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9. Rohstoffe, Nahrungsmittel, Energie  

 

 

  I  

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Was in der Bundesrepublik gemeinhin als Rohstoffpolitik gilt, ist ein Bündel von Methoden zur Sicherung der nationalen Rohstoffversorgung. Daß die Bundes­republik darüber hinaus eine Politik für den Rohstoffbereich braucht, ist eine Erkenntnis, die außerhalb unseres Landes älter und weniger kontrovers ist als innerhalb. 

Wir haben keine international vorzeigbare Rohstoffpolitik. Das zuständige Bundesressort hat sie nicht erarbeitet, die Opposition nicht gefordert, die Öffentlichkeit nicht diskutiert.

Daß wir uns damit international in gefährliche Gewässer begeben, war seit Jahren, spätestens seit der 3. Welthandelskonferenz in Santiago (1972) erkennbar. Erst als die Welt auf UNCTADIV in Nairobi (1976) die verhärteten Züge des häßlichen Deutschen zu entdecken glaubte, begann gründlicheres Nachdenken, allerdings auch jetzt noch gehemmt durch selbstgerechten Dogmatismus und moralische Entrüstung.

Wenn es sich nicht vermeiden läßt, nehmen wir an Rohstoff abkommen teil - zuletzt am Kakao-Abkommen, das beinahe an der Haltung der Bundesrepublik gescheitert wäre, und am Kaffee- und Zinnabkommen, die aber beide im Sommer 1976 noch nicht ratifiziert waren.

Auch multilateralen Finanzierungssystemen und regionalen Stabilisierungsfonds hat die Bundesrepublik gelegentlich schon zugestimmt. Meist aber fechten wir für ein Höchstmaß an Freihandel, zumindest, soweit uns dies nützt. Wenn es gar nicht mehr anders gehen will, so sind wir auch für bilaterale Kooperationsabkommen, wie sie besonders von Staatshandelsländern bevorzugt werden.60 Und mancher Versuch der Sicherung von Rohstoffbasen erinnert an das späte 19. Jahrhundert.

Daher ist es wenig überzeugend, wenn wir lautstark Verhandlungen zwischen den Erzeugern und Verbrauchern von Erdöl verlangen, weil dort andere die Preise diktieren, solange wir keinerlei Interesse an Verhandlungen zeigen, wo wir, die Verbraucher, die Preise diktieren können. Dabei wirkt auf uns der hohe Ölpreis nicht annähernd so verheerend wie niedrige Kupferpreise auf Sambia, niedrige Teepreise auf Ceylon oder niedrige Baumwollpreise auf den Tschad. 

Es ist nicht eben wahrscheinlich, daß wir vorteilhafte Abmachungen über Ölpreise und Ölmengen erreichen werden, solange wir uns gegen Abmachungen über solche Rohstoffe sperren, bei denen nach wie vor der Käufer das Sagen hat. Die erdölverbrauchenden Entwicklungsländer werden - entgegen ihren unmittelbaren Interessen - solange die ölproduzenten stützen oder doch zumindest schonen, wie wir nicht bereit sind, ihren eigenen Interessen Rechnung zu tragen. Solange das Wohl und Wehe ganzer Länder abhängt vom Preis eines einzigen Rohstoffs und solange dieser Preis von den Betroffenen ohne jede Möglichkeit eigener Einwirkung hingenommen werden muß, wirkt unser Jammern über die hohen ölpreise eher peinlich.

In der inzwischen berühmt gewordenen Cocoyoc-Erklärung vom Oktober 1974, unterschrieben von 32 Wissenschaftlern und UN-Experten nach einer viertägigen Diskussion mit dem mexikanischen Präsidenten Echeverria, heißt es: 

