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7. Das Wesen des Sinns für das Kommende

  

 

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Scheint es verwunderlich, daß Märchenmotive sich wie Prophetie der nun bevorstehenden Zeit ausnehmen? — Die Märchen stammen letztlich aus jener Übergangszeit des 4. Jahrtausends v.Chr., als es bereits eine ausgebildete Acker- und Handwerks­kultur, aber noch keine Schrift gab. 

Diese vorliterarische Hochkultur, die in Mittel-, Nord- und Osteuropa bis ins Mittelalter und weiter dauerte, bietet eine Art von Gegenbild zu der Kultur des kommenden Jahrhunderts. Es gab in jener Kultur, der die Märchen entstammen, ein Gegenstück zu dem «Sinn für das Kommende», nämlich einen «Sinn für die Ursachen». Man könnte an jedem der Volksmärchen demonstrieren, wie es darin immer um Ursachen geht, um deren Erkenntnis oder Anerkenntnis oder Beseitigung. Ob man aber auf die Ursachen blickt oder auf die Folgen, es ist im Grunde nur Aspekt­verschiebung, ist beidemal Blick auf das gleiche, denn alle Folge enthält ihre Ursachen, alle Ursache ihre Folgen. Darum stehen sich die uralten Märchen und der nunmehr der Menschheit abgeforderte Blick auf das Kommende nahe.

Dennoch ist die Verschiedenheit der Blickrichtungen groß. Beim Blick auf die Ursachen ziehen diese alles Interesse auf sich, sie erscheinen groß und gewaltig, Götter, Schöpfer, Urheber, Herren des Alls. Für diese Perspektive zeigen die Folgen sich fast wie ungewichtig, spielerisch, gleichsam als die noch unerwachsenen Kinder der Ursachen. Umgekehrt, wenn der Blick sich auf die Folgen heftet. Dann erscheint vielmehr das Kommende in seinen Riesenausmaßen und mit dem ganzen Schwergewicht der Verantwortungen, womit die Folgen sich streng, unerbittlich oder drohend, aber wohlmeinend dem Blick auftun. Diese Strenge erzeugt Furcht, und diese Furcht ist es, was viele vor dem Blick auf das Kommende zurückbeben läßt, die den Sinn dafür im Grunde längst haben, aber ihn vergraben wie der Vogel Strauß den Kopf im Sande.

Wer Mut aufbringt, sieht vor allem das Wohlmeinende der Strenge, die der Anblick des Kommenden bietet. Denn eben diese Strenge ist getreue Eckharts-Warnung, sie ermöglicht zeitige Gefahrenabwehr.

So erweisen sich der Blick auf die Ursachen und der Blick auf die Folgen in den Empfindungen gegensätzlich, dennoch in den Inhalten einig. Trägt man diesem Vorbehalt Rechnung, so bieten die alten Märchen erstaunlich gute, bildhafte Prophetien der Lebens­verhältnisse, die im 21. Jahrhundert sich entwickeln, im 22. Jahrhundert voll entfaltet sein werden.

In diesem Sinne kommt besonders auch denjenigen Märchenmotiven eine besondere prophetische Aktualität zu, in denen ein Mensch — ein Däumerling oder Dümmling, Iwan der Dumme, Peronnique, L'idiot oder wie immer geheißen — überraschenderweise unerhörte schwierige Aufgaben löst durch die Hilfe von Tieren oder anderen Elementargeistern, denen dieser Mensch zuvor Gutes tat und die sich ihm erkenntlich zeigen. Gerade dieses Märchenmotiv schildert Situationen, die einst typisch waren und wieder typisch kommen werden, anders als einst, dennoch im Wesen wie einst. 

