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5. Das freie Vertragswesen als Grundlage 
für das soziale Zusammenleben der Zukunft

 

 

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Das institutionelle Prinzip des «Staates» verliert im 21. Jahrhundert den «Nimbus». Im 20. Jahrhundert, aller angeblichen Fetisch-Entlarvung zum Trotz, ist «der Staat» mit einem mystischen Nimbus umgeben, den niemand definiert, aber jeder respektiert und der ein fossiles Relikt aus der Zeit der Königreiche ist, als der Staat Mensch zu sein, der König Staat zu sein behauptete. Dieses wiederum war Relikt aus den langversunkenen Zeiten der einstigen «inkarnierten Götter», von den Pharaonen bis zu den Kaisern von China und Japan und bis zu den Inkas von Peru. Das Gottkönigsprinzip war dermaßen wirksam und zählebig, daß sein «Nimbus» während Jahrhunderten, Jahrtausenden auch an den längst menschlich-allzumenschlichen Nichtgottkönigen hängenblieb.

Und nicht genug damit. Als die Königspuppen im 20. Jahrhundert endlich sich verflüchtigten, übertrugen die übrigbleibenden Republiken den Gottkönigs-«Nimbus» sogar auf das langweilige Gebilde des Bürokraten-Staates. Erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts erhob sich schüchterner Protest gegen dieses Ärgernis. «Schüchtern» in dem Sinne, daß nur einige wenige Jugendliche sich zunächst daran beteiligten, die ihre hoffnungslose Minderzahl durch lautes Schreien und Bombenlegen zu verstärken versuchten. 

So abwegig die Wege dieser «Anarchisten» waren oder sind, sie haben eines gespürt: Der altägyptische «Nimbus», der noch immer «dem Staat» umgehängt wird, ist von Übel und bewirkt Übles, der Nimbus muß weg. Der Staat ist ein von Menschen geformtes Instrument, von Menschen gehandhabt. Er dient zur Rechtswahrung und zu weiter nichts, und es ist nichts als ärgerlicher Unfug, wenn der Rechtsstaat wie ein höheres und unfehlbares Wesen angebetet und wenn ihm geistige oder kommerzielle Aufgaben zugemutet werden, die er dann entweder gar nicht oder sehr schlecht löst.

In den beiden gegensätzlichen Kulturgebieten vollzieht sich im 21. Jahrhundert die Götzendämmerung des Staates, obzwar hier und dort in sehr verschiedener Weise.

In den Degenerationsgebieten handelt es sich hauptsächlich um geographischen Zerfall der weiträumigen Staatsgebilde und um innere Aushöhlung. Diese Tendenzen, die bereits im 20. Jahrhundert aus sehr verschiedenen Ursachen­komplexen und in sehr verschiedener Art und Weise sich immer wieder durchsetzten, werden im 21. Jahrhundert zur globalen Tatsache, die fast über Nacht einsetzt. 

Noch vor kurzem schienen die «Österreich-Ungarische Monarchie», und noch vor ganz kurzem das britische «Weltreich» oder «Commonwealth», das französische «Kolonialreich» festgefügte Gebilde — drei Großmächte, die binnen kurzem in Brocken und Bröckel zerfielen. Sie bilden die Muster des Großmächtezerfalls, der sich gegen Ende dieses Jahrhunderts anbahnt, um, nach kurzer Hemmreaktion um die Jahrhundertwende, im frühen 21. Jahrhundert sozusagen plötzliche Wirklichkeit zu werden. — Hinzu kommen weitere Staatszerfalls­phänomene. 

Eine im 20. Jahrhundert scheinbar belanglose, obwohl hartnäckige Tendenz strebt nach regional-föderativer Gliederung auch im Innern der homogenen Nationalstaaten. Zur Zeit gibt es in Europa bereits kaum noch einen ungegliederten nationalen Einheitsstaat. Großbritannien ist ein solcher nur noch dem Namen nach, denn es muß auf die regionalen Wünsche nicht nur von Wales und Schottland, sondern auch auf die der wichtigen Industrie­gebiete sorgfältig Rücksicht nehmen. Von Nordirland ganz zu schweigen. Nur Frankreich hat durch ein despotisches Schulsystem seit dem späten 19. Jahrhundert erreicht, wovon selbst Ludwig XIV. und die Große Revolution nur träumten, die Erschlagung jeder regionalen Lebensregung des weiten Landes.