»Der traditionelle Markt macht Hilfsquellen denen zugänglich, die sie kaufen können, weniger denen, die sie brauchen. Er stimuliert künstliche Bedürfnisse, baut den Verschleiß in die Produktion mit ein und nutzt Ressourcen nicht voll aus. Im internationalen System haben sich die mächtigen Nationen die Rohstoffe der armen Länder für billige Preise gesichert (z.B. fielen die Ölpreise 1950 bis 1970 ganz beträchtlich), sie haben den gesamten Mehrwert aus der Verarbeitung an sich gezogen und haben ihre Waren, oft zu Monopolpreisen, wieder an sie verkauft. Gleichzeitig haben gerade die billigen Preise für Rohstoffe die Industrienationen ermutigt, mit den importierten Materialien leichtsinnig und verschwenderisch umzugehen ...
Diese ungleichen Wirtschaftsbeziehungen belasten auch die Umwelt. Die niedrigen Rohstoffpreise haben zur zunehmenden Umweltverschmutzung beigetragen, die Wegwerfgesellschaft bei den reichen Nationen gefördert, und die anhaltende Armut in vielen Entwicklungsländern hat oft die Menschen gezwungen, Grenzböden auf die Gefahr der Bodenerosion hin zu bebauen oder in die ohnehin überlastete Umwelt überbevölkerter Städte zu ziehen.«61

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Es gibt also mehr als einen guten Grund, über eine glaubwürdige Rohstoffpolitik nachzudenken. Georg Picht, der einzige deutsche Teilnehmer an der Cocoyoc-Konferenz, hat in anderem Zusammenhang als eine Minimalforderung für eine Welt­friedens­ordnung eine »supranationale Verwaltung der Rohstoff- und Energievorräte« genannt.62  [ Picht bei detopia ]

Dabei wußte er genau, daß auch in diesem Fall als politische Maximalforderung erscheint, was von der Sache her Minimalforderung ist. Es wird uns vorläufig also nichts anderes übrig bleiben, als geduldig nach Zwischenlösungen zu suchen.

Wir haben ein Interesse an einer kontinuierlichen, sicheren und finanziell erschwinglichen Rohstoffversorgung. Daß eine solche Versorgung von den Marktkräften nicht mehr gesichert werden kann, haben wir gelernt. Daß ein Wettlauf um Rohstoffbasen im Stile des 19. Jahrhunderts nichts einbringt, beginnen wir zu lernen. Wir werden also nach den Interessen der Produzenten zu fragen haben. Sie wollen

Auch wenn man den Gesichtspunkt der Gerechtigkeit ganz aus dem Spiel ließe, sind diese Forderungen vernünftig und mit unseren eigenen Interessen nicht unvereinbar, vorausgesetzt, wir bequemen uns endlich, vom hohen Roß derer herunter zu steigen, die es sich leisten können, die Marktkräfte für sich wirken zu lassen. (Gegen Ende des Jahres 1974 hatten unsere Terms of trade nahezu den Stand von 1970 wieder erreicht.)  

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Erst wenn wir auf vernünftige Forderungen eingehen, können wir unvernünftige ohne politischen Schaden zurückweisen. Dies bedeutet, daß wir unsere Reserve gegenüber internationalen Rohstoffabkommen aufgeben müssen. Das Argument, sie seien kein Allheilmittel, ist ebenso richtig wie unerheblich: hier gibt es in der Tat kein Rezept, das für alle Fälle taugen würde. Und es ist auch richtig daß kein internationales Rohstoffabkommen genauso aussehen kann wie das andere: dazu sind die Interessen von Erzeugern und Verbrauchern bei jedem Rohstoff zu verschieden.

Bei den Produkten, die in den letzten Jahren extreme Preisschwankungen hinnehmen mußten (Kupfer, Blei, Palmöl, Bananen, Zucker, Gummi etc.), wird es den Produzenten vor allem auf eine Stabilisierung der Preise ankommen. Da bei manchen dieser Rohstoffe die Gefahr der Überproduktion heute schon geringer ist als die des Mangels, müßte dies möglich sein. Auch wenn es nicht sinnvoll sein dürfte, die Forderung nach Indexie-rung (automatische Preisanpassung entsprechend der Inflation in den Verbraucherländern) zu erfüllen, so müßten Rohstoffabkommen doch vorsehen, daß in bestimmten Zeitabschnitten anhand der gestiegenen Kosten für Industriegüter die Preise neu ausgehandelt werden müssen.

