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3.  Die Verwandlungen der Schule

 

 

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In den Schulen der Kultur des 21. Jahrhunderts sind die musischen Künste, in erster Linie Rezitation und die darstellenden Künste, Drama, darstellender Tanz, die Hauptfächer. Daher können diese Schulen dem äußeren Aspekt nach wie Kunstschulen, Bühnenschulen, erscheinen. Als sei es darauf abgesehen, das ganze Volk schon von Kind auf zu Künstlern zu erziehen und zu spezialisieren. 

Doch ist das Schulziel nicht Kunst als solche, sondern die Übung und Entwicklung des Sinns für das Kommende, und diesem Ziel gemäß ist das methodische Vorgehen eingerichtet. Diesen Sinn übt jede Dichtung, insbesondere aber die Rezitation und Darstellung der Dichtung. Denn das sich abspielende Kunstwerk enthält in sich das Kommende seiner eigenen Existenz bis zum Schluß. 

Ist es gute Dichtung, so stimmt «das Kommende» in ihr, es «kommt» dann, wie man sagt, mit innerer Wahrscheinlichkeit, das heißt wie wirklich Kommendes, und es übt dann den Sinn, lenkt die Aufmerksamkeit auf das Wesen des Kommenden, lehrt es in seiner Eigenart kennen, so daß man es dann auch, wenn im Leben es kommt, erkennt. — Stimmt aber der Ablauf nicht, nämlich wenn es schlechte Dichtung ist, so übt der Sinn für das Kommende Kritik, weil er unbefriedigt bleibt oder beleidigt wird. Beides also, gute wie schlechte Dichtung, übt und entfaltet diesen Sinn. 

In der Kindheit muß der Sinn zunächst geweckt werden. Es geschieht durch Herausforderung der Urteils-Kraft, durch stark wirksame Bilder, zu denen das Kind unmittelbar ja oder nein sagen wird. Dies stärkt ihm die Kraft des Urteils, diese aber ist Kraft der Selbstbehauptung. Ob das kindliche Urteil richtig ist oder ob es irrt, spielt kaum eine Rolle. Das Kind weiß von einer Begründung des Urteils nichts, so kann es in gewisser Beziehung gar nicht anders als irren. Das wird sich ändern, wenn es später als Erwachsener sich Urteils-Grundlagen verschafft.

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Dann aber wird es die unbeirrte Kraft des Urteils brauchen, die es, wäre sie nicht in der Kindheit geweckt worden, später nur schwer erlangt. Es handelt sich um die Kraft, womit das Kind ja oder nein sagt, und sonst nichts.

Letzthin haben einige pädagogische Theoretiker und die Scharen ihrer Nachbeter die Idee ausgeheckt, das Kind werde «manipuliert» durch die Inhalte, die es in der Schule empfange. Danach suchten die einen künstliche Methoden ausfindig zu machen, um «nicht zu manipulieren», die ändern wieder dachten sich aus, sie könnten dann doch die Kinder in ihrem Sinne «manipulieren». Beide sind wie zwei Möwenjäger, die am Wasser sitzen und die in den Lüften kreisenden Möwen keines Blickes würdigen, aber die Spiegelbilder der Möwen zu haschen suchen, der eine mit der Angel, der andere mit Salz, das er den Spiegelbildern auf die Schwänze streut.

Die wirklichen Kinder lassen sich durch die Inhalte, die man ihnen gibt, nie «fangen», weil sie sie auf alle Fälle nicht verstehen. Ihr Verstand muß sich ja erst bilden. Man kann sie nur entweder urteilsstark oder urteilsschwach machen, je nachdem werden sie als Erwachsene, wenn sie Verstand haben, um auf Begründungen zu hören, entweder sich selbst ihre Urteile bilden oder die Urteile anderer nachbeten, also sich manipulieren lassen.

Urteilsstärke gewinnen Schulkinder, die sich von ihren Lehrern verstanden fühlen. Dies ist dann der Fall, wenn der Lehrer die Urteile der Schüler inhaltlich nicht überbewertet, aber jede Äußerung der geistigen Lebenskraft ermutigt. Urteilsschwach werden Kinder, wenn die Lehrer ihnen Urteils-«Begründungen» abfordern, welche die Schulkinder noch nicht leisten können. Daher zwingt man sie mit solcher Methode (die man fälschlich für «Erziehung zur Selbständigkeit» halten mag) in Wahrheit, die Urteile anderer unselbständig zu übernehmen. 

