6. Aufgabe und Legitimation
I
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Längst ehe uns die historische Zäsur der siebziger Jahre überraschte, stand es schlecht um das Verhältnis von Politik und Ethik in Deutschland. Bismarck und noch mehr die Leute, die an dem grobschlächtigen Bismarckbild des deutschen Bürgertums pinselten, lösten im Denken vieler Deutscher den Kurzschluß aus, beides verhalte sich zueinander wie Feuer und Wasser.
»Realpolitik« nannte man eine Politik, die alle geistigen und moralischen Realitäten übersah oder leugnete. Und wo jemand ein anderes Bild von Realität hatte, mußte Martin Luther herhalten mit seiner Warnung vor dem Schwärmertum.
Von August Bebel, der das siegestrunkene Deutschland vor der Annexion Elsaß-Lothringens warnte, bis zu Gustav Heinemann, der nicht an die Vereinbarkeit von NATO und deutscher Einheit glauben wollte, bewegt sich da ein stattlicher Zug von »Schwärmern« durch unsere Geschichte. Manche möchten sogar den Willy Brandt einreihen, der vor den Opfern des Warschauer Gettos kniete, obwohl er mehr Realität geformt hat als alle seine Kritiker zusammengenommen. Daß der Zug noch lange nicht zu Ende ist, weiß niemand besser als der Autor.
Wo etwas gründlicher nachgedacht wird, wirkt noch heute jener berühmte Vortrag Max Webers über <Politik als Beruf> nach, der die Unterscheidung zwischen »Gesinnungsethik« und »Verantwortungsethik« in die Diskussion eingeführt hat.
Wer heute diese Rede aus dem Revolutionswinter 1918/19, gehalten vor Münchner Studenten, nachliest, stellt fest, daß es sich hier keineswegs um eine ausgefeilte, nach allen Seiten abgesicherte Theorie, sondern um einige wenige, teilweise polemische Bemerkungen am Schluß seiner Rede handelt, die im übrigen — wie könnte es bei einem politischen Menschen anders sein — ganz unter dem Eindruck von Krieg, Niederlage und Revolution standen.
Weber wendet sich gegen Leute, die eine Gesinnung vor sich her tragen: »Die Welt ist dumm und gemein, nicht ich; die Verantwortung für die Folgen trifft nicht mich, sondern die andern...«39 Kein Wunder, wenn Weber feststellt, bei solchen Gesinnungsethikern handle es sich in neun von zehn Fällen um »Windbeutel«. Es ist auch mehr als verständlich, daß für Weber im Winter 1918/19 das entscheidende Mittel der Politik die »Gewaltsamkeit« ist, daß er alle verachtet, die davor die Augen verschließen wollen. Nur: Es wird Zeit, die Unterscheidung Webers daraufhin abzuklopfen, was sie für unsere Entscheidungen heute noch abwirft.
Was für Max Weber Gesinnungsethik oder auch absolute Ethik war, wäre für Dietrich Bonhoeffer überhaupt keine Ethik gewesen. Eine Haltung, die nach den Folgen nicht fragt und die ängstlich um das Heil der eigenen Seele kreist,40 mag eine besonders abstoßende Form von religiösem Egozentrismus sein, den Rang einer Ethik hat sie nicht. Was Weber über die absolute Wahrheitspflicht solcher Gesinnungsethik sagt, gilt für den privaten Bereich so wenig wie für den politischen. Wenn ein Kind vom Lehrer gefragt wird, ob sein Vater gestern abend wieder betrunken im Straßengraben gelegen habe, so ist nach Bonhoeffer die Antwort »nein« mehr »in der Wahrheit« als die Antwort »ja«, auch wenn der Vater wirklich im Straßengraben lag.
Letztlich ist jede Ethik, zumindest wenn sie christliche Wurzeln hat, Verantwortungsethik. Der Christ ist nicht aufgefordert, vor jeder denkbaren Sünde davonzulaufen und sein Gewissen zu salvieren, sondern sich um seinen Nächsten zu kümmern. Und diese christliche Einsicht ist bei der Säkularisierung unserer Ethik nicht verlorengegangen, sie ist eher noch deutlicher geworden. Was Max Weber für den privaten Bereich gelten lassen will, ist letztlich auch dort nicht legitim, und was er als das Besondere der Politik reklamiert, gilt letztlich überall, wo Menschen für andere Verantwortung tragen, also überall, wo Menschen einander begegnen.
