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4. Die Erneuerung der die Kultur tragenden Kräfte

 

 

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Für einen oberflächlichen Anblick scheint die materielle Kultur des 21. Jahrhunderts wie Rückschritt in die Handwerks- und Bauernkulturen früherer Zeit. Doch ist dies bloße Äußerlichkeit, bedeutsam allerdings durch das Lebens-Positivum, daß die Angehörigen dieser Kultur des 21. Jahrhunderts mit Interesse und Freude die Hände regen und daß sie das 20. Jahrhundert mit seiner Reduzierung der Handarbeit auf bloße Handgriffe, «Bequemlichkeitshalter», als eine fast unbegreifliche Verirrung des Lebenswillens in den Lebensunwert hinein ansehen werden.

Es besteht nun aber ein tiefer Unterschied zu den früheren, den vorneuzeitlichen Handwerkskulturen. Das frühere Handwerk hat seine wesentliche Eigenart und seine fundamentalen Techniken einst in der (noch schriftlosen) Zeit des 5. und 4. Jahrtausends vor Chr. ausgebildet. Mit dem 3. Jahrtausend v. Chr., mit dem Auftreten der Schrift und der den Alltag darstellenden Malerei in Südeuropa und im Orient zeigen sich die Handwerke in allem wesentlichen bereits voll vorhanden.

Seither hat die gesamte Handwerks- und Landbaukultur bis in die Neuzeit fast zur Gänze vom Prinzip der Tradition gelebt, ohne Bedürfnis nach Weiterentwicklung oder Erfindungen. Nur die künstlerischen Formgebungen, die Stile, blieben in steter Entwicklung.

Der stationäre Zustand der Handwerkstechniken endete zu Beginn der Neuzeit mit dem Auftreten des naturforscherischen Geistes, dem über die großen Erfindungen und Entdeckungen dann das jetzige technologische, technokratische Zeitalter entsprang.

Das letztere ist in seinen Konsequenzen eine Verirrung gegenüber der Natur und der Existenz unseres Wohnplaneten. Doch daran ist im Grunde nicht das Forschertum als solches schuld, sondern seine Denaturierung durch die Egoismen, die es in ihre Dienste zogen. Seiner eigenen Natur nach ist das wissenschaftliche Forschen jedem Egoismus fremd, denn es hat nur Sinn und Wert, wo es allein der Wahrheit verpflichtet ist.

Die Erfahrung hat nun allerdings jüngst gelehrt, daß der Mensch, der forscht, heute den Verlockungen des Egoismus durch­schnittlich nicht gewachsen ist, weil sein Wille schwach zu sein pflegt, als Folge der heute für alleingültig ausgegebenen abstrakten Forschungsmethoden.

Die materielle Kultur des 21. Jahrhunderts verliert den forscherischen Geist nicht, sondern entwickelt ihn zu einer im 20. Jahrhundert sogar kaum geahnten Höhe, durch Verbindung mit dem geänderten Verhältnis zur Natur und zu ihren wertvollen Materien und Lebewesen, die nun gehütet und gehegt statt ausgebeutet werden. Dieses neue Verhältnis zur Natur entstand in der tiefen Not der Naturkatastrophen. Doch es wandelt sich mit dem fortschreitenden Jahrhundert immer mehr in eine neue Religiosität. Hiervon an anderer Stelle mehr.

Forschung in der neuen Gesinnung der Natur-Befreundung und mit dem Sinn für das Lebendige und Werdende empfängt von der Natur neue, nie zuvor erhörte Resultate.

So wie einst Maschinen und Maschinen­verbesserungen erfunden wurden, so werden nun den Landwirten, Gärtnern und Förstern zahlreiche Pflanzen-Mutationen und Tierrassen-Variationen gleichsam unter der Hand gelingen, wie sie deren bedürfen.

Denn diese Kultur — es muß beständig vor Augen gehalten bleiben! — ist fürs erste eine Flucht-Kultur, die sich in unwirtliche Gebiete zurückzog, um die Giftkatastrophen der Nahrung, des Wassers und der Luft zu überdauern und zu überwinden. Um zu überleben, bedürfen also die Angehörigen dieser Fluchtkulturen eines Nutzpflanzen- und Haustierbestandes, der in den betreffenden Wüsteneien und klimatisch gunstlosen Gebieten gedeiht. Dieser landwirtschaftliche Bestand wird vermöge überlegener Kunde des Lebendigen geschaffen werden. Bis zu den Erfolgen hin wird indessen eine karge Zeit zu überdauern sein.