Wollte man solch ein Märchenmotiv zur reinen Prophetie der kommenden und künftigen Verhältnisse umdichten, so dürfte man etwa folgendermaßen skizzieren:

«Ein Mensch, der mit seiner Familie vor den Feinden in eine steinige Wüstenei geflohen war, ging über Land und sprach bei sich: <Wo finde ich Korn, das auf diesem kargen Boden wächst?> Da begegnet ihm ein Elementargeist, der sagt: <Willst du mich gut behandeln und auf mich hören?> — Der Mensch verspricht es. Da führt ihn der Elementargeist in seine Werkstatt, wo er spinnt und webt und knetet und hämmert, bis ihm schließlich unter den Händen ein Korn wächst, das er dem staunend zuschauenden Menschen überreicht, der nur gelegentlich einige Handlangerdienste zu dem Werke hatte tun dürfen. Der werkkundige Naturgeist bedeutet ihm, dies sei das gesuchte Korn, das im Boden und Klima der Fluchtheimat zu wachsen vermag.

Der Mensch fragt, was er dem Naturgeist zum Dank tun könne. <Zerstöre mir meine Werkstatt nicht und schütze mich vor den Mißhandlungen derer, die die Materie zerstören>, lautet die Antwort. <Wer bist du?> fragt der Mensch. 

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Statt Antwort verbirgt sich der Befragte im Schatten, der Frager aber blickt in das strenge, doch nicht herrische Antlitz eines erstaunlichen Menschen, der zu ihm sagt: <Ich bin, der ich war: der Kommende bin ich. Alles, was du an diesen werkkundigen Elementargeistern tust, tust du an mir, und was sie vollbringen, ist mein Werk. Hüte dich!>

Der Mensch fühlt sich wie von einem wohlmeinenden Bruder oder Freund innerlich angesprochen und entwickelt Ehrfurcht gegenüber der elementarischen und lebendigen Umwelt. Es wird ihm zur Gepflogenheit, bei all dem, was er tut, stets nach jenem Wohlmeinenden, dem Kommenden, Ausschau zu halten.»

 

Die Skizze gibt zugleich ein Bild vom Wesen des Sinns für das Lebende und Kommende und vom Inhalt der durch diesen Sinn vermittelten Wahrnehmungen.

Ein anderes typisches Märchenmotiv: «Ein verlorengegangener Gegenstand ist zu suchen.» Der Suchende sammelt zunächst alle erreichbaren Anhaltspunkte, wo, wann, bei wem das Gesuchte zuletzt gesehen wurde, usw. Dann versenkt er sich meditativ in diese Festpunkte und beginnt von ihnen aus eine innere «Wanderung». Hierbei begegnen ihm allerlei Elementargeister, Leute, Tiere, sonstige, die ihn auf die rechte Spur bringen, und auch solche, die ihn abführen. Es entwickelt sich ein inneres Gespräch mit den beiden Führungen, und es entwickeln sich Kontakte mit ihnen. Erfahrung und Mißerfolge lehren schließlich, die Irreführung zu meiden, der guten Führung zu folgen, die zum gesuchten Gegenstand geradewegs hinführt.

Nicht anders bei wissenschaftlichen Problemlösungen. — Vielleicht scheint es, als sei soeben nur das gewöhnliche Prinzip der wissenschaftlichen Problemlösung bildhaft geschildert worden? Bei jedem wissenschaftlichen Suchen begegnet man mancherlei Gedanken und muß Entscheidungen treffen. Doch die jetzt übliche Wissenschaftsmethode verhält sich zu den Gedanken etwa wie ein mürrischer Herr von Dienern, die er nicht als Mitmenschen anerkennt und durch Vorurteile knutet. Während die zukünftige Methode mit den Phänomenen der Innenwelt in ein geselliges Verhältnis tritt. Des Denkers Rolle hierbei ist intelligentes Auffassen. Dieses hängt primär davon ab, wieviel soziales Gehör für jenes Lebewesen, den führungsgebenden Gedanken, der Mensch, der Denker, aufzubringen vermag. Solches Gehör oder Gefühl für den inneren Führungsgeber, es ist, was die Qualität des Ergebnisses bestimmt. 

