5 Gefährten aus der Gefahr
Es ist durchaus offen, was eine Geschichte der siebziger Jahre erwähnenswert finden wird — die ermüdenden Wortgefechte im Bundestag über die richtige Methode, mit der DDR zu verhandeln — oder die Platzbesetzungen in Wyhl oder Gorleben; die jährlich wiederkehrenden Auseinandersetzungen um immer neue Konjunkturprogramme — oder das Auswandern eines großen Teils der jungen Generation aus den Denkkategorien der großen politischen Parteien. (S.223)
Macht und Gegenmacht
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Immer mehr Menschen klagen darüber, daß ihre Macht, etwas durchzusetzen, immer weiter hinter der Verantwortung zurückbleibe, die sie eigentlich zu tragen hätten. Sie vermuten Macht da, wo ihre eigene Macht begrenzt, gehemmt oder neutralisiert wird. Daß sich die Bürger der «freien Republik Wendland» ohnmächtig fühlten, als sie im Frühsommer 1980 auf dem Versammlungsplatz des Atomdorfes ihren Protest nur durch gemeinsames Singen ausdrücken konnten, während unter dem Schutz des massivsten Polizeiaufgebots der Nachkriegszeit Planierraupen ihr Dorf niederwalzten, wird jedermann begreiflich finden.
Daß aber auch ein Ministerpräsident erklärt, er könne ein Vorhaben wie die Wiederaufbereitungsanlage in Gorleben nicht gegen massiven Widerstand von Bürgerinitiativen durchsetzen, erstaunt manchen, der diesen Widerstand selbst mit ausgelöst hat.
Man kann das Gefühl der Hilflosigkeit mitempfinden, wo — gegen das Aufbegehren eines ganzen Stadtteils — eine neue Straßentrasse durch ein Wohngebiet eben doch geschlagen wird. Aber auch gerade da werden die Grenzen politischer und administrativer Macht schmerzhaft spürbar werden, wo man lange Jahre ziemlich frei walten konnte: in den Verkehrsministerien und Straßenbauverwaltungen.
Sogar da, wo am meisten unkontrollierte Macht ausgeübt wird, in den Chefetagen großer Konzerne, ist die Zukunft auch nicht mehr, was sie einmal war, nicht mehr die kalkulierbare, machbare Expansion. Ganz abgesehen von den Risiken aus der weltwirtschaftlichen Großwetterlage: Was tun die Vorstände jener Unternehmen, die auf den Bau von Kernkraftwerken spezialisiert sind, wenn keine neuen Bestellungen mehr eingehen, aus dem Inland nicht, weil der Widerstand rascher wächst als der Stromverbrauch, aus dem Ausland nicht, weil man auch in der Dritten Welt nach billigeren Alternativen Ausschau hält?
Daß Menschen und Gruppen an der Basis den Schmerz der Machtlosigkeit erdulden müssen, ist nicht neu. Daß von diesem Schmerz auch jene immer weniger verschont bleiben, die sich über die — teilweise schon verrosteten — Schalthebel politischer, administrativer oder wirtschaftlicher Macht beugen, ist das Neue.
Wie sehr das, was aus neuem Bewußtsein entstanden ist, schon zum Machtfaktor wurde, kann man wohl an der Verunsicherung ermessen, die bei den etablierten Mächten um sich greift. Damit sei auch all denen widersprochen, die im Blick auf dieses Buch die Achseln zucken: Mag ja richtig sein, was da steht, aber die Macht liegt anderswo.
Niemand wird die geballte, akkumulierte Macht unterschätzen, die sich aus der Verfilzung ökonomischer, administrativer und politischer Interessen ergibt. Aber dies ist nur eine Seite der Wirklichkeit. Die andere ist: Macht liegt überall, wo Bürger ihre Rechte wahrnehmen. Es ist im politischen Geschäft üblich geworden, sich erst nach Verbündeten umzusehen, Machtkonstellationen zu prüfen, Durchsetzungsstrategien zu entwerfen, über Instrumente zu streiten, ehe man genau weiß, was man will. In Wirklichkeit entsteht Macht, jedenfalls neue, demokratisch legitimierte Macht da, wo Menschen sich zusammenschließen, um gemeinsam etwas zu erreichen.
So wie die Machtbasis einer Politik zerbröckeln muß, wenn Ziel und Richtung der Politik nicht mehr erkennbar sind, so bildet sich Macht da, wo, getragen vom gewandelten Bewußtsein, eine wachsende Zahl von Menschen neue Ziele anvisiert. Es ist eine Binsenweisheit: Zur Durchsetzung einer neuen Politik braucht man Macht. Aber Macht, Gegenmacht zu den bestehenden Machtstrukturen, kann sich nur bilden, wenn sich genügend Menschen auf neue Ziele verständigen. Es ist zu billig, über Machtlosigkeit zu jammern, solange man nicht genau sagen kann, wozu die begehrte Gegenmacht dienen, wohin sie führen soll.
Es läßt sich nicht bestreiten, daß in einer kapitalistischen Gesellschaft alles Neue auch gegen Kapitalinteressen antreten muß. Aber nichts ist, zumal in Deutschland, gefährlicher, als die Menschen vor die Alternative zwischen Revolution und Resignation zu stellen. Die Mehrheit wählt dann allemal die Resignation.
Daher will das Bild des Trampelpfades sagen: Wer darauf warten will, bis er auf den wohlgebahnten, säuberlich beschilderten Weg in die Zukunft stößt, der mit Sicherheit in eine humanere Welt führt, und dann auch noch auf das Kettenfahrzeug, das Hindernisse auf dem Weg nach Belieben niederwalzen kann, dürfte lange warten.
