ein zusätzliches Stück Brot oder eine Handvoll Reis bedeutet in dieser Zeit für viele Millionen Menschen den Unterschied zwischen Tod und Leben. Gleichzeitig bedeutet, wie die Ärzte uns sagen, das zusätzliche Schweineschnitzel für viele Menschen in unserem Land den Unterschied zwischen Gesundheit und Krankheit, manchmal zwischen Leben und Tod.

Alles, was — im Bereich der Ernährung — auf dem Wege liegt zwischen dem Verhungern und einer ausreichenden und schmackhaften Ernährung, verbessert die Qualität eines Lebens. Was darüber liegt, erhöht zwar den Lebensstandard, mindert oder zerstört aber die Gesundheit und damit die Basis der Lebensqualität. Auch hier trennen sich die beiden Kurven von Lebensstandard und Lebensqualität, nur mit dem Unterschied, daß sich die Kurve der Lebensqualität nicht nur abflacht, sondern nach unten geht. Der Lebensstandard erhöht sich durch jede Art von Konsum, die Lebensqualität nicht.

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Was für den einzelnen gilt, läßt sich auch für ganze Gesellschaften zeigen: Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion in Indien bewirkt gleichzeitig Erhöhung von Lebensstandard und Lebensqualität. Erhöhung der Schlafmittelproduktion bei uns ist ein Zeichen — und gelegentlich auch die Ursache — für eine Reduzierung der Lebensqualität.

Hier soll nicht noch einmal dargestellt werden, wie willkürlich unsere Definition des Lebensstandards ist, welche Skurrilitäten die Statistik enthält. Später wird man auch den übersteigerten Individualismus unserer Gesellschaft an diesen Statistiken ablesen können. Wer hat schon zu errechnen versucht, inwieweit der Konsum des einen die Belästigung des anderen ist? Die Zigarette des einen ist doch der Kopfschmerz des anderen, das Auto des einen die Atemnot des anderen, der Motormäher des einen die Nervensäge des anderen. Schon weil dem so ist, können Lebensstandard und Lebensqualität nicht parallel laufen. Und sie tun dies um so weniger, je höher der Konsum ist.

Daß es ein Ausmaß des Konsums geben kann, an dem Gesellschaften zugrunde gehen können, haben uns die Studien des Klubs von Rom gezeigt. Und wenn auch keine einzige Zahl dabei exakt 'wäre, dies scheinen sie schlüssig bewiesen zu haben: Steigende Wachstumskurven können nicht nur dazu führen, daß die Schere zwischen Lebensstandard und Lebensqualität sich öffnet. Sie können die Erhaltung des Lebens selbst gefährden, weil die Lebensgrundlagen erschöpft oder zerstört werden.

Man hat bisher unter dem Thema Lebensqualität vor allem diskutiert, was ein Leben reicher, erfüllter oder menschlicher macht. Aber der Begriff zielt mindestens ebenso auf das, was Leben erhält, biologisches Leben, Überleben ermöglicht.

Diese scheinbar simple Feststellung hat brisante praktische Konsequenzen. Wenn rasches Wachstum des Konsums in Südasien oder Schwarzafrika, richtig verteilt, Leben erhält, rasches Wachstum des Konsums in Westeuropa unsere Lebensgrundlage gefährdet, wenn das erste die Lebensqualität enorm, das zweite im günstigsten Fall marginal erhöht, dann müßte sich daraus ablesen lassen, wo in den nächsten Jahren der Konsum deutlich steigen und was dafür getan werden muß. Wenn Lebensqualität in unserer Gesellschaft nicht davon abhängt, ob jemand im Jahr 200.000 oder 300.000 DM, wohl aber davon, ob jemand 15.000 oder 20.000 DM jährlich verdient, dann muß das Auswirkungen auf Einkommens- und Steuerpolitik haben.

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Auch wenn es richtig ist, daß in Entwicklungsländern Befriedigung der Grundbedürfnisse sich immer auch in Wachstum niederschlägt, ist Wachstum für diese Länder als Maßstab ihres Fortschritts nicht besser geeignet als für uns.