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Es ist nicht wahr, daß »das spezifische Mittel der legitimen Gewaltsamkeit die Besonderheit aller ethischen Probleme der Politik bedingt«.41) Dies mag im Vordergrund gestanden haben, als der leidenschaftlich politische Gelehrte Max Weber 1919 zu seinen Studenten sprach. Und es mag immer wieder einmal im Vordergrund stehen. Natürlich hat der Politiker immer mit Macht zu tun, aber das hat der Unternehmer, der Verbandsfunktionär, der Richter und der Arzt auch. Und die Möglichkeiten, Macht zu mißbrauchen, sind heute außerhalb des im strengen Sinn politischen Bereichs zumindest nicht geringer als innerhalb.
Es ist nicht wahr, daß es einen prinzipiellen ethischen Unterschied gäbe zwischen der Verantwortung für eine Familie und der für eine Stadt, zwischen der Verantwortung für ein Amtsgericht und der für ein Ministerium. In jedem Fall sind Entscheidungen — und damit natürlich auch Fehlentscheidungen — nötig und möglich, die das Gewissen des Entscheidenden belasten müssen. Wer solche Entscheidungen nicht auf sich nehmen kann, ist als Gewerkschaftsfunktionär ebenso untauglich wie als Schulleiter, als Manager ebenso wie als Abgeordneter. Wer Entscheidungen für andere zu treffen hat — und dies hat irgendwann jeder, gerade auch in einer demokratischen Gesellschaft —, wird zuerst nach dem Wohl derer zu fragen haben, für die er entscheidet. Und dann wird er Mittel und Zweck gegeneinander abwägen müssen. Zwar wird dies um so schwieriger, je größer der Verantwortungskreis ist. Aber das sind graduelle, nicht prinzipielle Unterschiede. Auch der Tatbestand, daß der Politiker, wenn er wirken will, auf Vertrauen angewiesen ist, das immer neu errungen sein will, unterscheidet ihn nicht prinzipiell von einem Dirigenten, einem Maurerpolier, nicht einmal von einer Mutter oder einem Vater.
Es mag sein, daß Züge dessen, was Max Weber Gesinnungsethik nannte, auch heute noch gelegentlich Sichtbarwerden, etwa in einzelnen Studentenprotesten. Aber auch da handelt es sich meist darum, daß »gesinnungsethische« Parolen von Leuten ausgegeben werden, die — und dies auch noch zu Recht — von solcher Gesinnungsethik nichts halten. Andererseits wird die »Verantwortungsethik« immer mehr zu einer Fluchtburg, in die sich Politiker zurückziehen, wenn sie des Argumentierens müde sind, wobei dann die nicht weiter definierte Ethik sich gewissermaßen von selbst aus der Verantwortung ergibt.
Wenn Politiker sich mit der Gloriole der »Verantwortungsethik« umgeben, dann meist, urh Gegner in die Sektiererecke einer »Gesinnungsethik« zu verbannen. Aber eben dies verdeckt die wirklichen Fragen mehr, als es sie sichtbar macht. In Wirklichkeit geht es nicht darum, ob man Verantwortung durch Gesinnung ersetzen kann — das kann man weder in der Politik noch sonstwo —, sondern darum, wofür wir verantwortlich sind, wie weit unsere Verantwortung — zeitlich und räumlich — reicht und in welcher Weise wir diese Verantwortung wahrnehmen können.
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II
Für Max Weber war der Bezugsrahmen politischer Verantwortung der souveräne Nationalstaat. Er war nicht nur die Legitimationsbasis politischen Wirkens — das ist er heute noch —, er war auch Rahmen und Grenze für die politische Verantwortung, seine Macht und seine innere Ordnung waren Ziel der Politik. Was 1919 schon nicht ganz selbstverständlich war, ist es nach der Zäsur der siebziger Jahre noch weniger.
