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2. Der große Aufbruch — Katastrophen und Kulturen 

 

 

Nutzung, Ausbeutung, Kulturstreik 

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Die im vorigen Kapitel beschriebenen Reaktionen und Umstellungen wie auch der Sinn für das Kommende werden mit unter­schiedlichen Wertigkeiten auftreten. Viele werden nur begreifen, daß die weiterrollende technische Ausbeutung der Materien ins Unheil führt, ohne aber zu sehen, wie dem Übel zu steuern sei. Diese werden sich vor allem mit scharfer Kritik gegen die technische Kultur stellen.

Es wird zwischen dem anhebenden 21. Jahrhundert und dem ausklingenden 20. Jahrhundert, also zwischen den kommenden und den älteren Generationen, eine unermeßliche Kluft aufbrechen, weit tiefer, als je in den überschaubaren Jahrhunderten Klüfte zwischen den Generationen bestanden haben. 

Man wird fünf- bis siebentausend Jahre zurückgehen müssen, um einen ähnlich tiefen Bruch zwischen den Generationen zu finden, nämlich bis zu der Zeit, die die Erfindung der Schrift brachte (um 3000 v. Chr.), und bis in die Zeit des Übergangs vom Naturkind-Dasein des Menschen zur Kultur im ursprünglichen Sinn des Wortes, nämlich zur Bodenkultur (um 5000 v. Chr.). Damals begann die Nutzung der Materie.

Die dieser Epoche vorausgehenden Naturvölkerkulturen hatten höchste Ehrfurcht vor jedem unberührten Naturgegenstand, der so lag, wie ein Gott und Schöpfer ihn hingelegt hatte. Mußte der Mensch einen Stein, ein Stück Holz in Bearbeitung nehmen, so empfand er den Eingriff wie ein Sakrileg, das er durch künstlerische Vollendung der Bearbeitung zu sühnen suchte.

Als diese Naturkind-Gesinnung durch die Nutzungsgesinnung der Kultur abgelöst wurde, mußte eine tiefe Kluft zwischen den Vertretern des Alten und des Neuen entstehen. Damals warfen die Älteren den Jüngeren vor, sie erzürnten die Götter und zerstörten die Welt.

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Die «Fortschrittler» lachten damals. Jetzt zerstören sie sie wirklich. Die Nutzung der Materie ist es, die in jüngster Zeit ihren Höhepunkt und ihres Weges Ende erlebt. Doch ist es nicht die Nutzung als solche, was in die Sackgasse geführt hat, sondern die Verbindung der Nutzung mit dem Ausschließlichkeitsanspruch des Materialismus, wie er seit den jüngsten Jahrhunderten — nein, Jahrzehnten — aufkam und die jetzige Antikultur schuf.

Früher war die Nutzung Dienst am Leben, das Leben aber diente geistigen Interessen der verschiedensten Art. Nun wurde der Sinn der Nutzung die materielle Bereicherung ohne anderes Ziel. Wer sich bereichern will, will mehr und mehr. Oder aber Nutzung und Bereicherung dienen dem Vergnügen des Augenblicks. Dieses wiederum pflegt Bedürfnis, das man nicht mehr missen möchte (wenn nicht Sucht und Laster), zu entwickeln. Es führt ins Gebrauchen-Müssen: Knechtschaft der eigenen Bedürfnisse. Das Streben nach Bereicherung und das Streben nach materiellem Genuß, beides kann Sinn haben, wenn es Mittel zu sinnvollen anderen Zwecken ist. Als Selbstzweck und Lebensinhalt ist beides Mißbrauch des Nutzungsprinzips, Zerstörung von dessen Funktion, somit Wirklichkeits-Entfernung, Kontaktlosigkeit, Vereinsamung.

Reaktion gegen den Mißbrauch, Gegenpendel, ist eine Tendenz, nicht zu nutzen, brachliegen zu lassen. Brachliegen wird vielerlei: Kulturboden, Maschinenhallen, Talente, Kräfte. Vorläufertum hiervon ist der sogenannte Hippyismus, insoweit er sich als Nichtmittun, Kulturstreik, «escapism» — nicht mindere Wirklichkeitsfremde, Vereinsamung —, manifestiert. Doch der Hippyismus ist bisher nur erst Ahnung des Kommenden, die noch nicht sah, woher es kommt. Die jetzigen Hippies haben noch nicht die vollen Folgen des Mißbrauchs der Nutzung erlebt.

Diese Folge zu erleben steht uns allen bevor, zunächst in Gestalt von Naturkatastrophen durch Umweltzerstörung. Hinzu kommen sodann Reaktionen der Natur selbst, die wie jedes Lebewesen sich zur Wehr setzt, sobald die Grenze des Zumutbaren überschritten wurde. Dann gnade uns Gott.

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Reaktive Naturereignisse

 

Eine umrißhafte, noch kaum kenntliche Vorahnung dessen, was da kommt, läßt das Naturereignis ahnen, das eintrat, als in Amerika die weltgeschichtlich erste Atombombe experimentell soeben gezündet werden sollte. An dem hierfür bestimmten Tage war alles bereit, und es nahte der festgesetzte Moment zum Druck auf den Knopf. Urplötzlich zog ein Gewitter auf, es entsendete einen einzigen Blitz, der in das Turmgerüst einschlug, wo der welthistorische Schuß ins Ungewisse bereithing. Instrumente wurden zerstört, die Zündung mußte verschoben werden.

Das Unheimliche an dem Ereignis ist offenbar, daß hier die sonst anscheinend ewig blinden Naturkräfte evident intelligent eingriffen. Es erscheint wie ein Warnruf vor dem Abgrund. Es erzielte bei den unmittelbar Beteiligten gewiß einen momentanen seelischen Schock — dieser wurde dann beiseitegeschoben. Man reparierte den Schaden und zündete die Bombe. Das zweite Mal kam kein Warnruf mehr. Daß es gezielt eingreifende Naturkräfte gibt, war früher allgemein anerkannt, und es ist bei den natur­näheren Völkern noch heute wohlbekannt. Zu diesen gehören zum Beispiel die heutigen Mittelmeervölker, trotz Tourismus, der an den Landesbewohnern nur vorüberrauscht.

Im Sommer 1960 hatte die berühmte Sängerin Callas das antike Theater in Epidauros für Gesangskonzerte gemietet. Zwanzig­tausend Zuhörer saßen erwartungsvoll in dem riesigen Rund. Noch um 19 Uhr 45 war der Himmel wolkenlos, wie seit manchen Wochen und wie in dieser Jahreszeit der griechische Himmel zuverlässig immer ist. Um 19 Uhr 50 zeigte sich wie aus dem Nichts eine kleine Wolke. Punkt 20 Uhr brach die nasse Hölle los. Blitz und Donner und Wolkenbruch. Die zwanzigtausend ohne Mäntel und Schirme stürzten in der damals obdachlosen Gegend in wildem Gewühl nach ihren Autos. Die Sängerin erkältete sich und mußte das zweite Konzert absagen. Das dritte fand vor halbleerem Zuschauerraum statt. — Der Verfasser hat das Gewitter und die genaue Uhrzeit unweit Epidauros in Methana miterlebt, wo er auf einer Terrasse beim Hause saß und schrieb. Das Wetter brach dermaßen unvermittelt los, daß ihm die Manuskripte durchnäßt waren, ehe er aufspringen und unter Dach flüchten konnte.

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Das Wesentliche an dem Vorgang ist die minutengenaue Gleichzeitigkeit des Gewitters mit dem angesetzten Konzertbeginn — in Griechenland in der dort seit Jahrtausenden absolut schönwetterbeständigen Hochsommer-Jahreszeit.

Man kann das Auffällige ignorieren wollen. Man kann dies leichten Herzens tun, solange es sich um dergleichen unschädliche Sommernachtstraum-Streiche irgendeines «Puck» von Epidauros handelt, dem vielleicht das neuzeitliche Singen nach Noten, mit festen Tonhöhen, nicht gefiel, weil er sich der altgriechischen, sprachlich orientierten Ode und ihrer in sich beweglichen, syllabischen Gleittöne und Rhythmen entsann. — Man kann jede intelligente Handlung von Urhebern, die man nicht sah, für Zufall halten wollen.

Man kann sogar die eigene Intelligenz leugnen, da man auch sie nicht sieht. Die unheimliche, evidente Folge davon ist dann, daß man die Intelligenz verlieren wird, so wie einem die Muskeln atrophieren, wenn man konsequent kein Glied rührt.

Auf dem Abhang des Ätna liegt ein Dorf, Sant'Alfio, das in diesem Jahrhundert sich bereits zweimal vor dem Vulkan gerettet hat. Das erste Mal 1928, als ein breiter Lavastrom direkt auf das Dorfzufloß. Lava fließt langsam, millimeterweise. Aber kein Mensch kann sie aufhalten, niemand sie umlenken. — Die Bewohner von Sant'Alfio griffen zu einem auf dem Ätna seit Jahrhunderten bewährten Mittel: Sie formierten sich zu einer Prozession und trugen die Gebeine ihres Dorfheiligen hinauf zur Lavaquelle.

Die Leute in dem Nachbardorf Mascali lachten überlegen. Ihr Dorf war nicht bedroht, und sie waren nicht abergläubisch. — Bald aber atmeten die Sankt-Alfianer befreit auf, und den Mascalesen verging das Lachen. Denn der Lavastrom drehte auf einmal ab, von Sant'Alfio weg, um direkt auf Mascali loszufließen, das bis zum letzten Haus zerstört wurde. Die Mascalesen verzweifelten an der Tücke des Feuerberges, sie verließen den Ort ihrer Ahnen und bauten ihr Dorf Neu-Mascali unten am Meer an einem lavasicheren Platze wieder auf. Dort steht es nun an der Autostraße, der «Orientale Sicula», zwischen Messina und Catania. Also geschehen 1928.

Im Jahr 1972, bei einem neuen großen Ätna-Ausbruch, war Sant'Alfio, das 1928 verschont wurde, erneut bedroht. Die Bewohner bestürmten ihren Pfarrer um eine rettende Prozession. Dieser zögerte.

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Erst als die Bedrohung beängstigend nahe kam, setzte er die Prozession an, die dieses Mal nicht bis zu der sehr hoch oben ausgebrochenen Lavaquelle, sondern nur bis zu der unteren Spitze der glühenden Lavazunge, die über dem Dorf hing, führen konnte. 