Wenn die Interessenlage bei jedem Rohstoff anders ist, wird es nötig sein, über die einzelnen Rohstoffe gesondert zu verhandeln. Jedes Abkommen wird im einzelnen andere Instrumente oder doch eine andere Kombination von Instrumenten vorsehen müssen: Quoten, Preisspannen, multinationale Bufferstocks, aber auch Absprachen über die Kontrolle multinationaler Gesellschaften im Rohstoffbereich.

Worauf es jetzt ankommt, ist, daß die Handelsmacht Bundesrepublik Deutschland sich nicht drängen und schieben läßt, sondern selbst mit einem konstruktiven Konzept aufwartet. Die in Nairobi schließlich vereinbarte Konferenz für Frühjahr 1977 gibt dazu eine Chance, vielleicht die letzte. Sicher ist die Abstimmung mit den Vertretern der Europäischen Gemeinschaft nicht einfach, aber da sie bisher meist an der starren deutschen Haltung scheiterte, wird sie um so leichter, je rascher die Bundesregierung begreift, daß die Wiederholung marktwirtschaftlicher Glaubenssätze noch keine Rohstoffpolitik ergibt.

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Leitlinie für brauchbare Vorschläge könnte ein Satz aus der Denkschrift von Helmut Schmidt vom 7.5.1974 sein: »Nötig ist eine international zwischen Produzenten- und Empfängerländern vereinbarte Rohstoffpolitik, welche Mengen und Preise verstetigt.«63

Eine solche Rohstoffpolitik könnte den brutalen internationalen Verteilungskampf zwischen Rohstofflieferanten und Industrieproduzenten mildern und in geordnete Bahnen lenken. Da dieser internationale Verteilungskampf nicht weniger inflationär wirkt als der nationale, wäre eine abgestimmte Rohstoffpolitik auch ein Beitrag zur nationalen Stabilitätspolitik.

 

  II  

 

Es ist nicht anzunehmen, daß die Weltmarktpreise für Grundnahrungsmittel in der überschaubaren Zukunft wesentlich sinken werden. »Die Weltreserven, in den fünfziger und sechziger Jahren reichlich vorhanden, sind auf das Minimum zurückgegangen, das gerade noch den Nachschub für den Handel deckt.«64

Klimatologen erwarten, daß wetterbedingte Mißernten eher häufiger als seltener werden. Die Abholzung ganzer Waldgebiete, rapide Verschlechterung, Ermüdung und Erosion der Böden - nach Angaben von Professor Lamprecht sind in den Tropen allein zwei Milliarden (!) Hektar für »eine sinnvolle Bodennutzung« verloren gegangen - werden die Ernährung einer rasch wachsenden Weltbevölkerung noch um einiges schwieriger machen, als wir dies heute erwarten.

Nach Lester Brown müssen für den durchschnittlichen Amerikaner etwa fünfmal soviel Lebensmittel produziert werden wie für den durchschnittlichen Kolumbianer, Inder oder Nigerianer!65 Er konsumiert im Jahr etwa eine Tonne Getreide, davon nur ein Zehntel direkt in Form von Brot oder Getreideprodukten, den Rest in Form von Fleisch, Milch, Eiern oder Alkohol. Der Getreideverbrauch des US-Bürgers hat von 1965 bis 1973 um 350 Pfund pro Jahr zugenommen. Das ist so viel wie einem Inder in guten Jahren zur Verfügung steht. Die europäischen Zahlen dürften nicht wesentlich niedriger liegen.

Otto Matzke berichtet vom Entwurf eines FAO-Dokuments, das von der »gesicherten Erkenntnis« spricht, »daß Hülsenfrüchte und Getreide eine billigere und vor allem weniger landwirtschaftliche Produktionsfläche beanspruchende Eiweißquelle sind als Rinder- und Schafzucht«.66 

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Und er fügt hinzu: »Ohne den großen, ständig nach oben gehenden Bedarf an Getreide für Viehfutter wären die Preise dieser Grundnahrungsmittel auch nach 1972 nicht so stark gestiegen, wie es der Fall war.«67 Daß dieses Steigen der Grundnahrungsmittelpreise Millionen die Schwelle vom Hungern zum Verhungern überschreiten ließ, zeigt, daß es doch einen sehr direkten Zusammenhang gibt zwischen unseren Konsumansprüchen und dem Hunger der andern.