Wo Wachstum zur politischen Priorität erhoben wird, führt es meist zu rascher, kapitalintensiver Industrialisierung in einem oder mehreren Ballungszentren, die nicht ins Land hinein ausstrahlen, da sie genug zu tun haben, ihre eigene Infrastruktur aufzubauen und mit ihren krebsartig wuchernden Slums fertig-zuwerden. Die unterbeschäftigten oder arbeitslosen Massen in den vernachlässigten ländlichen Gebieten und in den Slums der Ballungszentren werden von diesem Wachstum nur insofern berührt, als sie einen Wohlstand demonstriert bekommen, der für sie unerreichbar bleibt.

Das Starren auf Wachstumszahlen führt in den meisten Entwicklungsländern zu völliger Frustration. Die Pakistani oder Burmesen haben wenig Lust, sich mit A.P. Thirwall darüber zu streiten, in welchem Jahrhundert des vierten (!) Jahrtausends ihr Land durch Wachstum Westeuropa »eingeholt« haben wird, zumal ein solches Einholen die Ressourcen der Erde total überfordern müßte.27) Was auf dieser Erde geschähe, wollten auch nur die heutigen Bewohner Südasiens so viel an fossiler Energie verbrauchen und an Abfall produzieren wie der Durchschnittsamerikaner, ist nicht auszudenken.

Der Abstand zwischen den Industrieländern und den meisten Entwicklungsländern, legt man Wachstumszahlen zugrunde, hat sich in den letzten Jahren rasch erweitert. Wenn die Menschen im Süden der Erde nicht resignieren sollen, müssen sie Maßstäbe finden, mit denen sie ihre Lebensqualität selbst bestimmen. Dies werden nicht unsere Maßstäbe für Lebensqualität sein, aber sie werden den unseren näher sein als dem Maßstab des Lebensstandards. Schon 1975 wird in den Vereinten Nationen der Fortschritt der Entwicklungsländer nicht mehr allein an Wachstumszahlen gemessen.

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  III  

 

Die meisten unserer nachdenklichen Mitbürger haben das blinde Vertrauen in den technischen Fortschritt verloren. Sie fühlen sich eher als hilflose Objekte eines technischen Prozesses. Schon die Definition von Technik als der produktiven Beherrschung und Verwertung der Natur durch den Menschen stößt auf Widerstand, denn die Umweltdiskussion hat gezeigt, daß wir die Natur in einer Weise beherrschen, die ein antiker Sklavenhalter für unrationell gehalten hätte, denn er hat seine Sklaven wenigstens so ausgebeutet, daß sie dabei gesund und arbeitsfähig blieben, während wir jahrzehntelang ökologische Kreisläufe durcheinandergebracht und zerstört haben, als könnten wir notfalls auch ohne natürliche Lebensgrundlagen auskommen.

Am radikalsten formuliert die Kritik an unserer Technik in den letzten Jahren Ivan Illich.28) Nach Illich ist das, was als Werkzeug gemeint war, dem Menschen längst aus der Kontrolle geraten. Er bezweifelt, daß wir den Wettlauf mit unseren Geschöpfen jemals gewinnen könnten, zumal immer komplexere Systeme solange weiterwuchern müßten, bis sie eines Tages zusammenbrechen. Überall gibt es Grenzen, die zu überschreiten dem Menschen abträglich ist, Grenzen der Geschwindigkeit, des Energieverbrauchs, der medizinischen Technik oder auch der Organisation von Bildung. Was Illich Re-tooling nennt, wäre der Versuch, das Verhältnis des Menschen zu seinen Werkzeugen völlig neu zu bestimmen, die Freiheit des Menschen gegenüber seinen Werkzeugen wiederherzustellen. Dabei geht es Illich wohl nicht um ein primitives »Zurück zur Natur«, wohl aber um ein Zurück — oder nach vorn? — zu einer dem Menschen gemäßeren Technik.

Bei allem Verständnis für diesen Ansatz, auch für die Skepsis gegenüber dem Versuch, mit technischen Remeduren ins Lot zu bringen, was die technische Entwicklung an Gefahren birgt, bleibt die Frage an den Politiker, ob er warten kann, bis die einzelnen technischen Systeme — und schließlich das technische Gesamtsystem — zusammenbrechen. Es könnte durchaus sein, daß wir dann nicht in einer humaneren Gesellschaft, sondern in einer faschistischen Diktatur landen, in der überforderte und verängstigte Bürger, von mächtigen Interessen manipuliert, Schutz suchen.

