7. Private und öffentliche Haushalte
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Unsere Einkommenshierarchien sind keineswegs so selbstverständlich und so natürlich gewachsen, wie uns unter Berufung auf das Leistungsprinzip eingeredet wird. Es gibt gute Gründe dafür, daß ein Chefchirurg wesentlich mehr verdienen muß als seine Operationsschwester, das Vorstandsmitglied eines großen Unternehmens wesentlich mehr als der Hilfsarbeiter, der Staatssekretär mehr als der Regierungssekretär, der Hochschulprofessor mehr als die Kindergärtnerin.
Aber stimmen die Relationen? Und warum ist es einmal das Dreißigfache — etwa zwischen Chefchirurg und Stationshilfe —, ein andermal das Dreifache — etwa zwischen Hochschullehrer (H4) und Kindergärtnerin (BAT Vc)? Daß dies weniger mit Marktpreisen als mit Interessenvertretung und Machtstrukturen zu tun hat, weist Galbraith überzeugend nach.(42)
Ohne ausländische Arbeiter hätten Unternehmer und Gewerkschaften längst der Frage nicht mehr ausweichen können, wie man die schmutzigsten, am wenigsten attraktiven Tätigkeiten finanziell interessant machen kann.
Und dann wäre auch die Frage aufgetaucht, inwieweit man Berufe, die menschliche Befriedigung bieten, auch finanziell so überdurchschnittlich honorieren muß, wie wir dies heute tun.
Aber hier geht es weder um den mehr als fragwürdigen Leistungsbegriff, mit dem unsere extremen Einkommensdifferenzen gerechtfertigt werden sollen, noch geht es um das unerschöpfliche Thema der gerechten Entlohnung. Hier geht es darum, wie Einkommenspolitik aussehen soll, wenn
der gehobene Konsum von heute nicht der Massenkonsum von morgen werden kann;
spürbarer Konsumzuwachs insgesamt nicht zu erwarten ist;
Verteilungsprobleme nicht mehr durch Wachstum entschärft, geschweige denn gelöst werden können;
hohe Inflationsraten vor allem Kleinverdiener treffen.
Über Gerechtigkeit mag man streiten. Über das, was man der Mehrheit der Bürger zumuten kann, müßte sich eher Einigkeit erzielen lassen. Auch die geschickteste Propaganda wird nicht einsichtig machen können, daß geringeres oder ausbleibendes Konsumwachstum für den einen Verzicht auf den Drittwagen, für den andern Verzicht auf die Waschmaschine bedeuten müsse. Wenn schon das Wachstum nicht mehr dafür sorgen kann, daß jeder einmal drankommt, muß erst einmal der Nachholbedarf da gedeckt werden, wo er — aus welchen Gründen auch immer — entstanden ist. Abgesehen davon, daß dies ökonomisch vernünftig ist, ist es politisch notwendig.
Es ist nicht anzunehmen, daß Arbeitnehmer bereit sein werden, immer größere Teile eines mehr oder minder konstanten Reallohns an die Krankenkassen abzuführen, wenn damit auch das überproportionale Anwachsen der Arzthonorare finanziert werden soll. Es ist nicht eben überzeugend, wenn unsere Unternehmer die Arbeitsplätze durch Lohnsteigerung und damit Gewinnminderung gefährdet sehen, solange Vorstandsmitglieder ein Mehrfaches des Bundeskanzlers verdienen können. Es ist nicht wahrscheinlich, daß der Steuerzahler weiterhin pauschal die Landwirtschaft subventioniert, solange die Diskrepanz zwischen landwirtschaftlichen Einkommen noch krasser ist als zwischen industriellen.