Auch Energiequellen wird diese Menschheit erschließen. Nicht spektakulären Gigantenausmaßes wie die jetzt gebrauchten — sich verbrauchenden. Statt dessen werden diese anderen Energiequellen die durch nichts aufzuwiegende Eigenschaft haben, daß sie sich beständig selbst erneuern, wie der Pflanzenwuchs.

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Es handelt sich um bisher nicht nutzbare Naturkräfte, wie z.B. die Chlorophyll­kraft, womit die Pflanzen am Sonnenlicht Kohlensäure reduzieren. Oder die Kraft, die im Lebendigen die Zellteilungen und das Wachstum bewirkt. Oder die Kraft, womit das Licht den Raum überwindet. Es gibt zahlreiche derartige Energien, an deren Faßbarkeit die jetzige Technologie verzweifeln muß, weil diese Kräfte nur durch Zusammenarbeit mit der Natur, nicht durch ihre Unterjochung, zu erlangen sind.

Eine besonders wichtige Energiequelle ergibt sich aus der Verbindung zwischen den expandierenden und den kontrahierenden oder saugenden Kräften (zu denen die Schwerkraft gehört). Diese Energiequelle wird z.B. seit alters in jedem Wasserrad genutzt, neuerdings in den Turbinen. Doch wird hierbei nur die saugende Komponente, die Schwere, die das Wasser hinabsaugt, einbezogen, nicht aber die expandierende Kraft, die das Wasser verdunsten macht. Vereinigung von expandierenden und saugenden Kräften in einem Aggregat ergibt eine Energiequelle, die an jedem Ort der Erde zu beanspruchen ist, unabhängig von Bodenschätzen, Klima und Witterung.

Wesentliche Eigentümlichkeit dieser Energiequellen der Zukunft ist, daß die Energien in einer Art von permanentem Status nascendi zur Wirksamkeit gebracht werden. Dergestalt, daß die Energie von außen die Materie ergreift und bewegt. Während im Gegensatz dazu fast alle jetzige Energieausnutzung auf in den Materien befindliche Energien, die herausgeholt werden, abstellt. Nur in der organischen Chemie gibt es Anfänge eines Begriffs der von außen an die Materie rührenden Energie, z. B. bei den Fermenten, Vitaminen, Hormonen, welche materiell gewissen Kohlehydraten und Eiweißarten im wesentlichen gleich sind, aber enorme organische Energie enthalten, die ihren Doppelgängermaterien gänzlich fehlt.

Eine gewisse, doch nur äußerliche Analogie zeigen die Elektrizität und der Magnetismus, indem das unmagnetische Eisen, das elektrizitätsfreie Kupfer sich von Magneteisen, vom Hochspannung bergenden Kabel materiell nicht unterscheiden, obwohl hier enorme Energien, dort gar keine in die Metalle eingreifen. Doch üben die Elektro- und Magneto-Techniken auf die Naturkräfte Zwang aus, darum hinkt der Vergleich.

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Näher kommt man einer Vorstellung von der Technologie des kommenden Jahrhunderts, wenn man ein Stück Kohle und die Energie, die beim Verbrennen die Kohle angreifen wird, als zwei getrennte Entitäten nebeneinander vorstellt, die erst durch das Feuerphänomen miteinander in Kontakt treten.

Die gesamte Frage der in Rede stehenden zukünftigen Energietechnik ergibt sich indes aus dem prinzipiell anderen Verhältnis zur Natur und Umwelt selbst, das durch die beiden Fundamente: hohe Kultur der Beobachtung und Zusammenarbeit mit der Naturumwelt charakterisiert worden ist.