Die sogenannte «anti-autoritäre Erziehung» enthält somit in sich alle antipädagogischen Elemente der Erziehung zur Unselbständigkeit und Urteilsschwäche. Es genügt demgegenüber allerdings nicht, nur abstrakt zu beschließen: «Laßt uns also autoritär erziehen!» Denn wenn man darunter — was viele tun — versteht, daß Schulkindern das Urteilen abzugewöhnen sei oder daß sie des Lehrers «Autorität» nachzubeten hätten, so führt dies in die gleichen Mangel­resultate, zu Unselbständigkeit, Urteilsschwäche und Erziehungs-Mißerfolg.

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Dies sind pädagogische und psychologische Grundwahrheiten, die früher während Jahrtausenden selbstverständliche Handhabung waren. Platon beschreibt sie.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts — nein, nur im dritten Viertel dieses Jahrhunderts — kamen diese Grundwahrheiten für ein paar Jahre abhanden, dadurch, daß einige sehr Gescheite auf einmal glaubten, sie hätten das Zeug, um die Pädagogik zu reformieren, ohne das Wesen des Kindes zu studieren. In wenigen Jahren war der Spuk vorüber. Das Unheil, das er anrichtete, hat eine Anzahl von Schülergenerationen, die diesen «Pädagogen» als Experimentiertierchen dienten, unglücklich gemacht.

In der Kultur des 21. Jahrhunderts wird man dafür nur Kopfschütteln übrig haben. Man wird die menschheitlichen Grundwahr­heiten nicht nur wiederentdeckt, sondern auch begonnen haben, sie zu verstehen. Und man wird sie daher sinnvoll und freier als die früheren Zeiten handhaben.

 

Die Neuentdeckung der Sprache  

 

Man wird in der Schule die Urteilsstärke der Kinder am Wahrnehmen des Kommenden aller Arten zu wecken suchen, eben weil dieses das Urteil stark herausfordert, es weckt. Generell ist das Kommende, seiner Art nach, das Unbekannte im Bekannten. Eben dieses ist das natürliche Interesse des Kindes. Es schlummert oder lauert in jedem Gegenstand der Umwelt. Reift seine Zeit, so kommt es. Dies künstlerisch dazustellen, dient der Klang der Stimme und der Sprache der Dichtung, dienen die Unter- und Obertöne, Nuancierungen und Bewegungen im Klang der Stimme und in der Dynamik der Sprache: Dieses sind die geheimnis­vollen Felder der Ankündigungen, Ahnungen, Hellgesichte, «Stimmen, die sich hören lassen», wo «es sich anzeigt», und wie die vielen altertümlichen Ausdrücke zur Beschreibung des Phänomens lauten.

Diese Phänomene werden heute teils von unverständigen Leuten bestritten, teils bleiben sie den Zufällen der Künstlergemüter, teils den Parapsychologen, die von Kunst nichts wissen, und allerlei anderen Sturzäckern des Zufalls überlassen.

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Sie werden in naher Zukunft neu entdeckt und zu einem Hauptinteresse der Kultur des 21. Jahrhunderts werden, zufolge der Erkenntnis, daß dies die Felder sind, wo das Kommende eingreift, sowohl wahrgenommen als gehandhabt wird. Darum werden dies die Felder des pädagogischen und kulturellen Interesses sowohl als auch des eigentlichen Lebensinteresses sei. Es sind die Felder, wo die heute so berüchtigte «Leere» und «Langeweile» des Lebens und Innenlebens in permanentes brennendes Interesse und in Lebenserfüllung, Freude am Leben, umschlägt.

Von dem Zentrum der Pädagogik, der gesprochenen Sprache und dem Sprachgehör, sowie vom Interesse für das Kommende ist alle geistige Tätigkeit der Schule abhängig. «Musische Kunst» in des Sokrates' Sinne (Phaidon 60E) ist nicht nur das Dichtungsprechen, sondern alle mit Hinhören auf den Menschen vernommene und gesprochene Rede und alle so geführten Gespräche. Rede und Gespräch ist und verbleibt aller Fachunterricht im 21. Jahrhundert. Notizen machen, «es Schwarz auf Weiß besitzen und nach Hause tragen», gilt für verächtliche Art und Weise zu studieren. - Das Gedächtnis wird nicht speziell trainiert, aber es bildet sich bei dieser Methode ohne Zutun aus und entwickelt bedeutende Kraft. 