Politisch bietet sich etwas anderes an: Wenn Lebensqualität mit den realen Alternativen, mit realisierter Freiheit wächst, dann bedeutet dies unter anderem auch, daß alternative Technologien zu fördern sind, nicht, weil Regierung oder Parlament alleine zu entscheiden hätten, welches die »richtige« Technologie sei, sondern weil Alternativen das Gewohnte herausfordern, zur Rechtfertigung zwingen, korrigieren können; vor allem aber, weil sie den realen Freiheitsspielraum des Bürgers erweitern.

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Auch wenn es nicht möglich sein dürfte, die wachsende Erdbevölkerung ohne große Mengen von Kunstdünger zu ernähren, ist es wünschenswert, daß eine ganz andere Art von Landwirtschaft, die sich auf biologisch-dynamische Methoden stützt, an Boden gewinnt.

Auch wenn niemand die gängige Schulmedizin abschaffen will, wird es gut sein, sie immer stärker mit Alternativen zu konfrontieren. Das mag die traditionelle Homöopathie sein, aber auch die alte chinesische Medizin, die in ihrem Ursprungsland übrigens auch mit der westlichen Schulmedizin zu konkurrieren hat.

Niemand will und kann die industrielle Massenfertigung abschaffen. Trotzdem ist es gut, wenn Qualität und Geschmack der Massenproduktion immer wieder durch handwerkliche Fertigung angeregt und korrigiert werden.

Niemand wird in der Lage sein, dem Auto oder dem Schienenverkehr ihre Position streitig zu machen. Trotzdem sollten wir denen, die lieber zu Fuß gehen oder sich mit dem Fahrrad fortbewegen, die Chance geben, dies zu tun, ohne dabei alle Nachteile des Autoverkehrs ohne seine Vorteile zu genießen.

Niemand wird sich ein Leben ohne Großstädte vorstellen oder wünschen können. Trotzdem müssen wir alles tun, auf dem flachen Land Gemeinden zu entwickeln, die auf ihre Art mit der Attraktivität der Großstädte konkurrieren können.

Niemand kann sich eine Industriegesellschaft — oder auch eine nachindustrielle — vorstellen ohne funktionierende zentrale Energieversorgung. Aber warum sollen wir nicht den Versuch fördern, auf eine sehr einfache Weise Sonnenenergie für Heizung und Warmwasserbereitung zu nutzen?

 

  IV  

 

Es ist unbestritten, daß die Lebensqualität des einzelnen sich politischem Handeln entzieht und entziehen muß. Ob der einzelne am Sonntag skatspielen oder radfahren geht, ob es ihm im Wirtshaus, in der Kirche, im Konzertsaal, im Kegelklub oder auf dem Fußballplatz wohler ist, kann nur er selbst entscheiden. Er kann nicht einmal daran gehindert werden, das Dreifache der zuträglichen Fettmenge zu essen oder fünf Päckchen Zigaretten am Tag zu rauchen, soweit er den Rauch nicht anderen in die Nase bläst.

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Keine Regierung und kein Gesetz kann dem einzelnen verbieten, seine Gesundheit zu ruinieren. Aber der Staat muß all denen optimale Angebote machen, die dies nicht im Sinn haben.

Kurz: Politisches Handeln zielt auf die Qualität der Lebensbedingungen, nicht auf die Qualität des einzelnen Lebens2'. Es vernebelt die wirklichen Fragestellungen, wenn der Eindruck erweckt wird, hier sollten den Menschen ihre Lebenschancen verabreicht, zugeteilt werden. Es geht darum, daß sie mit ihrer Freiheit etwas anfangen können, daß die formale Freiheit der Entscheidung zu einer realen Freiheit der Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten humaner Verwirklichung wird.

Auch die Qualität der Lebensbedingungen läßt sich messen, wenn auch nicht so exakt wie jener Teil der Lebensbedingungen, den man Lebensstandard nennt30. Daß Lebensbedingungen um so günstiger sind, je geringer der Schwef eldioxydgehalt der Luft, je geringer die Phonzahl des zu ertragenden Lärms, je größer die Chance ist, in wenigen Minuten ein Naherholungsgebiet zu erreichen, dies alles ist nicht umstritten.