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Die heute übliche Methode unterwirft sämtliche Gedanken, die kommen, dem materialistischen Vorurteil. Welcher Gedanke sich diesem nicht fügt, wird abgeurteilt und hinausgeworfen. Diese Brutalisierung macht inneres Irregeführtwerden beinahe unvermeidlich. So wie ein despotischer Herr nur Spitzbuben um sich sammelt, die ihn hinters Licht führen. Solchem Irregeführtwerden durch übelmeinende oder übelgelaunte Unsichtbare im eigenen Denken entspringen heutigentags beinahe alle Ergebnisse der Wissenschaften. Es sind sämtlich «Fortschritte» in Richtung auf die Katastrophen, deren Ursache in den menschlichen Sozialverhältnissen, der gegen­seitigen Verärgerung zwischen den sozialen Schichten mangels erfreulicher menschlicher Kontakte und den Rechtsmiß­achtungen zu suchen sind. Eben wie die Menschen und ihre sozialen Schichtungen, so fordern auch die produktiven Innenphänomene ihr Recht, und sie fordern würdige Behandlung nicht anders als die produktiven Arbeiter unter den körperlichen Menschen. Platon im «Staat» handelt auch von diesen «inneren Sozialverhältnissen».

Offensichtlich ist es heute weit und breit nicht üblich, so zu denken. Wer näher blickt, wird bemerken, daß in Wahrheit dennoch die meisten Leute so und nicht anders mit den eigenen Innenphänomenen unwillkürlichen Verkehr pflegen. Sie machen es sich nur nicht bewußt und nehmen es nicht ernst. Darum sündigen sie gleich wieder gegen den menschlichen oder achtungsvollen Verkehr mit den eigenen Innenphänomenen, spielen sich plötzlich wieder als Vorurteils-Tyrannen auf dem Gedankenfelde auf, ziehen sich die unerwünschten Folgen zu.

  

Die Menschheit entwickelt ein neues 
Verhältnis zu ihren Innenphänomenen

 

Was in der Kultur des 21. Jahrhunderts radikal anders sein wird, ist das soziale Verhältnis zu den Innenphänomenen, denn diese werden als Lebewesen gleich den übrigen Lebewesen der Natur anerkannt sein, mit Rechtsfähigkeit und Anspruch auf angemessene Behandlung nach Verdienst. Hiermit wird ein uraltes Prinzip, der «Kultus» der unsichtbaren Wesen, auf ganz neuer Basis wiederhergestellt.

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Nicht als «Kultus» mit «frommer» Unterwerfung, sondern als gegenseitige soziale Beziehung.

Wie man heute auf die Ausbeutung der Arbeiter im 19. Jahrhundert mit Abscheu zurückblickt, so wird man im 21. Jahrhundert mit Abscheu auf die unverständige Ausbeutung der natürlichen Innenphänomene blicken, die man jetzt im 20. Jahrhundert rücksichtslos in den Dienst des Egoismus zwingt, anstatt sie kommen zu lassen und den guten Gedanken die sinnvolle Führung abzugewinnen. Es werden geradezu Freundschaftsbündnisse zwischen Menschen und solchen Unsichtbaren entstehen, vergleichbar heutigen Freundschaften zwischen Mensch und Tier und einstigen Freundschaften zwischen Rezitator und Musa. Viele dieser Unsichtbaren sind gleichsam Menschen, wenn auch ganz anderer Art. Manche stehen höher als der Mensch, manche tiefer.

Diese Wesen erscheinen uns als «Innen»-Phänomene, weil sie sich im Denken zeigen. Doch sie gehören ebenso unserer Umwelt an, wie wir selber ihr angehören, obgleich jeder sich selbst doch nur als «Innenphänomen» wahrzunehmen vermag. Denn was ich «außen» wahrnehme, ist meine Hand, mein Fuß, mein Körper, nicht ich.