Im Gegensatz zu früheren aufs Gedächtnis abstellenden pädagogischen Methoden wird die Schule des 21. Jahr­hunderts großen Wert auf innere Zusammenschau legen. Heute ersetzt man die Zusammenschau als «Übersicht» durch Schemata auf Papier, das heißt, man vermeidet zusammen­zuschauen. Im Grunde ist alles Rechnen auf Papier nur Zusammenschau-Vermeidung. Das heutige Verfahren läßt das Denken gleichsam auf Krücken gehen, um es in Muskelatrophie zu treiben, weil eine Modeverirrung dies für «objektives Denken» erklärt hat. Im 21. Jahrhundert wird man wie Platon finden, daß das auf die eigene Willenskraft vertrauende Denken vielmehr das objektnächste ist. — Rechnen wird man die Kinder frühestens vom 10. Jahr ab lehren. Mathematik im eigentlichen Sinne nicht vor dem 18., und nur die speziell dafür Interessierten werden sie überhaupt lernen. So wie nur die künftigen Schuhmacher das Schuhemachen zu lernen pflegen.

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Der schöpferische Quellpunkt der neuen Musik

 

Die Musik wird in der Kultur und Pädagogik des Ohres natürlicherweise ihre wichtige Rolle spielen, doch es wird eine durchaus andere Musik sein. Es ist bereits heute jedem Einsichtigen erkennbar, daß die Musik, die bisher noch die Konzerte füllt und deren älteste Komponisten vor rund 400 Jahren lebten, mit Bruckner ihren letzten überragenden Komponisten gehabt hat, dem nur Nachzügler, kein tragender Atlas mehr gefolgt sind. Alle weiteren Versuche, die kompositorische Quelle dieser Musik zu retten oder neu zu erschließen, sind gescheitert, und es ist abzusehen, daß jeder weitere Versuch scheitern muß. Denn die klangliche Art dieser Musik spricht heute nur noch vergangene Empfindungen an, und jedes Konzert klassischer Musik ist gleichsam nur betätigte Musik- und Kultur-Geschichte, nicht anders als z. B. die folkloristischen Produktionen alteuropäischer oder exotischer Musik.

Die vielfachen Versuche zur Schöpfung von «moderner» Musik dringen nicht durch, stoßen auf Abwehr, weil sie sämtlich nur denaturierter Gebrauch des in seiner Art und Eigenart doch unverändert übernommenen Klanges der klassischen Musik sind. Auch Schönberg, der den Quintenzirkel zerstörte, änderte damit nur die Fundamente der Töne und Melodien, nicht aber die der klassischen Musik selbst, weil er deren Klang nicht änderte und gar nicht sah, daß die klassische Musik einen ganz bestimmten, spezialisierten Klang darstellt.

Die gesamte europäische Musik sieht diese Tatsache nicht und kennt darum das besondere Wesen ihres eigenen Klanges — ihr eigenes Wesen — nicht. Sie kennt es deshalb nicht, weil sie die Eigenart ihres eigenen Klanges für allgültig hält und jede ihr entgegentretende andersgeartete Musik entweder für «häßlich» oder für «bloßes Geräusch» erklärt oder aber die fremde in ihre eigene Schematik preßt, die darüber zum Prokrustesbett wird. So wurden z. B. die einst mündlich überlieferten «Volkslieder» unbedacht «in Noten gesetzt» und damit bis in die Tiefen denaturiert. Die aus Notenheften abgesungenen «Volkslieder» wurden daher nie mehr volkstümlich, sie wurden dem Volke fremd. Denn der von den Noten ihnen aufgezwungene Ton ist ein durchaus anderer als der ursprüngliche «Volkston», welcher vom notenbestimmten «Gesangston» ebensoweit absteht wie vom Prosaklang der Sprache.