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Wer neue Zukünfte öffnen will, muß Schneisen schlagen in der Hoffnung, daß viele andere sich in derselben Richtung bewegen wollen. Im Prozeß des Zurechttrampelns neuer Pfade durch immer mehr Menschen entsteht nicht nur Klarheit über die Richtung, sondern auch die Macht, neue Schneisen zu schlagen. Wahrscheinlich hat sich Gegenmacht zur Beharrungsmacht des Bestehenden noch nie anders gebildet. Wer aus der Gefahr kommen will, braucht Gefährten, Weggefährten, und die findet er nirgendwo anders als auf dem gemeinsam als richtig erkannten Weg.
Vernetzte Bewegungen
Die Zeiten, in denen führende Politiker die Ökologiebewegung mit dem Protest gegen die Notstandsgesetze verglichen, in der Hoffnung, sie werde, handle man nur energisch genug, sich genauso in Luft auflösen, wie sich jene Antinotstandsbewegung aus der Mitte der sechziger Jahre nach Verabschiedung der Notstandsgesetze verflüchtigte, diese Zeiten sind wohl vorüber.
In den achtziger Jahren werden andere Verbindungslinien gezogen: Ist nicht alles, was sich heute an der Basis regt, Teil eines und desselben Wert- und Bewußtseinswandels? Wie es unterirdische Wasseradern gibt, die Studentenbewegung und Ökologiebewegung verbinden, so gehören vielleicht auch Frauenbewegung, Friedensbewegung, Ökologiebewegung, Bürgerrechtsbewegung enger zusammen, als viele sich bisher klargemacht haben.
Wenn sorgsamer Umgang mit Energie zum einen Entwicklungshilfe ist, weil er die Ölpreise dämpfen kann, die den Entwicklungsländern den Atem nehmen, zum andern auch dem Frieden dient, weil dadurch der bewaffnete Wettlauf nach Öl- und Uranquellen weniger wahrscheinlich wird, dann ergeben sich auch von der Sache her Berührungspunkte zwischen Ökologiebewegung und Friedensbewegung.
Es ist doch wohl kein Zufall, daß man auf dem «Markt der Möglichkeiten» des Deutschen Evangelischen Kirchentages alles beisammen findet: Das Tasten nach einem neuen, gleichzeitig einfacheren und reicheren Lebensstil, das Bemühen, die Not der armen Völker dem öffentlichen Bewußtsein nahezubringen, das hartnäckige Suchen nach Chancen des Friedens,
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das Wahrnehmen einer Verantwortung für die Schöpfung, das neue Selbstbewußtsein der Frauen, Ansätze zu intensiverer mitmenschlicher Kommunikation, zu einer Hilfe für die Schwachen, die nicht demütigt und ausschließt, sondern einbezieht und ermutigt, das Ringen um jeden einzelnen, der wegen seiner Überzeugung Gefängnis, Folter oder Tod leiden muß.
Daß dies alles zusammengehört, Teil eines und desselben geschichtlichen Prozesses ist, daß hier, wie Dieter Rucht es formuliert, «bestimmte Gruppen lediglich früher und sensibler auf einen allgemeinen Trend reagieren, der in die Etablierung einer Gegenkultur mündet»,1) zeigt sich auch an den Verflechtungen und Vernetzungen, die bereits im Gange sind. «Frauen für den Frieden» verknüpft Frauenbewegung und Friedensengagement. Neuer Lebensstil versucht, pfleglicheren Umgang mit der Natur zu verbinden mit Hilfe für die Dritte Welt. Die Formel: «We must live more simply that others can simply live» läßt sich nicht ohne Verlust an Einprägsamkeit ins Deutsche übersetzen, aber sie meint einen Lebensstil, der sich auch gegenüber den Menschen in den Hungergebieten verantworten läßt.
Schon heute läßt sich absehen, wie Ökologiebewegung in radikale Friedensbewegung umschlagen kann, etwa im Fall einer Stationierung der im «Nachrüstungs»-Beschluß vorgesehenen neuen Mittelstreckenraketen. Daß Hilfe für die Dritte Welt vor allem die Bewahrung ihrer natürlichen Lebensgrundlagen bedeutet, ist kaum mehr bestritten. Was noch fehlt, aber längst fällig wäre, ist das Engagement der Ökologiebewegung für die Dritte Welt, etwa für Aufforstungsprojekte in einem Land der Sahelzone. Die Frauenbewegung zeigt sich immer weniger in schrillen Happenings, dafür immer mehr in eigenständiger Aktivität, die nicht nur auf Selbsthilfe (Frauen helfen Frauen) sondern auf die Gesamtgesellschaft zielt, etwa Verbraucheraufklärung über denaturierte Nahrung.
Solche Vernetzung führt aus der Enge des eigenen Ansatzes heraus, ohne ins Allgemein-Unverbindliche abzugleiten. Sie nimmt das — oft noch lähmende — Gefühl der Isolierung, sie schafft neue Wirkungsmöglichkeiten und, wenn man so will, auch neue Macht. Wenn, vor allem an der Basis, der Kontakt zwischen den verschiedenen Gruppen zu der Erkenntnis führt: hier sind viele andere, die auf einem anderen Weg auf dasselbe Ziel zugehen, so kann dies der Resignation entgegenwirken, das Selbstvertrauen gegenüber den etablierten Mächten stärken, neue Aktivitäten wecken und den Bewußtseinswandel beschleunigen.
Wo Trampelpfade sich schneiden, begegnen sich Menschen. Sie entdecken sich als Weggefährten, die sich gegenseitig ermutigen und notfalls stützen können.
1) Dieter Rucht, Von Wyhl nach Gorleben, a.a.O., S. 210
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Rückkopplung zur Politik
Alles, was sich an der Basis bewegt, hat auch politische Dimension, sogar dann, wenn es sich als Abwanderung von traditionellen politischen Institutionen oder Handlungsmustern zu erkennen gibt.