Dazu kommt eine Einsicht, die sich aufdrängt, wenn man sich längere Zeit in der Entwicklungspolitik engagiert hat: Weniger Ungleichheit zwischen Nord und Süd wird nicht zu erreichen sein, solange wir uns nicht um weniger Ungleichheit innerhalb der Länder des Südens und des Nordens bemühen. Warum sollte der deutsche Arbeiter auf einen noch so kleinen Teil seines Einkommens verzichten, solange ihm demonstriert wird, wie wenig sich eine möglicherweise auch noch korrupte Oberschicht im einen oder anderen Entwicklungsland um Hunger und Elend in ihrem Land kümmert und solange er auf Gruppen im eigenen Land verweisen kann, die, wenn da etwas zu opfern sein sollte, dann doch wohl mit gutem Beispiel voranzugehen hätten. Es ist kein Zufall, daß ein Land wie Schweden, das mit wesentlich geringeren Einkommensunterschieden auskommt, gegenüber Entwicklungsländern unvergleichlich viel konstruktiver und großzügiger handelt als die Bundesrepublik Deutschland.
Kurz: Eine Verringerung der Einkommensunterschiede wird zu einer Forderung der politischen Vernunft. Dies bedeutet:
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Reale Einkommenszuwächse sind in den nächsten Jahren auf die Gruppen zu konzentrieren, die einen starken Nachholbedarf an Konsum haben.
Die Einkommen der Mittelgruppen sind in ihrer Kaufkraft abzusichern.
Spitzeneinkommen, die das Fünffache eines Facharbeiterlohnes übersteigen, sind am nominalen Wachstum der Einkommen unterproportional zu beteiligen.
Praktisch: Die Zeit der rein linearen Einkommensverbesserungen muß zu Ende gehen.
Es gehört zum Ritual unserer politischen Diskussion, daß der Vorwurf der Gleichmacherei fällig ist, sobald man an geheiligte Einkommensrelationen rührt. Er wird auch diesmal nicht ausbleiben. Daher sei hier noch einmal Galbraith zitiert: »Entlohnung wird nicht vom Markt festgesetzt, sondern von Menschen ... Ist eine Hierarchie besonders tief gestaffelt, wie das bei einer ausgereiften Kapitalgesellschaft der Fall ist, muß der Unterschied in der Entlohnung zwischen denen ganz oben und denen ganz unten infolgedessen besonders groß sein.«
Was hier für eine Kapitalgesellschaft gesagt wird, gilt auch für die Hierarchien der Verwaltung oder der Krankenhäuser. In all diesen Fällen ist auch Macht im Spiel: »Steigt ein Mann in der Hierarchie auf, so erhält er mehr Macht. Zu dieser Macht zählt immer die Möglichkeit, auf sein eigenes Gehalt oder das der Führungsspitze, der er angehört, Einfluß zu nehmen.«43
Auffällig ist auch, daß der Vorwurf der Gleichmacherei aus denselben Gruppen kommt, die nicht genug die Gefahr der Akademikerschwemme beschwören können. Es geht nicht an, den hohen Wert handwerklicher Betätigung zu preisen, solange es akademische Berufe gibt, deren Durchschnittseinkommen beim Siebenfachen eines Facharbeiters liegt. Solange in unseren Schulen entschieden werden soll, ob ein junger Mensch später das Sechsfache oder Zehnfache seiner Kameraden verdienen kann, wird es auch keine humane Schule geben. Im übrigen: Wenn in dem rauheren Klima der kommenden Jahre etwas die Marktwirtschaft diskreditieren kann, dann ihre Unfähigkeit, offenkundig unsinnige Einkommensdifferenzen zu beseitigen.
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Die Konzepte einer Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand wurden für eine rasch und problemlos wachsende Wirtschaft entworfen. Nicht das bestehende, nur das zuwachsende Produktivvermögen sollte gerechter verteilt werden. Dazu wurden Dutzende von Modellen und ebenso viele Beweise erarbeitet, warum diese Modelle nicht funktionieren. Die Modelle hatten eines gemein: Vermögensbildung sollte nicht Erträge und Liquidität der Unternehmen zusätzlich belasten, sondern Anteile des Produktivvermögens — also im Normalfall Aktien — in die Hände von Arbeitnehmern übergehen lassen. Es ist bekanntlich für Erträge und Liquidät eines Unternehmens unerheblich, wem die Aktien gehören.