De Gaulle war entsetzt, als er gegen Ende seines Lebens wahrnahm, wie gering die föderativen Kräfte in Frankreich sind. Er hat gewiß durch die äußeren Aspekte durchgeblickt, und seine Initiative zur Föderalisierung Frankreichs, scheinbar gegen die Zentral­gewalt gerichtet, war wohl in Wahrheit ein Versuch, die regionalen, zentrifugalen Kräfte einzudämmen, die durchaus nicht nach Föderation drängen, sondern nach Verselbständigung durch Aushöhlung der Zentralmacht in Paris, diesem gespensterhaften Erbstück Ludwigs XIV. über alle Revolutionen und Guillotinen hinweg. 

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Das französische Volk lehnte die von de Gaulle erstrebte Föderalisierung deshalb ab, weil diese der fortwährenden Aushöhlung des «pays officiel» durch die initiativen regionalen Kräfte des «pays reel» entgegengewirkt haben würde. Denn die Föderativ­verfassung hätte Gliedstaaten geschaffen und somit den Staat als solchen weit mächtiger gemacht, als er jetzt in Frankreich ist. Wie die Dinge liegen, hat zwar die Zentrale Paris überall alles zu befehlen, aber sie kann in der Praxis nur «befehlen», nämlich durchsetzen, was die regionalen Bevölkerungen und die Gruppierungen wünschen: eben wie der «König» in Exuperys «Der kleine Prinz». 

Die Franzosen scheinen diesen Zustand vorderhand ideal zu finden. Dies ist der wahre Sinn jenes Plebizitvotums gegen eine Föderalisierung, das de Gaulle — vielleicht — nicht nur überraschte. Der hierbei zum Vorschein gekommene latente Prozeß hat Aussicht, sich bedeutend zu verstärken, in Frankreich und in ganz Europa. Es ist ein Auflösungsprozeß, der den Staat selbst auflöst. Triebfeder desselben ist überall die Hypertrophie des Staates, wie sie im Laufe des 20. Jahrhunderts von Jahrzehnt zu Jahrzehnt sich verstärkt hat.

Im 21. Jahrhundert werden in den sämtlichen Nationalstaaten, Frankreich eingeschlossen, die regionalen Glieder oder Glied­staaten ihre Zentral- oder Bundes­regierungen sukzessive und in relativ kurzer Zeit aushöhlen und in manchen Ländern die überregionalen Institute sogar einverständlich auflösen. Eine Erscheinung, die etwa an das Entstehen der deutschen und italienischen Herzogtümer auf den Trümmern des deutschen Karolingerreiches und des Lotharingerreiches (im 9. Jahrh.) gemahnt. Auch die Ursachen sind vergleichbar: «Jeder sich selbst der nächste». — 

In Italien in gegenwärtigen Tagen pflegen Regierungs­krisen und Präsidentenwahlen monatelang zu währen, keineswegs zur Unzufriedenheit und offen­sichtlich auch nicht zum Schaden des Volkes, das seine bitteren und besseren Erfahrungen in den bissigen Spruch gemünzt hat: «Nessun governo, nessun danno» («Keine Regierung, also kein Unfug»). Italien, das vor wenigen Jahren regional föderatisiert wurde, verliert zusehends das Interesse an seiner Zentralregierung. — Die Tendenz zum Großmachts- und Nationalstaats-Zerfall widerspricht der Tendenz des technokratischen Verstandes, der vielmehr zur Bildung von Mammutmächten drängt, als Basen für seine Giganten­pläne. Den Technokraten liegt zwar an der eigentlichen Staatsaufgabe gar nichts.

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Wenn die Einwohner einer Gemeinde oder Gegend sich gegen die Zerstörung ihrer Heimat durch Atomkraftwerke oder giftsprühende chemische Industrie zu Wehr setzen, so erscheinen diese Staatsbürgergruppen den Technokraten als «meuternde» Rotte oder gar als Schafherde, die aus (technokratischem) «Unverstand» blökt. Andererseits liegt den Technokraten sehr viel daran, daß die materiellen Werte und Kapitalien möglichst von den Staatsbürokratien verwaltet werden, denn die Technokraten haben es längst bemerkt, daß die nicht-selbstbesitzenden Bürokraten viel leichter für verantwortungsgewagte Experimentier­projekte zu haben sind als die für ihr Eigentum primär verantwortlichen und viel enger damit verbundenen Selbstbesitzer. Denn die letzteren riskieren ihre Existenz, die Bürokraten riskieren fast nichts.

Es war bereits die Rede von zahlreichen Gegenkräften, mit denen sich der Technokratenverstand in Bälde konfrontiert sehen wird. Der geographische Zerfall der Großmächte und der Nationalstaaten ist eine gewichtige unter diesen Gegenkräften. Sie ist ihrerseits nur ein Ausfluß des Materialismus, wie die Technokratie selbst. Denn sie entspringt dem bloßen Regional- und Lokal-Egoismus, der das Eigene überschaubar besitzen will und angesichts schlechter Erfahrungen die unübersichtlichen, groß- und weiträumigen Risiken sukzessive zu scheuen begann.

