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8. Strukturpolitik, Arbeitsplätze  

 

 

  I  

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Es ist weder dem Zufall noch der Laune von Ideologen zuzuschreiben, wenn in den letzten Jahren immer intensiver über Methoden und Instrumente wirtschaftlicher Strukturpolitik, über direkte und indirekte Lenkung von Investitionen nachgedacht wurde. Die meisten Fachleute, die sich an diesem Nachdenken beteiligten, wußten sehr wohl, worauf sie sich eingelassen hatten: auf eines der dornigsten Themen moderner Politik. 

Die Einwände liegen auf der Hand: Wie sollen Investitionen von anderen Kräften als denen des Marktes in einer Wirtschaftsordnung gelenkt werden, die dem Unternehmer mit der Freiheit der Investitions­entscheidung auch die Verantwortung für die wirtschaftlichen Folgen seiner Investition auferlegt? Wer kann Marktchancen besser einschätzen als der Unternehmer? Soll dazu etwa eine neue Bürokratie aufgebaut werden?

Wenn solchen Einwänden zum Trotz das Thema nicht zu den Akten gelegt wurde, zeugt dies für seine Dringlichkeit. Die herkömmliche Arbeitsteilung der Weltwirtschaft, wonach es Länder gibt, die Rohstoffe liefern, und solche, die sie verarbeiten, bricht rasch zusammen. Sie hatte dazu geführt, daß die Industrieländer sowohl die Preise für Rohstoffe als auch die für Industriegüter und damit auch, zumindest gegenüber den Rohstoffländern, den Wert der Arbeitskraft bestimmt hatten, die aus den Rohstoffen Industrieerzeugnisse machte.

Einfuhrzölle, die mit jeder Verarbeitungsstufe anstiegen und für Fertigwaren häufig prohibitiv waren, sicherten diese Arbeitsteilung, die von den Entwicklungsländern um so mehr als Ausbeutung empfunden und bekämpft wurde, je drastischer sich die Bedingungen des Handels, die Terms of trade, zu ihren Ungunsten verschoben, je billiger also im Vergleich zu den Fertigwaren die Rohstoffe wurden.48

Daran hat sich zweierlei geändert: Einmal gibt es einige wenige Rohstoffe, die, allen voran das Öl, im Preis rasch gestiegen sind. (Andere sind inzwischen wieder rasch gefallen.) Zum anderen treten die sogenannten »Billiglohnländer«, darunter viele Entwicklungsländer, zunehmend als industrielle Konkurrenten auf, vor allem bei Waren, die ohne viel Kapital und hochgezüchtete Technologie arbeitsintensiv erzeugt werden können.

Die Bundesrepublik Deutschland wird von diesem Vorgang aus mehreren Gründen besonders betroffen: Feste Wechselkurse hatten bis 1971 dazu geführt, daß die Deutsche Mark unterbewertet, der Export aus der Bundesrepublik begünstigt, der Import erschwert wurde. Daher entstand bei uns eine Ballung industrieller Produktionskraft, die eine große Zahl ausländischer Arbeiter anlockte. Kein vergleichbares Land hat einen so hohen Anteil der Industrie am Sozialprodukt wie die Bundesrepublik. Jetzt, wo der Kurs der Mark sich am Markt bildet, erweist sich, daß in manchen Industriezweigen Überkapazitäten entstanden sind.

Nachdem die Europäische Gemeinschaft dazu überging, die Zölle für Fertigwaren aus Entwicklungsländern abzubauen, nachdem der Handel mit Osteuropa nur noch ausgeweitet werden kann, wenn auch von dort mehr Industrieprodukte eingeführt werden, nimmt der Prozeß der Umstrukturierung in unserer Wirtschaft ein Tempo an, das viele beunruhigt und erschreckt. Dazu kommt, daß im Bausektor und in der Automobilbranche der Markt nahezu gesättigt ist.

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Kommen zu solchen Strukturkrisen auch noch konjunkturelle Rückschläge, so verstärken sich beide gegenseitig: der konjunkturelle Rückschlag bringt Strukturschwierigkeiten ans Licht, die in der Hochkonjunktur unbemerkt blieben; die strukturelle Umschichtung vertieft die Rezession. 