Die Unternehmer und ihre Presse haben dieses Konzept dadurch unterlaufen, daß sie die geplanten Verschiebungen im Vermögensbereich einfach den steuerlichen Belastungen zurechneten und die Addition beider für unzumutbar erklärten. Daß sie damit implizit Zweck und Ziel der Vermögensbildung ablehnten, haben sie selbst sicherlich besser gewußt als viele, die ihre Belastungsrechnungen übernahmen. Ob dies klug war, wird sich zeigen.
Als sich auch Karl Schiller diese Art der Rechnung zu eigen machte und im Sommer 1971 die Vermögensbildung vom Kabinettstisch fegte, war zu befürchten, daß daraus nichts mehr werden konnte: Für die sechste Legislaturperiode des Bundestages gab es keine Chance mehr, und in der siebten hatten die Arbeitnehmer andere Sorgen. Im übrigen erweist sich die Materie, über die seit zwanzig Jahren diskutiert wird, für die Administration als so komplex, daß ein Gesetzgebungsverfahren wohl auch im achten Bundestag nicht möglich ist.
Es ist nicht realistisch, anzunehmen, daß sich ein Konzept, dessen Verwirklichung in zwei dafür geeigneten Jahrzehnten nicht gelang, sich in einem dafür wesentlich weniger geeigneten durchsetzen wird. Die letzte Sternstunde der Vermögensbildung war 1971, ob eine neue kommen wird, darf man bezweifeln.
Vermögensbildung war nie gedacht als Alternative zur sozialen Sicherung. In einer Zeit rascher Strukturveränderungen in unserer Wirtschaft und damit permanenter Unsicherheit vieler Arbeitsplätze dürften die Arbeitnehmer nicht dafür auf die Barrikaden gehen, daß ihnen vom Ende der siebziger Jahre an durch ein umständliches Verfahren Anteile am Produktivvermögen zufließen, mit denen sie auch 1990 noch nicht allzuviel anfangen können.
* (d-2015:) wikipedia Karl_Schiller 1911-1994
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In den nächsten Jahren wird die Sicherung der Arbeitnehmer vor und bei Arbeitslosigkeit, die Absicherung ihrer Einkommen beim Wechsel des Arbeitsplatzes, der Abbau der extremsten Einkommensunterschiede, aber auch Mitwirkung und Mitbestimmung im Betrieb Vorrang haben vor der Vermögensbildung. Für die Frage, ob und wie in einer marktwirtschaftlichen Ordnung die Vermögen gerechter zu verteilen sind, könnte uns die Denkpause nicht schaden, für die sich Helmut Schmidt entschieden hat.
Es ist zu hoffen, daß die nächste Bundesregierung nicht auf Lösungen ausweicht, die direkt (Sparförderung) oder indirekt (624-DM-Gesetz) die öffentlichen Haushalte belasten. Ein Staat, der alljährlich 5 Milliarden DM seinen Bürgern auf ihr Sparkonto überweist und auf weitere 4 Milliarden Steuern verzichtet (1975), wenn Arbeitgeber ihren Arbeitnehmern vermögenswirksame Leistungen überweisen, macht keine gute Figur, wenn er sich gleichzeitig außerstande erklärt, dringend nötige Dienstleistungen zu finanzieren, die zu seinen unmittelbaren Pflichten gehören. Deshalb ist es nicht ratsam, das 624-DM-Gesetz in ein 936-DM-Gesetz umzuwandeln. Entweder man hat den Mut, Anteile des Produktivvermögens den Arbeitnehmern zu übertragen, oder man hat ihn nicht.