Die intime Beobachtung wird lehren, daß die eigentlichen Naturkräfte durchwegs nicht «in» der Materie, sondern außer oder neben ihr sich befinden, von wo sie die Materie angreifen oder ergreifen, in Bewegung setzen oder ändern. Diese Erkenntnis führt auf die weitere Erkenntnis, daß die eigene Beobachtungskraft ein ganz ähnliches Verhältnis zur Materie des eigenen Körpers und weiterhin zu aller Materie hat, und führt weiter darauf, daß die denkende Beobachtung sich selbst als eine Naturkraft im Kreise der Naturkräfte erkennt, zu denen sie daraufhin in Beziehungen tritt. Dies führt dann zu jener «Zusammenarbeit» und intensiviert sie, deren Frucht die äußere Kultur des 21. Jahrhunderts und die beruflichen Betätigungen in ihr sein werden.

Die Kultur des 21. Jahrhunderts beginnt in kleinen, inselhaften, abgeschiedenen Siedlungen, wo nur handwerklicher und bäuerlicher Aufbau in Frage kommt, anfangs sogar mit nur wenig Haustierhilfe. Denn die industrielle Raubbaukultur des späten 20. Jahrhunderts hat die Tiere fast ausgerottet. Die Siedler aber konnten von ihrer Habe nur wenig mitführen und noch weniger davon brauchen. Was sollten ihnen Elektrogeräte in der Wildnis? Aber sie erstreben auch nicht den Bau neuer Maschinen und empfinden Antipathie sogar gegen Wasserkraftwerke, obwohl die Turbinen, äußerlich gesehen, «umweltfreundlich» scheinen. Der rege Sinn für das Lebendige und Kommende wird entdecken, daß die permanente Wuchtballung und Schnittwucht in der Turbine bestimmte Schädigungen im feineren Gewebe der Kräfte des Lebendigen im Wasser und ringsum verschuldet, die nur nach und nach sichtbar werden.

Das radikale Nein zu der Kulturgesinnung des 20. Jahrhunderts bewirkt, daß die Fluchtkulturen des 21. Jahrhunderts sich äußerlich nur langsam entwickeln und in ihren äußeren Einrichtungen bald nach Überwindung der ersten Notphasen fast stillzustehen scheinen. Nur nach und nach kommt zum Beispiel die Erschließung der neuen Energiequellen dazu. Manches davon erst im 22. Jahrhundert.

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Ganz anders die innere Entwicklung dieser Kultur. Diese geht gewissermaßen stürmisch vor sich, bestimmt von der Entdeckung jenes anthroposophisch-neuen Verhältnisses zum Willen und dem daraus erwachsenden Sinn für das Lebendige und Kommende, vom Interesse für die von diesem Sinn gebotenen Wahrnehmungen und für die Ausbildung und Weiterbildung dieses Sinnes selbst. Nur indem die Wahrnehmungen dieses Sinnes auf die äußere Kultur Bezug nehmen, schreitet auch diese nach und nach vor. Dieses Fortschrittstempo bestimmt also nicht der Wunsch, sondern es sind eben die Wahrnehmungen des Lebendigen und Kommenden, die das Fortschreiten regieren und regulieren.

 

Verzichttendenzen — Beginn des Umdenkens 

 

Scheinen die vorstehenden Beschreibungen «unrealistisch»? Wer noch an die sozial­psychologischen Dogmen glaubt, mag einwenden, es gebe doch keinen anderen Antrieb als das Gewinnstreben, und jede gegenteilige Behauptung sei Illusion oder Humbug.

Dieses Dogma ist von der ehrenwerten Gilde der Hippies laut und öffentlich widerlegt worden. Es wird, weniger laut, von manchen anderen widerlegt, die alle möglichen Mühen und Entbehrungen auf sich nehmen, sobald und solange sie ein geistiges Ziel festumrissen sehen und zu verfolgen hoffen. Ihnen stirbt der ideale Impuls augenblicklich, wenn das Ideal sie zu täuschen schien. Und er kommt augenblicklich wieder, so oft neue Hoffnung es wieder nährt.

Jeder Mensch reagiert so, in dem Maße, als ihm ideale Ziele faßbar sind oder werden. Das Gewinnstreben ist nur eines von Tausenden idealen Zielen, und es ist nichts als jener Krebsschaden der neueren Schule, die Phantasielosigkeit, was im jüngsten Jahrhundert die Leute glauben machte, das Gewinnstreben sei «das einzige» oder oberste aller wünschbaren Ziele.

Dem Dogma widerspricht insbesondere auch die sozialistische Bewegung des 19. Jahrhunderts, denn die ursprünglichen Sozialisten nahmen alle möglichen Tribulationen gerne auf sich, die ihnen damals zugefügt wurden, weil sie Sozialisten waren.