Es ist durchaus offen, was eine Geschichte der siebziger Jahre erwähnenswert finden wird, die ermüdenden Wortgefechte im Bundestag über die richtige Methode, mit der DDR zu verhandeln, oder die Platzbesetzungen in Wyhl oder Gorleben; die jährlich wiederkehrenden Auseinandersetzungen um immer neue Konjunkturprogramme oder das Auswandern eines großen Teils der jungen Generation aus den Denkkategorien der großen politischen Parteien.
Daß es sich hier um eminent politische Vorgänge handelt, haben vielleicht diejenigen bisher am wenigsten erkannt, die selbst daran teilhaben. Aber wenn der Wert- und Bewußtseinswandel, das, was Alain Touraine die «Mutation» nennt, zu einer humaneren Kultur führen soll, dann muß die politische Dimension dieses Prozesses rechtzeitig und gründlich wahrgenommen werden.
Es ist weder schockierend noch Grund zum Jammern, wenn vor allem junge Menschen, des unendlichen, folgenlosen politischen Geredes überdrüssig, im kleinen Kreis realisieren wollen, was sie der landläufigen Politik nicht mehr zutrauen: etwas mehr menschliche Kommunikation und Solidarität. Niemand sollte über all die Versuche lächeln, ganz im kleinen, fernab der politischen Machtkämpfe, etwas für ein paar alte Linden oder für gequälte Tiere, für ein afrikanisches Dorf, für mißhandelte Frauen oder für gefolterte Gefangene tun zu wollen.
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Aber das ändert nichts daran, daß alle diese Aktivitäten sich schließlich zu Tode laufen müssen, wenn sie nicht auch Veränderungen in der Gesamtgesellschaft nach sich ziehen. Wer kein Fleisch ißt, damit die Hungernden wenigstens genug — nicht verfüttertes — Getreide haben, wird resigniert aufgeben, wenn er sieht, daß er dadurch nur die Fleischberge in der EG höher, aber niemanden in der Dritten Welt satt macht. Wer für ein Aufforstungsprojekt südlich der Sahara spendet, empfindet sein Opfer schließlich als eher lächerliche Besänftigung des eigenen Gewissens, wenn deutsche Firmen fortfahren, ein Vielfaches dessen abzuholzen, was durch private oder staatliche Entwicklungshilfe aufgeforstet werden kann.
Wer sich um der Verständigung willen um Sportkontakte seines Vereins mit Partnern in der DDR oder in Polen bemüht, wird sich schließlich etwas albern vorkommen, wenn er sieht, daß unter allen wichtigen europäischen Ländern nur die Bundesrepublik keine Mannschaft zu den Spielen nach Moskau entsendet. Und was bedeuten Friedenswochen landauf, landab, wenn gleichzeitig der Wettlauf in der Raketenrüstung an Geschwindigkeit gewinnt?
Aktivitäten an der Basis, auch wenn sie sich — zu Recht — politischen, vor allem parteipolitischen Einflüssen zu entziehen trachten, müssen schließlich politisch rückgekoppelt werden, wenn sie nicht versanden sollen. So richtig es ist, daß nur Bewegung an der Basis Neues schaffen kann, daß wir alle gut daran tun, nicht auf Erleuchtungen aus Ministerien und Parteizentralen zu warten, so nötig ist die Umsetzung von Basisbewegung in Politik. Dies bedeutet sicher auch Druck auf Parlamente, Parteien, Regierungen. Aber noch mehr verlangt dies Querverbindungen zu allen Großorganisationen, vor allem auch zu den politischen Parteien. Daß es in allen großen Parteien schwerfällige Mechanismen gibt, hängt mit der Aufgabe demokratischer Willensbildung zusammen. Es ist eben leichter, eine Gruppe von zwei Dutzend Gleichgesinnten zu einer gemeinsamen Protestaktion zu bewegen, als eine Million Mitglieder einer großen Partei zu einem Mehrheitskonsens über praktisches Regieren.
Und doch muß auch dies geschehen, wenn aus den Trampelpfaden schließlich Wege werden sollen. Die politischen Parteien sind heute, mehr als sie zugeben, Seismographen, die Erdbeben registrieren, Transmissionsriemen zwischen dem, was in der Gesellschaft lebt, und dem, was in Exekutive und Legislative politisch entschieden werden muß. Sie sind meist selbst nicht der Motor, aber sie sind sensibel für Dynamik von außen. Parteien unterscheiden sich heute vor allem durch ihre unterschiedliche Fähigkeit, Impulse von außen wahrzunehmen und aufzunehmen.
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Das Einströmen neuen Bewußtseins in bestehende Institutionen wird eher gestört, wenn versucht wird, diesen Strom in eine kleine politische Partei zu kanalisieren. Dies führt nur zu unnötigen Sperren und unerwünschten Machtverschiebungen bei den großen Parteien, zu unfruchtbarem Streit innerhalb der Ökologiebewegung, zu Verengung und Verkrampfung da, wo gelöste Offenheit nötig wäre. Was sich in den achtziger Jahren vollzieht, ist viel zu elementar, viel zu breit angelegt, als daß es Platz hätte in einer kleinen Partei, die — und das hat mit den Grundregeln der Parteienkonkurrenz zu tun — sehr rasch all die häßlichen Eigenheiten annimmt — und aus Unerfahrenheit noch einige dazu —, die bei den bestehenden Parteien abstoßen.