Die letzte verantwortliche Frage sei nicht, »wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern, wie eine kommende Generation weiterleben soll«, schrieb Dietrich Bonhoeffer Ende des Jahres 1942 aus dem Gefängnis. Lebte er noch, so müßte er heute wohl formulieren, »ob und wie eine kommende Generation weiterleben soll«. Denn inzwischen hat die Menschheit die Mittel, dieses Weiterleben durch Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen zunichte zu machen, sei es durch Krieg, sei es ohne Krieg. Das eine wissen 'wir seit den fünfziger Jahren, das andere seit den frühen siebziger Jahren.
Der Tatbestand, daß es nicht mehr nur um das Wie, sondern auch um das Ob geht, gibt aller Politik eine neue Qualität. Noch bis ins 18. Jahrhundert hat die Tagespolitik den Bauern oder Bürger kaum berührt. Sie wurden darüber auch nicht informiert. Da das Gesellschaftssystem selbst nicht in Frage stand, entschied sich politisch, welchem Herrscherhaus man welche Steuern zu bezahlen hatte, welche Feldzüge man über sich ergehen lassen mußte.
Das änderte sich gründlich im Zeitalter des nationalstaatlichen Imperialismus, bis schließlich über die soziale und dann auch physische Liquidierung ganzer Klassen oder Rassen politisch entschieden wurde. Aber noch im Frühjahr 1945, als Millionen von Soldaten sich kreuz und quer durch Europa nach Hause durchschlugen, war mancher davon betroffen, wie wenig die natürlichen Lebensgrundlagen vom Morden dieser Jahre berührt waren. Hier haben dreißig Jahre Frieden mehr zerstört als sechs Jahre Krieg. Und was nach sechs Stunden eines neuen Krieges noch übrig wäre, entzieht sich — glücklicherweise — unserer Vorstellungskraft.
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Wenn nach Carl Amery »nicht eine bessere, schönere, größere Zukunft, sondern die Zukunft schlechthin« auf dem Spiel steht, kann dies doch wohl die Maßstäbe politischer Ethik nicht unberührt lassen. Dies gilt umso mehr, wenn die Strukturen, in denen politische Entscheidungen getroffen — oder versäumt — werden, in einem grotesken Mißverhältnis zur Aufgabe stehen. Hier soll versucht werden, dies an drei Problemfeldern — die sich übrigens vermehren ließen —, deutlich zu machen.
III
Menschliche Entscheidungen waren immer belastet durch die Tatsache, daß unser Wissen nicht ausreicht für verantwortliche Entscheidung. Im besten Fall werfen wir eine Boccia-Kugel in Richtung auf ein klar definiertes Ziel. Wir wissen auch ungefähr, wie stark wir zu werfen haben. Aber wir 'wissen nicht, wieviele andere Kugeln wir mit unserem Wurf verschieben, möglicherweise das Ziel selbst. Und schon der nächste Spieler kann dafür sorgen, daß unsere Kugel so weit vom Ziel entfernt liegt, als hätten wir gar nicht gezielt. Jedes Handeln auf Zukunft hin riskiert nicht nur die Wirkungslosigkeit, sondern auch das Gegenteil des Gewollten.
Daran hat die Wissenschaft nichts gebessert. Im Gegenteil: Was sie zusätzlich an Entscheidungskriterien zu liefern vermag, steht in keinem Verhältnis zur gewachsenen Tragweite der Entscheidung. Konjunkturpolitische Beschlüsse müssen gefaßt werden aufgrund von Prognosen, die meist untereinander differieren und sich gelegentlich alle als falsch erweisen. Aber davon hängen die Arbeitsplätze von Millionen ab. Zur Frage, welche Dosis Radioaktivität schädlich sei, hat die Wissenschaft im Laufe der Jahrzehnte die verschiedensten Auskünfte gegeben. Zum Thema der Gefährlichkeit von Kernkraftwerken kann sich der Politiker heute jede Art von wissenschaftlichem Gutachten bestellen, weil er im voraus weiß, welcher Wissenschaftler welche Meinung vertritt. Zigaretten "waren vor zwanzig Jahren sicher nicht weniger gesundheitsschädlich als heute, nur gab es dafür keine durchschlagenden Beweise. Welche Medikamente auf längere Sicht welche Nachwirkungen haben, werden wir erst sicher wissen, wenn der Schaden irreparabel ist. Wo der Punkt liegt, an dem eine wirtschaftliche Wachstumsrate voll aufgebraucht wird für die Beseitigung der negativen Folgen eben dieses Wachstums, ist nach wie vor offen.