Somit geraten der Egoismus und die Technokratie, die im 20. Jahrhundert vielfach Hand in Hand gingen, in scharfe Gegensätze. Ähnliche innere Gegensätze im Schoße der Degenerativkultur des 20. Jahrhunderts brechen gegen das Jahrhundertende an vielen Stellen auf, und indem sie ins 21. Jahrhundert hinüberwankt, sieht diese epigonische Kultur ihre verschiedenen Zweige miteinander im Kampfe. Der Haupt-Riß trennt die materialistische Technokratie und die materialistische Soziokratie. In unvereinbarem Gegensatz reiben sich beide gegenseitig auf.

Resultat sind zahlreiche kleine und kleinste regionale Bürokratien, kaum noch Staaten zu nennen, weil sie kaum selbständigen Handelns fähig sind, vielmehr allen möglichen sich verbergenden Interessengruppen — Mafia-Mächten — Untertan sind. Rechtswahrung gibt es nur noch dem Namen nach. Kultur des Geistes und geistige Interessen nicht einmal dem Namen nach.

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«Mafia» ist ein italienisches Wort für den Begriff des sozialen Carcinoms. Die historische italienische Mafia des 20. Jahrhunderts bezeichnet lobbystische Interessenwahrungs­organisationen von Rechtsbrechern mit immerhin begrenzten Zielen. Wirklich gefahrenvoll wird das Mafia-Prinzip von dem Moment an, wo die Technokratie sich als «Mafia» organisiert, um z.B. Kernkraftwerke und alle mögliche sonstige «gewinn­bringende» Umwelt­zerstörung gegen Recht und Gesetz und gegen das Gemeinwohl durchzusetzen. 

Diese Entwicklung kommt. Sie ist unvermeidlich, weil die Technokratie ihrer Natur nach nur «technische» Probleme kennt. Die Niederringung von wider­strebenden Bevölkerungen ist ihr ein rein technisches Problem, die sicherste und wirksamste Lösung desselben aber bietet sich durch das «Mafia»-Prinzip. Wirksame Widerstände finden sich gleichwohl, im Zerfall der Staaten, in den rebellierenden Jugendbewegungen, in den reaktiven Natur­katastrophen und in anderen Fakten, auf die wir noch eingehen werden.

  

Sozialaspekte der Pionierkultur des 21. Jahrhunderts  

 

Gänzlich anders, dennoch ohne Parallelen, gestalten sich die Verhältnisse in der neuen Kultur des 21. Jahrhunderts, die von Flüchtlingen in den Wildnissen errichtet wird.

Die Flüchtlinge bilden nicht Staaten, und sie wünschen nicht, solche zu bilden. Sie bilden nicht einmal Gemeinden im alten Sinne, ausgenommen Familien- und Hausgemeinschaften. Das Zusammenleben des Dorfes wird als rein äußerliches, nicht Gemeinschaft begründendes Nebeneinander aufgefaßt, wie es heute bereits an den meisten Orten in Stadt und Land geschieht. Dagegen bilden sich Produktions- und Konsumtions-Genossenschaften, und allein durch diese bilden sich Gemeinsamkeiten. Interessen-Gemeinschaften.

Überlokale und überregionale Zusammenschlüsse solcher Genossenschaften begegnen manchem Mißtrauen, als Folge der Ausgangs­bedingungen der Kultur des 21. Jahrhunderts. Denn als diese entsteht, gibt es noch die wirtschaftlichen und politischen Kolosse des späten 20. Jahrhunderts, und es gibt deren blinde Mammuttritte, die die materiell-natürliche Umwelt als Lebensbasis des Menschen unbarmherzig zermalmen.

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Andererseits strebt die wirtschaftliche Vernunft nach wirtschaftlicher Zusammenarbeit über die Zufälle des Wohnortes hinaus. Daher wird überlokale Zusammenarbeit sorgfältig nach der rein wirtschaftlichen Vernunft der eigenen Bedürfnisse konzipiert, worin keine Mammutprojekte, weder Kernkraftwerke noch Mondfahrten, vorgesehen sind. Unter diesen Voraussetzungen kommen Genossenschafts-verbindungen, Zweckgenossenschaften und Zweckverbände zustande, deren Zwecksetzungen sorgfältig und vertraglich-statutarisch umrissen sind und deren Wiederauflösung vorgesehen ist, sobald ihr Zweck sich erfüllte oder erschöpfte.