Jene «Unsichtbaren», die ich gleich mir selbst nur als Innenphänomene — «Gedanken» — wahrnehme, sind Wesen der Natur-Umwelt im vollen Sinn des Wortes, und sie sind in der organischen Natur und in den Elementarphänomenen (Wind und Wetter usw.) reproduktiv tätig, als die «Arbeiter und Handwerker, Techniker» der Natur. Produktiv oder schöpferisch tätig im vollen Wortsinn sind diese Unsichtbaren im Menschen, als Gedanken.

Sie haben vor allem ausgebildet, was die sichtbaren Naturreiche als letztes hervorbrachten: Geist. Und was nur die höheren Naturwesen, ebenfalls spät, entwickelten: Seele - sie ist bei jenen Unsichtbaren das Grundphänomen, womit sie ihr Dasein kundtun, wie die Sichtbaren sich durch Körperlichkeit sehen lassen. Körperlichkeit wiederum, das ursprünglichste und älteste Grundphänomen der sichtbaren Naturwesen, sie ist jenen Unsichtbaren, die in der Sphäre des Denkens die Einschläge bewirken, nicht oder kaum eigen, obwohl viele von ihnen — die sogenannten Naturkräfte — in die körperliche Welt willentlich eingreifen.

Da sie keine körperlichen Eigeninteressen vertreten, vermögen die ihrer Eigenart zurückgegebenen Gedanken Objektivität zu entwickeln, wie es der Mensch, auch der beste Denker, nie vermag. Darum kann gute Führung eines Vorhabens immer nur von gut behandelten Gedanken kommen.

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Die hauptsächliche Mißhandlung, die man den wohlmeinenden Gedanken anzutun pflegt, ist, daß man sie nicht hören will. Meist verstummen sie dann ohne Umstände, melden sich aber nach einer Weile wieder. Man kann sie auch aktiv verjagen — viele tun es —, dann melden sie sich eventuell nie oder erst spät, zu spät, wieder. — Anders die irreführenden Gedanken und alle, die Übles sinnen. Diese lassen sich nur schwer oder gar nicht abweisen und melden sich immer wieder, «und wenn du sie mit der Mistgabel vertriebest». — Hieraus ergibt sich geradezu ein Kriterium, aber ein unzuverlässiges. Denn sehr einsichtige wohlmeinende Gedanken haben ebenfalls die Eigenschaft, daß sie sich nicht leicht abweisen lassen - die inneren Warnungen nämlich, während Gefahr droht.

Ein Grund, warum wir heute geneigt sind, die Gesellschaft der Innenphänomene nicht recht ernst zu nehmen, ist, daß diese fast immer uns nur vor Alternativen stellen, nicht vor bereits entschiedene, bestehende Tatsachen. Es kommt daher, daß heutigentags unser Interesse fast ausschließlich zukunftswärts orientiert ist. In der Zukunft aber gibt es nur zu treffende Entscheidungen, nicht bereits vollzogene Tatsachen. Hier ist ein Grund, warum in früheren Zeiten die Menschen ihre Götter als gegeben und vorhanden erlebten und warum die höheren Mächte heute sich fortwährend uns zu entziehen scheinen, so oft wir versuchen, sie zu fassen. Es kommt daher, daß früher die Menschen, wenn sie ihre Gottheiten aufsuchten, in die Vergangenheit, nach den Ursachen, blickten — die Ursachen sind bestimmt vorhandene Wirklichkeit, man kann sie fassen, auch wenn der Verstand sie nicht umgreift. Wir aber mit unserer Interesse­wendung fast ausschließlich ins Zukünftige — denn wir wollen schaffen, erreichen, vollbringen, wir sind Projektemacher, Techniker, Arbeiter, Tätige —, wir begegnen den höheren Mächten dort, wo die Entscheidungen noch nicht gefallen sind, das heißt: wir begegnen Alternativen. In dieser Sphäre, bei den kommenden Dingen, gibt es nicht eindeutige Antworten, und wer solche erwartet, wird enttäuscht. Vielmehr ist die Alternative als solche die eindeutige Antwort, um die es hier geht. Wer auf eine Frage nach dem Kommenden eine klare Alternative zur Antwort erhielt, der hat die Antwort. Die Alternativ-Antwort selbst ist der erstrebte Spruch aus dem Munde einer Gottheit.