In seiner Analyse der Fiskalkrise in den meisten Industrieländern gibt James O'Connor zwei Gründe an, warum die Personalkosten in den öffentlichen Haushalten auf eine gefährliche Weise ansteigen:
»Zum einen ist der Produktionszuwachs relativ gering, und so muß ein steigender Anteil der gesamten Produktivkräfte in den staatlichen Sektor fließen, um ein gleichbleibendes Niveau der staatlichen Leistungen pro Einheit des Produktionszuwachses aufrechtzuerhalten. Zum andern sind die Löhne relativ hoch und steigen auch relativ schnell. Sie sind hoch, weil viele, wenn nicht die meisten staatlichen Leistungen gelernte und fachlich erfahrene Arbeitskräfte erfordern. Und sie steigen schnell, weil die Steigerungsraten tendenziell mit dem Produktivitätszuwachs im Monopolsektor verknüpft sind.«44
In der Bundesrepublik kam jener Faktor der Macht hinzu, auf den Galbraith hinweist: Kaum bemerkt von der Öffentlichkeit, wurden sogenannte Strukturverbesserungen durchgesetzt, die, zusammen mit den üblichen linearen Anhebungen, zu einem überproportionalen Ansteigen der Einkommen im öffentlichen Dienst geführt haben.45
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Es ist richtig, daß die akute Finanzklemme in mancher Kommune und mancher Behörde heilsam gewirkt hat. Es ist gut, daß die Diskussion über Stellenkegel und Beförderungsrhythmen, über Effizienz und Schwerfälligkeit bürokratischer Apparate heute nicht mehr auf resignierende Expertenzirkel beschränkt ist. Trotzdem: Wenn sich unangemessene Forderungen des öffentlichen Dienstes nur noch mit dem Hinweis auf gähnend leere Kassen zurückschrauben ließen, so wäre dies eine Bankrotterklärung jeglicher Politik.
Brauchten wir wirklich den bettelarmen Staat, damit die Beamten nicht zu reich werden, so wäre dies ein Armutszeugnis für die parlamentarische Demokratie und die politischen Parteien, wie es bissiger auch unsere geschworenen Gegner nicht formulieren könnten. Es ist reichlich billig, wenn politisch Verantwortliche heute darüber jammern, der Staat sei zum Selbstbedienungsladen der Beamten geworden. Irgend jemand muß dies doch wohl zugelassen haben. Es waren die Länderparlamente — unabhängig von den jeweiligen Mehrheitsverhältnissen —, die vor jeder Wahl irgendeine Gruppe höher stuften, was zwangsläufig die Empörung einer anderen Gruppe wachrief, die dann vor der nächsten Landtagswahl in einem andern Lande ihren Durchbruch erzielte. Es war der auf Sparsamkeit bedachte Karl Schiller, der entschied, daß drei Viertel aller Ministerialräte der Bundesregierung nach B 3 bezahlt werden.
Der deutsche Beamte hat in den letzten drei Jahrzehnten fast alle Privilegien aus dem Obrigkeitsstaat behalten und die Rechte des modernen Arbeitnehmers hinzugewonnen. Seine Besoldung kann sich mit entsprechenden Stellen in der gewerblichen Wirtschaft sehr wohl messen. Dazu hat er ein Maß an Sicherheit, das dem Arbeitnehmer der Wirtschaft fehlt, und seine — immer zahlreicheren — Beförderungen sind nur sehr teilweise von Leistungen abhängig. Wenn ein mittelmäßiger Oberregierungsrat nur um drei oder auch sechs Monate später Regierungsdirektor wird als ein besonders tüchtiger, dann darf man sich nicht wundern, wenn der Anreiz zu überdurchschnittlicher Leistung gering bleibt.
Wer Reform des öffentlichen Dienstes sagt, muß für ein Laufbahnrecht eintreten, bei dem nichts auf Dauer ersessen werden kann, bei dem der Befähigungsnachweis nicht nur einmal, sondern immer von neuem in der praktischen Arbeit erbracht werden muß. Ob dies in der Form geschehen soll, daß die Bestellung auf Lebenszeit sich nur auf die jeweilige Eingangsstufe bezieht oder zur Eingangsstufe nur widerrufbare Zulagen gewährt werden, ist unerheblich. Wie dringend eine Reform des öffentlichen Dienstes ist, wird unabhängig vom Parteibuch jeder — zumindest unter vier Augen — bestätigen, der ein Ministerium oder eine größere Behörde geleitet hat. Hier liegt eine der entscheidenden Reformaufgaben, die keine große Partei ohne oder gar gegen die andere durchsetzen kann.