Der Verfasser lebte damals unweit des Ätna, er hat wenige Tage vor der Prozession dort den Augenschein betrachtet und das weitere im Lande miterlebt.

Die Prozession war genau 10 Minuten unterwegs, noch nicht bei der Lava angekommen, als ein gewaltiges Getöse im Innern des Berges die Leute erschreckte, die gleichwohl unbeirrt mit den Reliquien ihres Heiligen weiterzogen, bei der Lava ihre Gebete verrichteten, dann wieder heimkehrten, den Willen, zu überleben und auszuharren, im tiefen Herzen. 

Noch am gleichen Tag wurde bekannt, daß ganz oben am Gipfel ein neuer, sehr grosser Krater, ein dritter Hauptkrater, durchgebrochen war — eben an der Stelle, wo die Vulkanologen ihr Observatorium erbaut hatten und sich sicher wähnten und wo nun Rauch und Dampf in großen Mengen abströmten. Von der Lavaquelle kam die Meldung, daß die Intensität des Lavaflusses plötzlich nachgelassen habe. Noch zwei Wochen blieb das Hangen und Bangen über Sant'Alfio, dann war die Entscheidung gewiß: Der verringerte Lavafluß erstarrte, ehe er das Dorf erreichte. Die Entscheidung im Berg selbst aber war gefallen, als 10 Minuten nach Aufbruch der Dorfbewohner-Prozession der neue Hauptkrater mit Getöse durchgestoßen wurde.

Wieder kann man von «blindem» Zufall reden. Man könnte dies auch tun, wenn Sant'Alfio nicht nur zweimal, sondern hundertmal in dem Jahrhundert sich gerettet hätte. Man könnte.

Man kann ebensowohl die in den undurchsichtigen Naturgewalten beide Male evident wirksame Intelligenz wahrnehmen, welche auffälligerweise ganz genau so wirkt, wie in den Bibelgeschichten der Gott der Israeliten in die Elemente eingreift, ins Feuer in Sodom, ins Rote Meer, als Moses es durchzog, ins Gewitter zu Elias' Zeiten.

Die beschriebenen reaktiven Naturereignisse aus unserem Jahrhundert sind zunächst Hinderniserrichtung, zum Teil Katastrophen­verhütung. Das Gewitter in Epidauros, aber auch die Zerstörung von Mascali 1928 enthalten jedoch ein intelligent-aggressives Element. «Weise» kann man diese Aggressionen keineswegs nennen. Sie wirken wie elementare Emotions-Ausbrüche. Elementar, wie unkomplizierte Seelen sich verhalten, fühlen sich auch die wohltätigen unter diesen Ereignissen an.

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Man sieht sich unmittelbar an massenpsychologische Reaktionen erinnert, an kollektives elementares Gerechtigkeits­gefühl (das sehr irren kann) oder an verletzten Kollektivstolz (der sehr egozentrisch sein kann).

Es besteht kein Grund zu glauben, daß in der Zukunft die reaktiven Naturereignisse immer nur auf begrenzte und eher harmlose Wirkungen wie bisher beschränkt bleiben werden. Je tiefer der Mensch in das Gefüge und das Gleichgewicht der Naturkräfte greift, desto erstaunlichere reaktive Wirkungen werden wir auf uns zukommen sehen.

 

Die reaktiven Naturkatastrophen 
Der kommende Abwehrkrieg der Naturgewalten 

Seit die Atomkraft entdeckt und in Handhabung genommen wurde, gehört sie zum Schicksal der Menschheit. Das heißt, die Auseinander­setzung mit ihr ist uns nicht erspart geblieben.

Andererseits gehört es nicht zum Schicksal der Erde, daß bereits jetzt das Weltende eintrete. Die Naturgewalten vermögen intelligent einzugreifen, und sie werden es tun, sobald der Mensch in seiner Verblendung Gefahr für die Zukunft des Lebens und der Erde selbst provoziert. Dann werden reaktive Naturkatastrophen, von gleichsam strategischer Intelligenz gelenkt, die ärgsten industriellen Zentren der Umweltzerstörung systematisch vernichten, ohne übrigens die Menschen zu schonen. Es kann zum Beispiel zur Versenkung und Überflutung ganzer Festlandteile kommen.

Um reaktive Naturkatastrophen handelt es sich auch, wenn die vom Menschen herausgeforderten Naturkräfte seiner Kontrolle entgleiten. Über dieses unheimliche Phänomen stehen in dem vom amerikanischen Präsidenten Carter 1977-1980 veranlaßten «Bericht an den Präsidenten» («Global 2000») ausführliche Studien und prognostische Dokumentationen. Dort ist davon die Rede, daß zu Beginn des 21. Jahrhunderts «die Menschheit wichtige Möglichkeiten zur Erhaltung des Lebens verloren haben wird. Die Welt wird anfälliger sein für Naturkatastrophen und auch für soziale Störungen.»

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Ursache des Verlustes sind die viel zu lange unbeachtet gelassenen «Nebenwirkungen», die an jedem technologisch-industriell provozierten, produktiven Vorgang und an jedem künstlichen Wirkstoff hängen. Die verantwortungslose Vernachlässigung dieser «Neben»-Wirkungen richtet ungeheure Zerstörungen in der Welt der Lebenselemente, in den Grundmaterien Luft, Wasser, Humus und Nahrung, an.

Indem diese Zerstörungen mehr und mehr der Kontrolle des Menschen entgleiten, bereiten sich weltweite Ereignisse vor, die man sich durch folgenden doppelten Vergleich vergegenwärtigen kann: Man kann durch einen Staudamm ein fließendes Gewässer zum Stillstand bringen. Er hält stand, bis die Gewässer mit Wucht überborden. Erhöht man den Damm, so kann man den Dammbruch verzögern, bis irgendwann doch die Bruchgrenze erreicht ist. Ist schließlich der Bruch eingetreten, so läßt sich immer noch auf Flucht sinnen, denn das Wasser gehorcht seinen Gesetzen, es läuft einem bergwärts Fliehenden nicht nach. — Ganz anders eine militärisch verteidigte Grenze. Hier bedeutet «Dammbruch» soviel wie eine ins Land getragene, feindlich vorgehende Intelligenz, die sich nicht natur­gesetzlich verhält, sondern unberechenbare Elemente enthält. Es gibt, nüchtern betrachtet, nur zwei Methoden, um einer solchen Macht zu begegnen: entweder intelligente (strategische) Bekämpfung oder intelligente Kooperation.

Reaktive Naturereignisse — diese Vorstellung entspringt der Beobachtung, daß es Naturvorgänge gibt, die sich der Kontrolle des menschlichen Denkens entziehen, weil sie nicht fixierten Naturgesetzen gehorchen, sondern intelligent ablaufen, so wie menschliche Handlungen dies tun. — Der Kontrolle unseres Denkens entziehen sich alle Naturvorgänge, die sich der Kontrolle des Menschen selbst entziehen. Das sind im irdischen Geschehen die sogenannten irreversibel gewordenen Entwicklungen — eben diejenigen, die der «Bericht an den Präsidenten» kommen sieht.

Reversibel sind alle Abläufe, die den seit alters wirkenden Naturgesetzen folgen. Irreversible Vorgänge sind solche, die aus den seit alters gegebenen Zuständen hinaus- und nie wieder in sie zurückführen. Solche Vorgänge schaffen neue Naturzustände. Es ist nicht selbstverständlich, daß diese wiederum starren Naturgesetzen gehorchen müßten! Vielmehr werden beim Weg ins Irreversible viele Naturgesetze gleichsam über den Haufen gestoßen, also unwirksam gemacht. Was in der Folge bleibt, ist freie, nicht gesetzlich wirkende Kraft, das heißt: eine Kraft, die so wirkt wie die menschliche Intelligenz.

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Die Naturgesetze wurden früher für identisch mit den mathematischen Gesetzen gehalten. Diese Vorstellung war nicht zureichend bedacht. Sie ist naiv. Manche leicht zugängliche Beobachtung hätte längst gewahren lassen können, daß den Naturgesetzen eine Intelligenz zugrunde liegt, die dem Naturgesetz so gehorcht, wie wir dem Staats- oder dem Moralgesetz gehorchen, die aber unter Umständen das nur scheinbar mathematisch zwingende Naturgesetz kraß durchbricht.

So etwas liegt zum Beispiel in der Tatsache vor, daß zwar sonst durch Abkühlen alle Stoffe kontinuierlich dichter werden — das Wasser aber wird nur bis +4 ° dichter, es dehnt sich bei weiterem Abkühlen wieder aus (und verdichtet sich erst wieder weiter bei extremer Tierkühlung). Die Folge dieser Verhaltensanomalie des Wassers ist, daß das Eis schwimmt. Ohne die erstaunliche Anomalie, Inkonsequenz, würde das Eis im Ozean sinken, es würde in der kalten Tiefe nicht schmelzen, und alle Meere, Seen und Flüsse wären längst bis auf den Grund vereist. Kein Leben könnte es geben. — Die Verhaltensanomalie des Wassers folgt ihrerseits einem Naturgesetz, welches aber das sonst absolut allgemeine Naturgesetz der Verdichtung bei Abkühlung — das uns zunächst mathematisch und logisch begründet scheint — intelligent durchkreuzt. Die Inkonsequenz ist Intelligenzhandlung aus einem Bewußtsein davon, daß die Erde Leben tragen kann oder soll. Ohne den Natur-Gesetzesbruch gäbe es kein Leben.

Kann das Gesetz der Natur gebrochen werden, damit Leben sein könne, so kann es auch gebrochen werden, wenn das Leben als solches in Gefahr der Vernichtung steht und verteidigt werden soll oder muß. Das Leben ist gütig und liebevoll, es ist langmütig. Es läßt sich unendlich viel gefallen. Es verteidigt keines seiner Lebewesen, sondern gibt sie preis, um lieber immer wieder neues Leben zu zeugen. Nur wenn die Lebensquelle als solche in Gefahr ist, wird das Leben als solches sich verteidigen.

Noch herrscht Friede zwischen den Naturgewalten und den Menschen. Noch sind die in den Atomkraft­werken provozierten und massierten immensen Naturkräfte in Kontrolle oder Scheinkontrolle gehalten. Trotz zahlreicher sogenannter Störfälle und Pannen (sie sind in Wahrheit zahllos, wenn man die verheimlichten mitrechnet) ist es bisher — 1985 — den Technikern gelungen, ohne Großunfall durchzukommen.

