1.
Das neue Verhältnis zur Wirklichkeit
und
die Entdeckung von Platons Denken
15-31
Die Zeit, in der dies geschrieben wurde und neu veröffentlicht wird — im letzten Viertel dieses Jahrhunderts — ist eine kritische Zeit. Noch ist nicht klar, wie die letzten Jahre des Jahrhunderts sich abspielen werden. Doch ist eine präzise Alternative sichtbar.
Entweder die Tendenz des Jahrhunderts gleitet, schlendert, in der bisherigen Richtung ungehemmt weiter, oder es gelingt, das Geschehen in Beherrschung zu nehmen, ehe der inversible Moment einbricht. Gelingt es nicht, kommt Absturz, Katastrophenkette, Chaos, Kataklyomen der Naturumwelt, soziale Katastrophe der Menschheit als Folge weltweiter Zerstörung des Ackers, auf dem das Korn wuchs und Mord und Totschlag um die letzten noch eßbaren Brotkrumen.
Dieses düstere Bild braucht man heute nicht mehr zu beweisen, denn es liegen vorzügliche einschlägige Untersuchungen vor, vom Club of Rome; die berühmte Untersuchung «Global 2000», erstellt im Auftrag des US-Präsidenten Carter und seither vieles andere, täglich mehr.
Die kritischen Terminprognosen dieser Werke liegen sämtlich noch innerhalb dieses Jahrhunderts. Es macht den Eindruck, als scheuten die Prognostiker die Jahrhundertschwelle. Was diesseits vom Jahr 2000 nicht mehr geheilt werden kann, soll «inversibel» geworden sein: so die Denktendenz der Prognostiker. Richtig ist jedenfalls, daß die Menschheit jetzt gerade es noch in der Hand hätte, den Kurs umzulenken, um, statt ins Chaos, in eine andersgeartete, sinnvolle Ordnung überzugehen.
In eine neue äußere und innere Kultur also. Denn was heute noch Kultur heißt, darüber besteht sogar Einigkeit, ist keine wahre Ordnung mehr, sondern ist im Grunde bereits unterschwelliges Chaos, das innen wühlt wie Lava im Vulkan, die den kommenden Ausbruch mit Dampffontänen und Stichflammen aus hier, da, dort aufbrechenden Erdspalten ankündigt, in Gestalt von Gewaltmystik. Rauschgiftorgiastik, Kulturstreik, wissenschaftliche Ratlosigkeit, Nichtreaktion, Lethargie überziehen das Ganze wie träge Rauchschwaden.
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Wiederum zwei Alternativen zeichnen sich ab. Die eine ist das Drohen einer dritten Weltkriegskatastrophe, nunmehr mit kosmischen Kräften und in kosmischen Dimensionen ausgefochten. Sie würde eine grauenhafte Beschleunigung der allgemeinen Zerstörung bedeuten. Die andere Alternative bewegt sich auf das gleiche verderbliche Ziel hin, rein durch die Normaltätigkeit der Industrie langsamer, doch scheinbar unaufhaltsam.
Dem Krieg versucht man zu wehren, indem man unvorstellbare Rüstungen gegeneinander aufhäuft. Schon vor ca. 20 Jahren hieß es, daß die damals bereits aufgespeicherten Atombombenarsenale ausreichen würden, «um die gesamte Menschheit siebenmal auszurotten». Und es heißt, daß dies den Leuten, die «regieren», noch nicht genügte — sie haben seither diese Arsenale vervielfacht. Über den Milliarden jetzt lebenden Menschen hängt also die Gefahr, daß sie — fast — alle in wenigen Augenblicken umgebracht werden könnten.
Dies würde die Menschheit über Nacht um etwa 30.000 Jahre zurückwerfen, denn es würden nur wenige überleben. Diese wenigen aber würden überleben. Denn selbst die wirksamsten kosmischen Mordwaffen vermöchten nicht alle in allen Schlupfwinkeln des Globus Verkrochenen zu «erfassen». Die Überlebenden aber, und wären sie nur ein Paar, bärgen in sich die gesamte Menschheitszukunft, und sie würden als unvorstellbar arme Erben der gesamten weiten, mißhandelten, aber von den Mißhandlern befreiten reichen Erde das Ganze von vorn anfangen.
Die Atomkriegskatastrophe bärge in sich die Gefahr von Jahrhunderte anhaltenden Zerstörungen in den elementaren Lebensgrundlage-Sphären von Wasser, Luft und Erdboden samt Pflanzen- und Tierreich. Ein Atomkrieg aber wäre, sagt man, bereits in Minuten entschieden durch gegenseitigen Selbstmord der Atom-Supermächte. Somit wären die davon angerichteten Zerstörungen zeitlich begrenzt, und sie wären gefolgt von der Garantie, daß der Unfug schlagartig aufhören würde.
Hingegen bedeutet die sich anbahnende Atom-Industrie, zusammen mit dem sonstigen materiezerstörenden Gewerbefleiß, so viel wie einen langen Abnutzungskrieg gegen die Naturumwelt, dessen Ende vorderhand nicht abzusehen, aber zu berechnen ist. Siehe die Feststellungen des Club of Rome und den «Bericht an den Präsidenten Carter, Global 2000».
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Es gibt manche Gründe, die das Ausbrechen einer globalen Atomkriegskatastrophe nicht unbedingt wahrscheinlich machen. Es gibt daher Gründe genug, sich mit denjenigen Gefahren auseinanderzusetzen, die von dem Abnutzungskrieg ausgehen, den heute alle gegen alle durch schrankenlose Naturausbeutung auf Kosten der eigenen und der Zukunft ihrer Kinder führen.
