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Vorwort 1976

 

 

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Dieses Buch handelt von zwei Gegenständen: vom Schicksal, das dieses 20. Jahrhundert sich selbst und dem kommenden 21. Jahrhundert bereitet, und von der menschheitlichen Initiative zur Überwindung dieses nicht mehr abzuwendenden Schicksals.

Die Darstellung erschien zuerst in der Zeitschrift «Die Kommenden». Die Veröffentlichung fand intensive Resonanz, erkennbar aus zahlreichen Briefen von Lesern an den Verfasser und den Verlag Die Kommenden — zustimmende Reaktionen, ablehnende, begeisterte, entsetzte, alle erdenklichen. Doch die meisten von solcher Art, daß sich daraus sachliche Korrespondenzen ergaben. Alle die Stimmen, auch die ablehnendsten, sind Beweise, daß das Unternehmen sich nicht im luftleeren Raum abspielte, daß es reale, ja brennende Interessen anspricht. Interessen, deren sich viele Zeitgenossen noch nicht oder kaum bewußt sind und die dennoch allen auf den Nägeln brennen.

Auch diese Interessen sind zweierlei, und sie zeitigen zweierlei Denken. Die eine Denkrichtung sieht, daß die jüngstzeitliche Zivilisations-Explosion, die man Technokratie und Soziokratie nennt, Katastrophen entgegenrast, und sie hofft, diese Fahrt dem Abgrund zu sei noch zu bremsen oder umzulenken. 

Die andere Interessen-Artung führt auf ein Denken, das die Katastrophen-Fuhre ebenfalls sieht, aber auch erkennt, daß zwar noch Möglichkeit bestünde, umzulenken, aber nur theoretisch, weil der weitaus größte Teil der Menschheit durchaus nicht in der Lage ist, den Ernst der Situation zu erkennen, geschweige solcher Erkenntnis gemäß sich zu verhalten und Opfer zu bringen. 

Dies bedeutet, daß die direkte Bekämpfung der drohenden Zivilisations­katastrophen heute sich fast nur noch Pyrrhussiege erhoffen kann und daß dieser Zustand solange anhalten wird, bis Verhältnisse eintreten, die einen größeren Teil der Menschheit zum Ernstnehmen der Lage zwingen.

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Wer dies sieht, sieht unmittelbar auch, daß ein relativ kleiner, vielleicht sehr kleiner Teil der Menschheit gänzlich anders geartet und sehr wohl in der Lage ist, die eigene Zukunft ernst zu nehmen sowie entsprechende Konsequenzen zu ziehen.

Verfolgt man die hiermit angedeuteten realen Tendenzen mit Sinn für das reale Lebende und Kommende, so ergeben sich klare Bilder dieser Tendenzen. Solcher Bemühung entspringt das nachstehend skizzierte Bild.

Die Skizze ist inhaltlich nicht im Jahr ihrer Niederschrift — 1975 — konzipiert worden, sie erwuchs aus Beobachten und Bedenken in Jahrzehnten und auf einem Felde, wo die Ereignisse und Tendenzen nicht nur, sondern auch die menschliche Natur und der Umkreis ihrer Reaktivität einbezogen sind. 

Hierdurch unterscheidet sich das vorliegende Buch von der scheinbar gleichen Zielsetzung zahlreicher sogenannter Futurologien, denn es enthält keine oder fast keine Prognosen.  

Das Mißliche der Prognose ist, daß sie die Voraussetzung macht, die jetzt wirksamen Tendenzen seien auch diejenigen der Zukunft. Dem widerspricht die Natur des Menschen, welche insgesamt mehrere zueinander gegensätzliche oder widerstrebende Tendenzen enthält, die im Laufe der Zeiten sich abzuwechseln oder aber bei gleichzeitigem, einander gewachsenem Auftreten in Kämpfe zu geraten pflegen. Diesen menschheitlichen fundamentalen Umstand pflegt das futurologisch-prognostische Denken beharrlich zu ignorieren, weil dieses Denken mehr oder weniger bewußt in der Furcht lebt, sich selbst aufzuheben, sobald die Wahrheit zu Wort kommt, welche besagt, daß «es immer anders kommt, als man denkt».