Ebenso ergeben sich Zweckvereinigungen aus anderen gegebenen Aufgaben und aus der zweckbestimmten Vernunft und Logik. Im wesentlichen sind es drei Arten von Vereinigungen, die sich in dieser Weise bilden; nämlich solche zum Zwecke materieller Wertebildung, sodann solche zum Zwecke geistiger Werteschöpfung und drittens solche zum Zwecke der Bewahrung der Werte: Rechts-Wahrung.

Den verschiedenen Zweckvereinen schließen sich die an den betreffenden Aufgaben Interessierten um der Zwecke willen an. Wer kein Interesse an solchem Anschluß hat, ist frei, sich davon fernzuhalten. Verfolgt er dennoch einen gleichen Zweck wie der betreffende Verein, so entbehrt er der Vorteile, die die Zusammenarbeit mit dem Zweckverein bietet. Zweckfremdes Vorgehen des Zweckvereins ist verhältnismäßig leicht zu bekämpfen. Dies ist der unschätzbare Vorzug gegenüber dem historischen Staat und anderen staatsähnlichen Gebilden, die zu Werkzeugen für Sonderinteressen werden können, weil ihr Zweck nicht genau genug definiert ist.

Die verschiedenen Interessenträger, Individualfirmen oder Gesellschaften treten in Interessenkontakte und Interessengegensätze. Hierbei verhält es sich so, daß die Interessen der materiellen Wertebildung untereinander nicht in eigentliche Interessen­gegensätze geraten können, weil für sie alle das Gesamtinteresse der materiellen Werteschöpfung besteht, die allen zugute kommt und an der jeder nur nach vernunftbestimmtem Bedürfnis teilhaben kann. Niemand kann viermal soviel essen als ein anderer, niemand in vier Häusern wohnen.

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Auch in der Kultur des 21. Jahrhunderts wirken Einzelpersönlichkeiten als Unternehmer. Da es sich um eine Pionierkultur handelt, gibt es deren nicht wenige. Da im Ausgangspunkt alle gleich arm sind, gibt es andererseits auch von vornherein Gesellschafts- oder Vereinsgebilde zur gemeinsamen Betreibung von Unternehmungen. Nicht wird es «Besitzer», die nicht Unternehmer sind, geben. Die kargen Verhältnisse und die kommende Kulturgesinnung geben dies nicht her.

In den früheren historischen Kulturen waren die wirtschaftlichen Grundtatsachen, der begrenzte individuelle Normalkonsum, dadurch zugedeckt, daß es «Diener» gab, die irgendeines Herren formellen «Besitz», den er nie sah, formell «für ihn» versorgten, wobei dann deren Konsum als «Konsum des Herren» fehlgerechnet wurde.

In der Zeit der Technokratie wurden statt der «Diener» unsichtbare Naturkräfte (Wärmeausdehnung, Elektrizität, Magnetismus, Schwerkraft usw.) in Dienerschaftsrollen gezwungen und jene Illusion von heute, von gestern, erzeugt, als könne die materielle Substanz des Erdballs «wachsen», so daß «jeder unbegrenzt reich werden» könne. Um den «Reichtum» durch «Konsum» genießbar zu machen, erfand man alle möglichen «Bedürfnisse» und redete sie den Leuten ein, die dadurch, in hektisches Hasten und Jagen gedrängt, die innere Zufriedenheit verloren. Diese Illusionen sind in der Kultur des 21. Jahrhunderts dahingefallen.

Man lebt dort nun in bitterer Armut, und auch mit dem Fortschreiten bestensfalls in auskömmlichen, nicht in üppigen Verhältnissen. Denn die Narretei des «Konsumismus» in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die technokratische Umwelt-Mißwirtschaft haben die Reichtümer der Erde in kurzen Jahrzehnten aufgezehrt oder zerstört. — Andererseits hat sich in dieser Kultur-Neubildung, aus den gemachten Erfahrungen und aus dem Sinn für das Kommende, die Erkenntnis vom Wert des ökonomischen Umgehens mit der Materie gebildet. Die Erkenntnis, daß der materielle Luxusgenuß einen von allem, was eigentlich lebenswert und interessant ist, nur abschneidet - von den Wahrnehmungen, die der Sinn für das Lebendige und Kommende vermittelt nämlich, welche immer interessant bleiben, weil sie immer geheimnisvoll bleiben, aber nie enttäuschen.

Die allgemeine Herabsetzung des materiellen Standards macht offenbar, was im Grunde immer galt: Unser Wohnplanet und das Leben selbst sind so eingerichtet, daß man hier leben, aber nie lange schwelgen kann. So daß die wirtschaftliche Vernunft unter allen Umständen Sparsamkeit, Ökonomie, fordert.