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Noch Herder und sogar noch Achim von Arnim und seine Helfer begriffen, daß das Volks-«Lied» nicht in Noten gesetzt werden durfte. Sie veröffentlichten diese Lieder als Dichtungen, die sie sind. Auch der Druck, auch die Niederschrift mit Buchstaben, denaturierte die Volkslieder, denn sie waren fürs Rezitieren geschaffen, und der Rezitations-Klang gehörte zu ihnen nicht minder als der buchstabierbare Text. Sie zu rezitieren hieß mit altüberliefertem Ausdruck: «Singen» («canere, aeidein»), doch es war ohne Noten, folglich ohne feste Tonhöhen, mit dem der gesprochenen Sprache eigentümlichen, beweglichen Ton des Klanges der Stimme.

Eine Nachricht aus dem zeitgenössischen Griechenland erhellt den Vorgang. Ein Grieche, der sich einen guten Bandaufnahme­apparat angeschafft hatte, erklärte dem Verfasser, er werde damit nun auf die Inseln gehen, wo es noch lebendiges Volkslied gibt, und er werde die Lieder dort aufnehmen. Dann solle die Aufnahme auf Schallplatten übertragen und vervielfältigt werden. Doch dies sei nicht auf direktem Wege möglich, erklärte der Grieche. Denn die Art und Weise, wie die Inselgriechen «singen», klinge scheußlich. — «Wenn man aber zuvor die Musik symphonisiert und das Symphonisierte dann erneut auf Platte aufnimmt, klingt es wie Beethoven.»

Diese tiefe Verfälschung wird immer wieder den exotischen Musiken von ahnungslosen europäischen Musikern angetan. Die Exoten selbst kennen sich nicht mehr aus. Eine japanische Sängerin europäischer Musik erklärte dem Verfasser, der sie nach der japanischen einheimischen Musik fragte, eben wie jener Grieche: «Diese klingt häßlich.» In der Tat — sobald das Ohr einmal sich auf europäische Musik eingestellt, umgestellt hat, klingt ihm jede andere Art von Klang «unerträglich». Man kann die Wirkung von Fleischgenuß auf das Geschmacksorgan oder von stark alkoholischen Getränken vergleichen, wie sie bewirken, daß einem die feineren Geschmäcker der vegetabilen und die unvergorenen Säfte schal vorkommen. Oder man kann die Wirkung von strahlend-heller Beleuchtung vergleichen, wie zum Beispiel die in Griechenland, die den Farbensinn betäubt, wie die Maler sagen.

Von diesen Blickpunkten her zeigt sich die klassisch-europäische Musik wie eine verführerische Sirene, die all ihre Schwestern entweder sich einverleibt — sie frißt — oder sie wie Circe in häßliche Tiere verwandelt.

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In diese Molochnatur verfällt jedoch die europäisch-klassische Musik nun dadurch, daß sie sich selbst und die beschränkte Geltung ihres eigenen Klanges nicht kennt. Denn es gilt die Meinung, die fixierte Tonhöhe der europäisch-neuzeitlichen Musik sei das absolute Wesen des musikalischen Klanges als solchen. Feste Tonhöhe ist jedoch nur das Wesen eben dieser Musik der letzten 400 Jahre in Europa. Durch die Jahrtausende vorher war fixierte Tonhöhe der Musik unbekannt. Sie wird zukünftig als die besondere Charakteristik der Musik dieser 400 Jahre zu gelten haben, denen sich wiederum Jahrtausende ganz andersartigen Klanges der Musik anreihen werden. Auch die Musik wird künftig mit der Frage des Wirklichen und Nichtwirklichen in Verbindung mit der Frage der immateriellen Substanz des Kommenden, und hierbei mit dem Wesen des Klanges, sich intensiv auseinandersetzen.

Eben hier liegt für die Musik des kommenden 21. Jahrhunderts der schöpferische Quellpunkt, nicht nur um neue Komposition von Format, sondern um insbesondere eine neue musikalische Kunst, der klassischen ebenbürtig, doch von Grund auf anderen Klanges zu erzeugen. Hierfür gibt es bisher nur geringe Ansätze.

Auch diese kommende Musik wird in der Schule ihre wichtige Rolle spielen, Hand in Hand mit der dichtungssprechenden Kunst. Die vokale Musik wird von dieser Kunst vollständig übernommen werden. Vielmehr, sie wird in sie, aus der sie stammte, zurückkehren.