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Es widersprechen zahllose frühere ideale Bewegungen, zum Beispiel die der Katharer, die sich für ihre Überzeugung von «Christen» verbrennen ließen, und die der frühen Christen, als diese sich als Märtyrer köpfen und spießen ließen.

Findet man eine freiwillige Rückkehr ins vormaschinelle Zeitalter undenkbar? «Nie wird ein Junge lieber einen Esel haben wollen statt seines Motorrads», meinte jemand. Solange die Schule dem Jungen nichts anderes als jene berüchtigte Öde zu vermitteln vermag, ist es gewiß so. Der Junge braucht das Motorrad, um sich die vor Öde schmerzenden Ohren zu füllen und um den vor Öde ängstlichen Atem sich vom geschwinden Lauf des Rades in eine Art Interesse-Spannung zerren zu lassen. Hätte der Junge atmen und hören gelernt, so würde ihm das Motorrad Entsetzen einflößen, weil er dann merken würde, daß das Ding ihm alles, was ihn eigentlich interessiert, zerknattert und zerbröselt. Es ist alles nur Frage einer gesunden Schule.

Hält man für unmöglich, daß eine solche je kommt? Es mag wohl sein, daß die Menschheit zuvor wird demonstriert bekommen müssen, wo die jetzige, jetzt noch immer weiter ins bisherige Denken hinein-«reformierte» Schule enden wird.

Hält man den Schritt aus der Schriftkultur heraus für unmöglich? Wir sind diesem Schritte viel näher, als es dem oberflächlichen Blicke scheinen mag, und zwar infolge der neueren Schulen-Formen und Schul-Reformen. Diese wurden im wesentlichen sämtlich in Amerika ausprobiert, fast alle stammen von dem Illusionisten John Dewey ab.

Es hat sich herumgesprochen, daß in Amerika eine große Anzahl von Schulpflichtigen etwa ab dem 12. Lebensjahre systematisch die Schule zu schwänzen beginnen, was ihnen infolge frühreifer Schlauheit und der mangelnden Sorgfalt der Erwachsenen in weitaus den meisten Fällen jahrelang gelingt. Diese Kinder verwildern. Eine menschenfreundliche Persönlichkeit, die sich solcher Kinder annahm, befragte sie über die Gründe: «Warum schwänzt ihr?» — Die weitaus häufigste Antwort lautete verblüffender­weise: «Weil ich nicht lesen gelernt habe und darum in der Schule nichts verstehen konnte.»

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Was seit Jahrtausenden kein Problem war, das simple Lesenlernen, hat die «moderne» Schule des 20. Jahrhunderts unter Deweys Anleitung und mit Ganzwortmethode zur unübersteiglichen Schwierigkeit gemacht. Kein Wunder, daß die Reaktion der Schüler sich auch jugendlich-gewalttätig Luft gemacht hat, so daß man in Amerika dazu übergehen mußte, Schulunterricht in Anwesenheit bewaffneter Polizisten abhalten zu lassen, um das Leben der Lehrer zu schützen.

Trotzdem wird die John-Dewey-Methode wider die Erfahrung und Vernunft unbeirrt weiter propagiert als der Weisheit letzter Schluß. Es zeigt, wie die jetzigen Schulen an ihnen selbst zu Fall kommen. Es ist zugleich ein Vorzeichen — portentum — dessen, was auf die insgesamte jetzige Schule zukommt: ihre Vernichtung und Abschaffung. Es nähert sich eine Zeit, in der der «allgemeine Schulzwang» sich nicht länger wird durchführen lassen, und zwar in den beiden kommenden Menschheiten nicht. In der weiterrollenden Degenerationskultur deshalb nicht, weil ein übermäßiger Prozentsatz der Kinder und Halbwüchsigen sich mit allen Mitteln aus den Schulen herausziehen und jeden als Todfeind betrachten und behandeln wird, der ihn in die Schule hinein­zwingen will. In der eigentlichen Kultur des 21. Jahrhunderts aber wird die Schule einen dermaßen anderen Aspekt zeigen, daß von einer Kontinuität mit der Schule des 20. Jahrhunderts nicht gesprochen werden kann. Wie bereits dargestellt.