Ein Beispiel: die Textil- und Bekleidungsindustrie. Seit Beginn der siebziger Jahre sah sie sich zunehmend der Konkurrenz billiger Baumwollerzeugnisse aus Entwicklungs- und Ostblockländern ausgesetzt. Aber erst als eine rigorose Hochzinspolitik zum Zweck der Konjunkturdämpfung die Kapitalkosten hochtrieb, häuften sich die Konkurse. Inzwischen sind diese Industrien nicht nur geschrumpft — im März 1976 arbeiteten dort nur noch 623.000  Arbeitnehmer,49 im September 1969 waren es 891.000 50 — sie haben sich auch umgestellt auf qualitativ hochwertige modische Artikel, mit denen sie nicht nur den heimischen Markt behaupten, sondern zunehmend in fremde Märkte eindringen können. Nach diesem Modell dürften sich auch andere Umstrukturierungen vollziehen: Nicht ganze Branchen, sondern einzelne Fertigungen innerhalb einer Branche werden verschwinden. Dabei ist es nicht entscheidend, ob deutsche Firmen Produktionen verlagern oder einfach aufgeben. In jedem Fall werden die bei uns nicht mehr produzierten Güter oder Halbfertigwaren importiert werden müssen. Und in jedem Fall wird anderswo Nachfrage nach Investitionsgütern entstehen, die bei uns wieder Arbeitsplätze schaffen kann.

 

  II  

 

Die Frage nach einer wirksameren Strukturpolitik läßt sich auch so formulieren: Müssen wir es hinnehmen wie Blitz oder Hagelschlag, daß in unserer Wirtschaft immer wieder, wie in der Automobil- oder Baubranche, überschüssige Kapazitäten aufgebaut werden, die dann, unter beträchtlichen Opfern für die Arbeitnehmer, überstürzt wieder abgebaut werden müssen, meist in einer Zeit ohnehin unsicherer Arbeitsplätze? Ist es völlig unmöglich, Marktsättigungen oder Einwirkungen vom Weltmarkt her so frühzeitig vorauszusehen, daß weniger Ressourcen vergeudet und rechtzeitig neue Arbeitsplätze geschaffen werden können? Sollten wir wirklich nicht in der Lage sein, heute zu sagen, welches in den nächsten zwei oder vier Jahren die wachsenden, welches die stagnierenden, welches die umzustrukturierenden und welches die schrumpfenden Branchen sein dürften? 

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Und ist es verboten, sich Gedanken darüber zu machen, ob es nicht auch Produktionen gibt, deren Wachstum oder deren Schrumpfung im Allgemein­interesse liegt, etwa, weil ihre Produkte die Umwelt unterdurchschnittlich oder überdurchschnittlich belasten oder weil sie besonders wenig oder besonders viel Energie verbrauchen?51

Für die meisten, die darüber nachgedacht haben, ist heute unstrittig, daß der Markt als Steuerungsinstrument für Investitionen nicht ersetzbar ist, also eine totale Angebotssteuerung durch die öffentliche Hand nicht funktionieren kann. Keine staatliche Stelle kann verordnen: soviel Autos, Möbel oder Bücher werden produziert. Eine solche totale Angebotssteuerung, darauf hat Heinz Rapp52) mit Recht verwiesen, ließe sich nicht einmal mit dem freien Tarifvertrag vereinbaren. Thomas von der Vring warnt: »Interventionen des Staates, die die Entscheidungsfreiheit der Unternehmer zwar aufheben, deren Wirtschaften gleichwohl vom Markt abhängig lassen, werden einen wirtschaftlich nicht durchhaltbaren ... Widerspruch provozieren.«53)

Daß es ohne Steuerung durch den Markt nicht geht, leuchtet ein. Daß es allein mit der Marktsteuerung nur um den Preis schwerer Erschütterungen geht, erleben wir gegenwärtig. Daher plädiert Rapp für die »selektive Angebotssteuerung«. Und dies ist letztlich auch die Position, die sich im zweiten Entwurf eines ökonomisch-politischen Orientierungsrahmens für die Jahre 1975 bis 1985 durchgesetzt hat: »Der Markt ist ein gegenwartsbezogenes Instrument der Produktionsabstimmung, auf zukünftige Entwicklungen stellt er sich nur insofern ein, wie sich diese schon in der absehbaren Nachfrageentwicklung niederschlagen. Deshalb kann die Entwicklung zukunftsträchtiger Branchen oder die Schrumpfung bestimmter Produktionen nicht allein den Marktkräften überlassen bleiben.«54