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Ihr dient auch der permanente Verkehrs-Kontakt zwecks gleichmäßiger Waren­verteilung durch permanente Harmonisierung der Interessen. Hierfür treffen sich die Interessenvertreter — Produzenten und Konsumenten — in Vereinen und Verbänden etwa nach Art der jetzigen Industrie- und Handelskammern, doch mit bedeutend erweiterten Befugnissen und Vertretungsaufgaben, und vor allem mit eingebauter Vertretung der Konsumenteninteressen.

Ähnlich unter anderen Voraussetzungen verhält es sich auf den Böden der geistigen Werteschöpfung, also bei den Pädagogen, den Forschern, Künstlern und allen, die aus individuellem Talent und selbständigem Urteil Werte schaffen, welche es vorher und ohne sie nicht gab. Solch ein Werteschöpfer ist zum Beispiel auch ein Mensch, der es fertigbringt, daß zwei Streitende sich versöhnen. Oder ein Mensch, der wirtschaftliche Initiative ins Leben ruft, wo vorher keine war, und der durch geschickte Leitung sie entwickelt. Oder zum Beispiel ein Mensch, der Talente zu entdecken weiß. Und so weiter.

Jeder, der ein schöpferisches Talent auswertet, ist in gewisser Beziehung ein Unternehmer und steht mit seinesgleichen in einem gemeinsamen Gesamtinteresse, das sich — umgekehrt als das materielle — von dem unbegrenzten Reich der Möglichkeiten der geistigen Werteschöpfung her bestimmt. Hier ist die Vorstellung von einem «stets wachsenden Reichtum», dessen Wachstum unter keinen Umständen behindert werden darf, im vollen Umfang berechtigt.

Zum Zwecke der Wahrung dieses gemeinsamen Interesses treten die Vertreter der geistigen Werteschöpfung untereinander in Kontakt und Einvernehmen, was wiederum zu der Bildung von Zweckvereinen und Verbänden führt. Hierbei handelt es sich in erster Linie darum, wirtschaftliche Unabhängigkeiten zu erkämpfen oder zu erhandeln.

Denn zur ungehinderten geistigen Werteschöpfung braucht es in erster Linie wirtschaftliche Unabhängigkeit. Der Verband zur Interessenwahrung der geistigen Werteschöpfung, den die geistig Produktiven selbst bilden, vertritt dieses Interesse der wirtschaftlichen Unabhängigkeit gegenüber den materiell Produktiven, die darauf eingehen, weil sie höchstes Interesse an der geistigen Werteschöpfung haben. — Es handelt sich nicht um feste Stände, «Nährstand, Lehrstand», sondern um Interessenvertretungen.

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Derselbe Mensch kann sowohl materielle als geistige Produktions-interessen haben, er wünscht dann beides wirksam zu vertreten. Infolgedessen unterstützt er sowohl einen bestimmten Zweckverein zur Vertretung seiner speziellen materiellen Interessen als auch einen anderen, der sich der Interessen seiner geistigen Werteschöpfung annimmt. Wer auf das eine oder andere spezialisiert ist, wird eben nur einem solchen Vereine angehören. Normalerweise erfüllen die Interessen­träger und die Interessenvertreter (Zweckvereine) die Verträge, die sie abschließen. Kommt es zu Unstimmigkeiten, so bedarf es des Instituts zur Wahrung der Werte (Rechtswahrung).

Diese war und ist die wahre und einzige Aufgabe der historischen sogenannten Rechtsstaaten, die diese Ehrenbezeichnung dann verdienten, wenn sie sich vor Einmischung in die Belange der materiellen und der geistigen Produktion sauber hüteten.

Zum historischen Staat gehörte der Gottkönigs-Nimbus. Man glaubte, er könne ohne ihn nicht sein. Heutigentags ist es ein anderes Metaphysikum, das mit gleicher Lebenskraft unverbrüchlich gilt und noch immer mehr und mehr gelten wird: die freie Entscheidung und die von ihr frei eingegangene Bindung. Sie respektiert jeder. Selbst die ärgsten Revoluzzer und Anarchisten pflegen die von ihnen frei eingegangenen Bindungen zu respektieren, ja sie behaupten, sie heilig zu halten.

 

 Das Rechtsempfinden als Rechtsgrundlage

 

Durch das Prinzip der freien Bindung wird in der Kultur des 21. Jahrhunderts auch die Rechtswahrung konstituiert. Es werden Zweckvereine gegründet zum speziellen Zwecke der Rechtswahrung. Diese Vereine funktionieren zunächst zivilrechtlich, im Grunde privatrechtlich für die Gründer und für ihre Mitglieder. Sind Rechtswahrungs­aufgaben zwischen Mitgliedern verschiedener Rechtswahrungsvereine zu erfüllen, so schließen die betreffenden Vereine einen Vertrag zu diesem Zwecke, oder sie wenden einen für solchen Fall bereits vorgesehenen Vertrag an.