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Die Sanierung der öffentlichen Haushalte kann allerdings nicht warten, bis die Reform des öffentlichen Dienstes abgeschlossen ist oder der Anteil der Personalkosten an den Haushalten wieder sinkt. Man mag es drehen und —wenden, wie man will: Mit einer Steuerlastquote, die - bereinigt - zwischen 22 und 23 Prozent des Bruttosozialprodukts pendelt, läßt sich die Bundesrepublik Deutschland noch nicht einmal ordnungsgemäß verwalten. Schuldaufnahmen der öffentlichen Hand in der Größenordnung von 70 Milliarden DM — 1000 DM pro Einwohner — in einem Jahr müßten, wenn sie nicht Ausnahme blieben, schon mittelfristig jede Regierung manövrierunfähig machen, weil Steuererhöhungen allein für die Verzinsung und Tilgung der Schulden unerläßlich würden.
Eine automatische Erhöhung der Steuerquote durch Preis- und Lohnerhöhungen ist vorläufig nicht zu erwarten. Wenn die öffentliche Verschuldung in einem — auch der nächsten Generation gegenüber — verantwortbaren Rahmen gehalten werden soll, ist auch bei sparsamster Haushaltsführung ein Steueranteil von 26 Prozent (um die Wirkungen des Kinderlastenausgleichs bereinigt 25 Prozent) nicht zu umgehen. Auch bei einer solchen Steuerquote läge die Nettokreditaufnahme der öffentlichen Hände noch hoch genug.
Hier rächt sich, daß die Steuerreform schließlich unter dem Druck der Verbände in einen Wettbewerb der Parteien um populäre Steuersenkungen ausartete. Da keine Partei bereit sein wird, einen Kurswechsel in der Steuerpolitik mit einem »mea culpa« oder doch wenigstens »nostra culpa« zu verbinden, dürfte es politisch nicht durchsetzbar sein, bei den direkten Steuern auch nur die Abstriche rückgängig zu machen, die gegenüber den Eckwerten Karl Schillers gemacht wurden.
Aber nicht nur dieser politisch-taktische Gesichtspunkt, auch die ökonomischen Fakten zwingen, das Instrument der indirekten Steuern auszubauen. Wenn Konsum und Investition bei bestimmten Gütern gedrosselt werden muß, bietet sich als marktwirtschaftliches Mittel die differenzierte indirekte Steuer geradezu an.
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Die Mehrwertsteuer wurde konzipiert in einer Zeit, wo von Steuerung, Differenzierung oder gar Bremsung von Wachstum nicht die Rede sein konnte. Sie sollte für den Fiskus einträglich, beim Grenzausgleich leicht handhabbar sein. Alle Waren und Dienstleistungen mit demselben Steuersatz zu belegen war aber schon 1968 nicht möglich. So einigte man sich auf den halben Satz für den Bereich von Nahrungsmitteln, Kultur und einigen Dienstleistungen, was übrigens bei den Lebensmitteln inzwischen zu Manipulationen mit dem Vorsteuerabzug geführt hat, die für die Landwirtschaft wesentlich günstiger sind als eine Befreiung von der Steuer.
Jetzt wäre der Zeitpunkt, einen dritten (doppelten) Mehrwertsteuersatz einzuführen für solche Güter, deren Produktion nicht im Interesse des Allgemeinwohls liegt. Dazu könnten Personenkraftwagen mit weit überdurchschnittlichem Benzinverbrauch, Elektrogeräte mit übermäßigem Stromverbrauch, aber auch Kunststoffe und Kunststoffprodukte gehören, deren Beseitigung extrem hohe Kosten verursacht. Zu denken wäre auch an Verpackungsmaterial, das vor allem die Müllbeseitigung beschäftigt, an umweltschädliche Wasch- und Reinigungsmittel, aber auch an Pelze von seltenen oder selten gewordenen Tieren.