Wer Gesellschaft reformieren will, wird sich vor der Aufgabe sehen, Bewegung in der Gesellschaft schließlich auch in politische Macht umzusetzen. Solche Umsetzung kann dadurch geschehen, daß die politischen Parteien — gerne oder gezwungen — Rücksicht nehmen lernen auf neue Strömungen in der Wählerschaft. Aber erst wenn neues Bewußtsein sich in großen Parteien durchsetzt, sind politische Durchbrüche zu erwarten. Mehr als es ihnen bewußt ist, beweisen die alternativen Bewegungen, daß, wie Johann Baptist Metz es formuliert hat, «Politik der neue Name für Kultur»2 ist. Oder genauer: Neue Kultur wird nicht zuletzt politische Kultur sein.
2) J. B. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft, Mainz 1977, S. 89
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Interessen mobilisieren
Schon bei der Energiepolitik hat sich gezeigt, daß selektives Wachstum auch die Selektion von Interessen mit sich bringt. Wo politisch entschieden werden soll, was wachsen, was weniger wachsen, was schrumpfen soll, werden mächtige Interessen auf den Plan gerufen, die, wie immer, nicht für sich, wohl aber für die heiligsten Güter der Nation das Schlimmste heraufziehen sehen: für die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft, für die soziale Stabilität und vor allem für die Arbeitsplätze. Aber wenn es Produktionen oder Leistungen gibt, die mehr als bisher gefördert werden müssen, so kommt dies notwendig anderen Interessen entgegen, die sich früher oder später bemerkbar machen.
Eine Agrarpolitik, die Überproduktion abbauen und die Verwendung von Gift- und Schadstoffen eindämmen will, bringt eine mächtige Lobby in Bewegung, nicht zuletzt die Agrarchemie. Daß diese Interessen nicht allmächtig sind, läßt sich schon daran ablesen, wie ihre geheimsten Strategien der Öffentlichkeitsarbeit, bis hin zur säuberlichen Einteilung von Politikern in Freunde und Feinde, der Presse zugespielt werden, offenbar von Mitarbeitern, die ihre Verbraucherinteressen über die ihres Brotgebers stellen. Denn was da an Wachstum gebremst werden soll, ist zu offenkundig im Interesse der erdrückenden Mehrheit jener Verbraucher, die schließlich auch Wahlen entscheiden. Wo die nötige Bereitschaft zum Austragen von Konflikten besteht, läßt sich diese Mehrheit sehr wohl für eine weniger aufwendige und kostspielige Agrarpolitik mobilisieren.
Jeder Versuch, von einer ebenso bequemen wie letztlich schädlichen Pillen-Medizin wegzukommen, bei der schließlich mit einem Medikament die Nebenwirkungen des anderen bekämpft werden, stößt auch auf mächtigen Widerstand, und zwar nicht nur von sehen der zuständigen Industrie, sondern auch bei einem Teil der Ärzte, in deren Fachzeitschriften ohne altmodische Scham für Aktien der pharmazeutischen Industrie geworben wird.
Aber es gibt inzwischen Millionen von Menschen, deren Vertrauen in diese Medizin so erschüttert ist, daß sie als Bundesgenossen zu gewinnen sind, ganz abgesehen von den Ärzten und Heilberufen, die ihr Brot mit anderen Therapien verdienen.
Im Energiebereich formiert sich bereits eine Lobby von kleinen und mittleren Unternehmen, die ihr Interesse an alternativer Energiepolitik nicht verschweigen. Sie ist weit schwächer als die der Elektrokonzerne und Energieversorgungsunternehmen, aber sie erkennt, wo sie ihre Bundesgenossen finden kann.
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Eine Politik selektiven Wachstums wird Arbeitsplätze gefährden, etwa in Tiefbaufirmen, die für den Straßenbau arbeiten, beim Bau von Kernkraftwerken, aber sie wird, wie alle neueren Untersuchungen zeigen, mehr neue Arbeitsplätze schaffen, ganz einfach, weil Wachstum vor allem in kapitalintensiven Produktionen gedämpft, in arbeitsintensiven Produktionen und Dienstleistungen angeregt werden muß. Dies ändert nichts daran, daß Menschen dabei ihren Arbeitsplatz verlieren oder wechseln müssen. Darüber hilft auch die — unbestreitbare — Feststellung nicht hinweg, daß der Konkurrenzkampf dieselbe Wirkung schon immer gehabt hat und weiter haben wird. An die Härten wirtschaftlichen Machtkampfes haben wir uns gewöhnt, an politische Wachstumsentscheidungen noch nicht.
Hier wartet auf die Gewerkschaften eine undankbare Aufgabe. Daß sie nicht bereit sind, das Argument des jeweiligen Arbeitsplatzes absolut zu setzen, zeigt die unzweideutige Härte, mit der die Industriegewerkschaft Metall innergewerkschaftlichen Ansätzen einer Rüstungslobby entgegengetreten ist. Dies ist ein Politikum ersten Ranges. Denn wenn jeder einzelne Arbeitsplatz unantastbar wird, verengt sich der Raum für politisches Handeln bis zum Nullpunkt. Hier wird auch die Koordinierungsfunktion des Deutschen Gewerkschaftsbundes gegenüber den Einzelgewerkschaften gefordert sein. Er wird sie nur wahrnehmen können, wenn die politisch Verantwortlichen ein Konzept vorlegen können, das zum einen zeigt, wo neue Arbeitsplätze zu schaffen sind, und zum andern jenes Tabu bricht, das inzwischen sogar die Diskussion über Differenzierung und Verkürzung von Arbeitszeit verstummen läßt.
In dem Maße, wie den Arbeitnehmern klar wird, daß undifferenziertes Wachstum zu dem von Fred Hirsch geschilderten Nullsummenspiel wird — und manchmal wird es weniger als Null sein, was unter dem Strich steht —, werden die Gewerkschaften in jedem Fall gezwungen sein, ihre Aufgaben neu zu definieren. Je früher und je intensiver sie die Wachstumsdiskussion in den eigenen Reihen führen, desto reeller ihre Chance, die auch für sie gefährlichen achtziger Jahre ohne tiefere Blessuren zu überstehen.