 

Freude am spielenden produktiven Willen

 

Eine zweite Seite der Pädagogik des 21. Jahrhunderts, ihre andere Hälfte, ist das Spiel. Es dient der Übung und Geschicklichkeit der körperlichen Glieder sowie zur Erwerbung der körperlichen Kraft und der Geistesgegenwart. Demnach gliedert sich das Spiel zunächst nach den verschiedenen zu übenden Gliedern des Körpers: Wurf- und Fangspiele, Sprung- und Laufspiele, Wettkampfspiele: «Gymnastik». — Sodann Spiele, die die beruflichen Betätigungen der Erwachsenen nachbilden. Letzteres ist ein wohlbekanntes Prinzip aus der Eigenwelt des Kindes, doch das Kind blieb in den historischen Kulturen damit fast sich selbst überlassen, es war des Kindes «Freizeitbeschäftigung».

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In der Schule des 21. Jahrhunderts wird das Bauer-Spielen, Gärtner-Spielen, Schreiner-Spielen, Kaufmann-Spielen usw., usw. zur wichtigen, sorgfältig gepflegten Aufgabe der Schule werden. Aus mehreren Gründen.

Zum ersten ist das Spiel in allen seinen Formen die rationelle, organgemäße Entfaltung eines wichtigen Organs, des Gehirns. Denn dieses ist das körperliche Fähigkeiten­bewahrungsorgan (Karl König). Es ist das Wahrnehmungsorgan für die eigenen Bewegungen («Eigenbewegungssinn», Rudolf Steiner). Zugleich bewirkt es Einverleibung der Bewegungen, so daß diese reproduzierbar, somit als Fähigkeiten bewahrt werden. Solche Reproduktion ist z. B. jede Geschicklichkeit der Hand, des Fußes, des Sprachorgans und selbst des Gedächtnisses, welches wesentlich an der Sprache hängt.

Die Geschicklichkeiten der Künste der verschiedenen Glieder gehören eng zusammen und steigern einander, denn ihrer aller Ursprung ist der Wille. Dieser ist Individualität, unteilbares Eins.

Der Wille selbst ist nicht eine «Kunst», und er ist nicht eigentlich durch Übung zu steigern. Sogenannte Willensübungen befreien nur den Willen von seinen Fesseln. Die Befreiung läßt ihn seine Kraft mehr und mehr entfalten. Diese Entfaltung ist, was man Geistes­gegenwart nennt.

Die heutige Erziehungs-Gesinnung pflegt das Gehirn direkt zu trainieren, ohne Zusammenhang mit den übrigen Körpergliedern und oft unter Vernachlässigung aller außer des Gehirns. Es bedeutet, daß der Fähigkeiten-Bewahrung weit mehr Aufmerksamkeit gegeben wird als der Fähigkeiten-Erwerbung. Es ist, wie wenn ein Kaufmann alle Einkünfte mit Sorgfalt im Safe sammelt, ordnet und verschließt, ohne Kapital zu investieren und Risiken zu wagen, bis seine Einkünfte progressiv spärlich und spärlicher werden. Solche Erziehungsmethode erzeugt verhärtetes, spezialistisches Gehirn und wirkt als progressive Fesselung des Willens sowie Abtötung der Kraft zur Geistesgegenwart. Damit wird das Gehirn nur zur Reproduktion von theoretischen Gedanken dienlich, unbrauchbar für alle andere Kunst und vor allem für den Umgang mit Menschen.

Die Kultur des 21. Jahrhunderts ist Freude am frei spielenden produktiven Willen. Diese Kultur kann daher mit spezialistischen und abstrakt arbeitenden Gehirnen nichts anfangen, sie braucht eine vielseitige, alle Glieder des menschlichen Organismus einbeziehende Fähigkeitenentwicklung.

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Diese ist Aufgabe der Spiel-Schule, die mit pädagogischer Sorgfalt meidet, Perfektion und Spezialisierung zu erstreben, aber Erfahrung möglichst vieler Felder vermittelt und immer an dem Punkte aufhört, wo die spielerische Auseinandersetzung mit einer bestimmten Aufgabe in Routine oder professionelle Technik überzugehen droht.