Natürlich ergeben sich in solchen Fällen Abgrenzungsschwierigkeiten, die gerne als prohibitiv dargestellt werden. Aber wahrscheinlich ließen sich Kriterien erarbeiten, die weniger willkürlich wären als die für eine Luxussteuer — und auch solche lassen sich in andern Ländern finden.
Für die Administration ist eine generelle Erhöhung der Mehrwertsteuer wesentlich bequemer, und wahrscheinlich ist auch sie nicht zu umgehen. Aber wer Steuerung und Differenzierung von Wachstum und Konsum will, kann nicht das wirksamste und einfachste Mittel der Steuer zum Tabu erklären.
Die notwendige Steuerharmonisierung innerhalb der Europäischen Gemeinschaft ist kein Gegenargument. Andere Länder der Europäischen Gemeinschaft haben bereits eine stärker differenzierte Mehrwertsteuer, und sie werden davon wohl auch nicht abgehen. Die Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft sehen ausdrücklich vor, daß »bestimmte Lieferungen und bestimmte Dienstleistungen ... erhöhten oder ermäßigten Sätzen unterworfen —werden« können.46
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Im übrigen ist auch die Abgrenzung zwischen dem Normalsatz und dem halben Satz nicht unantastbar. Es könnte eines Tages durchaus sinnvoll sein, bestimmte Lebensmittel mit dem vollen Satz zu belegen (siehe das folgende Kapitel).
Ein anderer Ansatzpunkt sind die Verbrauchssteuern auf Alkohol und Nikotin. Die Ausgaben für Tabakwaren lagen in der Bundesrepublik Deutschland 1975 bei rund 15,9 Milliarden DM (rund 264,- DM pro Kopf), die für Alkohol bei rund 30 Milliarden DM (rund 484,- DM pro Kopf), zusammen also bei 45,9 Milliarden DM.47 Es soll hier nicht aufs neue der Streit darüber entfacht werden, ob die Steuern auf Tabak und Alkohol auch nur die Kosten aufwiegen, die durch Schäden aus diesen Genußmitteln dem Fiskus entstehen. Sicher ist, daß Produkte, bei denen die Steuer den größten Teil des Preises ausmacht, an der allgemeinen Teuerung nur unterproportional teilnehmen, wenn die Steuer auf Jahre hinaus dieselbe bleibt. Und es gibt zumindest keinen Grund dafür, warum etwa Zigaretten im Vergleich zu Brot oder Milch billiger werden sollten.
Haushaltspolitik wurde in den letzten Jahren überwiegend unter konjunkturpolitischen Gesichtspunkten betrieben. Obwohl die Zuwachsrate des Bundeshaushalts von rechts bis links als entscheidender Indikator für die Konjunkturpolitik gewertet wurde, gibt es keinen Beweis dafür, daß in den letzten 25 Jahren die Inflationsraten von diesen Zuwachsraten abhingen. Meist ging es beim Feilschen um Promille des Gesamthaushalts gar nicht um Konjunkturpolitik, sondern um Konjunkturoptik, bestenfalls um Konjunkturpsychologie. Der jeweilige Finanzminister wollte sich nicht nachsagen lassen, er habe durch eine überproportionale Steigerungsrate die Inflation geschürt. Er beugte sich einem Dogma, an das er selbst oft nicht glaubte. In jedem Jahr wurden mit konjunkturpolitischen Argumenten Haushalte zusammengestrichen, sei es, weil die Konjunktur zu gut, sei es, weil sie zu schlecht war; im Boom, um die Konjunktur zu bremsen, in der Rezession, weil die Steuern nicht mehr flössen. Und dies galt auch da, wo nachweislich keine unerwünschten konjunkturellen Wirkungen zu erwarten waren, weil die Ausgaben ganz oder überwiegend im Ausland getätigt wurden.