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Der Autor kennt nur wenige Fälle, in denen ein Wissenschaftler ihm eine politisch relevante Frage präzise und zuverlässig hätte beantworten können. Und auch dann war nicht auszuschließen, daß ein anderer Wissenschaftler zur gleichen Zeit oder wenig später abweichende Erkenntnisse anbot. Dies ist kein Vorwurf gegen die Wissenschaft. Aber es soll deutlich machen, wie weit wir auch dann von einer wissenschaftlich fundierten Politik entfernt wären, wenn der Politiker die Entscheidungsfreiheit hätte, dem Rat des Wissenschaftlers zu folgen. Zwischen dem wissenschaftlich Erkennbaren und dem politisch Machbaren klaffen drei verschiedene Lücken: Wissenschaftler wissen oft nicht, was sie wissen sollten, Politiker wissen meist nicht, was Wissenschaftler wissen, und wissen sie es ausnahmsweise, so haben sie meist nicht den Handlungsspielraum, daraus Konsequenzen zu ziehen. Dies aber bedeutet: Wir wissen meist gar nicht, wofür wir Verantwortung übernehmen. Wir wissen nur, daß wir sie zu übernehmen haben, denn auch Nicht-Handeln hat seine Folgen und will verantwortet sein.
IV
Wer unmittelbar politisch wirken will, muß dazu legitimiert sein. Diese Legitimation entsteht in westlichen Industrieländern durch nationale oder regionale Wahlen. Wenn aber über Ob und Wie des Überlebens nicht national, sonder global entschieden wird, entsteht hier eine Lücke zwischen dem, was zum humanen Überleben nötig wäre, und dem, was die Legitimationsbasis zu tun erlaubt. Solange der Appell an nationalen Egoismus und provinzielle Beschränktheit Mehrheiten verheißt — und dies ist normalerweise der Fall —, wird es in der Regel auch Politiker geben, die diesen bequemen Weg zur Macht zu gehen versuchen. Und wenn auch nur die Gefahr besteht, daß einer dies tut, ist für die anderen die Versuchung groß, ihm zuvorzukommen.
Wo es um das Überleben von Regierungen geht, sind Beiträge zum Überleben der Menschheit wenig gefragt. Und hier tut sich eine Kluft auf zwischen der notwendigen politischen Legitimation durch den Wähler — in anderen Regierungssystemen durch eine wenig artikulierte, aber spürbare öffentliche Meinung — und der ethischen Legitimation aus der Verantwortung dafür, ob und wie eine kommende Generation weiterleben soll. Der Raum, in dem politisches Handeln seine politische Legitimation findet, deckt sich nicht mehr mit dem, der dieses Handeln ethisch legitimieren könnte.
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Daraus ergeben sich Fragen:
Wie läßt sich die politische Legitimationsbasis, also das Bewußtsein der Mitbürger verändern?
Wie weit kann und darf sich der Politiker bei seinen Entscheidungen vom Bewußtsein seiner Wähler entfernen?
Oder brutaler:
Wieviele Millionen Tote am anderen Ende des Erdballs müssen in Kauf genommen werden, damit die Million Wähler gewonnen — oder gehalten — wird, die über die politische Macht im eigenen Land entscheidet?
Und umgekehrt:
Gibt es einen Punkt, an dem sich Wähler so überfordert fühlen, daß auch faschistoide oder faschistische Parolen eine Chance bekommen?
Praktisch:
Wie rasch kann in Westeuropa der Prozeß wirtschaftlicher Umstrukturierung vor sich gehen, der den Industrien der Entwicklungsländer eine Chance gibt?
Dürfen wir, die wir unsere Ölrechnung spielend bezahlen können, das Energiesparen andern überlassen, wohl wissend, daß dies dazu beiträgt, den Ölpreis so hoch zu halten, daß andere daran zugrunde gehen?