Das futurologisch-prognostische Vorgehen entsteht ursprünglich aus einer Blendung des Sinnes für Geschichte. Die Blendung zeigt sich unverhüllt in Geschichts­darstellungen, die einen «geradlinigen Werdegang der Menschheit» behaupten möchten und diesen etwa damit beginnen lassen, daß einst ein «irgendwie» affenartig gedachtes Ur-Säugetier «irgendwie» den «Gedanken» gefaßt habe, einen abgerissenen Ast als Prügel zu verwenden, um sich bei den übrigen Tieren «Respekt» zu verschaffen. Von diesem sehr früh in der Urzeit der Erde hypothetisch angesetzten Zeitpunkt ab sei die Menschheit geradlinig-kontinuierlich — von oben geprügelt, nach unten prügelnd — bis zur jetzigen technologischen Superzivilisation «fortgeschritten», behauptet mit geringen Varianten die heutige Durchschnitts-Weltanschauung.

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Die Wahrheit, die jeder Historiker und Vorgeschichtler sehen kann, ist in jeder Hinsicht anders, denn zwischen der Erfindung jenes hypothetischen Ur-Prügels und dem Entstehen der ältesten Bauern- und Handwerkskulturen (des Neolithicum) liegen ungezählte Jahrtausende, in denen die Interessen der Menschheit in jeder Hinsicht anders gelagert waren, so daß es während jener vielen Jahrtausende der sogenannten «Alten Steinzeit» zu keinerlei ins Gewicht fallenden «Fortschritten» in materieller Beziehung kam.

In die gleiche, materiell fortschrittslose Alte Steinzeit fallen jedoch die enormen geistigen Leistungen, die zur Schöpfung und hohen Ausbildung der Sprache geführt haben. Ein Umstand von unerhörtem Gewicht, den die Vergangenheits­kundigen beharrlich zu ignorieren pflegen. (Nur Menghin und Portmann schenkten dem Phänomen die ihm gebührende Beachtung.) Von besonderer Bedeutung ist hierbei, daß die ältesten Gestalten menschlicher Sprache, soweit sie heute noch erkennbar sind, künstlerisch und geistig hochentwickelte Gebilde darstellen, Spiegelungen der Geistes-Art der Vorzeit-Menschen, die sich darin als ganz und gar nicht primitiv ausweisen.

Diese geistige Großtat der materiell unvollkommensten Kultur, die Schöpfung der Sprache während der Alten Steinzeit, diente während unerhört langer Zeitperioden nicht zu den geringsten materiellen «Fortschritten», wohl aber schuf die Sprache der vorgeschichtlichen Zeiten jene primordialen «mythischen» und dichterischen Hochkulturen, deren späte Zeugen alle Naturvölker­kulturen sind und auf deren Geistes-Höhe manche Kenner wie Adolf Portmann mit einer Mischung von Staunen, Ehrfurcht und Unglauben blicken.

Der Übergang von jener uralten und überlangen Stillstandsperiode des materiellen «Fortschritts» erscheinenden «Jüngeren Steinzeit» (Neolithicum), dieser Übergang vollzog sich in einer unerhört kurzen Zeit, die etwa 200, höchstens 300 Jahre umfaßt haben dürfte. Am Ende dieser kurzen, zweifellos stürmischen «Fortschritts»-Periode vor etwa 7000 Jahren zeigen sich alle wesent­lichen Charakterzüge der bäuerlichen Agrikultur und des Handwerks bereits voll ausgebildet.