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Somit besteht eine Eigentümlichkeit gültiger Futurologie darin, daß alle ihre Aussagen Alternativen sind. Zukunftsaussagen ohne Alternativen sind unsachlich. Sogar jede Wettervorhersage bedeutet in Wahrheit: «Morgen wird Schönwetter sein (— oder nicht!).» Viele glauben deshalb, es könne gar keine Futurologie und keinen Sinn für das Kommende geben. Dies ist Aberglaube.

Aristoteles sagt, der Satz vom kontradiktorischen Widerspruch gelte nicht bei Zukunftsaussagen. — Wenn einer von einem Dinge sagt: Es ist weiß, und ein anderer sagt: Es ist nicht weiß, so ist notwendigerweise die eine der zwei Aussagen evident wahr und die andere evident (d.h. nachprüfbar) falsch. Denn das Ding ist wirklich entweder weiß oder nicht weiß, und man kann es sehen. Wenn aber, sagt Aristoteles, einer sagt: Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden, und ein anderer sagt: Es wird keine stattfinden, so gelte nicht, sagt Aristoteles, daß notwendigerweise die eine der zwei Aussagen evident wahr, die andere evident falsch sei, weil die evidente Gültigkeit eines bestimmten Urteils davon abhängt, ob das Ding ist. Ist etwas nicht, so gibt es keine Evidenz. — Des Aristoteles Buch, worin dies steht, ist betitelt: Hermeneutik, das heißt: Die Kunst zu interpretieren. Man kann freilich nur interpretieren, was ist; nicht aber, was nicht oder noch nicht ist. Der morgige Tag ist heute noch nicht, darum erlaubt er keine bestimmten Einzel-Aussagen, sondern nur: «Eine Seeschlacht wird morgen stattfinden oder nicht.»

Dies ist in der Tat der Fundamentalsatz des Sinns für das Kommende. Das Wesentliche in dem Satze ist, was darin meist von den Logikern übersehen wird: «die Seeschlacht». Wenn nämlich einer von einer «Seeschlacht, die morgen komme», nur faselt, obwohl kein Kriegsschiff, kein Meer oder keine Feindschaft vorhanden, so ist es eben nur gefaselt. Von einer «Seeschlacht morgen» zu reden hat jedoch Sinn, wenn Krieg ist, feindliche Flotten einander nahe sind, auch das Wetter entsprechend ist und so weiter.

Erst diese komplexe Situation erlaubt sinnvollerweise das Urteil: «Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden oder nicht.»

Solche Situation ist nun aber das Ergebnis früherer Entwicklungen. Kenne ich diese gut, so kann ich mit besserer Wahrscheinlichkeit sagen, ob eine Schlacht stattfinden wird oder nicht.

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Letztlich liegt, sagt Aristoteles, «die Ursache der kommenden Dinge im Denken und Wollen der Menschen». Kenne ich «das Denken und Wollen», das zugrunde liegt, so kenne ich das Kommende. Sinn für das Kommende ist in der Tat soviel wie Sinn für das zugrunde liegende Denken und Wollen.

Zugrunde liegt allem das Alte. Ob die Admiräle sich morgen zur Seeschlacht entschließen werden oder nicht, hängt weit mehr von ihren Charakteren ab als von ihren unmittelbar heutigen Gedanken. Der jüngste Gedanke, der den Befehl ausspricht oder zurückhält, ist nur das letzte Resultat von zahllosen, die den Charakter des Mannes gebildet, in ihm Alter gewonnen haben.

Sinn für das Kommende ist somit Sinn für das Alte. Je intensiver dieser Sinn ins Uralte zu tauchen vermag, desto schärfer sieht er das Kommende.