Können wir es wagen, in der Europäischen Gemeinschaft mehr Getreide anzubauen und weniger zu verfüttern, damit das Getreideangebot auf dem Weltmarkt größer wird?
Können wir es unserer Wirtschaft zumuten, aufgrund eines Rohstoffabkommens mehr für Kupfer oder Sisal zu bezahlen, als der Weltmarktpreis dies im Augenblick ausweist?
Dürfen wir die Steuern um das Fünfundzwanzigfache dessen senken, was wir an der Entwicklungshilfe einsparen?
Hinter all diesen Fragen steht die grundsätzliche:
Was will, kann und darf der Politiker riskieren, um einer Verantwortung gerecht zu werden, die das Bewußtsein derer überfordert, die ihn in die politische Verantwortung delegiert haben?
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Wenn der Raum, in dem politisches Handeln sich legitimieren muß, sich nicht mehr deckt mit dem Raum, in dem es sich ethisch legitimieren müßte, so gilt dies auch für die Zeit: Der Zeithorizont des Politikers, der Wahlen gewinnen will, unterscheidet sich gründlich von dem Zeithorizont, in dem gehandelt werden müßte, wenn es darum ginge, »ob und wie eine kommende Generation weiterleben soll.«
Es ist nicht wahr, daß Politiker heute kurzsichtiger wären als vor zwanzig oder hundert Jahren. Nur: Wir können uns Kurzatmigkeit heute weniger leisten als damals. Die Methode der Wahlgeschenke, in den fünfziger Jahren mit Virtuosität gehandhabt, war keineswegs nur für den politischen Gegner ärgerlich, der sich auf eine billige Weise ausgespielt sah. Und doch hat sie kaum irreparable Schäden hinterlassen. Wir hatten ja beliebig viel Zeit. Vor uns lag eine Zukunft raschen wirtschaftlichen Wachstums, stetig steigenden Wohlstands, unbegrenzter Möglichkeiten. Da ließ sich noch ganz anderes reparieren als die Tricks allzu schlauer Wahlkämpfer.
Heute stehen wir unter einem Zeitdruck, wie ihn die Menschheitsgeschichte noch nicht gekannt hat.
Auch wer unsere Chancen, mit den Krisen unserer Zeit fertig zu werden, optimistischer einschätzt als Meadows, Mesarovic oder Pestel, wird sich dem Eindruck nicht entziehen können: Für jeden Monat, in dem im Süden die Bevölkerungsexplosion ungehindert weitergeht, die Zahl der Arbeitslosen weiter wächst, tropische und subtropische Wälder rücksichtslos abgeholzt werden, fruchtbare Böden erodieren, verkarsten oder — bei uns — durch Uberdosen von Pestiziden vergiftet werden, knappe Rohstoffe oder Energieträger vergeudet, Meere vergiftet und Landschaften mit Beton überzogen werden, muß spätestens die nächste Generation bezahlen.
Solange es nur darum ging, ob die Zukunft noch besser sein könne, als sie sich durch die Fortschreibung der Gegenwart ohnehin zu ergeben schien, war kurzatmiges Fortwursteln eine von vielen fragwürdigen Methoden, Politik zu machen. Jetzt bedeutet das herkömmliche »muddle through« nicht mehr und nicht weniger, als daß 'wir unseren Kindern die Solidarität verweigern, von der wir so gerne reden.
Nach wie vor gibt es in der Bundesrepublik keinen Zeitpunkt, an dem die Aufmerksamkeit der politischen Parteien und ihrer Repräsentanten nicht durch irgendeine Wahl in Bund, Ländern oder Kommunen gefesselt wäre. Denken britische Politiker in Fünfjahresperioden, so schrumpft der politische Zeithorizont bei uns auf wenige Monate zusammen. Wer in einem Jahr mehrfach um seine politische Existenz kämpfen, sich von Wahl zu Wahl mühsam über Wasser halten muß, ist natürlich versucht, die Probleme der Zukunft seinen Kindern zu überlassen. Aber eben dies dürfen wir nicht, weil sie ihnen und uns bis dahin über den Kopf gewachsen sind.