Das massenhafte Schuleschwänzen der amerikanischen Kinder ist zugleich ein Symptom dessen, daß Generationen kommen, denen das Geschriebene kein Interesse abzugewinnen vermag. Hätten diese Kinder nur das geringste Bücherwissens-Interesse, ja hätten sie auch nur das Interesse, Kriminalromane zu lesen, so hätten sie, trotz Dewey und Ganzwort-Methode, vielmehr allen erdenklichen Schwierigkeiten zum Trotz, dennoch lesen gelernt - wie ihre Urgroßväter einst unbeirrbar und über Berge von Widerständen hinweg den Parolen von «Wissen und Fortschritt, Wissen ist Macht, Wissen ist Wohlstand» hinterhermarschiert sind.

Feindschaft gegen die Schrift ist — man hat es nur vergessen, nicht ernstgenommen, nicht registriert — ein alteuropäisches Erbe, das in den Basisschichten aller europäischen Völker aktuell weiterlebt, als Verachtung der «Studierten». In diesen Familien ist es üblich, die Kinder vor dem Bücherlesen zu warnen, und wenn ein entsprechend interessiertes Kind dennoch sich Bücher verschafft, sie ihm zu verbrennen. Heiratet ein Mädchen mit Abitur oder gar akademischem Grad in eine solche Familie, wird das als Mesalliance behandelt, und es erfährt Zurücksetzungen.

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Diese heute nur noch in den soziologischen Grundschichten — dort aber weitverbreitet — anzutreffende Kulturgesinnung war einst die allgemeine in Europa, vor allem in den nördlicheren europäischen Ländern, bei den Germanen, Kelten, Wenden-Slaven, Finnen. Sie überdauerte auch in Südeuropa die dort seit zweieinhalbtausend Jahren in den Oberschichten schriftbesitzende Kultur, von der dort die Basisschichten noch weit weniger ergriffen wurden als im neueren Mittel- und Nordeuropa. In Griechenland, Süditalien, Spanien dauert in den Dorfkulturen ungebrochen seit alters der Stolz des Analphabetismus.

Bis ins hohe und spätere Mittelalter war dieser Analphabetenstolz insbesondere auch die nachdrücklich zur Schau getragene Kulturgesinnung des Adels und der Fürsten. Der mittelalterliche Adel betrachtete die Beschäftigung mit Buchstaben als unwürdig, banausisch, den sozialen Aufgaben des höheren Menschentums zuwider. Offensichtlich verband man diese höheren Aufgaben wesentlich mit der gesprochenen Sprache und dem Gehör. Um die sozialen Verhältnisse mit der nötigen Behutsamkeit zu handhaben, wollten die Ritter und die Fürsten instinktiv sich nicht durch die Schrift vom Gesprochenen und vom Ohre lösen. Solange sie dies durchhielten, solange fanden sie Parteigänger und Diener, die für sie durchs Feuer gingen. Dieser Gesinnung entsprang auch jene bedeutende alteuropäische, schriftfern entstandene Dichtung und Rezitationskunst, von der dann, als sie nach Einbruch der Schriftkultur verklang, soeben vor dem Ausklingen noch einige Bruchstücke, von Irland und Island bis Finnland, niedergeschrieben worden sind, sämtlich die größten der schriftlich entstandenen Dichtungen weit überragend.

 

Schriftferne bedeutet nicht Unkultur 

Nur nach und nach und in mehreren Wellen überlagerte die letztlich im Orient beheimatete Schriftkultur­gesinnung die alteuropäische Schriftferne, die nun zu Unrecht als «Unbildung, Kulturfeind­schaft, bäuerische Tölpelei» abgewertet wurde.

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Daß der Stolz der schriftfernen alteuropäischen Kultur in den soziologischen Basisschichten unvermindert lebt, zeigt volkspsychologisch an, daß diese Kultur­gesinnung auch in den Unterschichten des Bewußtseins der Europäer, auch bei denen, die lesen und schreiben, wirksam ist. Natürlicherweise, so wie jedem noch so ausgemergelten Intellektualisten dennoch das Herz im Leibe schlägt.