Haben wir es noch in der Hand, es zu einer Umbildung der Kultur statt der Zerstörung des Ganzen kommen zu lassen? Es wird sich zeigen. Eines aber ist bereits sicher: Fundamentale Änderung wird kommen, und sie wird ganz bestimmte Ergebnisse zeitigen, durch Vernunft oder durch Not.
Die Ergebnisse sind von der Ausweglosigkeit der jetzigen Denk- und Verhaltensweise bedingt, sie werden daher unter allen Umständen kommen, mit oder ohne Katastrophen, erzwungen oder freiwillig, und je nachdem werden sie verschiedenen Anblick bieten. In ihrem Wesen aber sind diese Ergebnisse bereits jetzt eindeutig zu bestimmen. Wer an ein absolutes Weges-Ende geriet, muß umkehren, gern oder ungern, gleichviel. Das Ergebnis seines Weges ist also zwangsläufig bestimmt, als absolute Umkehr: sie ist das Ergebnis. Umdenken, sich entsprechend umstellen und das Gegenteil tun von allem, was in die Sackgasse geführt hat. «Die Hauptsackgasse der Nachkriegszeit (seit 1948), in welche vor allem die reichsten Länder gelaufen sind, ist die maßlose Überschätzung der Möglichkeiten zur Reichtumsschöpfung auf dieser Erde», schrieb ein kluger Beobachter (1981).
Die Kultur der letztvergangenen vierhundert, dreihundert, vierzig, dreißig Jahre bestand in dem gigantischen Experiment, Materialismus zum Sinn des Lebens zu machen und ihn alle anderen Weltanschauungen überwältigen zu lassen, zugleich mit dem Vorgeben, der Materialismus sei die einziggültige, endgültige und — «alleinseligmachende» Weltanschauung.
Es ist eben dieses Experiment, dessen Fehlschlagen nun bereits abzusehen und dessen Konsequenz in der radikalen Umkehr der enttäuschten Menschheit bestehen wird.
Ist diese Umkehr einmal eingetreten, wohin führt sie? Welche Aufgaben stellen sich ihr? Was wird ihr erstrebenswert erscheinen? Dies zu überlegen ist der Zweck dieses Buches. Das Darzustellende ergibt sich aus dem Umdenken als solchem. Was sich ergibt, ist Anregung des Sinns für das Kommende.
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Tendenzen und Fundamente / Materialismus und Ehrfurcht vor der Wirklichkeit / Platon
Eine der mächtigsten Tendenzen des 21. Jahrhunderts wird Unglaube gegen jede materialistische Welterklärung sein. Ähnlich wie zu gewissen Zeiten die verschiedenen Unterarten des Materialismus, z.B. der politische Imperialismus, der Kapital-Imperialismus, der Kommunismus, der Klerikalismus, der Nationalismus (und weitere Ismen, die heute noch Glauben genießen), der Reihe nach für die Übel in der Welt verantwortlich gemacht wurden oder werden, so wird in naher Zukunft der Materialismus als solcher die Ursache der Übel heißen. Dies wird unstreitig gewisse neue Übel mit sich bringen, denn der Materialismus ist nicht ungültig, er ist nur nicht alleingültig. Die bisherige Hypertrophie des Materialismus wird jedoch unvermeidlich einen starken Gegenpendelausschlag bewirken.
Andererseits hat gerade der Materialismus eine außerordentliche Mißachtung und Geringschätzung der Materie gezeitigt, welch letztere vom Zeitalter der Technik jeder erdenklichen Zerstörung und Wertminderung («Sondermüllproduktion») unterworfen worden ist. Die sogenannte Umweltzerstörung ist vor allem Zerstörung wertvoller Materie, bis hin zu Wasser und Luft. Die Reaktion dagegen ist eine der bereits jetzt aktuellen Regungen der Kultur des 21. Jahrhunderts. Doch es ist bisher nur Vorläufertum.
Die Reaktion wird sich als eine religiös fingierte Liebe zur vom Menschen unberührten Materie zeigen. Man wird gegen den technischen Verbrauch der materiellen Schätze der Erde aktiv Stellung nehmen und den Grundsatz aufstellen, daß nur solche Stoffe bearbeitet werden sollen, die die Natur selbst wiederherstellt und ersetzt. Politische Parteien werden in ihren Programmen den grundsätzlichen Kampf insbesondere gegen alle Chemie und Atomphysik vertreten, und die Namen Chemiker und Atomphysiker werden zu einer Art von Schandbezeichnungen werden, etwa wie zu gewissen Zeiten die Worte Kapitalist, Kommunist, Ketzer und andere, die zum Ausdruck von Haß und Verachtung gebraucht worden sind.
Der Leser möge beachten, daß in diesem Buche nicht propagiert, sondern dargestellt wird, was noch nicht ist, aber kommt. Wer etwas kommen sieht und es nennt, ist nicht der, der es schickt.
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Gegen die Umsturz-Tendenzen werden natürlicherweise konservative und reaktionäre Gegentendenzen zum Schutze der technischen Kultur (die heute noch «Fortschritt» heißt) sich erheben und sie verteidigen. Hieraus ergeben sich die politischen Spannungen und Kämpfe der kommenden Zeit.
Auf der Suche nach dem Gegenpol des weltanschaulichen Materialismus wird insbesondere die Weltansicht Platons entdeckt werden. Diese wird heutigentags in mehreren, sehr verschiedenwertigen Ausgestaltungen dargeboten. Allen Platonismen ist jedoch gemeinsam, daß sie das Denken als Tätigsein an der Wirklichkeit erleben, während alle Materialismen die Wirklichkeit vielmehr in untätigen Händen zu halten behaupten.