Dadurch wird insbesondere vermieden, daß der Wille als Tyrann wirkt. Denn das tut er immer, wenn er sich mühelos durchsetzt, weil er eine bestimmte Kunst, wie man sagt, zu beherrschen gelernt hat. Wille, der mit einer Aufgabe ringt, muß vielmehr die Umwelt achten, Sinn für deren Eigenleben und Eigenwesen und Sinn für das Kommende und Zukünftige entwickeln — lauter Eigenschaften, die in der Kultur des 21. Jahrhunderts zu den hochgeschätzten zählen.

Wille, der ringt, wirkt wie der Wille des Künstlers am Werk. Oder umgekehrt, des Künstlers Umgang mit dem Willen ist ein bereits heute existentes Stück Kultur des 21. Jahrhunderts, wenn der Künstler um die Kunst ringt und nicht ein Routinier ist.

Aber auch das Spiel, solange es echtes Spiel ist, braucht Willen, der ringt, denn es ist nicht mehr Spiel, sobald es Kunst, geschweige, sobald es Serienproduktion wurde.

Endlich ist Wille, der ringen muß, in jedem Lernenden, solange er lernt. Und es ist ein Mittel, den Willen ringend, das ist, bei steter achtungsvoller (sozialer) Wahrnehmung seines Gegenübers zu erhalten, wenn man möglichst vielerlei lernen läßt, so daß nirgends Perfektion und mechanische Routine eintreten können.

Alldem dient jene andere Hälfte der Schule des kommenden Jahrhunderts, das Spiel. Es ist das eine, dem es dient.

Das andere ist, daß das Spiel nur das Leben als solches vorbereitet. Leben als solches ist das Leben mit den Mitmenschen, doch nicht nur mit den eigenen Lieben und auch nicht nur mit den Werksgenossen, mit denen die gemeinsame Arbeit verbindet.

Es gehört mit zum Wichtigsten im Leben, daß jedermann Verständnis für das Tun und Treiben auch des fremderen Nebenmenschen gewinnt. Solches Verständnis ist die Hemmung, die den antisozialen Egoismus hemmt.

Nichts legt hierfür so guten Grund als das spielerische Kennenlernen vieler Berufe. Keime dieser Abteilung der Schule des 21. Jahrhunderts gibt es bereits heute in manchen Schulen und Schulgesetzen, so daß es bereits viele Erwachsene mit entsprechenden Erfahrungen gibt — Männer, die in der Schule weibliche Handarbeiten, Frauen, die etwas schreinern, spätere Beamte, die buchbinden, Geschäftsleute, die das Spinnrad betätigen lernten, usw.

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Auch das Spiel mit «Scheinfirmen» gehört hierher, doch es wird gegenwärtig meist auf die kaufmännischen Schulen beschränkt, wo es nur technische Übung ist, ohne Bedeutung für die soziale Gesinnung.

Wer auf solche Schulerfahrungen zurückblicken kann, wird bestätigen, daß ihm diese das Verständnis für Menschen erweiterten in durch nichts anderes zu ersetzender Weise. Doch liegt etwas Tieferes zugrunde.

 

 

Erziehung zu sozialem Verständnis

Diese zweite Funktion der Spiel-Schule wirkt als Erziehung zum sozialen Verständnis nur durch die Voraussetzung, daß die andere Hälfte der kommenden Pädagogik, die Schule der musischen Künste, das Gehör entwickelt durch die intensive und ausführliche Beschäftigung mit der Dichtung als gesprochener Sprache und als Klang der Stimme. Dieses entwickelte Gehör und die Herrschaft über die gesprochene Sprache und die Stimme schaffen die Voraussetzung, um Gehör für den Menschen zu haben und im Wort des anderen den Menschen zu hören. Und auch die Voraussetzung, um mit Glück das rechte Wort am rechten Ort und vor allen Dingen es auf die rechte Art und Weise zu sagen. Also: soziale Geistesgegenwart zu entwickeln.

Dieser Fähigkeiten bedarf der Mensch im Leben. Sie sind die Lebenskunst oder die Kunst des rechten Umgangs. Doch es ist nicht eigentlich erlernbare Kunst. Erlernbar ist nur die Voraussetzung, das Instrument, und der Gebrauch des Instruments, das «Spielen» darauf. Instrument ist das Gehör und eine dem Gehör gehorchende Sprache. Es wird von der musischen Kunst aus dem Worte der Dichtung erzeugt. Dieses Instrument zu «spielen», es lernt sich beim «Spiel», also in der anderen Hälfte der Schule des 21. Jahrhunderts, bei einer besonderen Funktion dieser anderen Hälfte.