Das Mittel zu solchem «Tauchen» ist die Meditation: das stille Bedenken, dazu Ernstnehmen des Bedachten. Nicht das Durchjagen zahlreicher Bücher oder das Sammeln zahlreicher Überbleibsel führt tiefer in die Vergangenheit und läßt sie das Kommende aussprechen. Dies leistet vielmehr allein die Meditation der erhältlichen Zeugnisse, der überbliebenen Sachen sowohl als auch der aus der Vergangenheit herüberlebenden Menschen.

Die Meditation der Zeugnisse liefert erstaunlich genaue Resultate, aber sie liefert nicht, was die Prognostik und die Futurologie allzu gerne möchten: bestimmte, bereits gefällte Entscheidungen. Solche widersprächen eben dem Wesen der Zukunft, denn was gefällt ward, ist geschehen.

 

 Der Sinn für das Kommende 
ist Wahrnehmen der Alternativen

 

Es liegt im tiefsten Wesen des Sinns für das Kommende, daß er immer Alternativen erkennt. Diese aber erblickt er genau und bestimmt: «Morgen wird bei Salamis zwischen Griechen und Persern eine Seeschlacht stattfinden oder nicht.» — «Dieses mit Feuer spielende Kind wird gleich das Haus anzünden, wenn nicht jemand es hindert.» — «Der blinde Egoismus, der auf die Folgen nicht sieht, beschwört Katastrophen herauf — es sei denn, daß sich beizeiten Sinn für das Kommende entwickelt und die Gefahr hemmt.» Und so weiter.

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In diesen Ausführungen ist die alles durchziehende Alternative jener Satz, daß die Menschheit, indem sie aus den jetzigen Gegebenheiten in das 21. Jahrhundert hinüberlebt, in Katastrophen gerät, oder durch totale Umkehr gegenüber dem Bisherigen sich diesen Katastrophen entzieht. Die Alternative nimmt sodann Wirklichkeits­gestalt an in den zwei Menschheiten, deren Kommen evident ist. Bereits heute besteht ein wütender Kampf, um die eine der zwei überwältigend werden zu lassen und die andere, die neuentstehende, zu vernichten, ehe sie recht entsteht. Die Intensität des Kampfes gegen jede nichtmaterialistische Weltanschauung zeigt indirekt das geistige Gewicht der kommenden nichtmaterialistischen Weltanschauung an. Denn es ist nicht nötig, wütend zu bekämpfen, was kein Gewicht hätte.

Sinn für das Kommende arbeitet intensiv mit dem Wahrscheinlich­keitsfaktor, aber nicht mittels der unzuverlässigen Durchschnittsrechnung, deren sich die Prognostik bedient. Man könnte z. B. sagen: Nur aus den letzten 5000 Jahren gibt es Berichte darüber, daß die Sonne täglich und im Osten aufgeht. Da man andererseits Grund hat zu glauben, daß die Sonne Millionen Jahre alt sei, ergäbe sich aus der Beobachtungszeit von nur rund 5000 Jahren eine äußerst geringe «Wahrschein­lichkeit», kaum wenige Promille, für den Sonnenaufgang morgen und im Osten. Jeder sieht, wie absurd solche Aufstellung wäre, denn die absolut hohe Wahrscheinlichkeit des Sonnenlaufes gründet sich auf der Erkenntnis ihrer Natur und der Natur der Erde als Himmelskörper sowie der Natur ihrer gegenseitigen Beziehungen.

Ebenso ergibt sich der Grad der Wahrscheinlichkeit beim Sinn für das Kommende nie mathematisch, sondern aus der Erkenntnis der Natur der Dinge, welche Natur einst entstand, nun zugrunde liegt und das Kommende gebiert.