Platons eigenes Denken ist außerordentlich verschieden von den Platonismen, welche oftmals, fälschlich, für Platons Weltanschauung gehalten werden, letztlich aber von dem rund 700 Jahre späteren Plotin ausgingen. Der von Plotin (im 3. Jh. nach Chr.) begründete sogenannte Neuplatonismus ist das Resultat eines zwar fruchtbaren, aber fundamentalen Mißverständnisses Platons. Platon selbst wußte nichts von einem weltentrückten «Reich der Ideen», das man immer wieder ihm zuschreibt, obwohl es rein eine Erfindung Plotins ist, über die Platon sich vermutlich entsetzt haben würde.
Platons eigene Weltensicht ist gewissermaßen handfest, denn er konzipierte als Kriterium der Wirklichkeit die unstreitigste aller Wirklichkeiten, die Funktion im Gebrauch (Chresis). Was ich zum sinnvollen Gebrauch, den das Denken bestimmt, in Händen habe (handhabe), das nennt Platon: das Wirkliche. Zum Gebrauch in Händen habe ich nicht die Materie des Dinges, sondern seine Funktion, die von der Materie ebenso nur bedient wird wie von mir selbst, der ich die Funktion handhabe. Ja die Materie ihrerseits ist Funktion — ein dem Ding und mir geleisteter Dienst.
Die Funktion des Dinges, während es in Gebrauch steht: um sie geht es. Man kann sie anschauen, nicht mit dem körperlichen Auge, wohl aber durch Mit-Denken mit ihr (sagt Platon). Diese Anschauung bezeichnet Platon mit dem Worte Idea. Diese ist also das Nächstliegende: Was ich in Händen habe!
Bei der Uhr ist die Funktion: Zeitmessung. Diese ist bei jeder funktionstüchtigen Uhr eine und dieselbe, nämlich die richtige. Neben ihr gibt es keine andere, denn falsche Messung ist keine Messung.
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Das Zeitmessenkönnen ist an der Uhr dasjenige, was allein wirklich Uhr ist. Es ist ein unverwechselbar Eines: das richtige Messen. Und dieses einmal Eine ist die Wirklichkeit oder Wahrheit, um die es geht: die Uhr. Neben ihr keine. Jede unrichtige Zeitmessung ist Null, ist nichts.
Die vielen Uhren, die es gibt, sind bloße Nachbilder, die das eine Wirkliche, was wirklich Uhr ist — ihre Funktion —, verbildlichen, um es dem Denken zu erleichtern, dieses Wirkliche, die Zeitmessung, zu erlangen. Die von den Uhrmachern verfertigten Nachbilder, Reproduktionen, die vielen Uhren, sie sind in geringerem Grade wirklich, sind (nach einem bildhaften Wort Platons) «dem König Wirklichkeit um einen Schritt weniger nahestehend als jenes eine, was wirklich Uhr ist». Dieses Eine aber handhabe ich, sobald ich das vom Uhrmacher verfertigte Ding in Gebrauch nehme. Es befindet sich nicht in fernen Welten, sondern hier bei mir, dem Gebraucher.
Geschaffen aber ist das eine Wirkliche — die Funktion im realen Gebrauch — nicht von Menschen, sondern (Platon): «Es ist ohne Zutun da (physei). Der Gott hat es geschaffen.»
Gebrauch gemacht wird von dem Phänomen, und dies setzt voraus, daß der Gebraucher die Funktions-Möglichkeit, die es bietet, begriffen hat. Man kann einen Felsblock als Tisch gebrauchen, aber nur wenn man weiß, was Tisch ist, was nicht. Man weiß es aus intelligenter Erfahrung. Diese ist eigenes, anschauliches Tun, also erkennbar.
Grundlage allen Phänomens, somit aller Wahrnehmung, ist die Materie. Sie ermöglicht, daß es «viele Uhren» zu sehen gibt. Sie ist ihrerseits eine Funktion, die «ohne Zutun da ist, vom Gotte geschaffen», aber zum Unterschied von allen anderen Funktionen ist sie Phänomen, obzwar Inbegriffen. Jedes anderen Phänomens Funktion müssen wir erst entdecken, lernen, erkennen, oder wir wissen nichts von ihr. Über die Funktion der Materie mögen wir noch so falsche oder geringe Vorstellungen haben, es mindert nicht unsere Beziehung zu ihr. Wir kommen um sie nie herum, denn sie übt Wirkung und drängt sich uns auf, ob begriffen oder nicht, unausweichlich, zuverlässig, unerbittlich.
Alles andere Phänomen, Ding, Werk, Geschöpf, Formgebilde, Kristall, Lebewesen, es ist alles nur Repräsentanz der entsprechenden Wirklichkeiten.
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Durchaus anders die Materie. Sie übt ihre Wirkungen ohne Rücksicht auf unser Fassungsvermögen, und sie tut dies in jeder Quantität und spezifisch je nach Art. Die Wirkung der Materie ist Initiative. Uns bleibt nur, auf sie einzugehen. Die Materie — es ist atemberaubend, sobald man es bedenkt —, nur sie ist als Phänomen selbst die eine volle Wirklichkeit ihrer selbst. Sie brennt, löscht, erfrischt, erstickt, nährt, vergiftet, hält uns, stürzt uns so, wie sie will, ohne unser Zutun und ohne Denkbarkeit einer noch wirklicheren Existenz ihrer selbst oder ihrer Funktion. Alles andere steht mit uns in Wechselwirkung. Der Materie sind wir unterworfen und müssen uns ihr fügen. — Gleichwohl ist unser Verhältnis zu ihr mangelhaft, solange wir keine Anstrengungen unternehmen, um sie als die Funktion, die sie ist, zu erkennen. Der Mangel äußert sich als Fehlverhalten.