Es ist auch nicht umstritten, daß die Sicherheit und Qualität des Arbeitsplatzes, die Sicherheit vor Verbrechen, die Chance, auf einem klar definierten Rechtsweg in einem erträglichen Zeitraum sein Recht zu finden, ausreichende Versorgung im Alter oder bei Arbeitslosigkeit die Qualität der Lebensbedingungen ebenso bestimmt wie die Freiheit der Meinungsäußerung oder der Religionsausübung.

Gelegentlich sehr ernsthaft vorgebrachte Fragen wie die, ob eine hohe Scheidungsquote ein positiver oder ein negativer Indikator sei, sind ohne Belang. Wenn wir uns darüber nicht einigen können, lassen wir es getrost bleiben und konzentrieren uns auf andere Indikatoren. Im übrigen kommt es gar nicht darauf an, wieviele Ehen geschieden werden, sondern welche Chancen es gibt, heilbare Ehen zu erhalten und unheilbare zu scheiden.

Anders gesagt: Die meisten Indikatoren (Kennziffern) für Lebensqualität sind unstrittig. Strittig mag sein, wie sie im Verhältnis zueinander zu gewichten sind und ob es einen Generalnenner für die Qualität der Lebensbedingungen geben kann.31 Auch darüber lohnt kein Streit, denn die einzelnen Indikatoren reichen meist völlig aus für politische Entscheidungen. Und wo die Wissenschaftler sich nicht einig sind, müssen die Politiker Farbe bekennen: welche der denkbaren Wertungen die ihre ist, welche Prioritäten sie setzen.

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Als Alvin Toffler bereits 1970 nach Methoden suchte, die den von ihm erwarteten <Zukunftsschock> mildern könnten, kam er zu dem Ergebnis: 

»Man geht einfach davon aus, daß höheres Einkommen und größerer Wohlstand mehr Alternativen mit sich bringt, und mehr Alternativen wiederum mehr Freiheit bedeuten. Ist es nicht Zeit, diese Grundvoraussetzung unseres politischen Systems zu überprüfen? ... Ein empfindliches System von Indikatoren, ausgerichtet auf die Verwirklichung sozialer und kultureller Ziele und integriert mit wirtschaftlichen Indikatoren, ist Teil der technischen Ausrüstung, deren eine Gesellschaft bedarf, bevor sie in das nächste Stadium wirtschaftlich-technischer Entwicklung eintreten kann.«32)  

Man mag bestreiten, daß Wachstum zu den Voraussetzungen unseres ökonomischen oder gar politischen Systems gehört, zumal unsere Wirtschafts­wissenschaft sich bis zum Zweiten Weltkrieg viel mit »Gleichgewicht« und Stabilisierung der Konjunktur, fast gar nicht mit Wachstumsraten beschäftigte; daß Strukturkonservative einen Zusammenhang zwischen Wachstum und ökonomischer Macht sehen, zeigt die Polemik gegen jeden Versuch, vernünftigere Maßstäbe zu suchen.

 

  V  

 

Der Maßstab Lebensqualität wurde nötig, weil der Maßstab Lebensstandard nicht mehr annähernd auszusagen vermag, wie es Menschen geht. Heute wäre hinzuzufügen: In einer Zeit, wo — was immer wir davon halten — Wachstum, wenn überhaupt, nur noch sehr stockend stattfinden kann, endet das Starren auf Wachstumszahlen auch bei uns in Frustration.

Gerade jetzt verlangt Politik, wenn sie progressiv sein will, einen neuen Maßstab. Denn so sicher es ist, daß Wachstum in unseren Breiten nicht mehr automatisch mehr Lebensqualität bedeuten muß, so sicher ist auch, daß Sicherung und Verbesserung der Lebensbedingungen keineswegs nur bei stolzen Wachstumszahlen möglich ist. Wenn es uns nicht gelingt, Ziele zu setzen, die notfalls auch ohne Wachstum erreichbar sind, wird die Krise der Hoffnung zur Dauerkrise, wird progressive Politik unmöglich.

Die tiefste Schwäche der Strukturkonservativen in den letzten Jahren bestand darin, daß sie nicht mehr klarmachen konnten, was sie — abgesehen von ihrer Macht — bewahren wollten. 