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Das Wesen dieser anderen Funktion des Spiels zeigt sich durch folgende Überlegung. Das Spiel des Zöglings hat zunächst Bezug auf ihn selbst, es bietet ihm Ausbildung seiner individuellen Talente aller Art. Zum ändern aber kommt er im Spiel mit seinen Kameraden und den Lehrern in direkten Lebenskontakt, der sich zwar in der Schule abspielt, aber nicht, wie beim Umgang mit der Dichtung und beim Spiel als solchem, nur Schein des Lebens, sondern reales Leben ist, wo das Wort wirklich wiegt und wirkliche Spannungen und Lösungen, Handlungen und Situationen sich ereignen. Denn beim Spiel müssen Spielregeln eingehalten werden. Diese aber sind echte Gesetze, und die Einhaltung erfordert Müheaufwand. Sie wird mühelos, sobald aus dem Spiel Routine wurde, dann aber ist es nicht mehr Spiel. Dann ist das echte Spiel Betätigung von Geistesgegenwart. Solange das Spiel echt ist, braucht es daher immer wieder neue Verabredungen und Fehlerkorrekturen, denn daß Fehler geschehen, gehört zum Wesen des Spiels. Die Korrekturen aber sind reales Wort zwischen Mensch und Mensch, nicht Spiel. Sie sind innerhalb der Schule eine Art Golf, womit das reale Leben in sie hineinragt.

Echtes Spiel ist auch und muß sein das Bühnen-Spiel. Hier nennt man die Korrekturengabe: Regie. Bühnenspiel ohne Regie ist nicht nur nicht möglich. Es verlöre den Reiz. Dieses Beispiel demonstriert die hohe Bedeutung des beständigen Gesprächs über die Einhaltung der Gesetze beim echten Spiel. Was das Publikum am regissierten Bühnenspiel unterbewußt interessiert, ist das Ringen um die Beobachtung der Bühnen-Gesetzmäßigkeiten, dieser Lebens-Strom zwischen den Beteiligten. Das Publikum fragt nicht, wie er zustande kam, doch es reagiert, wenn er fehlt.

Korrekturgeben und Korrekturempfangen sind echte soziale Kunst. Es ist im Grunde die soziale Kunst im Leben direkt abhängig von der Geistesgegenwart im Gehör, im Wort, in der Gebärde und der Tat. Gespräch über das Gesetz beim Spiel ist die pädagogische Übung der Geistesgegenwart, die nie Routine werden darf.

Somit erfüllt das Spiel zwei sehr verschiedene pädagogische Aufgaben, eine ausbildende und eine soziale. Aus dem Spiel erwachsen die bildenden Künste. Sie haben einen durchaus anderen Ursprung als die musischen. 

Das Wort ist in einem ganz anderen Sinne Nachbildung oder Darstellung des Dinges,

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das es bedeutet, wie z.B. das gemalte Abbild eine Nachbildung des Dinges ist, das es darstellt. 

Denn das Gemalte stellt unmittelbar dar, was das Auge sah. Das Wort aber stellt ganz anders dar. Es gibt wieder, wie der Mensch mit dem Ding mitlebte und auf es reagierte. Der Maler steht dem Ding gegenüber. Dem Sprecher ging etwas von dem Ding ein.

Die musischen und die bildenden Künste machen miteinander ein Ganzes. Das Verbindungsglied ist die «darstellende Kunst», das Bühnen-Spiel. Andererseits verbinden sich die bildenden Künste mit den handwerklichen Berufen, denn sie beginnen beim dekorativen Gestalten der materiellen Umgebung. Zur bildenden Kunst wird das Handwerk, sobald es Spiel zu sein begann.

Drittens verbinden sich die musischen Künste durch das Spiel mit dem sozialen Leben, sobald das Ohr, das hören gelernt hat, den Menschen hört. Denn obwohl man dieses nicht lernen kann, lehrt das Spiel zu entdecken.