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Sobald dieser Zustand erreicht war, vor rund 6500 Jahren, erfolgte erneuter materieller Stillstand — «Nullwachstum» —, abgesehen von einer geographischen Ausbreitung der neuen Kulturgesinnung vom Ursprungs­zentrum im Iran aus überallhin, und abgesehen von relativ weniger wichtigen Neuerungen, zu denen der Schritt vom Stein zum Metall als Werkzeugmaterial gehört, was in den meisten Gegenden ursprünglich ein Griff zum billigeren Ersatz anstelle des höherwertigen, aber mühsamer herzustellenden Steinwerk­zeuges war.

Auch dieser Stillstand war durch jahrtausendelange Andersorientierung sämtlicher Interessen der Menschheit bedingt, die in jenen Jahrtausenden die wohlbekannten künstlerischen, religiösen und theoretischen (philosophischen) Interessen unserer Vergangenheit ausbildete und auslebte, von denen die jetzige Antikultur zehrt, wie wenn ein mißratener Nachkomme verpraßt, was seine Väter erwarben. — Eine Schöpfung dieser Geisteskulturen der Vergangenheit, die einst Höchstes bedeutete und heute zerbröselt wird, ist die Schrift, es gibt sie seit wenig mehr als 5000 Jahren.

Die sechseinhalbtausend Jahre Stillstand des technologischen Fortschritts seit dem Neolithicum haben im Grunde bis zur Zeit Napoleons gedauert. Seither erleben wir die Resultate von rund 175 Jahren erneuten technologischen «Fortschritts». In diesen kurzen 175 Jahren entstand alles, was heute die uralte und unwiederholbare, nie wieder zu erschaffende Lebenswelt unserer ehrwürdigen Erde zu zerstören droht. Angesichts dieses Realbildes der Geschichte und Kulturgeschichte kommt das heute fast durchwegs angebotene Phantasiebild eines permanenten und geradlinigen technologischen und materiellen «Fortschritts» seit Urzeiten einer folgenschweren Fälschung der Fundamente gleich.

Nicht besser steht es mit der jüngst ohne zureichenden Grund vertretenen Behauptung, «das Großhirn» sei an der jetzigen Gefährdung der Welt durch den Menschen schuld. «Großhirn» gibt es in der Menschheit mindestens seit den Eiszeiten («Aurignac-Rasse»). Das Großhirn sah somit mindestens 14.000 Jahre technologischen Stillstandes, wovon höchstens 500 Jahre technologischen Fortschritts [waren -OD].

Auf dem Hintergrund dieser Erkenntnis vom absoluten Ausnahmecharakter der technologischen Fortschritts-Zeiten enthüllt sich die desperate Fragwürdigkeit der jetzt — noch — im Schwange befindlichen technologisch-technokratischen «Fortschritts»-Illusion.

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Zutreffende Bilder vom Schicksal der Gegenwartskultur und vom 21. Jahrhundert lassen sich somit nicht auf prognostischem Wege durch Schlußfolgern aus den jetzt und seit noch nicht zwei Jahrhunderten wirkenden Bewegungen gewinnen, sondern allein durch Einbeziehen der zahlreichen anderen, in den Möglichkeiten und Untergründen der Menschheit liegenden Tendenzen, Interessen, Notwendigkeiten, Freiheiten. Hieraus ergibt sich eine Methodik. Sie findet in diesem Buche eine vielfache Auseinander­setzung mit sich selbst und somit auch mit jener wohl naheliegenden rhetorischen Einwendung: «Wie will der Verfasser denn wissen, was er da alles behauptet?» Leser, die diese Einwendung erhoben haben, scheinen die betreffenden methodischen Abschnitte unbewußt überlesen zu haben. Der Hinweis möge daher zur Vermeidung solchen Überlesens dienen. Die Lektüre der betreffenden theoretischen und methodischen Partien gewinnt allerdings ihren eigentlichen Sinn nur, wenn das Gelesene nach der Lektüre tatsächlich bedacht wird.