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Nicht auszudenken, wo die Progressiven landen werden, wenn sie nicht mehr wissen, was Fortschritt ist. Noch schlimmer, wenn sie gar nicht wissen, daß sie es nicht wissen, oder gar meinen, sie brauchten es nicht zu wissen. Der politischen Rechten wird man es immer wieder nachsehen, wenn sie mit der Stange im Nebel herumfuchtelt und dabei Sachschaden anrichtet, der Linken nicht. Eine progressive Partei darf und muß sich darum streiten, was der Maßstab für Fortschritt und Rückschritt sei, und sie wird dabei immer wertkonservativer sein, als sie es sich eingesteht. Gibt sie es auf, nach einem solchen Maßstab zu suchen und ihn in der Diskussion zu präzisieren, gibt sie sich selbst auf.

Da verfängt auch nicht der Einwand, es gebe noch keine allgemein anerkannte wissenschaftliche Definition des Begriffs Lebensqualität. Wollten wir alle Begriffe aus dem politischen Sprachgebrauch eliminieren, für die es keine allgemeingültige wissenschaftliche Definition gibt, so gliche der politische Betrieb bald einem Trappistenkloster. Wichtig ist, ob ein Maßstab, ein Begriff anwendbar, in politische Prioritätsentscheidungen umsetzbar ist. Wäre der Begriff der Lebensqualität dies nicht, welchen Anlaß hätten dann die strukturkonservativen Vertreter mächtiger Interessen, dagegen zu polemisieren? Ihnen geht es nicht um Philologie, sondern um Macht. Sie wissen sehr gut: Es ist ein Unterschied, ob man Politik konzipiert unter der Fragestellung, wie wirtschaftliches Wachstum um nahezu jeden Preis erreicht werden kann, oder ob man Lebensqualität erhalten, wiederherstellen oder verbessern will und deshalb fragt, was dies an wirtschaftlichem Wachstum nötig mache, wo dieses Wachstum stattfinden und wie es aussehen müsse.

Um Mißverständnisse auszuschließen: Politik, die sich an Indikatoren für Lebensqualität orientiert — und deren stellt die Wissenschaft inzwischen immer mehr zur Verfügung —, zielt nicht auf Nullwachstum. Wenn es wahr ist, daß die Wachstumsstatistik die vernünftigsten und die widersinnigsten Zuwächse addiert — von zusätzlichen Einrichtungen und Dienstleistungen zur Gesundheitsvorsorge bis zu wachsender Produktion von Giften —, dann ist die Forderung nach Nullwachstum nicht überzeugender als die Forderung nach maximalem Wachstum. 

Abgesehen davon, daß wir Wachstum im bisher üblichem Umfang ohnehin nicht mehr haben dürften, ist die wirkliche Frage, ob wir Wachstum anstreben wollen, um nachher überrascht festzustellen, was dies — positiv wie negativ — für unsere Lebensqualität austrägt, oder ob wir Lebensqualität wollen und von daher entscheiden, welche Art von Wachstum — oder Nichtwachstum — wir dazu brauchen. 

Wachstumsdenken wird nicht dadurch konstruktiver, daß man es mit einem negativen Vorzeichen versieht. Wachstum muß zur Variablen von Lebensqualität werden, wie bisher unsere Lebensqualität im Guten wie im Bösen die Variable des Wachstums war.33)

Es gibt ernsthafte Wissenschaftler, die nachzuweisen versuchen, daß der Höhepunkt der Lebensqualität in Industrieländern längst hinter uns liege. Wer durch die Straßen von New York geht und sich von den verhärmten und verkrampften Gesichtern der Menschen deprimieren läßt, möchte es glauben. Auf keinen Fall wird es eine automatische Verbesserung der Lebensqualität geben. Wir werden uns Mühe geben müssen, die Bedingungen der Lebensqualität im einen Bereich zu verbessern und dadurch ihre Minderung im anderen so wettzumachen, daß am Ende ein kleines Plus bleibt. 

Und dies werden wir dann Fortschritt nennen. Wer naiv an den Fortschritt glaubt, kann nur allzu leicht im Rückschritt enden. Gefragt ist eine Politik, die Fortschritt will, obwohl er alles andere als selbstverständlich ist.

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  Ende oder Wende 1975  Von der Machbarkeit des Notwendigen  Von Dr. Erhard Eppler