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Natürlich ist dies auch eine Frage nach der Regierbarkeit von Staaten unseres Typs. Aber solange wir ein angemesseneres System nicht anbieten können, steht der Politiker immer vor folgenden Fragen:
Gibt es eine Möglichkeit, das mittel- und langfristig Nötige dem Bürger so nahezubringen, daß es auch das kurzfristig Verständliche und Akzeptable werden kann?
Mit wievielen längerfristigen Aufgaben darf man den Bürger konfrontieren, ohne daß er kopfscheu sein Heil in der Reaktion sucht?
Wieviel an Risiko für die kurzfristige politische Legitimation muß der Politiker auf sich nehmen, wenn er seiner längerfristigen Verantwortung einigermaßen gerecht werden soll? Anders gesagt: Die Frage, ob der politische Mandatsträger nur an vorhandenes Bewußtsein zu appellieren oder ob er selbst zur Bewußtseinsbildung beizutragen habe, wird aus einer Frage des politischen Geschmacks oder Temperaments zur Kardinalfrage aller Politik.
Willy Brandts Friedenspolitik war erfolgreich, weil er den Mut hatte, den Deutschen einen schmerzlichen Lernprozeß zuzumuten. Daß dies von Anfang an riskant war, daß die Chancen des Erfolgs oft geringer waren als die des Mißerfolgs, beweist nur den Rang der politischen Leistung.
Keine geringere Leistung wird nötig sein, soll die Gesellschaft der Bundesrepublik auf die Veränderungen in der Weltwirtschaft konstruktiv antworten. Niemand kann über Stimmungen und Strömungen in der Gesellschaft hinweggehen. Aber nur wer Strukturen konservieren will, kann sich einfach davon tragen lassen. Die Diskussion muß da beginnen, wo die Bürger unmittelbar betroffen sind: Wo sie sich um den Wert ihres Geldes, um die Sicherheit ihrer Arbeitsplätze, um ihre Gesundheit oder die Zukunft ihrer Kinder sorgen. Aber sie muß hinführen zum Konzept einer humanen Gesellschaft in einer tiefgreifend veränderten Welt.
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Solche Überzeugungsarbeit ist ebenso mühselig wie gefährlich, und manches wird auch nur durch praktisches Handeln der Legislative und der Exekutive bewußt zu machen sein.
Aber wer sich in unserer Zeit auf das beschränken will, was bereits populär ist, kann allenfalls das Bestehende solange verwalten, bis es sich auch nicht mehr verwalten läßt.
Es ist richtig: Wo die Frage nach der Machbarkeit nicht gestellt wird, bewegen wir uns nicht im Raum der Politik. Der Politiker wird sich um diese Frage nie drücken können.
Umgekehrt: Das Machbare zu machen, ist ein eingängiger, aber allzu bequemer Grundsatz. Wer nur machen will, wozu das Bewußtsein schon geschaffen — oder schon seit eh und je vorhanden — ist, oder gar nur, was sich aus der Mechanik des Bestehenden zwingend ergibt, engt seinen Handlungsspielraum so hoffnungslos ein, daß er das Notwendige nicht mehr tun kann.
Es reicht nicht, das Machbare zu machen. Es geht darum, machbar zu machen, was bislang noch nicht machbar erscheint. Es geht darum, durch politisches Handeln, gekoppelt mit sachlicher Aufklärung, Bewußtsein zu verändern und dadurch neuen Handlungsspielraum zu schaffen.
VII
Wir werden uns zu entscheiden haben:
— Erstens:
Halten wir die Krisen unserer Zeit für Betriebsunfälle oder Anzeichen einer historischen Zäsur?
Wollen wir uns an den Grenzen bewahren, die jetzt sichtbar werden, oder wollen wir sie ignorieren?
Ist für uns Wirtschaftswachstum ein von anderen Erwägungen unabhängiges Ziel oder die abhängige Variable anderer Ziele? Trauen wir uns zu, notfalls auch ohne Steigerung aller Realeinkommen Massenloyalität gegenüber der parlamentarischen Demokratie zu erreichen?
Wollen wir eine Politik, die vorhandenes Bewußtsein spiegelt, oder wollen wir durch politisches Handeln Bewußtseinsveränderungen vorantreiben?