Heutigen Denkgepflogenheiten gemäß mag nun mancher Leser sich fragen, wie denn so vorbereitete Zöglinge sich nach Abschluß der Schule in praktischen Berufen bewähren, ja wie sie in diese eintreten, sie erlernen können werden! Denn sie bringen aus der Schule nichts von den jetzt in den Schulen hauptsächlich geübten und getriebenen Fähigkeiten mit. Sie haben nicht Lesen und Schreiben und vom Rechnen kaum die Anfangsgründe gelernt. Sie kennen z.B. Chemie und Atomphysik vor allem als Namen der verabscheuungs-würdigsten aller Wissenschaften oder Technologien, weil sie an der Vergiftung der Elementarsphären die Hauptschuld tragen. 

Physik und Naturwissenschaften kennen diese Schulentlassenen nur in Gestalt zahlreicher Beobachtungen, auf die sie geführt worden sind, wobei aber die Abneigung gegen das Schreiben und gegen alle Theorie zur Folge hat, daß das Bedürfnis nach Aufstellung von Natur-Gesetzen gering ist und geringer wird. Statt dessen entsteht Bedürfnis, durch fortwährende und sorgfältige aktuelle Beobachtung die Naturkräfte intim kennenzulernen, wo und wie man Menschen im Umgang kennenlernt und sich mit ihnen befreundet. Kein Mensch schreibt sich den Umgang mit seinen Freunden in Kartotheken ein, niemand schlägt ihn in Zettelkästen nach!

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Auch alle übrige Naturwissenschaft wird sich mehr und mehr auf die Beobachtung als solche und auf das intime Kennenlernen­wollen verlegen. Zoologie z.B. nach der Art von Brehm, doch mit vielfach gesteigerter Beobachtungs­schärfe, bis hin zu echter Verständigung mit den Tieren.

Eben die Beobachtungsschärfe ist das positive Ergebnis der Negation der Schrift. Die Beobachtungsfähigkeit steht in umgekehrt proportionalem Verhältnis zur Schriftkundigkeit, doch deren Abwesenheit potenziert die Beobachtungsgabe. Denn diese ist Intelligenz in den Sinnen, die sich steigert, sobald die Sinne organgemäß betätigt werden, und geschwächt wird durch organwidrige Übung, z. B. des Auges beim Lesen und jedes Sinnes unter unnatürlichen Bedingungen. Kultur des Sprachgehörs, des inneren Bildes, des äußeren Auges, aller körperlichen Geschicklichkeit, aller Glieder und Sinne gemeinsam, sie vermag die Beobachtungsgabe des intelligenten Analphabeten unbegrenzt zu steigern.

Dieses ist das eigentliche geistige Kapital, womit die Schule des 21. Jahrhunderts ihre Zöglinge ins Leben entläßt. Die durch Analphabetismus, durch Kunst des Gehörs und aller inneren und äußeren Sinne, durch das Spiel als Kultur aller äußeren und inneren Betätigungen («Gliedmaßen») mit Sorgfalt sowohl erzogenen als auch bildsam erhaltenen regen Geisteskräfte und Talente bewältigen mühelos jede spezielle Lernaufgabe, die sich im einfachen praktischen Leben stellt. Wer mit so gearteter Erziehung dann als Erwachsener zum Beispiel Schreiben und Lesen zu erlernen wünscht, wird es mühelos in kurzen Wochen lernen. Auch beliebige Handwerkslehren werden für Menschen, die ihre Glieder und Sinne intelligent zu gebrauchen wissen und rege Beobachter sind, ohne Mühe zu absolvieren sein.

Diese Menschen werden andererseits die auf dem Geschriebenen im weitesten Sinn beruhenden Wissenschaften, die in die technokratische Zerstörung der Naturumwelt und der sozialen Beziehungen geführt haben, nicht lernen wollen — deshalb nicht, weil in ihnen jener Sinn für das Lebendige und Kommende, Sinn für die Folgen, vorhanden und mit Sorgfalt gepflegt worden ist, der als Warn-Sinn wirkt wie beim Reh die Witterung. Wer die üblen Folgen verantwortungslosen Handelns gleichsam vor Augen sieht, hat Vernunft und hat wenig Grund, unvernünftig zu handeln. Auch wird die Erfahrung folgende umgekehrte Proportionalität gelehrt haben: Sich ins Geschriebene und Abstrakte Vertiefen bewirkt Schädigung und Verlust des Warn-Sinns. Wer ihn aber hat, weiß, daß er ihm alle Papierwissenschaften hundertfach überwiegt.

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