Es gibt historische Beispiele der Bewältigung einer Schriftkultur durch eine schriftfeindliche Kultur der Sprache und Stimme. So die Abwehrkriege der konservativen Stämme der Germanen gegen die Römer zur Zeit des Augustus und Armin. Erst Carolus Magnus* erzwang der römischen Schriftkultur den Eingang ins Land der «Sachsen». — Auch die Anglisierung und Saxonisierung von Britannien, oft mißbeschrieben als «Rückfall in Barbarei», war Bewältigung einer römisch-britannischen Schriftkultur durch eine konservativ-alteuropäische Kultur der gesprochenen Sprache, von der z.B. der Beowulf als erratischer Block Zeugnis ablegt.

* wikipedia  Karl_der_Große

Noch der Konservativismus der deutschen Fürsten, die bis zum 18. Jahrhundert konsequent sich gegen jeden «Fortschritt» der Technik und des Warenverkehrs stemmten, ist spätes «Sachsentum».

Die klarste und glorioseste Bewältigung einer Schriftkultur durch eine schriftlose ist die Dorische Wanderung im 12./11. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland. Sie zerstörte radikal die im vorherigen achäisch-mykenischen Griechenland längst vorhandene Schriftkultur, so radikal, daß niemand überlebte, der die mykenische Schrift noch lesen konnte und sogar die Kunde, daß die Achaier-Mykenier schrieben, verloren ging, bis diese Schrift vor wenigen Jahrzehnten wieder entdeckt und entziffert werden konnte. — Die spätere griechische Schrift ist gänzlich anderer Art, sie kam neu als Einschlag aus dem Orient.

Die der jetzigen Schriftkulturgesinnung verhafteten gelehrten Historiker glaubten die Zerstörung der mykenischen Schriftkultur einem «rohen und ungebildeten Barbarismus» der Dorier zuschreiben zu sollen. Da in Sparta die dorische Schriftfeindschaft noch spät weiterlebte, hat auch Sparta sich von den Gelehrten die Zensur «roh und ungebildet» gefallen lassen müssen, ungeachtet der den Historikern dennoch wohlbekannten Tatsache, daß Sparta der Mittelpunkt einer hohen und verfeinerten Kultur der Dichtung sowie der Kunst, sie zu sprechen, war. 

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Das wahre Wesen der Dorischen Wanderung wie auch der aus ihr hervorgegangenen spartanischen und spät-kretischen Kultur war vielmehr die alteuropäische Weltan­schauungs­forderung nach der lebendigen gesprochenen Sprache als dem Fundament der Kultur. Die Dorische Wanderung entsprang einem idealen Antrieb, dieses europäische Erbe vor dem hereindringenden Orient, vor der Schrift und ihren Konsequenzen, zu bewahren - eben wie später die griechischen Perserkriege einem europäischen Abwehrimpuls bewußt entsprangen (Herodot, Kap.1). 

Die kulturellen Auswirkungen der Dorischen Wanderung in ganz Griechenland schuf die großartige homerisch-archaische Kultur zwischen dem 10. und dem 6. Jahrhundert v. Chr., die man vor allem durch ihre bildende Kunst kennt, zu der aber Homer selbst als Dichter und Rezitator gehört, von den Inhalten seiner Dichtungen, die meist aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. stammen, abgesehen. Weiter gehören dazu jene großen unge­schriebenen Dichter Terpander, Tyrtaios, Alkman, Alkaios, Sappho, Kleoboulos, Solon, Epimenides samt ihrer Kunst zu sprechen und uns nur durch geringe Fragmente ihrer Dichtungen bekannt, die ihre überragende dichterische Größe und ihren Reichtum aber ahnen lassen.

Gewiß stand die mykenische Kultur erst in den Anfängen des Schriftgebrauchs, so mag man glauben, daß sie den kraftvollen dorischen Analphabeten deshalb erlag, weil diese sie bereits im frühen Keim zerschlugen. Gewiß würde die heutige hyper­trophische Kultur des Intellekts jedem direkten Ansturm auch der intelligentesten Analphabeten mühelos standhalten. Doch darauf kommt es nicht an.

Das Exempel der Dorischen Wanderung demonstriert vielmehr, daß eine ganze Volksmenge von einer Kulturgesinnung ergriffen werden kann, die die gesprochene Sprache und Erziehung durch Dichtung allen materiellen Vorteilen entschlossen vorzieht und die Konsequenzen für das eigene Leben und Schicksal ohne Seufzen auf sich nimmt.

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