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Durchzurutschen, müßte man sagen. Denn die Atomtechnologie krankt seit Beginn daran, daß man ohne ausreichende Grundlagenforschung sogleich ans Erbauen von Kraftwerken ging. Wenn auch seither Grundlagenforschung betrieben worden ist — in Europa in dem Institut CERN in Genf —, so konnte diese für die bereits gebauten Kraftwerke nicht fruchtbar gemacht werden, und auch in die zwar noch nicht gebauten, aber bereits fertig geplanten, fließen die fortschreitenden Forschungen nur mühsam oder gar nicht ein. Denn jede Umbildung, und sei es nur in der Planung, kostet enorme Summen.

Daß der «größte denkbare Atomkraft-Unfall» («GAU») eines Tages kommt, ist sicher. Es gibt keine absolut pannensichere Technik. Bei den vielen ungewissen Faktoren der Atomtechnologie, von der mangelhaften Grundlagenforschung bis zu dem drohenden Schrecken menschlichen Versagens, ist das bisherige Ausbleiben eines Großunfalls nichts Geringeres als ein Wunder — das heißt ein Phänomen, das den natürlichen Lauf der Dinge bisher aufgehalten, die Wahrscheinlichkeit durchbrochen hat.

Je nachdem, wo schließlich der erste Großunfall dennoch passieren wird, wird er Hunderttausende oder Millionen Todesopfer fordern. Der bisher gefährlichste unter den bekanntgewordenen «Störfällen», der von Harrisburg 1977, hätte Millionen Menschenleben gekostet, wenn er nicht wider Erwarten der beteiligten Fachleute und trotz mangelhafter Vorkehrungen doch noch vor Eintritt des Schlimmsten unter Kontrolle gekommen wäre. Daß dies gelang, ist wahrhaftig ein Wunder: ein reaktives, ein intelligentes Naturereignis also! Es bestand darin, daß der Reaktorkern nicht schmolz, obwohl die Kühlung ausgefallen war und viel zu lange nicht ersetzt werden konnte. Daß die Techniker schließlich die Lage meisterten, ist ein Wunder, das darauf beruhte, daß ihnen in der Not die rechten Gedanken kamen. Daß der Reaktorkern nicht schmolz, war vielleicht sogar eine wundermäßige Durchbrechung des Naturgesetzes selbst.

 

Viele der bisherigen reaktiven Naturereignisse der neueren Zeit präsentieren sich fühlbar als Warnungen. So der Blitzeinschlag vor der ersten atomaren Zündung, so die vielen Pannen vor und nach Harrisburg, wo so auffällig oft nur die «glücklichen Zufälle» und das «Glück im Unglück» das Ärgste verhüteten. Der Gesamt-Eindruck ist, daß wir jetzt noch Schonfrist haben.

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Noch leben wir im Schutze glücklicher Serien des Zufalls, hinter denen menschen­freundliche, unsichtbare Macht fühlbar ist. Werden die freundlichen Warnungen immer wieder in den Wind geschlagen, so werden gerade die glimpflich abgelaufenen Beinahe-Katastrophen die Techniker und das Wartungspersonal sorglos machen. Dann werden die berüchtigten «Pechsträhnen», die Unglücksserien, folgen. Was dann kommt, ist nicht auszudenken.

Denn die gesamte Industrie, nicht nur die atomare, arbeitet mit unverantwortlichen Risikofaktoren, wo die glücklichen oder gütigen Zufälle ins Budget einkalkuliert sind, die Möglichkeit von Pechsträhnen aber für abwegig erklärt ist und außer Betracht bleibt. — Nur die Versicherungs­gesellschaften haben die Risiken der Atomindustrie berechnet und abgeschätzt, und sie kamen zu dem Schluß, daß kein Atomkraftwerk mit zu versichernden Risiken arbeitet, das heißt also, daß jedes solche Werk ein unverantwortliches Risiko darstellt. Die Folge ist, daß in allen Ländern die Atomkraftwerke aus der Haftpflichtversicherung, die für jeden anderen Industriellen obligatorisch ist, ausgenommen sind. Wie die Regierungen und Staaten mit diesem Hazardspiel zu leben vermögen, ist schleierhaft. Diese gefährlichsten aller Menschenwerke werden gebaut ohne Verantwortlichkeit für Schäden, die für Unbeteiligte entstehen können. Weil diese eventuellen Schäden so groß sein können, daß niemand sie bezahlen könnte. — Diese ungeheure Tatsache wird in allen Ländern praktisch verschwiegen, und man muß weit suchen, um auch nur elementare Informationen darüber zu bekommen. (Siehe: Fridolin Forster, «Politische und wissenschaftliche Verantwortung im Atomzeitalter», Verlag Rudolf Kugler, Zug, Schweiz, 1978.)

Die Zeit des Umschlags ist nicht mehr ferne. — Noch herrscht Friede zwischen der Welt der unsichtbaren Naturkräfte — «Naturgeister» — und der Welt der Menschen. Doch ist unverkennbar, daß dieser «Friede» längst ausgehöhlt, nur noch ein Noch-nicht-Krieg ist, prekär abhängig von errichteten Dämmen, die die Reaktionen der Naturgewalten abwehren, und ebenso prekär davon abhängig, daß die von uns Menschen Herausgeforderten bisher noch den alten Friedenszustand nicht aufgekündigt haben. Es wird sich radikal ändern, sobald der Dammbruchmoment erreicht ist.

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Das Ereignis, das uns bevorsteht, ist vergleichbar mit dem Eintreten eines erklärten Krieges, der nun nicht zwischen Menschen-Völkern sich abspielt, sondern von der außermenschlichen, unsichtbaren Welt, der das Leben auf der Erde entspringt, in unsere Menschenwelt (die wir jetzt noch für die einzige intelligente Welt halten) hereingetragen werden wird. In diesem «Kriege» wird es nicht mehr nur die bisher allbekannten passiven, instinktiven oder mechanischen Naturreaktionen geben — «Greif ins Feuer, so brennt es dich; iß verdorbene Speise, und du wirst krank», und so weiter —, sondern es werden die reaktiv-intelligenten Naturereignisse, gehäuft und gezielt und unerbittlich vorgehend, hinzutreten.

Dieser «Krieg» läßt sich am ehesten mit einem Krieg zwischen alliierten Heeren, wo beiderseits kein einheitliches Ober­kommando besteht, vergleichen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß nicht jedes reaktive Naturereignis von tieferer Weisheit bestimmt zu sein braucht. Schabernackartig zum Beispiel die Reaktion der Lokalgeister (spiritus loci) von Epidauros auf die Sängerin Callas. Wie der Fingerzeig einer höheren Macht jener Blitz in den Mast der ersten Atombombe vor der Zündung.

Auch auf sehen der Menschenwelt wird es in diesem kommenden Krieg der Elementarkräfte gegen die menschliche Unvernunft keine einheitliche Strategie und nicht einmal nur eine Front geben. Denn unter uns Menschen hat sich längst ebenfalls ein Widerstand gegen die Naturausbeutung und ruchlose Mißhandlung der Natur geregt und zu ganz neuen Frontbildungen geführt. Die heutige «Alternative»-Bewegung ist ein Vorläufer dessen, was dann auftreten wird. Zwischen den kämpfenden Elementar­mächten und den gegen die gleiche Tyrannei der Technokratie kämpfenden Menschen und Menschengruppen wird es zu tatsächlichen Ententen und Allianzen kommen. Dies trägt den Krieg mitten in die Menschenwelt herein. Schon heute ist der Riß zwischen dem umweltbewußten und dem ausbeutungsfreudigen Teil der Menschheit so tief, wie wohl noch nie eine Kluft zwischen Menschen tief ging. Der gegenseitige Unwillen und die Unversöhnlichkeit werden sich aber noch bedeutend steigern. Denn die Natur-Ausbeuter wissen in den Tiefen der Seele, daß sie irren. Aber sie haben in die Irrtümer hineininvestiert. Um wenigstens die Investitionen zu retten, scheuen sie kein Mittel.

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Dies geschieht, obwohl längst klar ist, daß die Energieerzeugung durch Atomkraft unwirtschaftlich ist. Nur im großzügig ökonomisch denkenden Amerika hat man bereits weitgehend die Konsequenz gezogen, die Investitionen als abgeschrieben erklärt und den Neubau von solchen Kraftwerken fast vollständig eingestellt. Es wird sich bezahlt machen. Die Europäer wagen bisher nicht, die Fehlinvestitionen einzugestehen. Es wird sie einer um so böseren Stunde der Wahrheit entgegenführen, nicht nur wegen des um so höheren ökonomischen Kollapses, je länger in das Vergebliche investiert wurde. Denn je länger der Spuk geht, desto unwilliger wird auch die Reaktion der empörten Natur-Umwelt sein.

— Sie begann jüngst mit dem beängstigenden Wäldersterben. Dessen Ursache kennt man nicht, soviel auch gemutmaßt wird. Der Wahrheit am nächsten dürfte die Ansicht kommen, daß die Gesamtheit der von Menschen verursachten Schädigungen schließlich das Maß des für die Wälder Erträglichen überschritten hat. Doch auch diese Ansicht läßt ein unerläßliches Element außer acht: die Psyche der Natur. Die Möglichkeit irrationaler, obwohl intelligenter Reaktion der Mächte, die sich bisher als naturgesetze­streu erwiesen haben. — Man braucht nur das einfache Phänomen der sogenannten Materialmüdigkeit ernst zu nehmen, um zu erblicken, was der Natur möglich ist. Sie wirkt überall nach Gesetzen des Lebendigen, sogar im Material. Erst recht im grünen Walde. — «Die Ausbeuter», das sind im Grunde nicht die Menschen, sondern die materialistischen Denkweisen, die in den Menschen sich als Verführer betätigen. — Ihnen stehen diejenigen Denkweisen gegenüber, mit denen andere unsichtbare Mächte auf uns Menschen Einfluß zu gewinnen suchen. Und zwischen den Denkweisen spielt sich der eigentliche Kampf der Geister ab, dessen taktisches Objekt zunächst die Menschheit ist. Strategisch geht es aber um die Existenz der Erde selbst, ob sie überdauern wird, und sei es sogar nur als Wüste.