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Zweite Reformation?
Es mag wenig verheißungsvoll, auch wenig realistisch erscheinen, blickt man auf der Suche nach Weggefährten aus der Gefahr auf die Kirchen. Die katholische Kirche scheint dabei zu sein, die Türen, die im Zweiten Vatikanum aufgestoßen wurden, eine nach der anderen wieder zu schließen. Der «lautlose Abschied von der Kirche» von Protestanten, statistisch belegt,3) findet auch bei den Katholiken statt.
In ganzen Diözesen bricht eine jahrhundertealte Beichtpraxis zusammen, und besorgte Bischöfe, im Dienst an den unverrückbaren Ordnungen ihrer Kirche ergraut, können in allem, was sich heute an Neuem zeigt, bis hin zu einer völlig ungewohnten, fröhlich-kritischen Atmosphäre auf den Katholikentagen, meist nur noch Zeichen des Abfalls und Zerfalls sehen, denen es standhaft und ohne Furcht vor liberaler Kritik zu wehren gilt. Sie verweisen auf «Grundwerte» und meinen damit schlicht «die sittliche Grundordnung», deren Verachtung schon einmal dazu geführt habe, «daß der Nationalsozialismus sein sogenanntes Reich auf dem Sumpf schillernder Ideologien errichten wollte».4) Auch hier, wie in der Politik, verhängnisvoll verschobene historische Parallelen; dazu die Beschwörung von «Zucht und Maß», von christlichen Tugenden, die meist auch bürgerliche Tugenden sind.5)
Kein Wunder, wenn sich gegen diese Art von Wertediskussion theologischer Widerstand meldet, etwa der Einwand von Eberhard Jüngel: «Nicht Werte leiten das Handeln des Christen, sondern allein die aus der Wahrheit kommende Liebe.» 6)
3) Wie stabil ist die Kirche? Herausgegeben von Helmut Hild, Empirische Untersuchungen in der EKD, Berlin 1974, S. 7ff
4) Gesellschaftliche Grundwerte und menschliches Glück, Wort der deutschen Bischöfe zu Orientierungsfragen unserer Gesellschaft vom 7. 5. 1976, S. 3
5) Grundwerte verlangen Grundhaltungen, Hirtenschreiben der deutschen Bischöfe vor der Herbstvollversammlung 1977 in Fulda, S. 13
6) Eberhard Jüngel, Wertlose Wahrheit, in: Carl Schmitt, Eberhard Jüngel, Sepp Schelz, Die Tyrannei der Werte, Hamburg 1979, S. 68
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Dazu kommt, was viele mit einer Mischung aus Respekt und Verwirrung, andere nicht ohne mitleidiges Achselzucken zur Kenntnis nehmen: die Konzentration auf Fragen der Sexualmoral, der Empfängnisverhütung, des Schwangerschaftsabbruchs. Wäre in der katholischen Praxis das unbeirrbare Streiten für ungeborenes Leben eingebettet in eine konsequente Ethik der Lebensförderung — wie sie, kaum beachtet, im Bischofswort vom 23. September 1980 anklingt —, vielleicht fände die Kirche Anschluß an das, was heute an neuem Bewußtsein wach wird. Aber ohne ausreichend praktisches Engagement für den Frieden, gegen das Gemetzel auf den Straßen, gegen lebenshemmende Formen von Technik, gegen die äußeren und inneren Verheerungen, die unsere Konkurrenz- und Wachstumsgesellschaft hinterläßt, ohne ein klares Ja zu einer Sexualität, die eben nicht nur Mittel zum Zweck sein kann — ohne all dies verstrickt sich auch eine Kirche in die Widersprüche, die nicht ausbleiben, wo man struktur- und wertkonservativ zugleich sein möchte.
Wo der Rat der Evangelischen Kirche oder ihre Synode sich vernehmen lassen, bleibt es meist bei wohlabgewogenen Richtigkeiten, die nirgendwo Anstoß erregen sollen und daher auch nichts anstoßen können. Und wenn beide Kirchen zusammen etwas sagen wollen, dann kommt dabei — auf dem Weg des Kompromisses — eine kluge, konventionelle Auslegung der Zehn Gebote heraus,7 die — und das liegt in der Natur des Themas — von der befreienden Kraft des Evangeliums nichts ahnen läßt. Die Zeiten der späten sechziger und frühen siebziger Jahre, in denen die Gesellschaft von kirchlichen Impulsen zehren konnte, scheinen vorbei. Und doch treffen solche Feststellungen nur einen Teil der kirchlichen Realität. Heinz Zahrnt hat darauf hingewiesen, daß sich Kirche «in zweierlei Gestalt» manifestiere, als «repräsentative und als präsente Kirche».8)
Die repräsentative Kirche «möchte die Welt — Familie, Staat, Gesellschaft und Kultur — am liebsten verchristlichen und neigt dazu, sich als Herrenkirche zu geben ...»