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Das — unbewiesene und bei wachsender Vermachtung der Märkte auch unbeweisbare — Dogma, daß die absolute Höhe des Staatshaushalts über monetäre Stabilität oder Instabilität entscheide, stranguliert jede mittelfristig angelegte Politik. Dabei ist es ökonomisch nicht erheblich, ob man durch Steuern an der einen Stelle Kaufkraft abschöpft, um sie an der anderen einzusetzen, ökonomisch erheblich ist, wie ein Haushalt finanziert wird und zu welchen Ausgaben er führt. Ein ganz durch Steuern finanzierter Haushalt mit hoher Zuwachsrate würde die Stabilität weniger gefährden als ein Haushalt ohne jede Zuwachsrate, der zu einem erheblichen Teil aus Krediten oder gar Geldschöpfung finanziert wird. Dies gilt besonders in einer Zeit, wo hohe öffentliche Kreditaufnahme ausländische Anleger anlocken muß. Ein wachsender Teilhaushalt, der Nachfrage mehr auf fremden Märkten als auf dem heimischen schafft, kann sogar dämpfend auf die nationale Konjunktur wirken.
Wenn Ressourcen knapp werden und wirtschaftliches Wachstum gegen Null tendiert, werden auch die öffentlichen Investitionen davon betroffen. Manches Prestigeprojekt wird dem Rotstift des Stadtkämmerers oder des Finanzministers zum Opfer fallen, und das ist gut so. Relativ zum privaten Konsum aber müssen die öffentlichen Investitionen nicht sinken, sondern steigen. Knappheit der Ressourcen bedeutet, daß in einem mittelfristigen Verkehrskonzept nicht nur die Kosten des Transports, sondern auch der Energieverbrauch zählen muß, und der ist eben beim öffentlichen Nahverkehr geringer als beim Auto. Wenn Knappheit der Ressourcen bedeutet, daß das beheizte Schwimmbad mit Sauna für jedermann nicht möglich ist, dann müssen eben genügend öffentliche Bäder und Saunen zur Verfügung stehen, auch wenn ihre Unterhaltung teuer ist.
So heilsam Finanzknappheit an manchen Stellen sein mag, die Parole, das Geld sei beim Bürger immer besser aufgehoben als bei der öffentlichen Hand, war objektiv noch nie so falsch wie heute.
Während es in keinem Fall möglich sein wird, auf dem Wege des privaten Konsums die Lebensqualität des einzelnen über ein bestimmtes — oft schon erreichtes — Maß hinaus zu verbessern, werden Kommunen, Länder und Bund alle Hände voll zu tun haben, um an der einen Stelle die Verschlechterung der Lebensbedingungen zu verhindern, an der anderen eine Verbesserung durchzusetzen.
Für die Haushaltspolitik müßte also gelten:
Die Ausgabenseite des Haushalts muß sich orientieren an der kontinuierlichen Bewältigung der öffentlichen Aufgaben.
Die Ausgabenseite der Haushalte kann daher nur insofern konjunkturpolitischen Erwägungen unterliegen, als die einzelnen Ausgaben verschiedene konjunkturelle Wirkungen haben.
Spürbare konjunkturelle Impulse können allenfalls über die Einnahmeseite des Haushalts ausgelöst werden.
Dies ist nur möglich, wenn in Zeiten guter Konjunktur die Haushalte fast ausschließlich über Steuern und Gebühren finanziert werden.
Dazu ist eine Erhöhung der Steuerquote um 2 bis 3 Punkte unausweichlich.
Diese Erhöhung muß gekoppelt werden mit dem Versuch, über gezielte indirekte Steuern Konsum und damit auch Investitionen zu lenken.
Gleichzeitig muß die stärkere Belastung des Bürgers da abgestoppt werden, wo sie in den letzten Jahren entstanden ist: bei den Sozialversicherungen, insbesondere der Krankenversicherung.
Die realen Steigerungsraten der Renten, die seit 1957 tendenziell über der Steigerungsrate der Löhne und Gehälter liegen, müssen den realen Steigerungsraten der aktiv Beschäftigten angeglichen werden.
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Ende oder Wende 1975 Von der Machbarkeit des Notwendigen Von Dr. Erhard Eppler