Nun nützt es wenig, wenn wir, beeindruckt von solchen Berechnungen, unser Schnitzel mit schlechtem Gewissen verzehren oder gar ganz darauf verzichten, solange dies nur dazu führt, daß die Fleischberge in der Europäischen Gemeinschaft dadurch wachsen. Die Frage ist, ob der bestehende und noch heraufziehende Hunger in weiten Teilen der Welt Konsequenzen für die Agrarpolitik der Industrieländer haben kann. Auf der Vorkonferenz für die Welternährungskonferenz in Rom im November 1974 wurde von mehreren Experten eine Fleischsteuer für Industrieländer vorgeschlagen.

In der Europäischen Gemeinschaft, die ohnehin nicht so viel Fleisch verzehren kann, wie ihre Bauern produzieren, wäre dies wohl nicht der richtige Weg. Das System der Schwellen-, Richt- und Orientierungspreise hat in der Europäischen Gemeinschaft dazu geführt, daß die Produktion weniger von Angebot und Nachfrage als durch politische Entscheidungen gesteuert wird. Welche Belastungen dies für den Steuerzahler und Konsumenten mit sich bringen kann, ist seit Jahren beklagt worden, ohne daß sich etwas geändert hätte.

Die Reform des gemeinsamen Marktes an Haupt und Gliedern dürfte auch in Zukunft auf sich warten lassen. Eine andere Frage ist, ob die bestehenden Mechanismen zu sinnvoller Politik benutzt werden können.

Die Agrarproduktion in der Europäischen Gemeinschaft wird gesteuert durch das Verhältnis zwischen den Preisen für Getreide und Futtermitteln auf der einen und den Preisen für Veredelungsprodukte (Fleisch, Milchprodukte etc.) auf der anderen Seite. Aus Gründen, die sich sehr wohl rechtfertigen lassen, hat man sich in den sechziger Jahren für relativ niedrige Getreidepreise und relativ hohe Veredelungspreise entschieden, zumal die meisten Bauern in der Europäischen Gemeinschaft den größten Teil ihres Einkommens aus der Veredelung beziehen.

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In den letzten Jahren 'war es umgekehrt. Abschöpfungen beim Export von Getreide, auch von Weichweizen, füllten die Kassen der Gemeinschaft, während Überschüsse an Rindfleisch oder Schweinefleisch auf Kosten des Steuerzahlers gelagert werden mußten. 1976 fiel der Weltmarktpreis für Getreide wieder unter den Preis der Europäischen Gemeinschaft, für wie lange, wird sich zeigen. Jedenfalls ist es kein wirtschaftliches Naturgesetz, daß die Preise der Europäischen Gemeinschaft über denen des Weltmarktes liegen, jeder Export also immer subventioniert werden muß. Dies ist deshalb wichtig, weil die Kaufkraft der Entwicklungsländer bestenfalls ausreicht, Getreide, keineswegs aber Fleisch zu kaufen. 

Otto Matzke, nach langer internationaler Erfahrung in behutsamer Formulierung geübt, kommt zu dem Schluß: »In den wohlhabenden Ländern sollte grundsätzlich alles unterlassen werden, den schon von sich aus starken und anhaltenden Trend zum erhöhten Verbrauch tierischer Eiweiße künstlich anzuregen und zu fördern. Falls es keine anderen Mittel zur Eindämmung des bestehenden Trends gibt, sollte zum mindesten dem Preis seine volle Steuerungsfunktion überlassen bleiben.«68)

Etwas deutlicher formuliert: 

Wäre es in einem solchen Augenblick nicht vernünftig, das Verhältnis zwischen den Erzeugerpreisen für Getreide und für Fleisch so zu verändern, daß etwas mehr Getreide angebaut und etwas weniger Getreide verfüttert wird? Wie stark der Getreidepreis steigen muß, damit gutes Getreideland, vor allem in Frankreich, wieder unter den Pflug genommen wird, mögen Experten berechnen. Wichtiger ist, daß die Erzeugerpreise für Fleisch nicht entsprechend steigen, damit der Anreiz zur Verfütterung geringer wird. Wahrscheinlich würde es ausreichen, in einem einzigen Jahr die Getreidepreise zu erhöhen und die Preise für Schweine- und Rindfleisch konstant zu halten, um die geringfügige Verschiebung zu erreichen, die aus der Überproduktion von Fleisch eine Überproduktion an Getreide werden läßt. Wenn wir auch hier alle moralischen Erwägungen außer Betracht ließen, so wäre es schlicht vernünftig, eine unverkäufliche Überproduktion durch eine verkäufliche zu ersetzen.