Wo das Ob nicht mehr umstritten ist, beginnt die Frage nach dem Wie, die Suche nach den Instrumenten. Dabei stellen wir fest, daß es schon eine große Zahl von Instrumenten gibt, die wir entweder gar nicht oder unkoordiniert nutzen. Rapp -weist darauf hin, daß schon im Stabihtäts- und Wachstumsgesetz der Großen Koalition die Bundesregierung den Auftrag erhielt, mehrjährige Bedarfsschätzungen und Investitionsprogramme für den staatlichen Bereich vorzulegen, auch für die Finanzierungshilfen des Bundes für »Investitionen Dritter« (§ 10). Diese mehrjährigen Investitionsprogramme sind nach geltendem Recht in Dringlichkeitsstufen zu gliedern und zu einem Gesamtprogramm zusammenzuführen.

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Man mag auch bestreiten, ob der Bund bislang die Einflußmöglichkeiten auf die Kreditanstalt für Wiederaufbau so genutzt hat, wie es ihm nach dem Gesetz zustände.

Ähnlich steht es mit der Steuerpolitik: Bisher gibt es zwar steuerliche Investitionshilfen, aber schon der Gedanke, man könne die Investitionssteuer auch nur zeitweise nach Sektoren differenzieren, stößt auf erbitterten Widerstand, weil dadurch ein Mittel der Globalsteuerung strukturpolitisch genutzt werden soll.

Auch wenn man, um Investitionen von bestimmten Branchen abzuhalten, den Mehrwertsteuersatz statt zweifach in Zukunft dreifach differenziert, ist dies kein neues Instrument, sondern die vernünftige Anwendung eines längst bestehenden.

Es gibt heute schon die Anzeigepflicht für Investitionen je nach Umfang, Art oder Standort. Es gibt Investitionsauflagen, z.B. unter Gesichtspunkten des Baurechts oder des Umweltrechts. Es gibt örtlich sogar Investitionsverbote in Form von Ansiedlungsverboten.

 

  III  

 

Fragt man, warum vorhandene Werkzeuge bislang so wenig eingesetzt wurden, so stößt man auf zwei Hindernisse. Zum ersten auf die Schwierigkeiten in der Prognose. Sie liegen nicht nur darin, daß eine Unzahl von Faktoren, die gegenseitig aufeinander einwirken, jede Prognose riskant machen, sondern auch in der Qualität unseres Instrumentariums. Daher fordert der Entwurf zum Orientierungsrahmen: »Die vordringliche Aufgabe besteht in einem systematischen Ausbau des Instrumentariums zur wirtschaftlichen Diagnose und Prognose und in einer Verbesserung der öffentlichen Planungsorganisation. Mit Hilfe besserer und stark differenzierter Prognosen der mittel- und langfristigen Entwicklung wird das schon bestehende Instrumentarium erfolgreicher eingesetzt und die Voraussetzung für den sinnvollen Einsatz neuer Instrumente geschaffen.«  "

Und an anderer Stelle: »Sektoral differenzierte Status-quo-Prognosen sollen unter Einbeziehung der voraussichtlichen Entwicklung der internationalen Arbeitsteilung über die Entwicklungschancen der einzelnen Sektoren und über evtl. drohende strukturelle Schwierigkeiten Auskunft geben.

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Auf dieser Grundlage entwickelte Prognosen können Voraussetzungen für einen Orientierungsrahmen der privaten Wirtschaft und für eine Programmierung der Strukturpolitik liefern.«'6

So undankbar die Aufgabe ist, Prognosen zu stellen: wenn "wir davor kapitulieren, brauchen wir von Strukturpolitik nicht mehr zu sprechen. Sie ist dann allenfalls ein Hinterherkeuchen hinter Krisenerscheinungen, eine Feuerwehr, die erst eintrifft, wenn vom brennenden Gebäude nicht mehr viel zu retten ist. Im I übrigen: Auch ökonomische Laien konnten sehen, daß die Baubranche übersetzt war. Es gehörte kein Sachverstand dazu, ein- '< zusehen, daß in der Bundesrepublik nicht in dem Tempo weitergebaut werden konnte, an das wir uns nach dem Zweiten Weltkrieg gewöhnt hatten. Und es gehörte schon 1972 keine Prophetengabe zu der Prognose, daß die Wachstumsraten der Automobilindustrie einmal auslaufen würden.