Eine Ahnung von der außerordentlichen Position der Materie im Weltganzen lag bei der Hochschätzung der Materie als der «einzigen Wirklichkeit» zugrunde, womit einst der Materialismus — begann. Dieser Ausgangspunkt ist lange vergessen.
Was heute Materialismus genannt wird, ist längst bei der ahnungslosesten aller Weltanschauungen, dem naiven Realismus, gelandet, wo — Platon kämpfte dagegen — allein das Ding, das Exemplar, die Ware geschätzt werden und für real gelten, die Funktion aber bloße Eigenschaft des Exemplars heißt. Diese verbreitete Denkweise ist Kurzschluß: «Alles Ding ist aus Materie gemacht. Materie ist phänomenale Wirklichkeit. Also ist alles phänomenale Ding pure Wirklichkeit.»
Das Kurzdenken als hausbackene Philosophie der Handwerker und Händler blieb unschädlich, bis die beiden, zum Gigantismus von Industrie und Kommerz erwachsen, mittels entwickelter Chemie und Atomphysik die Materie als solche anzutasten begannen. Seither rächt es sich, daß der Materialismus versäumt hat, sich selbst zu Ende zu denken.
Denn sobald die Sonderstelle der Materie erkannt ist und zu Ende gedacht wird, führt dies auf die Erkenntnis, daß die Materie in der Gesamtschöpfung einen überaus hohen Rang einnimmt. Mit ihrer Eigenschaft sich aufdrängender, von nur Menschen nicht abhängiger, unausweichlicher Wirklichkeit ist die Materie offenbar die tiefste, unersetzliche Grundlage aller Lebensgrundlagen.
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So ist sie der höchste Wert aller irdischen Werte. Sie ist, was in älteren Zeiten die Urmutter Erde hieß. Sie nannte man die erhabenste aller Göttinnen. An diese Mythologie erinnert sogar noch das Wort Materie, denn mater (lateinisch) bedeutet Mutter, Materialismus will eigentlich «Dienst an der Mutter» besagen.
Atomzertrümmerung, wie sie seit 1945 gehandhabt wird, ist irreversible Zerstörung von Materie, Zerschmetterung der Grundlage aller Grundlagen. Tötung der Urmutter. Blasphemisch-frivoler «Dienst an der Mutter», Muttermord.
Man verharmlost sich die Sache und sagt, es würden doch nur relativ kleine Quantitäten zerstört. Jedoch die Materie ist an jedem Orte und Punkte, wo sie ist, ganz vorhanden, und ihre Wirkung ist stets völlig wirklich. So als sei sie ein Individuum, das unbeschadet seiner Individualität an vielen Orten gleichzeitig zugegen zu sein wüßte, gemäß dem als «Eigenschaft Gottes» definierten Begriff: Allgegenwart. Wer kann mit Sicherheit sagen, was die atomare Zerstörung kleinster Quantitäten dieser oder jener Materie für die Gesamtquantitäten derselben und was sie für die Gesamt-Erde, also die Gesamt-Materie als solche, bedeutet?
Wir verharmlosen uns die Sache und vergleichen die atomare Zertrümmerung mit den altbekannten molekularen («chemischen») Umwandlungen Sieden, Brennen, Salzbildung, Photosynthese im Lebendigen. Doch es ist Selbstbetrug, alle diese Prozesse waren und sind reversibel, keiner bewirkt puren Verlust. Aus der Feuerasche sogar keimt neues Leben. Anders der Atommüll. Eine dritte Verharmlosung klammert sich an die natürliche Radioaktivität des Urans und behauptet, die künstliche Massierung derselben im Reaktor, in der Bombe sei ebenso «nur Naturkraft» wie die milde Uranstrahlung*. Es ist, wie wenn man natürliches Sterben des Altgewordenen und vorbedachten Mord für ein und dasselbe erklärt. Vom Menschen bewirkte Atomzertrümmerung ist ein in sich unsittliches Beginnen, weil es Mord ist. Mord an unser aller Mutter Erde.
Künstlich naiv interpretiert der Materialismus die Materiezertrümmerung als völlig harmlose Energiegewinnung. Sie ist aber gleich dem antisozialen Zerstören von unwiederholbarem menschlichem Schicksal, und auch gleich dem stumpfen Vandalismus, etwa wenn man unsterbliche Kunstwerke zu Brennholz zerschlägt.
* OD: Sehr schön! In der Anti-Ökologie-Diskussion der 90er Jahre wurde immer viel über die "NATÜRLICHE HINTERGRUNDSTRAHLUNG" der Erde geredet. (... welche höher sei als diejenige der Atomsprengungen)
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Die Materie, die Mutter Erde, sie ist es, die der angebliche «Materialismus» nicht nur mißachtet und geringschätzt, sondern zu zerstören droht, und er hat dazu nunmehr die gigantischen Mittel zur Hand. Sein «Dienst an der Mutter Erde» ist nicht nur Muttermord, sondern Selbstmord der Menschheit. Die blinde Begründung lautet:
Wir können doch nicht wieder wie in der alten Steinzeit leben. Dieser «Begründung» zuliebe riskiert die Menschheit dieses Jahrhundertendes nicht nur das Waldsterben, sie wird auch das Humussterben dafür in Kauf nehmen — das heißt das Sterben allen Getreides, der Kartoffeln und aller nutzbaren Pflanzen insgesamt, das Viehfutter eingeschlossen. Und sie wird sogar den großen Overkill nicht scheuen, den Totaltod aller — um der Bequemlichkeit willen. Um des geliebten, überaus geliebten Autos willen.