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Die Rechtswahrungsvereine treten zu Verbänden zusammen, um insbesondere die weit schwerere Aufgabe gegenüber Rechtsbrechern gemeinsam zu bewältigen. Der Verband der Rechtswahrungs­vereine steht grundsätzlich jedem der privaten öffentlichen Rechtswahrungsvereine offen, auch etwa den zweifelhaften, sofern sie als öffentliche auftreten.

Dadurch ergibt sich ein möglichst enger geistiger Kontakt (Gesprächskontakt) der gegensätzlichen Interessen. Auch z.B. die Rechtsbrecher werden dadurch gezwungen, ihre Interessen als «berechtigte» zu vertreten. Ihnen gegenüber steht nun nicht eine anonyme «Gesellschaft» oder ein ebenso anonymer «Staat», als Staffage, hinter denen sich die Interessengruppen verdeckt aufreihen, sondern es stehen offen Interessen gegen Interessen, alle in ihren relativen Berechtigungen, die sich sämtlich aus vereinsmäßigen und vertraglichen frei eingegangenen Bindungen herleiten, wozu auch die Bindung jedermanns zur Unverletzlichkeit Wehrloser gehört. Denn niemand ist, der diese Bindung nicht theoretisch anerkennt. Sie bedarf keiner Vereinbarung.

Des Rechtsbrechers Interessen erweisen sich bei diesem Verfahren unverhüllt als das, was sie sind: Bruch von frei eingegangenen Bindungen. Es gibt gar keine andere Art von Bindungen, folglich keine andere Art von Rechts-Bruch.

Auch die Überführung von Rechtsbrechern steht auf bedeutend anderem Boden als heute, wo die Justiz gegenüber hartnäckigen Leugnern und Hypokriten sich wehr- und hilflos befindet, weil sie den menschlichen Eindruck, den ein Angeklagter macht, nicht hören, nicht sehen und nicht deuten kann, vielmehr nicht wagt zu deuten. Die Kultur des 21. Jahrhunderts ist eine Kultur des sicheren Gehörs und Blickes, sie braucht nicht zimperlich zu sein.

Strafen brauchen kaum verhängt zu werden. Die Überführung des Rechtsbrechers ist meist Strafe genug, denn sie benimmt ihm die meisten Möglichkeiten zum Eingehen neuer Bindungen, so daß ihm die Lebensbasis entgleitet. Aus diesem Grunde wird man vielmehr spezielle Zweckvereine zum Besten überführter Rechtsbrecher gründen, etwa gewissen jetzigen Wohlfahrtsvereinen ähnlich, doch mit dem Hauptziel der eventuellen Erziehung oder Heilung des Rechtsbrechers. Ist dies nicht möglich, so wird der (gewohnheitsmäßige) Rechtsbrecher entmündigt und bekommt eine soziale Stellung, die man etwa der Stellung einstiger Leibeigener vergleichen kann.

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Er bekommt einen «Herrn», dem er als «Diener» gehorcht. Aus den bereits im Kapitel I erwähnten, später noch näher zu besprechenden anthropologischen Gründen wird nicht selten dieses Verhältnis mühelos herzustellen sein und sich befriedigend entwickeln. Solche Rechtsbrecher aber, die sich nicht unterwerfen mögen, werden Gelegenheit suchen, um in die Gebiete der degenerativen Kulturen, gleichsam in die soziale Wildnis, zu entweichen.

Auch heute gibt es «Strafe» nur noch dem Namen nach. Die Gefängnisse sind im Grunde Versorgungsanstalten für die Rechts­brecher, die sonst ohne rechte Lebensbasis wären und durchs Gefängnis wenigstens zeitweilig vor weiteren Rechtsbrüchen «bewahrt» werden. Dies ist, sachlich gesehen, heute die einzige Funktion des Gefängnisses, das man daher mit Komfort und Zeitvertreib (z.B. Fernsehen) auszustatten begonnen hat. Das Gefängnis erfüllt diese Funktion natürlich auf denkbar verfehlte Weise.