Im Jahr 1848 schleuderte Karl Marx das «Kommunistische Manifest» in das Weltgeschehen, wo es seither virulent blieb, weil sich Machtballungen ergaben, die von den Propheten-Sprüchen in dem «Manifest» ausgehen, während andere Mächte sich dagegen erheben. Demgemäß gibt es seit 1848 Ereignisse, die das «Kommunistische Manifest» zu bestätigen schienen, und auch solche, die ihm unrecht gaben. In gewisser Beziehung wird das sachliche Verhältnis des hier vorgelegten Buches zu den kommenden Ereignissen ähnlich sein, dennoch von Grund auf anders. Denn das «Kommunistische Manifest» rief Menschen zum Kampf gegen Menschen, Gruppen gegen Gruppen, Ahnungslose gegen Ahnungslose. Denn wer kämpft, glaubt zu wissen, und eben durch diesen Glauben verschließt er sich, lernt nicht. Ohne Lernen aber gibt es kein Wissen oder Bewußtsein von den wirklichen Verhältnissen.

So nicht das hier vorliegende Buch. Dieses vielmehr ist Bedenken und Anregung zu bedenken. Es findet sein Ziel, wo immer, wann immer es bedacht wird. — Bedachthaben aber entwickelt menschliche Qualitäten oder Fähigkeiten. Aus diesen wird Zukunft gestaltet, anders nicht. Bedenken erfordert Zeit- und Müheaufwand. Kürzere, längere Zeit, weniger oder mehr Mühe, je nach Artung des Problems wie auch des Denkers.

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Wer die Zeit und Mühe nicht aufwenden will, liest das Buch wie spannende Informationslektüre. Wenn er das Gelesene nicht vergißt, so wird es ihm später dennoch Nachdenken abgewinnen, weil er im Fortschreiten des Jahrhunderts Vergleiche anstellen kann zwischen den Ereignissen, wie sie eintreten, und den Aussagen dieses Textes. Diesen bevorstehenden realen Anschauungs­unterricht bedachten jene Leser nicht, denen die Darstellung «apodiktisch» schien, «mit allzu bestimmten Behauptungen über die Zukunft, die man doch nicht wissen könne». 

Der Verfasser hegt keinen Unfehlbarkeits-Ehrgeiz. Er weiß natürlich, daß «alles anders kommt, als man denkt», und er hat eben diese Erkenntnis sich zur Methode genommen. Denn er versucht die wahrnehmbaren, offenbaren, wirkenden und prägnanten Tendenzen ins Auge zu fassen, nicht nur die jetzt herrschenden, auch die jetzt unterdrückten, deren innerer Stärke man es aber ablesen kann, daß sie nie auszulöschen sein werden. 

Die im Denken und Wollen der Menschen sich regenden Tendenzen sprechen sich selbst sehr bestimmt aus, ja man kann ihnen konturierte Ereignisdaten ablesen, die dennoch dann von eintretenden Ereignissen verschoben, verbogen, sogar ins Gegenteil verkehrt werden können, ohne daß dies eigentlich die Voraussage dementieren würde. Denn wenn die Voraussage dem Gesamtspektrum der Tendenzen abgelesen war, so wird man dann sehen und sagen können, warum «es anders kam», also warum jene Tendenz unterlag, diese obsiegte. Kommt es schlimmer, so wird sich zeigen, daß menschliches Versagen die schlimme Ursache war, die dann «Sachzwänge» schuf. Kam es besser, so wird die gute Ursache bei menschlich-individueller Initiative liegen, deren Möglichkeiten­umfang nie zum voraus zu erkennen ist, zumal alle Initiative Schicksal zu provozieren pflegt.

So werden sich zwischen diesem Buch und den Ereignissen, die kommen, Koinzidenzen und Disincidenzen ergeben. Beides ist dazu geeignet, Sinn für das Kommende und Lebende zu wecken, zu pflegen, zu steigern. Dieser Sinn, von dem nachstehend immer wieder und fortwährend die Rede ist, gibt diesem Buche selbst den Sinn. Er gibt der insgesamten kommenden Zeit und Menschheit den Sinn.

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Auf dem Mont Sujet (Schweiz), 
Ostermontag 1976, 
J.W.Ernst

 

 

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