Der Kampf um den Menschen bedeutet, daß die Menschen zwar den Einflüssen der Denkweisen exponiert sind, und doch nicht passiv. Die Menschen vermögen sich zu wehren. Sie vermögen zu wählen, wie bei jeder versuchten Einflußnahme der Mensch zu reagieren vermag. Konsequenz ist, daß unter den Menschen, die für oder gegen die Materialismen und die Technokratie, für oder gegen den Abwehrkrieg der Naturmächte stehen, immer wieder Frontwechsel stattfinden können, indem einzelne oder ganze Gruppen ihre Denkweisen und Überzeugungen ändern. Von diesen Vorgängen hängen die Siege und Niederlagen in diesem kommenden sichtbar-unsichtbaren Kriege ab.

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Manche der reaktiven Naturkatastrophen, die bevorstehen, werden direkter Kampf um die menschlichen Denkweisen sein. Manche werden unmittelbare Abwehr der Naturmächte gegen die von ihnen als Tyrannei erlebte Technokratie sein. Und die meisten werden beides zugleich sein. So zum Beispiel das Wäldersterben. Es zwingt nachzudenken. Was geschähe, wenn es zu einem Weizensterben kommt? Oder zu epidemischen Rinderkrankheiten? — Da wir nicht Holz essen und Feuerung aus Arabien beziehen, wirkt das Wäldersterben zunächst nur als Vorwarnung. Übernatürliche Warnungen vor Eintritt der Katastrophen werden häufig und sehr häufig werden. Die materialistischen Denkweisen vermögen solche Phänomene bekanntlich nicht aufzufassen, und wer den Materialismen und der von ihnen abhängigen Technokratie frönt, hört natürlicherweise die Warnrufe nicht.

 

Die Kluft zwischen den Generationen  

 

Die besondere Gestalt, welche der Kampf der Denkweisen innerhalb der Menschenwelt selbst annimmt, bedarf noch einer näheren Betrachtung. Auch hier handelt es sich um das Auftreten eigentlicher Naturkatastrophen; sie spielen sich in der Natur der Menschenwelt ab. Diese Natur hat im allgemeinen mehr Einfluß in den jungen Generationen und weniger in den älteren. Folge ist, daß die meisten Jüngeren auf seilen der revoltierenden Elementargewalten stehen werden, während die meisten Älteren den Kampf gegen diese unsichtbaren Armeen, deren Existenz sie zu leugnen suchen, führen werden. Unter diesen Umständen scheint der Abwehrkrieg der empörten, von Menschen mißhandelten Natur gegen ihre Peiniger im äußeren Anblick wie Aggression der jüngeren gegen die älteren Generationen.

Anfänge davon haben wir seit 1968 bereits gesehen. Dabei zeigte sich eine höchst signifikante Erscheinung, die sich enorm steigern wird: absolutes Unverständnis derer, die die aggressive, technokratische Mißhandlung der Natur, ja der Materie selbst vertreten und betreiben, gegenüber denen, die die Natur als die mit Füßen getretene Kreatur und die Materie selbst als die mißhandelte Gottheit erleben und verteidigen:

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Unverständnis also der — meisten — Älteren gegenüber den — meisten — Jugendlichen: «Wir haben hart gearbeitet, um euch, den Jungen, ein besseres (— ein bequemeres! —) Leben zu schaffen, und ihr seid so undankbar, daß ihr gar behauptet, wir hätten euch eure Zukunft zerstört!» Das Unverständnis äußert sich als unerbittliche Feindschaft von Eltern gegen ihre Kinder im Jugendalter.

Im Naturlauf vollzieht sich in diesen Frontpositionen ein permanenter Mannschaftstausch und Stellungs­wechsel: Die meisten Jüngeren wechseln, sobald sie älter werden, in die Position der Älteren hinüber. Zugleich rücken die heranwachsenden Jüngsten in die von den Ältergewordenen preisgegebenen Positionen nach. So bleibt die Front als solche unverändert, als Kluft und Kampf zwischen allen aufeinanderfolgenden Generationen. Eine Kluft, die sich bis in die einzelnen Personen hinein erstreckt, da die Ältergewordenen, mit ihrer eigenen Jugend zerfallen, in sich zerrissen leben.

Diese Verhältnisse sind nicht neu. Sie dauern bereits seit Beginn dieses Jahrhunderts, seit der damaligen «Jugendbewegung» (und sie hatten Vorstufen bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts). Doch die Front wird härter, aggressiver, unversöhnlicher werden, weil die tatsächliche Zerstörung der Lebensgrundlagen, der Zukunft also, Schritt um Schritt deutlicher, unabweislicher und somit zur Existenz-Beängstigung wird — für jeden, der einen Funken Sinn für das Lebende und Kommende in sich hat. Und wer diesen Funken nicht hat, dem wächst ebenso das Unverständnis ins Maßlose.

 

Noch bis heute verläuft bei der Menschheit der Zeitgenossen das individuelle Aufwachsen dergestalt, daß dieser Sinn für gesunden Menschenverstand, der Sinn für Zukunft, während der Jugendzeit wie von selbst aufgeht und sich bis in die späteren Zwanzigerjahre erhält und dann in wenigen Jahren abstirbt. Um das 30. Jahr pflegt dieses innere Erblinden vollzogen zu sein. Es zeigt sich dann handgreiflich an dem «Stellungswechsel», der vom Betroffensein zum Profitdenken führt. 

Es wird nicht für alle und nicht für immer so weitergehen. Die sich aufdrängenden Naturkatastrophen zwingen viele dazu, auch als Erwachsene einen Sinn für das Kommende und fürs Überleben rege zu halten. Schon seit dem 18. Jahrhundert neigen die Ältergewordenen nicht selten zu der Philosophie des «Nach uns die Sintflut».

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Sie provozieren damit die Emotionen der Jüngeren und neuerdings sogar die Entrüstung der Naturgewalten. Sie wecken aber auch den friedlichen Abwehrwillen derer, die um ihr 30. Jahr sich wenigstens noch Sinn für das Leben und die Zukunft ihrer Lieben bewahrt haben. Denen also ihre Gattinnen oder Gatten und ihre Kinder noch lieb sind. Von ihnen empfängt die kommende erneute Kultur des 21. Jahrhunderts ihre Ausgangspunkte. Diese originäre Neuschöpfung, die der gegenwärtigen Barbarisierung wie aus Humus wird entwachsen müssen, sie bleibt noch auf lange ein Keim, der sich entwickeln kann, weil er unerkannt blieb. Nur wer als Erwachsener den Sinn für das Lebende und Kommende behielt, vermag wahrzunehmen, was dieser Sinn schafft oder schuf. Wer es nicht wahrnimmt, sieht überall nur seinesgleichen. Er hält alle für ebenso blind, wie er selbst ist. Und das ist gut so.

Über alledem wird also ein Teil der Menschheit den reaktiven Charakter der Naturkatastrophe durch dick und dünn bestreiten. Andere, insbesondere viele in den jungen Generationen, werden die Koinzidenzen, das Reaktive und Intelligente in den Katastrophenabläufen, wahrnehmen und öffentlich vertreten. Dann wird sich etwas wie ein Gegenbild der vorzeitlichen Kluft zwischen den einst konservativen Alten und einst fortschrittlichen Jüngeren herausbilden: Nun werden vielmehr die Jungen und Jüngsten als radikale «Fortschritts»-Gegner zu ihren Eltern und Großeltern sagen: «Ihr habt in eurem verschwenderischen Konsum-Taumel in wenigen Jahrzehnten unser gesamtes Erbteil vertan und unsere Lebensbasis zerstört. Gebt uns unser Eigentum wieder, ihr vergnügungssüchtigen Räuber und Diebe! Gebt uns unsere Zukunft wieder!» — Dieser Ausbruch beginnt, sobald nach dem Wäldersterben das Bodensterben radikal erkennbar sein wird.

Die flammende Kluft zwischen Kindern und Eltern wird zu den furchtbarsten Auseinandersetzungen führen, die je zwischen Generationen stattgefunden haben und denen gegenüber alle die früheren Kämpfe gegen Ausbeutung der Arbeiter, der überseeischen Kolonialvölker, alle Kämpfe gegen Imperialismen und Nationalismen sich wie ruhige Schachspiele ausnehmen werden.

Furchtbar werden diese Kämpfe zwischen Kindern und Eltern vor allem durch seelische Aggression, durch bitterste Vorwürfe und Mißhandlungen sein, gegen die die Älteren wehrlos sind, weil ihnen selbst ihre Schuld und nunmehrige Ohnmacht bewußt ist. 

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Das eigentliche Vernichtungsgeschäft aber wird die Natur selbst besorgen, durch Kettenreaktionen von Giftkatastrophen der Nahrung, der Luft und des Wassers, denen nicht zu entrinnen ist. Bei jedem solchen Kataklysmus aber werden die Jungen den Älteren in die Ohren schreien: «Ihr Älteren seid schuld, ihr habt dies bewirkt mit eurem verantwortungslosen und profitgierigen technischen Leichtsinn und Fortschritts-Fimmel!» Solche Worte aus dem Munde ihrer Kinder, inmitten der reaktiven Naturkatastrophen, werden bei den Älteren furchtbare Wirkung tun. Es wird zu epidemischen Selbstmorden kommen.

Die reaktionären radikalen Jugendbewegungen auf Generationenbreite finden ihren Nährboden im religiösen Trieb, gleichgültig, ob sie sich religiös ausdrücken werden oder nicht. Nicht wenige aber werden bis zu der Vorstellung kommen, daß die Natur­katastrophen von intelligenten, mächtigen Unsichtbaren bewirkt werden und in Wahrheit ein Abwehr-Krieg sind, den diese Unsichtbaren um ihren Lebensraum — die materielle Elementarwelt — methodisch führen. Die Jugendbewegungen werden sich mit diesen unsichtbaren Kriegführenden solidarisch erklären.

Folge wird sein, daß der gigantische technische Apparat, den das 20. Jahrhundert aufgebaut hat, schlechter und schlechter bedient wird, weil einerseits die Fachkräfte aussterben und nur wenig kundiger Nachwuchs nachkommt und weil andererseits von den Jugendbewegungen her systematische Sabotage betrieben wird. Dadurch kommt es zu allmählicher Rückbildung des Produktions­apparats und zu einer gewissen Verminderung der Umweltzerstörung, die jedoch nicht aufhört. Denn die mindere und verarmte Technik geht gleichwohl gewissenlos mit der Naturumwelt um, da sie vom Profitdenken beherrscht bleibt und sich aus den Fangnetzen der eigenen Kurzsichtigkeit durchaus nicht zu befreien weiß aus dem «teuflischen Regelkreis».