Die Schaffung von Institutionen der Exekutive ist eine geistigproduktive Aufgabe. Die Vereine zu deren Schaffung gehören also ihrer Natur nach zum Verband der geistig Schaffenden. Die Exekutive-Aufgaben als solche sind nicht produktiv, sondern rein ausführend («executiv»), und sie sind Interesse aller, auch können sie nur territorial erfüllt werden. Daher behält die Exekution diese zwei Eigentümlichkeiten, die sie als Nachfolgerin des Staates ausweisen, und sie wird durch allgemeine Wahlen konstituiert. Die Wahlen werden von einem «Verein zur Schaffung einer Exekutive» veranstaltet, der hernach an der Exekutive selbst nicht teilnimmt, aber das Recht behält, sein Geschöpf zu annullieren, falls sich Mißbrauch ergibt. Der Exekutive-Verein behält also die Gebarung der Exekutive permanent im Auge. Er wird seinerseits von allen am öffentlichen Leben Interessierten im Auge behalten und steht unter Einwirkung sämtlicher Interessengruppen, die aber bei ihm, seiner Zweckgebundenheit gemäß, nur zweierlei erreichen können: Beibehaltung der soeben amtierenden Exekutive oder Abberufung derselben und Neuwahlen.

Unsere Denkgewohnheit kann sich die staatliche Exekutive nicht anders denn als eine altvererbte und gleichsam göttliche Institution vorstellen, die da ist, weil sie immer da war und weil sie Gewalt übt, ihre eigene Existenz durch Gewalt erzwingt. Doch dies ist fehlgedacht und ist Folge eines ungültigen Scheinverhaltens des Staates, das sich aus alter Zeit herüberschleppt.

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Der Gewalt bedient sich in Wahrheit die Exekutive einzig gegenüber Rechtsbrechern. Gegenüber Nichtrechts­brechern handelt es sich nicht etwa darum, daß der Staat gleichsam «großmütig» auf Gewaltübung «verzichtet», sondern als Rechtsinstitution hat der Staat ihnen gegenüber keine Gewalt. Die Exekutive ist in Wahrheit das Schwert derer, die das Recht achten. Der klassische «Staat» pflegte furchterregend gegenüber jedermann aufzutreten, so oft er auch nur einen Steuer-Ukas zu übersenden hatte. Dies war oder ist Atavismus.

Da sie in Wahrheit Menschenwerk ist, ein verfertigtes Instrument («Schwert»), muß die Exekutive von Menschen, die sich darauf verstehen, hergestellt und nach Abnutzung beständig wiederhergestellt werden. Darum ist diese Herstellung die Angelegenheit eines Zweckvereines von Kundigen, der als solcher klein sein und strenge fachliche Aufnahmebedingungen haben wird, wie jeder Verein von Kundigen. Ein anderer solcher Verein mag Gegenvorschläge aufstellen. Die allgemeinen Wahlen entscheiden und geben dieser oder jener Aufstellung den Vorzug. Eben wie heute? Ja, doch mit dem gewichtigen Unterschied, daß heute die Vorschläge von Gesichtspunkten, die aus Massenemotionen gewonnen werden, bestimmt zu sein pflegen — «politisch», das heißt massenemotionell —, während die Kultur des 21. Jahrhunderts darauf Wert legen wird, daß die Vorschläge vor allem von Kundigen kommen.

Regierung im heutigen, im Grunde unbestimmten Sinn des Wortes wird man für überflüssig erachten und sie durch die permanenten Kontaktinstitute der Vertretungen der materiell und der geistig Produktiven für ausreichend ersetzt finden. Die heute den Regierungen oftmals zufallenden Schlichtungsaufgaben übernehmen die privaten und die gewählten Gerichte, die zu diesem Zwecke das Schlichtungswesen (Schiedsrichter-, Friedensrichtertum) sehr ausbauen. — Die Handhabung der Polizei besorgen heute die Regierungen, obwohl die Polizei dem Gerichte zu gehorchen hat. Dieses Verhältnis wird vereinfacht durch direkte Unterstellung der Polizei unter das («gewählte») Gericht.

Da der Etatismus des Hineinregierens in die materielle und geistige Werteproduktion dahingefallen ist, entfielen die betreffenden unnützen etatistischen Regierungs-«Aufgaben». Die Produktion beider Arten regiert sich selbst, die geistige und die materielle Produktion treten sowohl in direkte geschäftliche als auch in organisatorisch direkte Kontakte.

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Den alten Begriff Nation oder Volk gibt es schon darum nicht mehr, weil die Kultur des 21. Jahrhunderts aus mancherlei Flüchtlingsgruppen besteht. Diese wachsen zwar durch das gemeinsame Schicksal metaphysisch zusammen, aber sie fühlen nicht das Bedürfnis, diese höhere Gemeinschaft organisatorisch zu veräußerlichen. Alles, was sie an äußeren Organisations­formen schaffen, lassen sie bewußt und sorgfältig allein von den äußeren Zwecken bestimmt sein.