7) Grundwerte und Gottes Gebot, Gemeinsame Erklärung des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz, Gütersloh, Trier 1979
8) Heinz Zahrnt, Warum ich glaube, München 1977, S. 367
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Die präsente Kirche hingegen «möchte eine Bruderkirche sein; ihr Kennzeichen ist Solidarität und Variabilität. Ihr Leben spielt sich in der Diaspora ab. Sie besteht nicht auf ihren Grenzen, sondern bezeugt eine grenzenlose Offenheit, sie ist nicht an ihrer Identität interessiert, sondern fügt sich <selbstlos> in die Welt ein. Sie besitzt keine ewigen, unveränderlichen Wahrheiten, sondern verkündet die eine ewige Wahrheit in immer neuer, anderer Gestalt.»9)
In der präsenten Kirche aller Konfessionen wird das, was heute «zum Geborenwerden bereit» ist, weniger als Bedrohung und Verfall, sondern als Chance aufgenommen, als eigene, christliche Sache verstanden und erfahren. Die zahllosen kirchlichen Gruppen, die sich um Frieden, um Solidarität mit den Geschundenen und Unterdrückten, um erfüllteres Leben in Gemeinschaft, um Pflege der Natur mühen, kurz: die neues Bewußtsein taufen möchten, könnten Vorboten sein für das, was der katholische Theologe Johann Baptist Metz die «zweite Reformation» nennt, eine zweite Reformation für alle Kirchen: 10)
«Wir stehen an einem geschichtlichen Endpunkt und Wendepunkt dieser sogenannten bürgerlichen Welt. Das Christentum steht, wenn es um seine Orientierungskrise geht, im Abschied von dieser bürgerlichen Welt und im Aufgang einer nachbürgerlichen und auch nachkapitalistischen Welt. In ihr wird das Christentum seine geschichtliche Identität nur dann bewahren und durchsetzen können, wenn ihm im Ganzen eine solche neue, zweite Reformation gelingen kann.»
Metz weiß, daß es dafür in den Großkirchen heute keine Massenbasis gibt. Trotzdem werde es eine «Reformation von unten», eine «Basisreformation» sein. Sie werde niemals «über uns kommen wie ein dramatisches Einzelereignis», es werde «keine Thesenanschläge geben», die zweite Reformation werde ein «langwieriger Prozeß sein, mit vielen Rückschlägen ...»
9) ebenda, S. 367 10) Johann Baptist Metz in der Sendung Von der Tyrannei der Werte, Süddeutscher Rundfunk, 4.3.1980. Aus dieser Sendung stammen alle folgenden Zitate von Metz, soweit sie nicht besonders gekennzeichnet sind. Eine ausführliche Fassung dieser Thesen findet sich in J. B. Metz, Jenseits bürgerlicher Religion, München 1980, S. 94ff
11) Vergleiche den ähnlichen Ansatz bei Helmut Gollwitzer, Citoyen oder Bourgeois, Argument Studienhefte 40, Berlin 1980, S.63
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Sie werde den Menschen der spätbürgerlichen Welt,11 «ausgespannt zwischen Verzweiflung und Engagement, zwischen Apathie und einer spärlichen Liebe, zwischen rücksichtsloser Selbstbehauptung und schwach entwickelter Solidarität, ratlos und seiner selbst noch ungewisser als noch vor wenigen Generationen» erreichen. Sie werde sich daran erweisen, daß die «Protestanten sinnlicher» und die «Katholiken freiheitlicher» werden, daß Protestanten ihre «Berührungsängste» verlieren gegenüber «dem leibhaftigen sozialen Leben». Was Metz die «Auferstehung der Gnade in den Sinnen» nennt, hatte Erich Fromm wohl als «Leben aus dem Sein» gedeutet. Metz will wie Fromm «dem gnadenlosen Umgang des Menschen mit der Natur ein Ende setzen. Also Schluß mit einer rein herrscherlichen Anthropologie, mit einer rein unterwerfenden Machtergreifung des Menschen über die Natur! Nichts ist unsinnlicher als dieser moderne machtergreifende Mensch.»
Was Freiheit, genauer: Befreiung für Katholiken bedeuten könne, zeigt Metz an den lateinamerikanischen Kirchen, an ihren Versuchen, «den Erlösungsgedanken mit dem Befreiungsgedanken zu verbinden und die darin sich abzeichnende Gestalt der Freiheit als kostbare Erbschaft des Evangeliums zu leben».
Vielleicht sind Teile der «präsenten Kirche» schon weiter voran auf dem Weg zur «zweiten Reformation», als manche Bischöfe meinen. Dies zeigt sich auch daran, daß diese präsente Kirche — hüben und drüben — immer weniger bereit ist, die aus der Zeit der ersten Reformation überkommenen «halbseitig gelähmten Christentümer» einfach hinzunehmen. Wer Kirchentage und Katholikentage über längere Zeit beobachtet hat, weiß, daß in den Laienbewegungen schon ein Stück zweiter Reformation vorbereitet und vollzogen wird.
Metz, der schon 1971 nach einer Politik Ausschau hielt, «die mehr ist als erfolgreiche Anpassung an die Zwänge des technischen und ökonomischen Fortschritts»,12) erwartet zu Beginn der achtziger Jahre von der «zweiten Reformation» auch politische Wirkungen. Sie vermittle «die zumutbare Fähigkeit, zu unterbrechen, aufzuhören, nicht einfach so weiterleben zu müssen wie bisher».
Die Überwindung der Sachzwang-Ideologie, die Wiedereinsetzung der Politik in ihre Pflichten und Rechte könnte sich sehr wohl parallel zu dem vollziehen, was Metz die «zweite Reformation» nennt.
Die kirchlichen und die politischen Trampelpfade werden sich an mehr als einer Stelle begegnen, und es ist zu hoffen, daß Gefährten desselben Weges sich als solche gegenseitig wahrnehmen.
12) J. B. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft, a.a.O., S. 89
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Die Partei der Reform und des Friedens
Soweit Parteien mehr sind als bloße Interessengemeinschaften zur Erringung und Verteidigung von politischen Ämtern — und keine Partei kann ausschließlich davon leben —, finden sie ihr Selbstverständnis, ihren Zusammenhalt in wenigen Grundbegriffen, in denen sie ihre Forderungen, Hoffnung und Leistungen zusammenfaßt. Bei den Sozialdemokraten waren dies, zumindest in den siebziger Jahren, Frieden und Reform. Die Partei zehrt, wenn auch immer kümmerlicher, davon, daß 1969 Sozialdemokraten sich aufmachten, Frieden nach Osten zu schließen und die Gesellschaft zu reformieren.