Sinn einer solchen Operation kann natürlich nicht sein, durch billige Verbraucherpreise für Fleisch den Fleischkonsum weiter zu steigern. Daher wäre zu überlegen, ob nicht die Relation der Verbraucherpreise von Getreide und Fleisch dadurch erhalten bleiben könnte, daß Fleisch- und Fleischwaren mit dem Normalsatz der Mehrwertsteuer belegt werden. Für den Verbraucher wirkt sich dies nicht anders aus als die sonst fällige Erhöhung der Erzeugerpreise.

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Trotzdem zeigt dieses Modell einer Anpassung unserer Agrarpolitik an weltweite Erfordernisse, daß wir ohne eine Verringerung der Einkommensunterschiede politisch manövrierunfähig werden. Was im Blick auf die Bewältigung der globalen Ernährungskrise unerläßlich ist, läßt sich nur durchsetzen, wenn dadurch nicht der leiseste Eindruck entsteht, in Zukunft solle Fleisch wieder den Schichten vorbehalten bleiben, die dieses Privileg schon früher besaßen. Was hier für die Agrarpolitik deutlich wird, gilt überhaupt für eine Steuerung von Verbrauch und Investitionen durch indirekte Steuern.

Widerstand ist von Seiten der Landwirtschaft zu erwarten. Es wird damit argumentiert werden, daß auch bei guten Böden der reine Getreideanbau sich erst von 40 oder 50 Hektar an lohne, daß Höfe ohne Veredelungswirtschaft also wesentlich größer sein müßten, als dies in den meisten Gebieten der Europäischen Gemeinschaft üblich ist. Nur: Niemand will die Schweine- oder Rinderzucht abschaffen, auch nicht die Milchwirtschaft. Es geht um Beseitigung der Überproduktion.

Im übrigen haben wir weltweit stagnierende Einkommen der industriellen Arbeitnehmer und überproportional steigende Nahrungsmittelpreise. Diese Tendenz dürfte auch auf die Europäische Gemeinschaft durchschlagen. Es könnte sich politisch also sehr wohl Handlungsspielraum für eine solche Operation öffnen.

 

  III  

 

Daß man die Nachfrage nach Energie mit dem Angebot auch in Einklang bringen könne, indem man sparsamer mit Energie umgeht, ist eine sehr junge Erkenntnis, die wir dem Preiskartell der Ölproduzenten verdanken. Erst jetzt ist es klar geworden, wie fahrlässig wir mit Energiequellen umgehen, deren Erschöpfung, wenn es bei den gewohnten Wachstumsraten bleibt, die ABC-Schützen von heute mit Sicherheit noch erleben werden, sei es im Alter von 35 oder erst von 75 Jahren.

Jetzt erst beginnen wir zu zweifeln, ob es klug war, mit Werbung und billigen Arbeitspreisen die Bürger zu hohem Stromverbrauch aufzufordern, die Elektrifizierung des letzten Handgriffs zu propagieren, in Mitteleuropa riesige Gebäude mit aufwendigen Klimaanlagen auszustatten, den mörderischen Rennwettbewerb auf unseren Straßen zu dulden und Häuser so zu bauen, als fielen die Heizungskosten nicht ins Gewicht. 

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Inzwischen fragen wir uns sogar, ob es sinnvoll sei, mit der Abwärme unserer konventionellen und atomaren Kraftwerke Flüsse und Luft zu erwärmen, während wir mit dem dürftigen Rest einer zweimal umgewandelten Energie immer mehr Wohnungen elektrisch heizen.69

Daß wir mitten in einem Prozeß des Umdenkens stehen, zeigen die verschiedenen Energieprogramme von Bund und Ländern, die im Lauf des Jahres 1974 erarbeitet wurden. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß sie auf die Möglichkeit der Energieersparnis verweisen, deren Ausmaß verständlicherweise aber nicht anzugeben vermögen.