Das zweite Hindernis liegt darin, daß wir uns im Grunde nicht darauf einigen können, was wir wollen. Es kommt darauf an, ob wir wirklich wollen, was Thomas von der Vring »die öffentliche Beeinflussung der Qualität der Produktion im Interesse der Verbraucher« nennt. Dem wäre hinzuzufügen: nicht nur im unmittelbaren Interesse der Verbraucher, sondern auch im Interesse der natürlichen Lebensgrundlagen, auf die diese Verbraucher und ihre Kinder angewiesen sind. Wollen wir einfach »Wachstum«, ganz gleich, wo, wie und mit welcher Wirkung auf die Lebensqualität es vor sich geht, oder wollen wir die Rohstoff nut-zung verbessern, Energie sparen, Umwelt schonen, weniger gesundheitsschädliche Arbeitsplätze schaffen, »weicheren« Technologien eine Chance geben? Solange zumindest in den zuständigen Bürokratien des Bundes und der Länder überwiegend Wachstum schlechthin angesteuert wird, ist der Streit um Instrumente qualitätsorientierter Strukturpolitik müßig. Sobald wir uns entschließen können, nach den Qualitäten dessen zu fragen, was da wachsen oder auch schrumpfen soll, lassen sich die alten Instrumente einsetzen, und neue werden sich anbieten.

 

  IV  

 

Etwas anders liegt es bei der regionalen Strukturpolitik. Es gibt Bundesländer wie Baden-Württemberg, wo seit mehr als zwanzig Jahren von fähigen Beamten Landesplanung betrieben wird. Sie hat sich schließlich in einem Landesentwicklungsplan verdichtet, dem im Sommer 1971 vom Landtag gesetzliche Verbindlichkeit verliehen wurde. 

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Der zuständige Innenminister, der mit viel Fleiß und Geduld diesen Landesentwicklungsplan über unzählige Hürden gebracht hat, schreibt in einem Vorwort dazu, dieser Plan unterscheide sich von anderen »Planwerken« durch seine »gesetzlich begründete Verbindlichkeit für alle öffentlichen Stellen«.

Aber eben: nur für alle öffentlichen Stellen, und auch dem Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden ist dadurch nur ein weiter Rahmen gesetzt. Der Staat kann Bauleitplänen die Genehmigung verweigern. Wer heute durchs Land fährt, wird feststellen, daß die wirkliche Entwicklung sich wenig um den Landesentwicklungsplan gekümmert hat. Da wurde in den Ballungsgebieten munter weiter verdichtet, die Randgebiete haben sich weiter entleert, Einkaufszentren sind auf die grüne Wiese gebaut worden, Innenstädte veröden.

Offenbar fehlt es an Instrumenten, das als richtig Erkannte auch durchzusetzen.

Wahrscheinlich werden wir ohne Flächensteuerung nicht durchkommen, eine Steuerung also, die eine weitere Ansiedlung bestimmter Produktionszweige in klar abgegrenzten Ballungsräumen grundsätzlich verbietet. Dies engt den Entscheidungsspielraum des Investors drastisch ein, aber es hebt seine Entscheidungsfreiheit nicht auf. Der Staat stellt fest, wo was investiert werden kann. Der Unternehmer selbst entscheidet, ob und wo er investiert.

Regionale Strukturpolitik ist zu einem guten Teil Verkehrspolitik. Das Schlüsselwort dafür lautet seit Jahrzehnten: Erschließung. Das Ziel dieser Erschließung wird in den Entwicklungsplänen meist in der Weise formuliert, das Gebiet sei so »in seiner Entwicklung zu fördern, daß es am allgemeinen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Fortschritt teilnimmt«. Dieser Fortschritt wird meist als Abfallprodukt von Industrialisierung verstanden, und dies in einem Land, das ohnehin einen gefährlich überhöhten Industrialisierungsgrad erreicht hat.