Natürlicherweise wird die Sabotage zu erbitterten Reaktionen der Vertreter der Technik und der Profitwünsche führen, und es kommt zu einem weltweiten Guerillakrieg, wovon die arabischen und sonstigen Assasinismen der jüngstvergangenen Zeit kaum einen Vorgeschmack boten. Denn hier handelte es sich um Gruppen, die nach Dutzenden und allerhöchstens Hunderten zählen.

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Derartige Gruppen werden später nach Hunderttausenden zählen. Denn z.B. bei den Palästinensern handelt es sich um ein relativ kleines Volk, das der Meinung ist, ihm sei das kleine Land Palästina als Basis seines Lebens geraubt worden. Zukünftig werden Millionen Jugendliche rufen: «Uns sind alle Länder, und es ist uns Luft und Wasser und die Nahrung durch Giftverseuchung geraubt worden. Tod den Schuldigen!» — «Die Schuldigen» aber werden für sie ihre Eltern und Großeltern sein.

Einen Vorgeschmack eines «Krieges gegen die Großeltern» bot die chinesische Revolution mit buchstäblichen, politischen Massenmorden von Enkeln an ihren Großeltern.

Ein Teil der Jugendlichen wird es mit der technischen Kultur halten und die Meinung vertreten, man könne noch immer sowohl die Naturkatastrophen als auch die soziale Katastrophe der Sabotage und der Jugendkämpfe gegen die Älteren mit mechanistischen und chemischen Mitteln, gewissermaßen die Gifte mit Gegengiften, den Terror mit Antiterror, bekämpfen. Andererseits werden manche Älteren mit den Jugendlichen gemeinsame Sache machen. So werden die Fronten kompliziert, und es entwickelt sich ein Kampf aller gegen alle.

 

Die zwei Menschheiten.
Wiederherstellung des Friedens

 

Dieses düstere Bild gehört zum Endstadium der jetzt noch abrollenden Kultur des 20. Jahrhunderts. Dieses Endstadium wird entweder zur Vernichtung der gesamten Lebensbasis der irdischen Ökumene, somit beinahe der ganzen Menschheit, führen, von der dann nur in den abgelegensten Gebieten einige Splittergruppen überleben würden, um die Weltgeschichte wieder von vorn anzufangen. Oder aber es siegt die Vernunft, und die Probleme werden gemeistert.

Dies geschieht, sobald eine genügend große Zahl von Eltern und Erziehern sich der Vernunft zugänglich und sich entschlossen zeigt, für das Überleben der Menschheit, zunächst der eigenen Kinder, freiwillig Entbehrungen und Mühen auf sich zu nehmen. Es wäre Illusion zu denken, es könnte die gesamte Menschheit hierzu fähig sein. Sinnvolles Tun aber potenziert sich.

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Die Vernunftzugänglichkeit regt sich primär in Gestalt des bereits beschriebenen Interesses an der immateriellen Substanz, welche Freude an der Willenskraft und Bewußtsein vom unmittelbar Bevorstehenden ist, um die drei wichtigsten Eigenschaften zu nennen. Diejenigen, die sich dieses Interesses und der von ihm eröffneten Möglichkeiten bewußt werden, hören auf, mit nutzlosen Vorwürfen an die Älteren Zeit zu vergeuden. Sie werden vielmehr auf Rettung sinnen. Da bei diesen, eben weil sie die nächstliegende Zukunft einbeziehen können, der Materialismus jede Glaubwürdigkeit verloren hat, werden sie die Naturkatastrophen nicht mit den Methoden des Materialismus, die an den Katastrophen schuld sind, zu bekämpfen suchen, sondern durch Beobachtung des Naturverhaltens, um sich vor den schädlichen Wirkungen tunlich zu schützen. Sie werden Erdgebiete aufsuchen, die relativ weniger betroffen sind, weil sie nicht begehrt sind, nämlich die Einöden und die kargen Ländereien der Erde. Dort werden die Zentren und Ausgangsgebiete der Kultur des 21. Jahrhunderts sich bilden.

Am Beginn stehen Fluchtbewegungen einzelner Familien und Gruppen von Gleichgesinnten, deren allererstes Motiv ist, die eigenen Kinder zu retten. Daß die Elementarvergiftung der Nahrung, des Ackers, des Wassers und der Luft in erster Linie die Kinder gefährdet, ist evident und wird zum weltweiten Phänomen werden.

Das nächste Motiv, das zahlreiche Menschen und Gruppen in die Einöden und Wüsteneien fliehen macht, ist der Sinn für das Kommende selbst, der jedem, der diesen Sinn besitzt, imperativ vor Augen stellt, welche Gefahr für das Ganze das technologische Natur- und Materienzerstörungswerk bedeutet. Wem dieser Sinn das Kommende vor Augen stellt, der kann nicht anders, er muß auf Rettung sinnen, und er sieht auch, daß dies nur jenseits des technokratischen Paroxysmus möglich ist.

Letzterer rollt indessen in den meisten der jetzigen Kulturgebiete degenerierend, doch unbelehrbar, bei beträchtlich herab­gesetztem Standard, vorläufig weiter.

Es wird also zweierlei Kulturen und Kulturgebiete geben: Länder, wo weiterhin dem Leben der Erde Schaden zugefügt wird, und andere Länder, wo alles Trachten der Bewohner dahin geht, das Leben der Umwelt und der Erde vor weiterer Schädigung zu behüten sowie womöglich seine Wiedergesundung zu fördern. Die wesentlichen Voraussetzungen hierfür bestehen in der inneren Umkehr des gesamten menschlichen Verhaltens zur Welt und zum Dasein, welche Umkehr sich als radikale Umlagerung der allgemeinen Interessen kundgibt. Hand in Hand hiermit eine von Grund auf anders orientierte Erziehung.

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In den Ländern und Gebieten dagegen, wo die aus dem 20. Jahrhundert überkommene Antikultur weiter degeneriert, bleiben die Interesse-Lagerungen im Prinzip wie die heutigen. Nur wird sich mehr und mehr ein ausgesprochenes Defizit an Willenskraft bemerkbar machen, in Gestalt von Verschlampungen und Verlotterungen.

Zwischen den zweierlei Ländern und Kulturgruppen wird etwas wie natürliche Entfremdung bestehen, die sich jedoch kaum in Gestalt von aktuellen Feindseligkeiten kundtut. Denn beide Gruppen haben kaum Zeit füreinander. Beider Sorge ist vielmehr das gefährdete Leben der Erde und damit die eigene Existenz selbst, die sie zu sichern suchen müssen. Die einen tun es zum weiteren Schaden der Erde, die anderen in sinnvoller Gemeinschaft mit ihr. Alle aber haben zu ringen. Dies gibt der Vernunft die Chance. Diejenigen, die bei den Methoden des 20. Jahrhunderts verharren, werden die Pioniere in den kargen Ländern verlachen, aber keine überschüssige Macht haben, um ihnen zu schaden.

Von Bedeutung ist hierbei auch ein Intelligenz-Unterschied zwischen den beiden Gruppen, der vom Jahrhundert­ende ab klar fühlbar wird und sich zu dem eigentlichen gegensatzbildenden Prinzip und Kriterium — «Schibboleth» — auswächst, woran diese Geister sich scheiden. Diejenigen, die die Kultur des 20. Jahrhunderts auf herabgekommener Stufe weiterführen, ermangeln jener Fähigkeit zum Einbezug des Kommenden ins Bewußtsein. Sie bedienen sich statt dessen, wie die jetzige Kultur noch, der Planung und Regie, die den eigenen Willen massiv dem Kommenden aufdrängt und daher nur so lange gelingt, als die eigene Willens-Bruttomasse dasjenige, was kommen will, überwältigt und verknechtet. Diese Methode ist heute noch, soeben noch, erfolgreich, weil die Langmut der Gegenspieler, der Mächte der Natur, noch nicht — soeben noch nicht — erschöpft ist. Vom Zeitpunkt ab, wo die Umweltzerstörung bis zur Auslösung reaktiver Naturkatastrophen gediehen ist, wird die entgegenstehende Gewalt der Umwelt fast immer und auf die Länge durchaus immer stärker sein als jede Planung, die daher zu stets kürzeren Scheinerfolgen, Pyrrhussiegen, und zu sich häufenden Mißerfolgsserien führt.

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Diesem Circulus verfallen diejenigen, die das neue Organ, den Sinn für das Lebendige und Kommende, nicht entwickeln oder pflegen. Sie bleiben mit ihrer Intelligenz den Aufgaben ihres Lebens unterlegen. Dagegen bietet eben jenes Organ die Möglichkeit zu intelligenter Zusammenarbeit mit der Naturumwelt, um diese Aufgaben mehr und mehr zu meistern.

Denn die Voraussetzung zu solcher Zusammenarbeit ist die Fähigkeit, beizeiten zu erkennen, was das Lebendige will oder werden will. Statt des Planungs-Prinzips ergibt sich damit ein diametral anderes, das etwa mit den Worten: «Anregung — Eingehen auf die Reaktionen — Mitwirkung» beschrieben werden kann. Es wird dabei das Experiment zum industriellen Arbeitsprinzip erhoben. Folge ist die Begründung eines sozialen Verhältnisses zur Naturumwelt. Diese bekommt Rechtsfähigkeit zugebilligt, und sie erwidert diese Wohltat durch sinnvolle Reaktionen und friedliches Verhalten. Was man jetzt «Naturgesetze» nennt, ist in Wahrheit das friedliche Verhalten der Natur, das die Menschheit bisher umsonst genoß. In der Zukunft wird sie es sich verdienen müssen.

Es ergeben sich so im 21. Jahrhundert zwei Menschheiten, die eine wie die jetzige destruktiv, bei absteigender Intelligenz, die andere mit Sinn für das Lebendige und mit sich steigender Intelligenz. Gegenüber feindlichen und Gewaltakten bildet sich in der einen Kultur des 21. Jahrhunderts allmählich eine Überlegenheit über die andere heraus, vergleichbar der Überlegenheit der Menschheit insgesamt über die wilden Tiere. Das wilde Tier ist dem Menschen im allgemeinen überlegen, wenn es ihn unvorbereitet trifft. War der Mensch wachsam, so besiegt er mühelos die stärksten, schnellsten und schlauesten Tiere.