In einigen Bereichen laufen erst jetzt Forschungsprogramme an, in anderen sind die Wirkungen noch nicht abzuschätzen, z.B. dürfte es einige Jahrzehnte dauern, bis alle Wohnungen mit der nötigen Wärmedämmung ausgerüstet sind.

Es ist also nicht erstaunlich, wenn uns gesagt wird, es sei noch nicht abzusehen, was langfristig an Energie zu sparen sei. Erstaunlich ist aber, daß man sehr wohl weiß, was wir langfristig an Energie verbrauchen werden. Fast alle Programme gehen von Zuwachsraten bis 1990 aus, die sich von denen der Jahre 1960-73 nur geringfügig unterscheiden. Nach wie vor gehen z.B. die meisten Programme von einer Verdoppelung des Stromverbrauchs in zehn Jahren aus, und dies, obwohl die Zuwachsraten für 1974 und 1975 bereits weit unter den sieben Prozent lagen, die dazu nötig wären. Dabei beruft man sich auf die weitere Elektrifizierung des Verkehrs, den Aufwand für Wärmepumpen, die Notwendigkeit neuer Arbeitsplätze oder die Substitution von Öl.

Dem wären gegenüberzuhalten das Stagnieren der Bevölkerungszahlen, das geringere, falls vorhandene, Wirtschaftswachstum, die rasch nachlassende Zunahme des Wohnungsbestandes und die unvermeidbare Erhöhung der Strompreise. Schon 1972 waren in der Bundesrepublik 90 Prozent der Haushalte mit Fernsehern, 80 Prozent mit Kühlschränken, j<) Prozent mit Waschmaschinen, 65 Prozent mit Elektroherden und 28 Prozent mit Gefriertruhen ausgestattet. Sicherlich besteht noch ein Nachholbedarf an Geschirrspülern oder Wäschetrocknern. Nun tun Politiker gut daran, sich nicht über die Zeitersparnis durch Geschirrspüler zu äußern. Sie werden auch gerne zugeben, daß es, zumal in Großstädten, Haushalte gibt, für die der Wäschetrockner eine Hilfe bedeutet. 

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Aber in einer Zeit, wo fieberhaft daran gearbeitet wird, Sonnenenergie nutzbar zu machen, dürfte der Hinweis erlaubt sein, daß die Menschen seit Jahrtausenden ihre Wäsche immer - direkt oder indirekt - mit Sonnenenergie getrocknet haben, ohne dieselbe zwischendurch unter riesigem Kapitalaufwand und großen Verlusten in elektrische umgewandelt zu haben.

Das auf den ersten Blick stärkere Argument für eine rasche Steigerung des Energieangebots ist sein Einfluß auf die Zahl der Arbeitsplätze. Gelegentlich wird die schlichte Gleichung aufgemacht: Arbeitsplätze gibt es nur bei rasch steigendem Sozialprodukt, dieses aber nimmt ungefähr im gleichen Maße zu wie der Energieverbrauch. Beides erweist sich als zweifelhaft. Nachdem Carl Friedrich v. Weizsäcker im Juni 1975 seine Einwände gegen diese Dogmen angemeldet hatte,70 stellt ein knappes Jahr danach eine einstimmige Entschließung des Deutschen Bundestages fest, »daß sich die Beziehungen zwischen Energieverbrauch und Entwicklung des Bruttosozialproduktes offensichtlich verändert haben«.71

Abgesehen davon ist keineswegs sicher, daß jede Steigerung des Sozialproduktes Arbeitsplätze schaffen müßte. Sicher ist nur, daß es wenige Aktivitäten unserer Volkswirtschaft geben dürfte, die mehr neue Arbeitsplätze anzubieten haben als der Versuch, energiesparende Technologien nutzbar zu machen und neue Energiequellen zu erschließen. Und wenn es möglich ist, Energie durch Information zu ersetzen (Weizsäcker), dann ist auch dies ein arbeitsintensiver Vorgang. Von daher fällt auch das Argument in sich zusammen, man müsse bei der Energieerzeugung immer soweit vorhalten, daß jeder denkbare Spitzenbedarf gedeckt werden könne. Solche Energiepolitik, auch darauf hat Carl Friedrich v. Weizsäcker hingewiesen, könnte lediglich eine extrem energieintensive Technologie oder einfacher: Energieverschwendung vorprogrammieren.