Wer fragt eigentlich, ob z.B. das Bodenseegebiet demnächst nicht so gründlich erschlossen wird, daß da schließlich für den Urlauber nichts mehr zu erschließen ist? Es gibt eine Art der Erschließung, die den Charakter des Erschlossenen zerstört, einer Region den Atem nimmt. Unter diesem Aspekt wären die Verkehrsplanungen der späten sechziger Jahre zu überprüfen, wo dies noch möglich ist. Dabei wäre zu bedenken, daß Straßen und Autobahnen immer gebaut, Landschaften aber nur einmal und dann für immer zerstört werden können.

Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ist nicht gleichförmige Industrialisierung. Es kann durchaus Regionen geben, wo das Lohnniveau unerheblich niedriger, die Lebensqualität erheblich höher liegt als anderswo. Nicht nur für Entwicklungsländer, auch für uns selbst brauchen wir einen neuen Begriff von »Entwicklung«.

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  V  

 

Es wäre wenig realistisch, wollten wir aus diesen Überlegungen die multinationalen Konzerne ausklammern. Sie sind nicht die Ausgeburt des Bösen, aber sie sind Machtfaktoren,* die dafür sorgen können, daß manche einleuchtende Rechnung nicht aufgeht.

Wie die Multinationalen unempfindlich sind gegen höhere Löhne, solange sie die Preise diktieren können, gegen höhere Zinsen, solange sie sich außerhalb der nationalen Grenzen mit Kapital versorgen können, gegen nationale Konjunkturpolitik, solange sie international disponieren können, so sind sie auch in hohem Maße unempfindlich gegen nationale Wettbewerbspolitik, solange sie Märkte beherrschen, und gegen nationale Strukturpolitik, solange sie sich Auflagen oder Steuern durch Verlagerung von Investitionen oder Gewinnen entziehen können.

Die Macht der multinationalen Unternehmen beruht nicht so sehr auf ihrer Größe als auf ihrer internationalen Struktur. Gewerkschaften, Regierungen, Kontrollapparate, Wettbewerbsordnungen sind auch heute noch national organisiert.

Daher haben die Multinationalen keinen ebenbürtigen Gegenspieler. In Entwicklungsländern kann dies dazu führen, daß multinationale Konzerne unmittelbar Regierungen stützen oder stürzen können, auch wenn nicht alle Multinationalen so hemdsärmlig eingreifen wie ITT. In Industrieländern können sie sehr wohl Gesetze beeinflussen, und wenn ihnen dies nicht gelingt, auch Gesetze ignorieren.

Die Multinationalen bestimmen auch sehr weitgehend die Richtung des technischen Fortschritts und damit auch der Strukturveränderungen. Die Hälfte aller in der Bundesrepublik ausgegebenen Forschungsmittel 'werden von der Privatwirtschaft, überwiegend von Großkonzernen aufgebracht, 60 Prozent aller Forschungsmittel werden im Wissenschaftsbetrieb der Unternehmen verwendet, da auch staatliche Mittel für die Forschung der Industrie zur Verfügung gestellt werden.57

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Gerät ein multinationaler Konzern - und dazu gehört heute auch VW - in Schwierigkeiten, so ist wiederum die nationale Strukturpolitik gezwungen, einzugreifen. Auch wenn die Multinationalen sich nationaler Strukturpolitik entziehen können, sie können sehr wohl nationale Strukturprobleme schaffen.

Weder eine Fülle von Untersuchungen und Anhörungen noch eine Studiengruppe der Vereinten Nationen hat bislang zu diesem Thema etwas vorgeschlagen, was zugleich durchgreifend wirksam und praktikabel wäre. Solange multinationales politisches Handeln auf allen Gebieten in Ansätzen steckenbleibt, dürfte sich dies kaum ändern. Es gibt Teilvorschläge, etwa den von Thomas von der Vring: 

»Der Staat muß erstens in der Lage sein, den Tatbestand der Marktbeherrschung... so festzustellen, daß langwierige gerichtliche Prozesse ausgeschlossen werden. Er muß ferner in der Lage sein, solchen Unternehmen bestimmte Kalkulationsweisen und Verfahren der Preisbildung vorzuschreiben und deren Einhaltung zu erzwingen, ohne die juristische Beweislast zu haben. ...«58

Auch wenn angemessene Mittel gegen die Macht der multinationalen Unternehmen nur international zu schaffen sind, werden wir versuchen müssen, national zu tun, was national getan werden kann. Wenn auch nur die zitierten Anregungen durchzusetzen wären, die praktisch auf eine Stärkung der Befugnisse des Bundeskartellamtes hinauslaufen, so wäre dies ein beachtlicher Erfolg.