Die Natur jedes Dinges drängt in eine ganz bestimmte Richtung: Dieses Drängen gibt das Maß der Wahrscheinlichkeit des künftigen Geschehens. Maß der Wahrscheinlichkeits-Erkenntnis ist die Evidenz. Eine Futurologie, welche evident gültige Alternativen mit variablen, aber klaren Wahrscheinlichkeitsfaktoren, produziert, legitimiert sich damit. — Evident gültig ist eine Wahrheit, die jeder prüfen kann, der sich die Mühe gibt zu untersuchen. Manche Alternativen wirken auf der Stelle evident gültig, um andere muß man sich mehr bemühen.

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Die Bemühung ist Beobachtung. Bei der Beobachtung wurzelt dieser Unterschied. Wer die entsprechende Beobachtung bereits gemacht hat, sieht förmlich die Konsequenzen dem Beobachteten entspringen. Denn die Beobachtung ist Meditation, sie dringt unter die Oberflächen, wenn sie Mühe aufwendet und Mühe nicht scheut. Wer die notwendigen Resultate der Beobachtungs-Mühe noch nicht zur Verfügung hat, sieht das Evidenteste nicht, bis er sich bemühte.

Evident nicht gültige Zukunfts-Alternativen ermangeln der zugehörigen Beobachtungen. Das heißt, es mangelt ihnen an Beziehung auf Wirklichkeit nach beiden Richtungen. Etwa wenn — um Aristoteles' Beispiel zu variieren — einer sagt, «Morgen wird bei Köln eine Seeschlacht stattfinden, oder nicht», so ist dies nur sehr formell «wahr». Denn es fehlt die Grundlagen­beobachtung, daß dort kein Meer ist. — Aber auch eine Behauptung, daß «bei Köln keine Seeschlacht stattfinden wird», ist im Grunde nicht «wahr», sondern nur Spiel mit Worten. Mehr verschleiert zwar, doch von eben dieser Art, sind solche Futurologien, die aus dem heutigen Jetzt unmittelbar auf die Zukunft schließen, ohne zu bedenken, daß die Zukunft auf alle Fälle veränderte Verhältnisse bereits gegeben enthalten wird, so daß zwischen Gegenwart und Zukunft eine Differenz mindestens so stark wie durch eine Ortsveränderung besteht.

Sinn für das Kommende bezieht die notwendigen Beobachtungen ein, weil und insoweit dieser Sinn nicht einsame Geistestätigkeit ist, sondern in Gesellschaft von Kollegen, mitdenkenden Geistern, sich abspielt, seien diese nun Menschen oder Unsichtbare, die als Gedanken-Anreger, Mitdenker, Führungsgeber mitwirken. Die letztgenannten «Kollegen» aber leisten weit mehr als die gescheitesten der körperlich-sichtbaren. Die Anerkennung als «Kollegen» vervielfacht ihre Leistung. — Der Sinn für das Kommende bietet nicht etwa beliebige Sicherheit gegen die Wechselfälle des Lebens, so wie das Auge und das Ohr nicht jeden Unfall ausschließen. Aber blind und taub kann man nun einmal nicht unversehrt über eine befahrene Straße gehen, sehend und hörend kann man es. Das Leben hat heute ein Stadium erreicht, so Sinn für das Kommende in der Tat so nötig ist wie Auge und Ohr auf belebter Straße.

Trotzdem ist dies nicht die wichtigste und Hauptaufgabe des neuen Sinnes. Seine eigentliche Bedeutung ist darin, daß er dem Leben Sinn gibt, weil er Sinn für das Lebendige ist.

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Den Sinn des Lebens vermissen, dies ist heute eine Zeiterscheinung. Sie hat einen sehr bestimmten Grund. Unsere Umwelt, die gesamte Welt ist reich, überreich, es gibt darin alles Erdenkliche, Dinge, Wesen, Lebewesen, Substanzen, Gestalten, Genüsse, Wirkliches und Nichtwirkliches ohne Zahl, und wenn es nach dem Reichtum der Welt ginge, so gäbe es an Sinn des Lebens keinen Mangel. Wäre dieser Reichtum Freude am Leben, so gäbe es deren im Übermaß, und es gäbe weder Langeweile noch Verdruß.