Ebenso bedeutet der entwickelte Sinn für das Kommende eine mühelose Überlegenheit über alle, die dieses Sinns entbehren. Leser haben gemeint, die Erkenntnis von den kommenden zwei Menschheiten sei grausam. Sie ist es nicht. Denn jedem Menschen ist sein Wille das Himmelreich. Niemand zwingt uns, Leben und Tod für blinden Zufall zu halten, und niemand zwingt uns, in beidem das Werk des geheimnisvollen «Künstlers» anzuschauen: des Schöpfers. (Das alte Wort «Schöpfer» bedeutet: Künstler!) Je nach der Anschauung, für die er sich frei entschließt, bestimmt vielmehr jeder Mensch sich das Schicksal seines eigenen Menschentums. Das Menschsein entfaltet sich oder verkümmert, je nach der Anschauung, die jeder sich selbst gibt, und indem er dies tut, entscheidet er sich für die eine oder die andere der zwei Menschheiten.

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Zwischen diesen zwei sind viele Beziehungen möglich. Eigentliche Verständigung aber nur, wo der eine für des anderen Anschauung Verständnis entwickelt. Wer dies verweigert, errichtet die Scheidewand. Doch entspringt die Scheidung aus der Sache heraus nicht gegenseitigem, sondern durchaus einseitigem Unverständnis. Denn der Sinn für das Lebende und Kommende gewährt Verständnis für diejenigen, die ohne diesen Sinn leben wollen, während umgekehrt nur Verständnislosigkeit möglich ist, vielmehr eine Ketzerverfolgungs-Mentalität sich zu entwickeln pflegt. Der eigentliche Akt der Scheidung der Geister geschieht duch Ausstoßung der Verständnissuchenden. Die Verständnisverweigerer stoßen sie aus.

Zwischen den zwei Menschheiten werden nur wenige generelle Beziehungen bestehen, infolge der totalen Verschiedenheit aller Interessen. So gut wie alle von der einen der zwei Kulturen produzierten Waren werden im Gebiet der anderen verschmäht, hier, weil man die Produkte der anderen als vergiftet und umwelt­zerstörerisch beurteilt, dort, weil man die Produkte der Wildnis­bewohner für minderwertig hält. Infolgedessen gibt es nicht einmal gemeinsame Geldbegriffe, und es kommt kein oder beinahe kein Warenaustausch zustande. Auch in den generellen geistigen Interessen gibt es schlechthin keine Berührungspunkte. Entstand ja die Kultur in den Wildnissen ursprünglich aus der absoluten Umstülpung aller geistigen Interessen der früheren Kultur.

Andererseits ergeben sich nach und nach persönliche Beziehungen nach beiden Richtungen, die mit dem fortschreitenden 21. Jahrhundert und ins 22. Jahrhundert hinein sich steigern und vermehren. Hiervon an späterer Stelle.

 

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Zusatz zur Neuauflage 1985

 

Leser dieses Buches haben in Gedanken und auch auf dem Atlas nach den «Einöden der Erde, den Wüsteneien und kargen Ländern» gesucht, von denen hier als potentiellen Orten der kommenden Kultur anstelle der destruktiven Degeneration die Rede ist. Manche haben die Darstellung als Aufforderung zum Auswandern in die sogenannten Dritte-Welt-Länder aufgefaßt. 

Doch gerade diese angeblich unterentwickelten Gegenden und ihre Bevölkerungen sind besonders wehrlose Opfer sowohl des Zwanges als auch der Verführung durch den Schein-Fortschritt auf Kosten der Lebensgrundlagen. Auto und Flugzeug, Jeep und Helikopter können eben überallhin, so gibt es keinen Fleck Erde mehr, der vor dem Zerstörungstaumel sicher wäre. Europa und Nordamerika sind zur Zeit die Gebiete, wo man bereits am ehesten anfängt, die drohenden Gefahren zu sehen und — zufolge Waldsterben, Dioxin und so weiter — dafür wach zu werden. In Europa sind es wiederum gerade die am meisten industrialisierten Länder, wo sich am ehesten Widerstand geregt hat, während die weniger «entwickelten» Randländer Europas vorderhand noch in ungehemmten «Fortschrittsträumen» befangen scheinen.

Die hier als die «kommende neue Kultur» beschriebene neue Bewegung ist nicht Gegenwart, sondern Zukunft. Relativ nahe Zukunft, aber doch durch eine Zeitspanne und deren Ereignisse noch von der Gegenwart getrennt. Zu diesen kommenden Ereignissen gehören Naturkatastrophen, deren Anfänge wir soeben erleben: das Waldsterben, die Klimakatastrophen, die ersten Chemiekatastrophen, die drohenden Atomkatastrophen. — Von der Übergangsschwelle ins 21. Jahrhundert ist in den späteren Kapiteln die Rede.

Erst nach den kritischen Ereignissen werden die «Einöden und kargen Länder», von denen hier die Rede ist, vorhanden sein.

Eine Leserin bemerkte, daß doch «der Staat» auch alle potentiellen Rückzugsgebiete mit Beschlag belegen und «alles verbieten» werde, was dort etwa entstehen will. — Diese Äußerung offenbart zwei wichtige Dinge. Zum einen eine tiefe Staatsverdrossenheit, Folge der Frondienste, die der Staat heute den Sonderinteressen leistet, denen er wehren sollte, aber er ist zu schwach geworden und ist ihr Sklave. — Zum anderen zeigt die Äußerung den Ewigkeitsglauben vieler an eben diesen innerlich so schwachen, versklavten Staat. 

Zu erwidern wäre der Leserin etwa: Die kommende Kultur des 21. Jahrhunderts wird sich entwickeln, nachdem das heute permanent mißbrauchte Rechtswahrungs­instrument, der Staat, so schwach geworden sein wird, daß er nichts mehr verhindern kann, Böses nicht und also auch Gutes nicht. Oder aber wenn der Rechtswahrungs-Wille irgendwo so erstarkt sein wird, daß der positiven Initiative die Freiheit garantiert ist. Gibt es dann noch «Staat» oder gibt es ein geeigneteres Instrument zur Rechtswahrung, so wird dadurch das Bessere nicht gehindert, sondern gefördert werden.

Besteht Hoffnung auf verbesserte Rechtswahrung in der kommenden Zeit? — Ganz gewiß nur dort, wo Sinn für das Lebende und Kommende, und eben dadurch Gemeinsinn, sich entwickelt.

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Die Kultur des 21. Jahrhunderts  /  Das gesprochene Wort

 

Als Kultur des 21. Jahrhunderts sei von nun ab prägnant diejenige bezeichnet, die im Gegensatz zu der für die sozialen und Umweltkatastrophen verantwortlichen technisch-kommerziellen Antikultur entsteht und sich um Heilung der durch jene bewirkten Schäden bemüht. Der Verlust der Glaubwürdigkeit, den die jetzige Antikultur erleidet, wird auch vor deren Elementar­fundamenten, die weit älter sind als die Kulturkatastrophe des späten 20. Jahrhunderts, nicht haltmachen. Zu diesen Fundamenten gehören der Buchdruck und die Schrift. Die Kultur des 21. Jahrhunderts wird den Schriftgebrauch als Anfang allen Übels ansehen, ihn auf das absolute Minimum beschränken und am liebsten gänzlich darauf zu verzichten suchen. Dies bedeutet zwar Vereinseitigung und Fehlbeurteilung, aber nicht etwa Kulturfeindschaft, wie der permanent geblendete Verstand von heute geneigt ist zu glauben. Im Gegenteil.

Die Schrift ist Sprache, die in eine lautlose, dem eigentlichen Wesen der Sprache fremde Symbolik umgesetzt und in dieser Fremdgestalt fixiert ist, unter Verlust aller der realen Eigenschaften der Sprachnatur. Deren wesentliche sind: das Erklingen der Sprache für das Ohr und die Bewegung des Erklingenden. Dazu der unmittelbare Kontakt von Mensch und Mensch auf dem Orte, wo Gesprochenes erklingt und gehört wird. Endlich die lautlich-klanglich-tonliche und dynamisch-rhythmische Gestaltung, welche Sinn und Inhalt des Gesprochenen umschließt und vermittelt.

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Einer erst in den allerersten Jahrhunderten propagierten Fehlbeobachtung und Denkschwäche zufolge gilt heute die Meinung, ein Schriftwerk vermittle, was der Autor zu sagen hat. Zum Beispiel gilt die Redeweise: «Goethe hat Gedichte geschrieben», und weil er schrieb, gilt er als «Dichter». Die Wahrheit ist bedeutend anders. Goethe hat einiges wenige dessen, was er dichtete, niedergeschrieben. In der «Italienischen Reise» erwähnt er seine «löbliche oder unlöbliche Gewohnheit», von seinen Dichtungen «wenig oder nichts aufzuschreiben», obwohl er das Nichtgeschriebene «bis aufs Detail im Geiste durchzuarbeiten» pflegte (It. R., 2.5.87).

Heute gibt es nicht mehr viele Menschen, die Goethes Gedichte und überhaupt Gedichte lesen. Früher wurden Gedichte gern und viel, und zwar laut, gelesen. Erst vor etwa 100 Jahren kam es in Mode, Gedichte still auf dem Papier zu lesen. Letzteres währte kaum 50 Jahre. Denn die allerjüngsten 50 Jahre sind die Zeit, in der Gedichte kaum noch gelesen werden. Die Zeit, als Gedichte laut gelesen wurden, währte Jahrhunderte. Noch früher wurden die Dichtungen, wie man sagt, «gesungen», doch ohne Noten — das heißt, sie wurden erklingen gelassen, rezitiert. Diese dichterische Rezitation hat ungezählten Jahrtausenden Kultur gewährt.

Daß bis vor 100 und sogar bis vor 50 Jahren Dichtung noch gelesen wurde, beruhte darauf, daß damals die Schule nicht wenig Zeit darauf verwendete, Dichtung laut zu lesen, sie auswendig lernen und sprechen zu lassen. Hierin bestand geradezu die Elementar­schule bis vor 100 Jahren. Man kann fast sagen, daß damals die Schrift gelehrt wurde, um die Dichtung laut lesen zu lehren.