Ein Sozialdemokrat bezieht sein politisches Selbstbewußtsein aus dem Anspruch, zusammen mit einer knappen Million von Genossen für Frieden und Reform einzutreten. Läßt sich dieser Anspruch nicht mehr einlösen, so bleibt von der Sozialdemokratie in den achtziger Jahren nur noch ein Gehäuse ohne Inhalt. Man mag das Gehäuse mit allerhand Werbetricks neu streichen, der Zerfall wird dann nicht zu bremsen sein.
Ob Friedenspolitik in den achtziger Jahren, im Nord-Süd-Verhältnis wie im Ost-West-Konflikt, so aussehen wird, wie in diesem Buch skizziert, ist für die Partei nicht entscheidend. Sicher scheint allerdings, daß, wohin auch immer die innerparteiliche Diskussion führt, die Sozialdemokratie ohne einen neuen Anlauf zur Friedenspolitik ihre Identität verliert.
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Sicher entsprach manches, was Sozialdemokraten an Reformen durchsetzten, dem — eher konservativen — Reformbegriff Christian von Krockows. Es waren «Veränderungen, die auf eingetretene Veränderungen antworten, welche eine Institution mit Funktionsunfähigkeit bedrohen».13 Aber die meisten Reformen, darauf haben Marie Schlei und Joachim Wagner zu Recht hingewiesen,14 haben wirklich mehr Freiheit (zum Beispiel Wahlmöglichkeit in der Rentenversicherung durch flexible Altersgrenze), mehr Gerechtigkeit (zum Beispiel Lohnfortzahlung für Arbeiter im Krankheitsfall) und mehr Solidarität (zum Beispiel Reform der Kriegsopferversorgung) realisiert.
Auch wenn man Susanne Miller zustimmt, daß das Reformwerk «in keinem einzigen Fall bahnbrechend»15 war, so beschränkten sich die Reformen der frühen siebziger Jahre keineswegs auf das, was für die Öffentlichkeit im Vordergrund stand: das ausgewogene Verteilen zusätzlicher Finanzmittel an die besonders bedürftigen Bevölkerungsgruppen. Dagegen spricht zum Beispiel die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes, die Strafrechtsreform oder die Änderung des Mietrechts.
Obwohl Reform immer mehr war als der aufwendige Versuch, jedem etwas zu geben, widersprachen nur wenige, als führende Sozialdemokraten seit der ersten Ölpreiskrise bis zum Überdruß wiederholten: Jetzt seien harte Zeiten, man durchlebe eine Rezession, jetzt gelte es zu sparen, Reformen müßten warten auf bessere Zeiten. Darin steckte ein bis aufs Skelett abgemagerter Reformbegriff, der sich anlehnt an die sechs begleitenden, nachhinkenden und reparierenden Staatsfunktionen, die wir beschrieben haben. Reform, das ist nach dieser Version, wenn man Geld genug hat, Aufgaben anzupacken, die von der Wachstumsgesellschaft diktiert werden. Daß mit Reformen solcher Art nie mehr Staat zu machen, auch keine Partei mehr zusammenzuhalten sein würde, war schon Mitte der siebziger Jahre klar. Trotzdem blieb es bei der Devise: erst Krisenmanagement, dann wieder Reform. Es gab keinen ernsthaften Versuch, den Begriff der Reform mit neuem Leben zu füllen. Theoretische Ansätze, etwa von Peter Glotz,16) wurden in der Praxis kaum beachtet.
13) Zitiert nach Martin Greiffenhagen (Hg.), Zur Theorie der Reform, Heidelberg 1978, S. 26
14) Marie Schlei / Joachim Wagner, Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Bad Godesberg 1976
15) Susanne Miller, Die SPD vor und nach Godesberg, Bad Godesberg 1974, S. 49
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Reform in den achtziger Jahren wird weder das Verteilen von Wachstumsraten sein können noch das Reparieren der Schäden, die undifferenziertes Wachstum hinterläßt, auch nicht oder nur in zweiter Linie die Ausbesserung von Gesetzen, etwa in der Rechtspolitik. Reform in den achtziger Jahren muß an dem Punkt ansetzen, den Hans Norbert Janowski markiert: In einer Zeit, in der Fortschreibung des Bestehenden in Katastrophen führt, «gerät der Status quo unter Legitimationsdruck».17) Was immer heute an etablierten Institutionen und eingespielten Verhaltensweisen vor uns tritt, muß sich neu ausweisen oder verändert werden: die Instrumente einer konjunkturellen Globalsteuerung, die Technologiepolitik, der Fernstraßenbau, die Struktur der Energieversorgung, der Apparat unseres Gesundheitswesens, das Steuersystem, die Agrarpolitik, die Entwicklungshilfe, die Bundeswehr.
Wenn es nicht mehr angeht, «Entwicklungen» technokratisch fortzuschreiben und abzusichern, sondern neue Zukünfte, neue Entscheidungsalternativen zu öffnen, dann hat Janowski Recht: «Die bestehenden Verhältnisse werden ... wahrgenommen als eine realisierte Möglichkeit von Gesellschaft, zu der es Alternativen nicht nur gibt, sondern geben muß. An diesem Punkt setzt Reformpolitik an.»18)
Reform kann nicht auf bessere Zeiten vertagt werden, denn die Zeiten werden ohne Reform immer schlechter. Reform kann nicht auf die Erfolge des Krisenmanagements warten, Reform muß Krisenmanagement erst ergänzen und dann, wenigstens teilweise, ablösen.