Ob es solche Erfolge gibt, ist weniger eine Frage der technischen Machbarkeit als der politischen und wirtschaftlichen Macht. Die Autorität des parlamentarisch-demokratischen Nationalstaates gegenüber seinen Bürgern wird nur zu retten sein, wenn der Bürger die Hoffnung nicht aufgeben muß, daß dieser Staat sich auch gegen Multinationale durchzusetzen 'weiß.

 

  VI  

 

Seit der Rezession 1974/75 wissen wir wieder, daß Vollbeschäftigung sich nicht von selbst ergibt. Aber die Rezepte, die wir dafür hören, stammen aus der Zeit vor der Zäsur. Es wird uns vorgerechnet, wie stark die Investitionen wachsen müßten, damit alle Arbeit haben. Nun wird niemand bestreiten wollen, daß ein hohes Maß an Investitionen nötig ist, wenn ein Land mit dem Einkommensniveau der Bundesrepublik sich auf internationalen Märkten behaupten will. 

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Nur: Eben weil Investitionen um der Konkurrenzfähigkeit willen nötig sind, müssen sie zu einem beträchtlichen Teil der Rationalisierung dienen, also mehr Arbeitsplätze wegrationalisieren als neue schaffen.

Rationalisierung hat es gegeben, seit die industrielle Revolution begann. Dafür wurden immer neue Arbeitsplätze geschaffen. Trotzdem ist es unwahrscheinlich, daß sich auch in Zukunft alles von selbst einspielt. In vielen Branchen werden wir die Produktivität aus Gründen der internationalen Konkurrenz rascher steigern müssen, als wir die Produktion aus Gründen der Marktsättigung steigern können. Es ist z.B. durchaus möglich, daß unsere Uhrenindustrie ihre Märkte einigermaßen'behaupten kann. Aber dazu wird sie nicht einmal die Hälfte der Menschen beschäftigen können, die dort noch vor wenigen Jahren Arbeit fanden. Es wird ihr nicht gelingen, die Produktion in dem Maße zu steigern wie die Produktivität. Das heißt: Wir produzieren arbeitsfreie Zeit. Daher zielen alle Prognosen in dieselbe Richtung: Es wird weniger Arbeit im produzierenden Bereich geben. Dieser Vorgang wird in Jahren guter Konjunktur einigermaßen überdeckt, von Rezession zu Rezession aber wird er deutlicher sichtbar und dramatischer spürbar.

Soll daraus nicht wachsende strukturelle Arbeitslosigkeit werden, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Die eine ist der Versuch, die verbleibende Arbeit gleichmäßiger zu verteilen, also generelle Arbeitszeitverkürzung, sei es in Form von weniger Wochenstunden, mehr Urlaub, längeren Ausbildungszeiten oder Herabsetzung des Rentenalters. Wer dies propagiert, will den Rationalisierungsfortschritt nicht mehr in Form höherer Löhne, sondern in Form von mehr Freizeit weitergeben. Dieser Effekt tritt in jedem Fall ein: bei weniger Wochenstunden mit oder ohne Lohnausgleich, aber auch bei längeren Ausbildungszeiten oder früherem Rentenalter, die von der kleiner werdenden Gruppe der Arbeitenden zu finanzieren sind, sei es über Steuern oder über höhere Beiträge zur Rentenversicherung. 

Dabei darf nicht vergessen werden: Kürzere Arbeitszeit in der Produktion führt auch zu kürzerer Arbeitszeit im öffentlichen Dienst, damit auch zu einem größeren Bedarf an öffentlich Bediensteten und zu höherer Steuerquote.