Eben diejenigen aber, die sogar geldreich sind, um viel zu genießen, sie sind diejenigen, denen der Verdruß und die Langeweile wohlbekannt sind. Soeben geht eine Zeit zu Ende, als ganze Völker «reich» gemacht worden sind, mit dem typischen und erwartbaren Erfolg allgemeiner, satter — Unzufriedenheit.

Der Genuß des Lebens selbst ist Langeweile und führt in Verdruß, wenn er alles ist, was es gibt und was das Leben gibt. Etwas muß sich hineinmischen in «dieses alles», und wenn diese eine Beimischung fehlt, ist alles vergebliche Liebesmühe und alles für die Katze. Es bleibt langweilig und bringt Verdruß. Was ist dieses eine? — «Ehret die Frauen, sie flechten und weben.» Soll der Teufel sie holen alle unternander, flechten sie «himmlische Rosen» nicht herein und flechten und weben und machten sie alles übrige, was sie können, noch so gut! Das Weib ist sogar physiologiegewordener Sinn für das Lebende und Kommende. Denn das uralte Privileg ihrer Natur ist eben dieses Hineinmischen ins Leben dessen, was es gar nicht gibt und doch kommt: das Kind! Die ewig weibliche Seele aber ahnt das Kommende, das eigentlich Schöne. Sappho nennt es: 

Grün und Blühn und Nektar

Steig vom Himmel, Göttin, hernieder, tritt ein 
in dies lautre Heiligtum, diesen schönen 
Hain von Apfelbäumen. Hier stehn entzündet 
duftige Altäre:

Wasser frisch und kühl plätschert hier von 
Apfelbaum zu -baum, und rosenbeschattet ist hier 
alles rings, und aus schwankenden Blättern träufelt 
Schlummer hernieder.

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Eine Aue, wo Pferde weiden, prangt hier 
in des Frühlings Blumenpracht, und es atmen 
hier die Aniskräuter und flüstern würzge 
freundliche Dinge.

Komm, ach komm du, kränze die Stirn dir, Göttin, 
schenk' in goldnen Trinkschalen einen Mischtrank! 
Dem Grün und Blühn fein beigemischten Nektar -
schenk' Geist für Wein ein!

(Übersetzt von J. W. Ernst)

 

Was ist dieser «fein beigemischte Nektar»? Alles, was im Sichtbaren, Materiellen, Informativen, nach Schema verstandenen, mit Trick 17 erreichbaren und letztlich durch und durch uninteressanten Leben «und Dasein nicht ist» — das ist dieser «Nektar», dieser «Trank der Götter». Mischt dieses «Nichts», dieser feine Duft, das Nochnicht sich bei, so kommt ins «Grün und Blühn» des Lebens erst das eigentlich Interessante und Schöne hinein, und nur so. Das Kommende, es ist Ingredienz. Es ist in jeder Beziehung und bei jeder Gelegenheit dasjenige, um was es geht, jenes eine, das nicht zu entbehren ist. Zentrum und Ziel des All. Sinn für die Ingredienz. Ingredienz vollbringt auch die Kunst. Nicht minder der schöpferische Gedanke.

Eben-dasselbe vollbringt jeder verderbliche Gedanke und jedes böse Werk. — Ebendasselbe?

Ja, insoweit der Teufel nicht weniger interessant ist als der Gott. Nein, insoweit des Teufels Werke rein materieller Natur zu sein pflegen, was sie im Grunde ganz uninteressant macht. Die Werke der Götter aber sind und bleiben überirdische, immaterielle «Beimischung».

Pah, «Götter»! Sogar «Gott ist tot», wieviel mehr die Götter'l Je nun, darum fehlt dem Leben der Sinn, und alles ist zum Sterben langweilig. - Doch es ändert sich nun. Der Sinn für das Lebendige und Kommende kommt. Er ist der Sinn des Lebens. Er entdeckt die Unsichtbaren wieder. 

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