Auch die üblichen Einwände, jede Politik der Energieersparnis sei ein systemwidriger Eingriff in Marktprozesse, sticht nicht. Hätte der Bund nicht eine zweistellige Milliardenzahl zur Erschließung der Kernenergie aufgebracht, so gäbe es in der Bundesrepublik entweder keinen Strom aus Kernreaktoren oder doch nur zu Preisen, die nicht annähernd konkurrenzfähig wären. Bisher hat der Steuerzahler den Strompreis niedriger gehalten. Jetzt kommt es darauf an, daß der Strompreis wieder seine Marktfunktion erhält, auch als Anreger einer Technologie, die mit Energie sparsamer umgehen lernt.

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Bislang ist der Stromverbrauch bei den privaten Haushalten weitaus am raschesten gestiegen. Es gibt keinen zwingenden Grund zu der Vermutung, er müsse weiterhin in demselben Tempo wachsen, es sei denn, man rechne mit einer raschen Zunahme der elektrischen Heizung und Warmwasserbereitung. Während der Vierpersonenhaushalt mit moderner Ausstattung und elektrischem Kochherd etwa 2200 kWh im Jahr verbraucht, dürften es beim vollelektrisierten Haushalt (mit elektrischer Heizung und Warmwasserbereitung) etwa 17000 kWh sein, also mehr als das Siebenfache. Nun kommt es darauf an,ob wir dies wollen. Daß die Elektrizitätswerke dies wollen, ist verständlich.72 

Daß es ökonomisch und ökologisch nicht ratsam ist, teure Energie unter zweimaligem Umwandlungsverlust in Strom und dann wieder in Wärme zu verwandeln, dürfte spätestens dann einleuchten, wenn wir begriffen haben, daß alle verfügbaren und denkbaren Energiequellen eines gemein haben: sie werden teurer sein, als uns lieb ist.

Es ist einleuchtend, daß die Abwärme unserer Kraftwerke nicht von heute auf morgen zu Heizzwecken verwendet werden kann. Aber von heute auf übermorgen? Welchen Wert haben Energieprognosen bis 1990, wenn sie die - auch vom Bundestag geforderte - Koppelung von Strom- und Wärmeerzeugung nicht mit einbeziehen? Eine betriebswirtschaftliche Rechnung mag ausweisen, daß Investitionen für Heizung mit Abwärme noch nicht rentabel sind. Auch dies wird neuerdings in Frage gestellt.73

Es wäre der Mühe wert, den Berechnungen von Pitter Gräff nachzugehen, wonach »die Nutzung von Abwärme mit Hilfe bekannter Technologien heute schon möglich« sei und den Bau von Kraftwerken »weitgehend überflüssig mache«. Gräff präzisiert: »Auch wenn man den veränderten Wirkungsgrad berücksichtigt, würde ein Kraft-Wärme-Verbundnetz allein 17 von 46 bis 1985 geplanten Kraftwerken von durchschnittlich 1250 Megawatt Leistung überflüssig machen.«74 

Heizung über Wärmepumpen in Flüssen wird heute schon geplant. Es ist durchaus möglich, daß bei der Nutzung von Abwärme Investitionen und Arbeitsplätze der Zukunft liegen. Wenn jeder zweite Haushalt der Bundesrepublik mit der bislang vergeudeten Abwärme bereits bestehender Kraftwerke beheizt werden kann, ist nicht einzusehen, warum elektrisches Heizen sich weiter ausbreiten müßte, zumal neue Kraftwerke zuerst einmal weitere Abwärme erzeugen.