Die zweite Möglichkeit liegt in einer Umschichtung in Richtung auf mehr Dienstleistungen. Die Frage ist nur, in welche. Gerade die klassischen Dienstleistungen: Handel, Banken, Bausparkassen, Versicherungen, Verwaltungen, Büroberufe, Post und Bahn sind von einer Welle der Rationalisierung ergriffen.

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Es spricht wenig dafür, daß sie noch in der Lage wären, die Arbeitskräfte aufzunehmen, die in der Produktion freigesetzt werden. Wachsender Bedarf besteht bei den sogenannten Humandienstleistungen, vom Schulsport bis zur Berufsbildung, von Gesundheitsvorsorge und Gesundheitsberatung bis zur Altenpflege, von der Bewährungshilfe bis zur Wiedereingliederung von Behinderten, Drogen- und Alkoholsüchtigen, von der Erwachsenenbildung bis zur rechtzeitigen Erkennung und Heilung psychischer Schäden, von der Gemeinwesenarbeit bis zur ambulanten Krankenpflege. Dabei werden "wir gerade in diesem Bereich zu einigen ganz neuen Berufsbildern kommen müssen.59

Das Argument, dies alles sei nötig, aber leider nicht zu bezahlen, übersieht zweierlei:

Erstens geht es hier mittelfristig um die Alternative zur Arbeitslosigkeit, und es gibt nichts, was einer Gesellschaft so teuer zu stehen käme wie das Vergammelnlassen junger Leute, ganz abgesehen davon, daß jeder Arbeitslose heute die öffentlichen Hände etwa 20.000 DM im Jahr kostet. Zum anderen kosten solche Leistungen nicht nur Geld, sie sparen es auch.

Hätten wir mehr Schulpsychologen, so könnten wir ein Mehrfaches sparen bei den teuren psychiatrischen Landesanstalten, in die wir heute noch unsere psychisch Kranken abschieben.

Hätten wir mehr Bewährungshelfer, so könnten wir ein Mehrfaches sparen beim Strafvollzug, in den heute drei Viertel unserer Straffälligen zurückkehren.

Hätten wir mehr Schulsport, so würde dies bei den Krankenkassen positiv zu Buche schlagen.

Hätten wir mehr ambulante Krankenpfleger, so könnten wir manchen Tag im Krankenhaus sparen, der teurer ist als eine Übernachtung im Hilton-Hotel in New York. Hätten wir eine bessere Gesundheitsaufklärung, so könnten wir Milliarden für Medikamente und Ärzte sparen. Daß Investitionen in Berufsausbildung sich auszahlen, ist eine Binsenweisheit.

Auch das Argument, dies alles müsse zu einer Aufblähung der staatlichen Bürokratie führen, trägt nicht. Selbst da, wo öffentliche Finanzierung nötig ist, kann sie freien Trägern zur Verfügung gestellt werden.

Sicher: Wenn neue Dienstleistungen finanziert werden müssen, sei es über Preise am freien Markt, über Gebühren oder Steuern, so muß das aus dem Produktivitätszuwachs geschehen. Der Zuwachs der Realeinkommen wird dann überwiegend verwandt zur Finanzierung von Humandienstleistungen, nicht zur Steigerung des materiellen Konsums. Es wird dabei nur dies vergessen: Wächst die strukturelle Arbeitslosigkeit, so muß der Zuwachs verwendet werden für die Arbeitslosenversicherung, setzen wir das Rentenalter herab, für höhere Beiträge zur Altersversicherung, und auch die Herabsetzung der Wochen- oder Jahresstunden geht auf Kosten des materiellen Konsums.

Hier ist eine Weichenstellung fällig, und zwar rasch. Nicht, weil eine Ausdehnung der Humandienstleistungen von heute auf morgen möglich wäre, sondern eben weil sie Zeit braucht. Wenn wir uns nicht jetzt, wo die geburtenstarken Jahrgänge vor der Tür stehen, klarwerden, wie vielen wir eine Ausbildung für Humandienstleistungen anbieten wollen, wenn wir womöglich die Ausbildungskapazitäten gerade auf diesem Sektor abbauen, dann wird uns eine Entscheidung für mehr Humandienstleistungen in wenigen Jahren nicht mehr viel nützen.

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  Ende oder Wende 1975  Von der Machbarkeit des Notwendigen  Von Dr. Erhard Eppler