Dies bewirkte, daß einst jeder Schulabsolvent befähigt war, auch beim stillen Lesen den Tonfall und die Dynamik der Sprache im Geschriebenen mitzulesen, entweder indem er das Gelesene gleichsam innerlich anhörte, so als redete der Autor zum Leser, oder indem er beim Lesen innerlich sprach, so, als rezitierte er innerlich oder versetzte sich selbst in den Autor. Zudem hatten alle die Fähigkeit, laut zu lesen und Lautgelesenes kundig, mit geübtem Sprachgehör, zu hören. Diese Fähigkeiten, sprachzuhören und zuzuhören, bedeuteten Aufnahmefähigkeit für den vollen Sinn des Geschriebenen-Gesprochenen, der am Tonfall hängt, und für den ganzen Inhalt, dem die Bewegungs-Dynamik der Sprache den Ausdruck schafft. Hiervon übermittelt der reine Buchstaben­text nur das Geringste, und selbst dieses nur in Karikatur: jedes monotone und gleichgültige Lautlesen beweist es: Man versteht es ja nicht einmal. Die Buchstabenreihen aber stehen absolut gleichmäßig, monoton und gleichgültig, zu Papier.

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Die jetzige Abschaffung der ausführlichen Elementarschulübung gesprochener, gehörter Dichtung ist schuld an der jetzt verbreiteten Unfähigkeit, Dichtung zu lesen. Doch diese Unfähigkeit betrifft sehr viel mehr. Auch alle Prosaschriftwerke können nur dann wirklich verstanden und aufgenommen werden, wenn der Leser befähigt ist, den Text innerlich erklingen zu hören oder erklingen zu lassen. Vermag er dies nicht, weil er in der Schule nicht laut lesen gelernt und es später nicht geübt hat, so gleitet er verständnislos über den Text hin, meist ohne zu merken, daß er gar nicht liest, weil er vielmehr eigenen Gedanken zuhört, die ihm, während er zu lesen meint, innerlich erklingen. Quelle zahlloser Mißverständnisse, Fehlverständnisse, Entzweiungen.

Durchdenkt man die vorstehend angedeuteten Tatsachenkomplexe, so klärt sich die Problematik der Funktion der Schrift. Sie war und ist in gewissen Verhältnissen kulturell unentbehrlich, und sie ist dennoch ein kulturzerstörendes Prinzip. Heilsam ihre Rolle also nur in denjenigen Kulturen, wo sie in weiser Beschränkung und wo der Schwerpunkt beim Gesprochenen blieb, wie z.B. bei den alten Israeliten, wo fast nur die Bibel geschrieben wurde, und selbst diese vielmehr, um sie am Sabbath laut zu lesen.

Sobald der Schriftgebrauch überhandnimmt und sobald er gar das Lautlesen unterbindet und ersetzt, wirkt die Schrift antisozial — weil jeder zum stillen Lesen sich bei sich verschließt —, und sie lähmt die Intelligenz an den Sinnen, im Gedächtnis, in der Sprachkraft, im Atem — das heißt: im Gefühl — und im Denken selbst. Mißbrauch der Schrift lähmt den Geist.

 

Gespenst und Wirklichkeit vor dem Ohr und dem Auge

 

Steigerung des Schriftprinzips — verstärkte Fixierung der Sprache und Stimme — ist die seit wenigen Jahr­zehnten geübte Phonographierung samt Telephonierung. Die Kultur des 21. Jahrhunderts wird gegen dieses insgesamte Phänomen tiefen Abscheu entwickeln. Insbesondere die phonographisch-telephonische «Übertragung» von Kunstwerken wird man als «ekelhaft» empfinden.

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Man wird wahrnehmen, was heutigentags vom betäubten Kunstverstand überhört zu werden pflegt, daß die phonographische «Wiedergabe» die Stimme bedeutend verändert, und zwar immer in einem entropischen Sinne. Zum Beispiel klingt jede Frauenstimme im Radio ein wenig keifend und so, als ob die Sprecherin geifere (an Speichelüberfluß leide). So oft man Gelegenheit hat, die direkte Stimme eines Menschen und zugleich «dieselbe» Stimme aus dem Lautsprecher zu hören, hört man die enormen Deformierungen. — Doch dies ist nicht einmal das Wichtigste.

Je technisch vollkommener die «Wiedergabe», desto mehr wird sie als «widerlich» gelten. Die allgemeine Reaktion gegen den phonographisch erzeugten Klang und Ton menschlicher Sprache wird etwa der Empfindung gleichen, die der gesund empfindende Mensch gegenüber «Mme. Tussaud's» Wachsfigurenkabinett entwickelt. Bekanntlich sind die Tussaudschen Wachsplastiken dermaßen «vollkommene» Nachbildungen lebendiger Menschen, daß sie lebendige Menschen vortäuschen. Entdeckt man die Täuschung, so empfängt man eine Art Schock, etwa wie wenn der Fuß unvermutet ins Leere tritt. Das Tussaud-Prinzip ist, obwohl plastisch «vollkommen», bekanntlich ein antikünstlerisches Prinzip.

In der Kultur des 21. Jahrhunderts wird jederlei Phonographie menschlicher Stimme und Sprache ebenso empfunden werden, wie ein gebildeter Mensch heute Mme. Tussaud's Wachsfiguren empfindet: je «vollkommener», je mehr täuschend «echt», desto mehr Übelkeit erregend.

Nicht anders die Musik. Bei ihr ist eine wachsfigurenmäßige «Vollkommenheit der Wiedergabe» teilweise bereits heute erreicht, insbesondere bei der Phonographierung von Klaviermusik. Trotzdem ist und bleibt das Wesentliche bei der Musik, ebenso wie beim Sprechen, der wirkliche jetzt-hier sich äußernde Mensch. Was er jetzt-hier künstlerisch vollbringt, dieses ist das Ereignis, die Musik. Dabei ist jedoch nicht das Wesentliche, was der Künstler «ist», sondern was er tut. 

Dieses Tun ist Anwesenheit immaterieller Substanz, darum nicht wiederholbar. Jedes Konzert echter Künstler ist neues, anderes Ereignis als «dasselbe» Konzert in der vorigen Aufführung. Das menschliche musikalische Ereignis ist nicht mechanisch «reproduzierbar» oder anderswohin «übertragbar». Phonogramm-«Musik» (Grammophon, Radio, jeder «Lautsprecher») ist unter allen Umständen purer Wachsfiguren-Effekt.

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Sobald die Musik, sobald die Sprache vom Menschen, dem Hervorbringer, räumlich, zeitlich abgerissen ist, um als stur sich selbst wiederholendes Mechanikum abzuschnurren, ist es Vortäuschung durch ein leibhaftiges, betrügerisches Etwas, das gar nicht Mensch ist und sowohl vom Worte als auch von Musik nichts weiß. Greuel, Ekel.

Nicht anders die Kinematogrophie aller Arten, inklusive Television. Bei ihr wird der volle Tussaud-Effekt vermieden, und zwar deshalb, weil bei angestellten Versuchen — mit sog. plastischer Kinematographie — sich herausstellte, daß die Zuschauer diese Steigerung der Täuschung nicht ertragen und mit Angstanfällen oder Wutausbrüchen reagieren. Doch auch die Kinematographie täuscht durch die Magie des sich bewegenden Bildes immaterielle Substanz, Anwesenheit, Äußerung dort vor, wo niemand ist, niemand sich äußert. Das Kinemato-Bild ist Gespenst, das lächelnd vorgibt, Mensch zu sein.

Das Empfinden des gegenwärtigen Menschen ist diesem Phänomen gegenüber stumpf, durch eine Art Blendungs- und Betäubungseffekt. Man begegnet heutzutage Menschen, die sich ganz außerstande erklären, zwischen der jetzt-hier erklingenden Menschenstimme und dem aus dem Laut-«Sprecher» erklingenden Geräusch zu unterscheiden. Beides sei das gleiche, beides sei die «wirkliche» Stimme. Zwischen sich und dem eigenen Spiegelbild unterscheidet man ohne Mühe. Im Falle der Phono- und Kinematographie wirkt eine faszinierte Blendung-Betäubung des Wirklichkeitssinns.

Eine Leserin fragte den Verfasser, ob dies denn auch für einen bekannten, noch nicht lange verstorbenen Dirigenten gelten könne, der auf die Frage einging, ob er in der Lage sei, zwischen der Musik eines von ihm dirigierten Orchesters und guter Phonogramm­wiedergabe seiner eigenen Dirigierung einen Unterschied zu hören. Der Dirigent soll mit «ehrlicherweise nein» geantwortet haben. Ist der Bericht verbürgt, so enthält er allerdings das rückhaltlose Geständnis dieses bedeutenden Künstlers, daß ihm in dem heute unter Musikern üblichen Umgang mit den Phono-Scheingebilden der Wirklichkeitssinn abhanden kam, sei er nun geblendet oder betäubt.

Die Scheingebilde mögen, wenn sie vollkommener Schein sind, das Ohr täuschen. Wie es bekannte «optische» Täuschungen gibt, so gibt es eben auch akustische. Ob etwas Wirklichkeit ist oder nicht, entscheidet jedoch nie das Sinnesorgan, sondern das Denken: Dieses ist «der Wirklichkeitssinn», und es läßt sich nicht täuschen, nur allenfalls betäuben, blenden, ablenken. Dann aber versagt das Denken den Dienst, bleibt untätig.

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Nur so kann es geschehen, daß ein Mensch sein eigenes Spiegelbild und sich selbst «ehrlicherweise nicht unterscheiden kann». So daß er also sein bloßes Spiegelbild für sich selbst und sich selbst für ein bloßes Spiegelbild halten müßte. Was beim Spiegelglasbild selbstverständlich erscheint, ist beim akustisch-phonographischen Spiegelbild aus der Kunststoff­platte nicht minder evident. Man muß nur erkennen wollen, so erfährt man die Wahrheit. Es spielen jedoch gewollte Selbsttäuschungen herein, deren Ursachen in dem gewissermaßen schiefen Verhältnis des heutigen Menschen zu seinem eigenen Innenleben liegen. In jedes Menschen Inneren klingen, sobald er still für sich ist, Gedanken auf, und es stellen sich ihm innere Bilder, «Vorstellungen», vors Auge. Der heutige Mensch pflegt diese Innenphänomene merkwürdigerweise so zu empfinden, wie man «schlechtes Gewissen» empfindet: als Mahnung, die quält und der man sich entziehen möchte. Ursache ist das ungeklärte Verhältnis zum Willen.