16) Peter Glotz / Wolfgang Langenbucher, Reform als Kommunikationsprozeß, in: Zur Theorie der Reform, hg. von Martin Greiffenhagen, a.a.O., S.163
17) H. N. Janowski, Reform als theologisch-ethisches Problem, in Martin Greiffenhagen (Hg.), Zur Theorie der Reform, S.234
18) ebenda, S. 234 19) ebenda
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Nur die «Strategie einer permanenten Reform» kann die Antwort sein auf den «Veränderungszwang»19, in den wir geraten sind. Reform heißt Kriterien und Instrumente bereitzustellen, Mehrheitskonsens zu schaffen und Macht einzusetzen für die Selektion von technischen Alternativen, für die Förderung von Wachstum an der einen, Drosselung an der anderen Stelle. Reform bedeutet bewußte Wachstumsentscheidungen in den Bereichen Energie, Verkehr, Gesundheit, Landwirtschaft, Rüstung. Reformaufgaben finden sich zuerst und vor allem auf den Trampelpfaden, die uns aus der Gefahr führen sollen. Reform ist nicht der Weg ins Paradies, aber vielleicht ein Weg aus Gefahren. Eine solche Reformpolitik wird insofern bei der Regierungserklärung Willy Brandts vom 28.10.1969 anknüpfen müssen, als sie nur durchsetzbar ist, wenn Sozialdemokraten «mehr Demokratie wagen».
Niemand kann behaupten, solche Erkenntnisse seien grundsätzlich neu. Da gibt es Veröffentlichungen der Grundwertekommission beim Parteivorstand, die dies deutlich machen.20) Vor allem aber: Der Berliner Parteitag im Dezember 1979 hat einen südhessischen Antrag zum Beschluß erhoben (Antrag 664), der, würde er zur Leitlinie der Regierungspolitik, der Partei manchen Streit ersparen könnte. Da heißt es:
«Die Steigerung des Bruttosozialprodukts... trägt angesichts der rohstoffvergeudenden und die Ökosysteme belastenden Wegwerf- und Verschleißproduktion immer weniger zur Lösung gesellschaftspolitischer Probleme bei, im Gegenteil, häufig schafft sie diese Probleme erst. Die Wirtschaft muß daher in den ökologisch vorgegebenen Kreislauf eingebunden werden. Die Herausbildung sozialer und ökologischer Richtwerte für die wirtschaftliche Entwicklung muß Priorität haben. Eine ökologisch ausgerichtete Wirtschaft muß keineswegs auf Nullwachstum beruhen (...) Im Bereich des Natur- und Umweltschutzes sind Investitionen in folgenden Sektoren erforderlich (...).»21)
Und dann werden all die Wachstumsfelder aufgeführt, von denen auch in diesem Buch die Rede ist, von den Techniken der Energieersparnis bis zu «ökologischen Nutzungsformen in Land- und Forstwirtschaft».
Da werden die neuen Weichenstellungen für eine «ökologisch verantwortbare Produktionsweise» im einzelnen beschrieben und dann das Fazit gezogen:
«Die Zeit ist überreif, den <harten> Weg der teuren, inhumanen und sozial rückschrittlichen Großtechnologie mit einer starken Zentralisierung von Bürokratie, Technokratie, Investitionsmitteln und Macht zu verlassen und statt dessen <sanfte>, das heißt den ökologischen und humanen Bedingungen angepaßte Technologien zu entwickeln.»
Der überraschte Leser wird sich fragen, wie solche Beschlüsse gefaßt werden können, ohne daß sie erkennbare Wirkungen zeitigen. Die Antwort: Es ist ein weiter Weg, bis es zu solchen Beschlüssen kommt. Den haben die Sozialdemokraten hinter sich. Und es ist noch einmal ein weiter Weg, bis solche Beschlüsse Regierungspraxis werden. Das haben die Sozialdemokraten im großen ganzen noch vor sich, im Bund noch mehr als in den Ländern und Gemeinden. Aber warum sollte die zweite Wegstrecke länger sein als die erste?
Bliebe zum Schluß noch zweierlei zu sagen: Das eine zu den Sozialdemokraten:
Wenn diese Partei leben, nicht in gehorsamer Langeweile verrotten soll, dann muß sie sich neuem, gewandeltem Bewußtsein öffnen,22) und sie muß präzise sagen können, was sie für den Frieden riskieren, vor allem, was sie re-formieren will. Die Antwort darauf kann nur lauten: nicht weniger riskieren als bisher, nicht weniger reformieren als bisher, denn zu re-formieren ist das Industriesystem selbst. Das ist unendlich mühsam, aber es ist der Mühe wert.
Und das andere zu denen, die keine Sozialdemokraten sind:
Niemand braucht uns zu sagen, was an dieser Partei in Routine erstarrt, vertrocknet, sagen wir ruhig: faul ist. Das ist nun einmal so, wenn eine Million Menschen zusammen Politik treiben, also auch Macht erringen und verteidigen, Posten verteilen müssen. Aber es bleibt dabei: Sowenig diese Partei allein imstande ist, Pfade aus der Gefahr zurechtzutrampeln, sosehr man zweifeln darf, ob sich mit dieser Partei allein neue Zukünfte öffnen ließen, so täusche sich doch niemand: Ohne diese Partei gelingt es sicher nicht.
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Ende
20) Grundwerte in einer gefährdeten Welt, Bonn 1977 21) Beschlüsse des Berliner Parteitags 1979, S.56
22) Johano Strasser hat dafür schon 1977 plädiert: <Die Zukunft der Demokratie>#
www.detopia.de
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Dr. Erhard Eppler 1981