— Zweitens:
Was wollen wir eher zur Disposition stellen, die Lebensgrundlagen unserer Gesellschaft oder ihre Machtstrukturen?
Wollen wir unsere Lebensbedingungen den Zwängen unseres Systems anpassen oder das System so modifizieren, daß unsere Lebensgrundlagen erhalten und verbessert werden?
— Drittens:
Wollen wir global oder national denken?
Wollen wir die Interessen der Dritten oder noch mehr der Vierten Welt in unsere Kalkulation einbeziehen, oder wollen wir nationale Interessenpolitik treiben?
Sagen wir ja zu den Strukturveränderungen in unserer Wirtschaft, die sich aus der veränderten internationalen Arbeitsteilung ergeben?
Es ist wohl deutlich geworden, welche Antworten der Autor für die richtigen hält. Wichtiger ist: Hier gibt es Zwangsläufigkeiten. Die Antworten sind aufeinander bezogen: Wer Wachstum der Realeinkommen um jeden Preis will, kann letztlich nur nationalistische Politik betreiben. Wer die Dritte Welt in seine Kalkulation einbezieht, kann die Krisen unserer Zeit nicht für Betriebsunfälle halten. Wer zu Verschiebungen in der internationalen Arbeitsteilung ja sagt, muß, ob er will oder nicht, Bewußtseinsänderungen anstreben.
Wer sich an diesen Fragen entschieden hat, muß sagen, wie er sich mittelfristige Krisenbewältigung vorstellt, die sich am Maßstab der Lebensqualität orientiert. Er muß sagen, wie die Grundwerte von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität hier und heute und in der überschaubaren Zukunft in praktische Politik zu übersetzen sind. Er kann kein perfektes Bild einer perfekten Zukunft entwerfen. Aber er muß zumindest an einigen Bereichen darstellen, in welcher Richtung er den Ausweg, vielleicht den Durchbruch sieht.
Er wird nicht flüchten dürfen in das, was eigentlich sein sollte. Er muß fragen, was machbar gemacht werden kann und muß, wenn wir es aufnehmen wollen mit den Angstmachern ebenso wie mit den Schönfärbern, mit den resignierten Zynikern ebenso wie mit den zynischen Zweckoptimisten.
Er wird für Reformen plädieren und jedem widersprechen, der sie auf eine Zeit nach der Krise vertagen will. Denn einmal ist eine Zeit ohne Krisen nicht in Sicht, zum andern kann man Reformen nicht wie Gefrierspinat in die Tiefkühltruhe stecken, um sie bei Gebrauch wieder aufzutauen, und drittens ist Reform etwas anderes als Volksbeglückung mit Hilfe unversiegbarer Geldquellen. Wer mit Reformen warten wollte, bis die Zeiten von 1969 oder 1970 wiederkommen, dürfte bis an sein Lebensende vergeblich warten. Die Frage ist nicht, ob wir uns nach dem Krisenmanagement auch wieder Reformen leisten können, sondern ob wir ohne Reform mit den Krisen fertig werden. Es geht nicht um Krisenmanagement statt Reform, nicht um Krisenmanagement vor Reform, sondern um Krisenbewältigung durch Reform.
Dies erfordert, nicht zu kurzfristig und nicht zu langfristig anzusetzen. Daher wird der Zeithorizont der folgenden Anregungen das Jahr 1980, also das Ende der 1976 beginnenden Legislaturperiode des Deutschen Bundestages sein. Damit soll nicht unterstellt werden, längerfristige Überlegungen seien überflüssig. Sie sind es weniger denn je, aber was bislang fehlt, ist ein Verbindungsstück zwischen kurzfristigem Krisenmanagement und Langzeitdiskussion. Daß die folgenden Vorschläge der Ergänzung und Vertiefung bedürfen, daß Vollständigkeit nicht einmal angestrebt werden konnte, versteht sich von selbst. Hier sollen keine Patentrezepte angepriesen, wohl aber soll eine dringend notwendige Diskussion in Gang gesetzt werden.
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Ende oder Wende 1975 Von der Machbarkeit des Notwendigen Von Dr. Erhard Eppler