Sobald dieses Verhältnis sich klären wird — dies wird bereits in den kommenden Generationen sich energisch anbahnen —, wird es mit dem jetzt noch grassierenden Phono- und Kinematographie-Enthusiasmus aus sein. Es ist möglich, daß dies gleichsam schlagartig, wie ein Naturereignis, eintritt. Dann wird es enorme Freizeitprobleme aufwerfen.

Das Aufhören des Interesses für Phono- und Kinematographie betrifft beide Kulturen, die degenerativ weiterlaufende ebenso wie die neugebildete - fortschreitende -, und es ist hier wie dort das Verhältnis zum Willen, das den Interesse-Umschwung bewirkt. In der degenerativen Kultur kommt es zum generellen Willens-Manko. Eine Wirkung desselben ist, daß das geschwächte Gemüt das phono- und photo-kinematische Bild nicht fassen kann, oder nur mit viel innerer Mühe. In der degenerativen Kultur wird die innere Mühe gescheut, und dies ist dort dann der Grund, warum die Sache abkommt. — In der fortschrittlichen Kultur wiederum ist es, außer dem «Tussaud-Effekt», vielmehr das positive Verhältnis zum Willen als Bildner reichen Innenlebens, was die Phono- und Kinemato­graphie als störend und widerlich empfinden läßt, weil sie gleichsam die Seelen tätowiert und damit dem Willen die Tabula rasa raubt, die er braucht um der Freude am Lebendigen und Wirklichen willen.

 

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Die Pflege des Gehörs

als neues Kulturprinzip 

 

Gedanken wie die vorstehenden werden heutigentags kaum ernst genommen. Es wird mit solchen Gedanken eminent Ernst gemacht werden in der Kultur des 21. Jahrhunderts. Es wird sich das gesamte Interesse der geistig Interessierten vom Geschriebenen, und erst recht vom phonographisch Geschriebenen und kinematographisch Gemalten, hinweg und auf das jetzt-hier von Menschen Gesprochene und sichtbar Geäußerte oder Dargestellte hinwenden. Das Ohr, und speziell das Sprachgehör, wird zum Hauptzentrum des Interesses aller werden, und im Anschluß an das Gehör: das innere Auge, Wort ruft inneres Bild auf.

In diesem Interesse werden sich alle Bevölkerungs- oder Bildungsgruppen auf gemeinsamer Ebene begegnen, denn dieses Interesse für das Gehör und das innere Auge wird in der Kultur des 21. Jahrhunderts der geistig Anspruchsloseste nicht minder haben als der Philosoph. Das Ohr wird in erster Linie die Pädagogik zentral bestimmen, auch die Erwachsenenpädagogik, d. h. die Freizeitkultur. Sowie drittens das gesamte soziale Leben. Man wird die jungen Menschen mit aller Sorgfalt für die Kunst, auf den Menschen hinzuhören, erziehen, denn diese ist die soziale Kunst.

Sie dient dazu, beizeiten zu erfahren, ob ein Mensch echt ist und es gut meint oder ob er lügt und Übles im Schilde führt. Diese Kunst, die moralischen Qualitäten zu hören, beherrschen nur intelligente Analphabeten. Man kann solche heutigentags z.B. in griechischen abgelegenen Dörfern finden, deshalb, weil dort seit alters die Meinung herrscht, daß Schriftkundigkeit dumm macht. In der Tat macht sie das Sprachgehör stumpf. Das Gehör des Nichtschriftkundigen ahnt nichts von den uns selbstverständlich scheinenden Qualitäten, die wir die Buchstabenlaute nennen. Statt dessen erfüllt das Gehör des Analphabeten soziale Funktionen, vor denen wir hilflos stehen. Es hört, wer der ist, der redet, und es hört auch, wie es ihm ergeht. Ob er Not leidet oder nur klagt. Ob auf ihn Verlaß ist oder ob er betrügt.

Das Gehör wird daher zum Fundament des sozialen Lebens werden, und es wird die Anschauung herrschen, daß die Pflege des Gehörs das Wichtigste ist, was es im Leben überhaupt gibt, weil davon der soziale Friede und jede ersprießliche Zusammenarbeit, auch jeder gültige Fortschritt, abhängen. Und auch alle persönliche Beziehung, alle Freundschaft. — Ein altes Wort für das Sprachgehör ist: Vernunft, es bedeutet: vernehmen, Sprache vernehmen, im Hören verstehen. Vernunft im echten und ursprünglichen Sinn des Wortes, sie wird die Frucht erneuerten Sprachgehörs sein.

Das Sprachgehör wird daher auch das Zentrum der Erziehung bilden. Methode dieser Erziehung zum Hören wie von alters: die gesprochene und dargestellte Dichtung als Bild des Lebens. Erwachsenen-Pflege des Sprachgehörs das gleiche methodische Instrument.

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Die Zukunftsaufgabe der Dichtung 

 

Die Kultur des 21. Jahrhunderts wird also ein Wiederaufgehen des Interesses für die Dichtung bringen, wie bereits Novalis die Zukunft sah. Diese kommende Dichtung wird sich von den überlieferten Formen der Dichtung, die wesentlich vom Dichtung-Schreiben bestimmt waren, vollständig lösen, und sie wird sich sogar vom Papier lösen. Dadurch — ebendadurch — wird die Dichtung radikal neue Formen ausbilden, die auf dem Sprachgehör, dem Sinn für Gebärde und dem Sinn für den anderen Menschen beruhen.

Hier ist der Punkt, wo die bereits skizzierte neue Kraft, der Sinn für das Lebendige und Kommende, in das künstlerische, das erzieherische und das soziale Geschehen eingreift.

Schöpferischer Augenblick ist Gegenwartsmoment, in den das Kommende eingreift, um weiterzuführen. Der Eingriff ist inneres irreales Bild, das in Bälde Wirklichkeit wird. Kunst ist ein als bloßes Bild verwirklichtes — gewissermaßen irreal verwirklichtes — irreales Bild. In der Kunst verharrt das Kommende in Unwirklichkeit, scheint aber wirklich. Dadurch bewirkt es tiefgreifendes Erlebnis, als sei es Leben, doch nur im Augenblick. Es wirkt nicht nach. Nur wenn die Wirkung als Wirkung ins Auge gefaßt wird, wird sie im Geiste bleibend. Anschauung der realen Wirkung des irrealen Bildes übt, erzieht, entwickelt den Sinn für das Lebendige und Kommende. Notwendig ist allerdings, daß die Kunst wirklich nur irreales Bild, nicht reale Schaustellung ist. Schaustellungen stumpfen den Sinn für das Kommende ab.

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Die jetzige Kunstgesinnung möchte meist darstellen, was ist: wie die Menschen sind, wie das Leben ist, das Wirkliche; was es ist. Im 21. Jahrhundert bedingt die Interessenverlagerung auf das Kommende, daß das künstlerische Augenmerk auf alle die Elemente hingeht, die Kommendes ins Bild bringen.

Seinem Wesen nach ist das Kommende ein Hereinbrechen außerordentlicher Macht, die in den voraussehbaren Handlungsfolgen nicht enthalten war. Zum Wesen des Kommenden gehört also das Überraschungsmoment, doch dieses ist beinahe nur Begleiter­scheinung. Kern dessen, was das Kommende bringt, ist das Nichtenthaltensein in den Voraussetzungen («Prämissen»).

Hereinbrechen außerordentlicher, in den Voraussetzungen nicht enthaltener Macht ist das wahre Wesen des Tragischen. Alle anderen Definitionen desselben unterordnen sich dieser.

In Altgriechenland hieß Tragödie jede Dichtung, die das Hereinbrechen außerordentlicher Macht darstellt, unabhängig davon, ob die Macht Unheil bringt oder Heil, Katastrophe oder Anastrophe. Erst Aristoteles behauptete — doch es ist ein Fehlurteil —, die Tragödie «solle» einen unglücklichen Ausgang haben, weil dies «das tragisch Wirksamste» und darum «das Richtige» sei. Ein Urteil aus künstlerisch beschränktem Horizont.

Der Sinn für Drama und für «das Tragische» in der soeben genannten Weise entsprießt als Kunstinteresse aus dem entsprechenden Lebensinteresse am «Hereinbrechen außerordentlicher Macht», dieses aber ist betätigter Sinn für das Kommende. Dieser Sinn ist mit dem Sinn für das Tragische und das Drama wesenseins. So wird noch vor Schluß des Jahrhunderts der Sinn für das Tragische — für das Hereinbrechen außerordentlicher Macht — geradezu imperativ aufbrechen, infolge eines epidemisch sich ausbreitenden Entsetzens vor der hereinbrechenden Öde des ausschließlich materiell orientierten Lebens. Diese «Öde» wird vor dem rege gewordenen Sinn für sie etwas wie wuselndes Leben gewinnen, so als drängte Ungeziefer in Scharen in das soeben noch gepflegt und gesäubert scheinende Haus. Doch die Katastrophe wird zur Wohltat. Denn weit schlimmer als das Entsetzen ist die Öde ohne Entsetzen. Die jetzige Kultur ist Lebens-Tragödie.

Dennoch braucht sie nicht nur einen unglücklichen Ausgang zu nehmen. Außerordentliche Macht wird hereinbrechen. Wohl dem, der ihren Wert erkennt. Ihm bietet sie sich in ganz anderen Bildern, als Kampf der Geister und als Scheidung der Geister.

Das Hereinbrechen wird nicht nur einmaliges Ereignis sein, es wird sich stets mit Überraschung und unerschöpflich erneuern, so oft Menschen mit Sinn für das Kommende es rufen, erstreben, erarbeiten, zustande bringen oder es erkennen, falls es ohne ihr Zutun sich ereignet. Sinn für das Lebendige und Kommende schafft dem Hereinbrechen geistige Gestalt, so daß es Anastrophe wird: glückliche Wendung statt schlimmer Ausgang, selbst wenn es äußerlich Unglück brächte.

Das Tragische in diesem komplexen, alternativen und kosmischen Sinne bestimmt in der Kultur des 21. Jahrhunderts die Lebens-Kunst, und es bestimmt auch das irreale Bild, das die Kunst schafft, weil diese Erkenntnis vom Wesen des Tragischen lehrt, die Kunst selbst als das Wirkliche, was mit Macht hereinbricht, als das Kommende, wahrzunehmen, ehe es hereinbrach.

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