Ist es wirklich wahr, daß die Menschheit zu dumm zum Leben ist? Nein. Die Menschheit nicht, nur das materialistische Denken, dieses ist allerdings zu dumm, um auch nur dem elementarsten Selbsterhaltungstrieb zu genügen. Und dieses Denken — nicht das Auto! — ist in Wahrheit der über alles geliebte Fetisch, den alle anbeten. Der Materialismus, er ist das Tabu, das niemand anzutasten wagt.
Man kann es sich heute leisten, sogar so deutliche Worte gegen den Materialismus zu sagen — zu drucken, man riskiert gar nichts dabei. Keinen Protest. Höchstens, daß ein Leser leise lächelt. Denn der Götze Materialismus sitzt hoch auf seinem Thron. Jeder weiß, daß niemand ihm zu Leibe rückt. Solange die Welt steht, hat es wohl noch nie eine so universelle Macht auf Erden gegeben wie diesen Allgötzen, den Materialismus. Das wird so bleiben, bis es sich aufdrängen wird, was dies Ding, der Materialismus, an sich ist. Der Tag wird kommen.
Er wird aber erst kommen, wenn die Gegenspielerin des Materialismus — die Materie — wenigstens in Grundzügen als die Funktion, die sie ist, erkannt — identifiziert und realisiert — sein wird. Dann wird sich erweisen, daß die Materie für uns als Denker ganz die gleiche Rolle spielt, die wir als Denker für alles übrige Ding und Wesen spielen. Wir verwirklichen die Dinge, die Wesen, die Vorgänge, indem wir sie als Funktionen erfassen und in Gebrauch nehmen. Die Materie verwirklicht mich in meiner Sonderexistenz. Denn indem sie sich mir als das Nicht-Ich aufdrängt, zwingt sie mich zur Selbstbehauptung, also zum Dasein. Also erschafft sie mich.
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Ich, dieses sich Behauptende, pflege meinerseits allem, was ich vorfinde, mich aufzuprägen, indem ich versuche, es in Gebrauch zu nehmen und, zum besseren Gebrauch, es zuzubereiten. Hierzu dient mir das Denken. Der Gebrauch verwirklicht. Das Denken stellt das Wirkliche vor Augen. Es orientiert vor Gebrauch, während des Gebrauchs und nach Gebrauch. Die Orientierung erst ermöglicht sinnvollen Gebrauch.
Anschauung der Wirklichkeit, nämlich der Funktion des Dinges im Gebrauch, sie ist das offenbare, erkennbare Ding an sich (das Erkennbare als solches), das Platon entdeckt hat — in ungeheurem Gegensatz zu Kants Behauptung, dieses Ding sei das Nichterkennbare. — Es ist erkennbar durch Dia-Noia, sagt Platon. Das griechische Wort bedeutet: «Aufmerksame Beobachtung (nous: noia), die das Phänomen von verschiedenen Seiten her durchquert (dia-) und den zeitlichen Ablauf von Anfang bis Schluß (dia-) verfolgt, also mitdenkt.»
Diese zusammenschauende und mitdenkende Beobachtung, sagt Platon, führt zu innerer Anschauung des Wirklichen als solchen — eben des Dinges an sich, welches dessen Funktion im Gebrauch ist. Solche Anschauung heißt auf griechisch Idea. Deutsch heißt es oft: die Gestalt. — Idea, dieses berühmte Wort und die Sache, die es bezeichnet, wurden keineswegs von Platon erfunden, sowenig als das Wort Gestalt und sein Begriff von Christian von Ehrenfels geschaffen sind. «Der Tischler (sagt Platon) verfertigt den Tisch, indem er auf die Idea des Tisches hinblickt.» Das heißt, es kommt ihm fürs erste nicht darauf an, ob der Tisch rund oder viereckig, sondern ob er als Tisch zu brauchen sein wird. — So denken muß jeder Praktiker. Platon macht es sich und uns nur klar, wie der Praktiker zu denken pflegt. Die Ganzheit, die Gestalt, ist dem bloßen Gesichtssinn nicht wahrnehmbar, auch sogar dem inneren Sinn, dem eigentlichen Vorstellen, nicht, sondern allein dem Mitdenken und Zusammenschauen (Dianoia).
Platons Denken ist mühelose Überwindung der materialistischen Faszination, welche Kant mit seinen «Erkenntnisgrenzen» errichtete. Durch die Platonsche Konzeption des Wirklichen wird die Materie zum weit höher geachteten Interessengegenstand, denn sie bietet der Wahrnehmung die Grundlage, ohne die das Wirkliche — das Ding als Funktion — nicht zu erkennen ist. Dieses wahre Ding-an-sich aber — die Funktion — ist das Interessante-an-sich.
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Es ist das Interesse des Lebens, um dessentwillen wir leben. Alle wollen wir erfahren, «wozu alles und jedes dient», und wir wollen alles seinem Sinn gemäß gebrauchen. Sogar der Mißbrauch hat seine Wurzel hier. Denn niemand will mißbrauchen. Sondern wer Mißbrauch treibt, bildet sich ein, er gebrauche funktionsgemäß.
Der Materialismus mißbraucht die Materie, da er sie, diesen höchsten Wert der irdischen Umwelt, als billiges Material versteht und sie so gebraucht, daß der Gebrauch beständig diesen Wert «entropisch» vermindert. Dieses verächtliche Umgehen mit der Materie, das dem Materialismus eigentümlich ist, wird in kommenden Generationen lodernden Platz erzeugen, wie im 19. Jahrhundert die achtlose Ausbeutung von Arbeitern Platz erzeugte.