Krieg ist in den Verhältnissen des 21. Jahrhunderts kaum denkbar, weil es keine territorialen Machtballungen gibt. Guerilla im heute aktuellen Sinn gibt es in den Degenerativkultur-Gebieten, hauptsächlich durch die Mafias der Technokraten teils betrieben, teils provoziert. In den Gebieten der Kultur des 21. Jahrhunderts scheitert die Guerilla an der engen Zusammenarbeit der Bevölkerung mit ihrer Polizei sowie an der anthroposophischen Überlegenheit, von der bereits die Rede war.

Die Rechtsgrundlagen sind im wesentlichen dieselben wie seit eh und je. Im 20. Jahrhundert suchte man diese Grundlagen in die Netze immer «feiner» ziselierter Gesetzesbibliotheken einzufangen, mit dem Erfolg, daß das so entstehende hochabstrakte Gebilde immer mehr an Glaubwürdigkeit verlor und daß viele nicht nur an den Gesetzen, sondern an den Rechtsgrundlagen selbst zu rütteln begannen.

Dies führte in die Degenerationskultur des späten 20. Jahrhunderts, die sich in das 21. Jahrhundert als soziale Wüstenei hinüberschleppt. Die lebensfähige Kultur des 21. Jahrhunderts verhält sich gegenüber den Rechtsgrundlagen völlig unproblematisch, gemäß Rechtsempfinden. — Das Rechtsempfinden reagiert im wesentlichen an zwei Punkten: beim Vertrag und bei dem von Natur oder durch Umstände wehrlosen Wesen. Vertragsverletzung und Verletzung Wehrloser, dies sind die Punkte, wo das Rechtsempfinden energisch nein sagt. Der Sinn für das Lebendige, Werdende und Kommende steigert das Rechtsempfinden und die Energie, ohne die Art der Reaktion im geringsten zu ändern. Auch die Aufgabe des materiellen Unterhalts der Institutionen wird auf freiwilliger Vertragsbasis erfüllt, wobei die Vereine und Verbände als Vermittler zwischen den unterschiedlichen Interessen und Interessenträgern fungieren. Die materielle Erhaltung der Institutionen kann naturgemäß allein aus der materiellen Werteproduktion bestritten werden.

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Sie ergibt sich also aus Verträgen zwischen Vertretern der geistigen Produktion und denen der materiellen Produktion. Vertretung der Institute zur Rechtswahrung übernehmen jene Vereine, die die Schaffung dieser Institute in die Wege leiten, die also zum Verband der geistig Schaffenden gehören.

Dieses Vertragswesen zwischen den zwei Produktionsarten wird ebenso mühelos funktionieren, wie seit Urzeiten das entsprechende «Vertragswesen» zwischen den Kindern und den Eltern mühelos funktioniert, weil die Eltern in bezug auf ihre Kinder ausreichend viel Sinn für das Lebendige und Kommende zu haben pflegen.

Somit bestehen sämtliche Institutionen in der Kultur des 21. Jahrhunderts aus freien Vereinsbildungen, alle Verhältnisse beruhen auf freien Verträgen. Letztlich beruht alles auf dem freien Vertragsprinzip und dem durch Sinn für das Lebendige und Kommende gesteigerten Rechtsempfinden. Ist dieses regsam, braucht es nur wenig geschriebenes Gesetz.

Eine entsprechend geringe Rolle spielt die Legislative. Sie wird allgemein gewählt, sie überwacht die Anwendung der Rechtsgrundlagen, und sie tritt nur bei evidenten Verstößen gegen diese Grundlagen in Aktion.

Die Funktion eines Staatsoberhauptes ist, wie bereits heute, im wesentlichen überflüssig geworden. Sind Verträge, die die Allgemeinheit binden, abzuschließen, so wird dies von einer parlamentarischen Zweckkommission (die dabei anstelle der einstigen «Regierung» fungiert) vorbereitet, vom legislativen Parlament verabschiedet und vom Parlamentspräsidenten rechtsverbindlich unterschrieben.

Das gesamte System ist nicht komplizierter und kaum viel anders als die heutigen komplizierten Geflechte von Verträgen und Vereinen oder Gesellschaften, Firmen und Verbänden, die das öffentliche Leben kreuz und quer durchziehen. Der Unterschied ist nur, daß nun das freie Vertrags- und Vereinsprinzip auch auf die Führungen des öffentlichen Lebens angewendet wird und daß dadurch der natürliche Respekt für freie Abmachungen dem öffentlichen Leben dienstbar, fruchtbar wird. Zugleich wird das tägliche bewegliche Leben der menschlichen Kontakte dezentralistisch dem öffentlichen Leben eingefügt, das somit aus dieser lebendigen Vielfalt wesentlich besteht. 

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