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Die öffentliche Diskussion um die Notwendigkeit, Schädlichkeit oder Unschädlichkeit von Kernkraftwerken hat den politisch verantwortlichen Laien in den letzten Jahren mehr verwirrt als aufgeklärt. Wenn er versucht, die unterschiedlichsten, jeweils von ernstzunehmenden Experten nicht ohne Engagement vorgetragenen Meinungen zu werten, so kommt er zu dem Schluß, hier seien doch wohl mehr ungelöste Probleme, als er ursprünglich angenommen hat. Es drängt sich ihm der Eindruck auf, Atomenergie könne allenfalls eine Übergangslösung, nicht aber die entscheidende Energiequelle der Zukunft sein. 

Stünden wir nicht unter Zeitdruck, so wäre ein Moratorium, wie es eine niederländische Kommission ebenso wie eine Initiative in Frankreich vorgeschlagen hat, zu empfehlen, ein Moratorium, das dem Politiker in einigen Jahren solidere und weniger umstrittene Entscheidungsunterlagen liefern könnte, als sie ihm heute zur Verfügung stehen. Aber auch wenn dies nicht möglich sein sollte, müßte in den nächsten Jahren die Notwendigkeit von Kernkraftwerken mit Gründen nachgewiesen werden, die stichhaltiger sind als die extrapolierten Wachstumszahlen aus den Wirtschaftsministerien des Bundes und der Länder.

Die Vergeudung von Energie ist am auffallendsten bei den privaten Haushalten und beim Verkehr. Beide haben einen geringen Nutzungsgrad und die höchsten Zuwachsraten. Im Verkehrssektor liegt der Nutzungsgrad bei 17 Prozent, wobei der Personenkraftwagen mit 10 Prozent Nutzungsgrad den Gesamtdurchschnitt drückt. Die Energiepolitik liefert also zusätzliche Argumente für eine Verkehrspolitik, die für die Ballungsräume dem öffentlichen Nahverkehr Priorität einräumt. Sollte diese Priorität der Diktatur der leeren Kassen zum Opfer fallen, so würde dies bei steigenden Energiepreisen unsere Volkswirtschaft teuer zu stehen kommen.

Die Angaben über die Belastung der Umwelt durch Energieverbrauch gehen nicht nur deshalb auseinander, weil verschiedene Interessen wirksam sind, sondern auch, weil jeweils nicht dasselbe unter Umwelt verstanden wird. Daher stellt eine Studie des Kernforschungszentrums Karlsruhe fest: »Für die Beurteilung der Gesamtbelastung der Umwelt durch den Energieeinsatz wäre es notwendig, die aggregierte Wirkung der einzelnen Belastungsarten an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten zu kennen. Die Voraussetzungen für die Entwicklung eines solchen Umweltbelastungsindex sind zur Zeit nicht gegeben.«(75)

Solche nüchternen Feststellungen sollen weder alarmieren noch beschwichtigen. Denn eines ist unbestreitbar: Jeder Energieverbrauch konsumiert natürliche Ressourcen und belastet die Umwelt. 

Energiepolitik ist nicht nur Ökonomie, sie ist auch Innenpolitik und Außenpolitik. Innenpolitisch ist es nicht möglich, unseren Bürgern die Zustimmung zum Bau von Kernkraftwerken oder Raffinerien in ihrer unmittelbaren Umgebung abzuringen, solange der Nachweis nicht erbracht - und nicht zu erbringen - ist, daß das Gemeinwohl und nicht die Launen ihrer Mitbürger oder die Planungen von Technokraten dies unerläßlich machen. Spätestens seit den Vorgängen um das Kernkraftwerk Wyhl sollten wir dies als Tatsache hinnehmen.

Außenpolitisch ist es schwierig, unseren europäischen und atlantischen Partnern klarzumachen, warum die Deutschen es nicht nötig haben, mit dem Einsparen von Energie Ernst zu machen. Und die Länder der Vierten Welt werden schwerlich begreifen, warum wir unseren Energieverbrauch pro Kopf jährlich um eine Größe steigern müssen, die ihren eigenen Gesamtverbrauch übertrifft.

Eine Energiepolitik, die sich an den neuen Fakten nicht vorbeidrückt, die nicht Trends extrapoliert, sondern das politisch Notwendige machbar machen will, müßte

Kurzfristig wäre vorrangig durchzusetzen:

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  Ende oder Wende 1975  Von der Machbarkeit des Notwendigen  Von Dr. Erhard Eppler