Platons eigenes Denken liegt verschüttet unter der Interpretation, die sein Werk erfuhr, und unter dem Schutt der Übersetzungen, welche ein unzulängliches Verständnis früherer Zeiten konservieren. Manche Platon-Übersetzungen bedeuten kaum so viel, als gewisse süßliche Kopien von Rafael oder Leonardo für die Wahrheit dieser Maler bedeuten. Nicht selten ist Platon sogar ins Gegenteil seiner selbst «übersetzt» worden.
Die Entdeckung von Platons eigenem Denken wird voraussichtlich nur zu einem Teil von verbessertem Verständnis seiner Texte und Sprache ausgehen. Verbessertes Textverständnis wird kommen, doch es wird vor allem die wichtige Funktion der Bestätigung und des Wiederanschlusses an die geistige Vergangenheit erfüllen. Das echte Platon-Denken ist Entdeckung der Wirklichkeit, und es ist Erkenntnis der Bedingungen dieser Entdeckung. Es wird aus ernüchterter Beobachtung und Betrachtung von Welt und Leben unvermittelt neu entspringen, sobald der Rausch des Materialismus seine Reize verloren haben wird.
Die eigenartige, komplexe Lage des historischen Platonismus zusammen mit dem im 21. Jahrhundert und bereits vor dessen Beginn sich abzeichnenden Interesse für alles Platonische bedingt, daß in nicht ferner Zukunft ein Kampf um Platon entbrennen wird. Wie intensiv, ja leidenschaftlich dieser Kampf sein wird, läßt sich bereits heute an der Intensität eines Kampfes um Platon ermessen, der in Amerika etwa seit den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts tobte und erstaunlicherweise bis zu den Schmähschriften gegen den rund 2300 Jahre verstorbenen Platon geführt hat.
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Doch dieser Kampf in Amerika ist nur Vorspiel, denn in ihm waren nur erst gewisse Übersetzungs-Fehlbilder von Platon umkämpft, ohne die Erkenntnis, daß es Fehlbilder sind, für die nicht Platon verantwortlich ist, sondern die Übersetzer. So war es fast nur Kampf gegen Chimären. Der kommende Kampf um Platon aber wird den wahren Platon und speziell Platons Art und Weise zu denken zum Objekt haben. Sobald dieses Objekt ins Gespräch kommt, wird es erregend wirken.
Die Lust am nach innen gewendeten Willen
als treibende Kraft des Geschehens
Hauptfundament der Kultur des 21. Jahrhunderts wird das brennende Interesse für jederlei nichtmaterielle Substanz sein sowie für jede dem Immateriellen mehr oder weniger ähnliche Substanz. Dieses Interesse entspringt aus einer Entdeckung, die kommt. Gegenwärtig herrscht fast allenthalben die Meinung, es sei Mühsal, den Willen nach innen zu wenden, passives Sichtreibenlassen aber sei Lust. Diese Meinung und die entsprechende Einstellung können nur so lange herrschen, als das Erleben auf den unmittelbaren Gegenwartsmoment eingeengt ist. Denn bekanntlich führt jede «Lust» beim passiven Taumel des Augenblicks — «Carpe diem» — zu nachmaliger depressiver Unlust, «Katzenjammer» und dergleichen genannt. Würde man außer dem puren Jetzt immer auch die anschließend-nächste Zukunft miterleben, so würde jede passive Lust am Jetzt fortwährend von lebhafter Voraus-Empfindung («Elpis») der baldigen unweigerlichen depressiven Mißstimmung und Unlust vergällt werden, und es gäbe somit keine passive Lust am Jetzt mehr. Niemand mag vergällte Lust.
Lust der Willensbetätigung selbst steigert sich dem Kommenden entgegen. Wer an einem Werke arbeitet, mag jetzt im Jetzt das Werken als Mühsal empfinden. Bezieht er des Werkes Gelingen und Wirken mit Voraus-Empfindung («Elpis») ein, so mischt sich die Lust des Kommenden mit in die Willens-Mühe und wandelt sie in helle Freude am Werke und an der Mühsal selbst — Freude am angestrengten Willensaufwand. Diese Freude wird dem Werkenden sogar dann kaum geschmälert, wenn das Werk mißlang oder am Wirken verhindert sein wird.
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Vielleicht möchte jemand hier einwenden, die Lust am Willen sei doch altbekannt, als Lust an der Arbeit und Produktion. Doch dies ist nicht die Lust am Willen als solchem, die hier nur mitspielt. Das Tun bedient sich des Willens, es ist nicht der Wille. Wille will tun, und er erschöpft sich im Wollen als solchem.
Es ist nun ein bedeutender Unterschied, ob die Lust des Lebens sich am Tun und vollends an der Produktion entzündet oder am Willen. Im letztern Fall nämlich macht es nichts aus, wenn z.B. der Wille am Tun und Schaffen verhindert wird, aber gleichwohl unbeirrt tun will. Die Hemmung, das Nichttunkönnen, wirkt dann auf den Willen in ähnlicher Weise, wie gewisse Hemmvorrichtungen auf die hochgespannte Wärme oder Elektrizität wirken: Wärme, Elektrizität beginnen dann zu strahlen. So auch entwickelt gehemmter, doch unbeugsamer Wille eine Fernwirkungskraft, nämlich Strahlung in die Zukunft hinüber, wohin ja aller Wille strebt.
Es gibt einen bestimmten Grund, der es erlaubt, sogar prognostisch zu erkennen, daß die Entdeckung der Lust am Willen kommt. Der Grund liegt eben in der vom Materialismus mit so viel Erfolg gepredigten Lust am puren Augenblicke mit ihren depressiven Folgen. Eben dies bewirkt schließlich einen empörten Umschlag in sein Gegenteil, weil die Verhaftung am Augenblick dem Willen eine Fesselung anlegt, deren er sich schließlich bewußt wird, worauf er entweder die Fessel bricht oder aber zu «strahlen» beginnt und so oder so zu sich zurückfindet.
Das Phänomen solchen Umschlags ist an sich alt und wohlbekannt. Alle Jugend seit eh und je pflegt in gewissen Jahren den Verlockungen des Augenblicks zu erliegen — bis dann die Geister sich scheiden. Die meisten erheben sich schließlich mit Ruck, um radikal kehrtzumachen und an ihre Lebensarbeiten zu gehen, das heißt die eigene Zukunft sich vor Augen zu setzen und sich davon bestimmen zu lassen. Diejenigen, die es nicht vermögen, geraten auf Abwege, gehen zugrunde.
Doch dieses Jugendphänomen betrifft nur die äußeren Verhältnisse, es betrifft nicht das Gesamtverhalten zur Welt. Darum bedeutet das «Ablegen jugendlicher Unvernunft» oft nur einen Übergang aus dem Übermut ins Philisterium, von Materialismus zu Materialismus. Zur Entdeckung des Willens als Freude des Lebens braucht es unter allen Umständen individuelle Entwicklung, Initiative eines jeden.
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Dennoch kann man das Mündigwerden der Jugend als gültiges Gleichnis für den weltgeschichtlichen Übergang zwischen dem 20. und dem 21. Jahrhundert nehmen.
Dieser Übergang ist davon bestimmt, daß in den letzten drei Jahrhunderten in stets steigendem Maße nicht nur die Jugend in jugendliche Versuchungen, sondern die gesamte Menschheit jeden Alters in alle erdenkliche Willens-Passivität hineinverführt worden ist.
Denn eben dies ist das Wesen des materialistischen Zeitalters. Das äußere Leben sollte, nach einem bekannten Ausspruch, «ein riesiger Klubsessel» werden. Das soziale Leben sollte durch erklügelte «Verbesserungen» aller öffentlichen Institutionen und Konstitutionen ganz und gar am Schnürchen gehen und «alle befriedigen», ohne daß auch nur einer zu sozialem Gefühl oder sozialer Tat sich sollte veranlaßt sehen. — Das ingesamte innere Leben aber sollte der Maxime folgen: «Dein Trieb dein Himmelreich! Laß dich treiben. Vergnüge dich!»
Auf all den drei Feldern, dem äußeren, dem sozialen, dem inneren, wird die Reaktion empörten Gefühls kommen. Denn alle drei Passivitätsangebote beleidigen den selbstverantwortlichen Menschen, da sie ihm Selbsthingabe an fremde Macht, damit diese ihm Lust zufüge, zumuten. So führen sie schließlich zu ungeduldiger Reaktion. Diese wird Bewegungen auslösen.
Gleichwohl blieben diese bald stecken, wäre Negation die Triebfeder. Doch ist hier der Protest vielmehr nur Symptom. Die volle Wahrheit ist sogar eher umgekehrt. Durch bestimmte Vorgänge, die sich seit Jahrhunderten vorbereiteten und im 20. Jahrhundert kulminierten, vollzieht sich im Lauf des späteren 20. Jahrhunderts eine reale anthropologische Veränderung im Menschen, die sich — unter anderem — eben darin äußert, daß die Menschen beginnen, den Willen nicht mehr nur als Mühsal, sondern als Lust des Lebens zu entdecken. Von diesen historischen Untergründen soll später die Rede sein. Die Entdeckung als solche wirkt entscheidend und gestaltend auf die Persönlichkeit und durch sie auf die sozialen und kulturellen Verhältnisse.
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Immaterielle Substanz — was ist das?
Die Entdeckung des Willens ist ihrer Natur nach individuell und Initiative jedes einzelnen. Doch da die reaktiven Voraussetzungen nun mit jedem Jahre sich steigern, wird diese Entdeckung immer mehr einzelne ergreifen, die sich sodann verständigen und Gruppen, ja Völker bilden werden.
Inhalt des Willens wird jenes Interesse an aller nichtmateriellen und aller dem Immateriellen ähnlichen Substanz sein.
Immaterielle Substanz enthalten wesentlich die irrealen Bilder aller Arten. Sie sind «irreal» dadurch, daß sie nicht sind, was sie darstellen. Zum Beispiel das Spiegelbild ist Licht und Nichtlicht komplex am Werke. Es stellt dar z.B. einen Menschen, der in den Spiegel blickt. Für einen konsequenten Materialistischen wäre am Spiegelbild nur dessen Physik interessant, denn diese ist des Bildes materielle Substanz. Was das Bild darstellt, hat indessen mit seiner materiellen Substanz nicht das geringste zu tun. Für den konsequenten Materialisten wäre der Darstellungsinhalt «keine» Substanz, weil er keine materielle ist. Tatsächlich gibt es allerdings keine konsequenten Materialisten.
Irreales Bild ist auch jede andere der materiellen Substanz eingeprägte Gestalt. So vor allem die Menschengestalt, die hinfällige. Auch sie ist Darstellungsinhalt, als solcher immaterielle Substanz. Erscheinung derselben, nicht anders als das Spiegelbild, das flüchtige. Ebenso alle anderen Gestalten der Naturreiche bis hin zum Kristall. Der Materialismus hat eine Tendenz entwickelt, von all den Gestalten möglichst das Interesse abzulenken, vom immateriellen Spiegelbild auf das Spiegelglas und die Optik hin. Die kommende Weltanschauung wird eine Philosophie der Gestalt sein.
Irreales Bild ist auch jedes innere Bild in Gedanken: Erinnerung, Vorstellung, Phantasie. Dessen materielle Substanz ist das erklingende Wort, auch das innerlich, im Gedächtnis und in der Sprachfähigkeit erklingende. Das innere Bild schafft sich seine Gestalt aus dem Klang der Stimme und Sprache, aus dem Ton und Fluß dieses Klanges, wie die äußeren irrealen Bilder ihre Natur-Gestalten sich aus den äußeren materiellen Substanzen der Erde schaffen.
Alle diese «irrealen» Bilder sind «irreal», weil sie nicht die Materien darstellen, aus denen sie bestehen. Sie stellen immaterielle Wirklichkeit, nämlich «Funktion» in Platons Sinne dar, also Wirklichkeit im eigentlichen Sinne.
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Wer also den Materialismus und seinen Irrealismus satt hat, wird sich für die angebliche «Nichtsubstanz» aller «irrealen Bildes» insbesondere interessieren und hoffen, «in diesem Nichts das All zu finden».
Eine seltsame Vorläuferschaft dieses aufs irreale Bild gewendeten Interesses ist die Rauschgiftmanie im späten 20. Jahrhundert. Sie entstand originär aus Aufflackern vom echten Interesse an immaterieller Substanz und irrealem Bilde, doch dieses Interesse wurde von der Macht des Materialismus gleichsam gehascht und in Dienst genommen — nein, in Gefangenschaft gesetzt. Denn das echte irreale Bild wird vom Willen geschaffen. Das Rauschgiftbild aber wird dem Süchtigen durch die im Gifte wirksame Energie aus dem Leibe gefetzt und seinem passiven Bewußtsein aufgedrängt, gleich wie fixe Ideen aus krankhafter Disposition des materiellen Körpers aufsteigen und sich aufdrängen. Das Rauschgiftbild ist also das gerade Gegenteil der Lust am Lebenswillen. Es gaukelt «immaterielle Substanz» vor, doch es ist nur Spiegelung der vom Gift bewirkten körperlichen Zerstörung, somit in geradezu quadriertem Maße pure Lust des Augenblicks, unmittelbar anschließend durch Depression, körperlichen Abbau und Erkrankung zu bezahlen.
Sinn für das Kommende
Das Phänomen der kommenden Kultur des 21. Jahrhunderts wird — dort, wo diese Kultur zur Geltung kommt — mit der Rauschgift-Verirrung fast mühelos fertig werden, vermöge der Kraft, die innerhalb der jetzt jüngsten und der kommenden Generationen hier, da, dort elementar aufbricht als Lust und Freude am Willen und als Fähigkeit, unmittelbare Zukunft voraus-mitzuerleben, dadurch jede destruktive Lust sich zugleich zu vergällen, so daß nur das Heilsame sich als Freude bewährt.
Methode zum Vorausmiterleben ist jedes irreale Bild, welches kommende Wirklichkeit darstellt. Nämlich solches irreale Bild, dessen kommende Verwirklichung sich ebenso aktuell zeigt, wie beim realen Anblick der Welt, deren jetzige Wirklichkeit sich als Aktion und Funktion bestätigt.
Ein Beispiel.
Auf einer Autostraße gerät ein Auto ins Schleudern, gleitet dem Straßenrand und einem Abgrund zu: Wer dies mitansieht, sieht das Auto in den Abgrund stürzen, noch ehe es stürzte. Dieses irreale Bild aber ist, obwohl irreal, dennoch in vollem Sinne Wirklichkeit. Es ist nicht Sein, doch kommendes Sein: imminente, noch immaterielle Wirklichkeit (Substanz), die anschließend materielle Wirklichkeit wird. Die Wirkung dieser immateriellen Wirklichkeit auf den Miterlebenden ist bekanntlich tief eingreifend und in Wahrheit gewaltiger als die Wirkung des vollendeten Anblicks.
Die enorme Wirkung des Voraus-Bildes beruht auf dem Miterleben («Eleos, Elpis»), das den Menschen elementar ergreift, solange das Verhängnis rollt. Die Macht, die ergreift, ist eben das rollende Verhängnis, diese Übermacht. Sobald es geschehen ist, vermag der Mensch sich selbst aus dem Ereignis, das andere traf, herauszuziehen. Eben dies befähigt ihn dann zu helfen.
Es ist ein einfaches Lebensbeispiel, doch es weist symptomatologisch über sich hinaus. Den Unfall erlebt jeder mit, weil jeder dieses Ereignis elementar erfaßt als etwas, das ihn mittrifft. Andere bevorstehende Ereignisse treffen uns nicht, ehe sie eintrafen, weil wir sie nicht fassen. Solche Ereignisse gleiten gewissermaßen durch uns durch, wir bieten ihnen keinen Widerstand. Wenn aber ein Ereignis uns bereits vor dem Eintritt traf, so ist es z.B. Schreck, der uns in die Glieder fuhr und den Menschen in sich erstarren machte.
So oft ein Ereignis mit innerem Erstarren erlebt wird, drängen die Auswirkungen und Konsequenzen sich elementar auf. Die Erstarrung errichtet dem Willen Hemmnisse: Dies macht sensitiv, weil es den Willen strahlen macht. — Außer dem Schreck gibt es zahlreiche Willenshemmnisse. Jedes Interesse z.B., das sich in die Zukunft erstreckt, begegnet solchem Hemmnis: also jede Hoffnung, Vorfreude, Besorgnis und so weiter. Sobald solche Regungen aktiv, als Wille, der an die Hemmung brandet, erlebt werden, durchbrechen sie das Gefängnis der Gegenwart und erzeugen Sinn für das Kommende.
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