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11. Der Hintergrund im 20. Jahrhundert 

 

 

Passion und Auferstehung 

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Im vorigen wurde der Hintergrund des Geschehens als gleichzeitiges Zusammenwirken unsichtbarer Urheber, deren einer der Mensch mit seinem Denken und Entschließen ist, vorgeführt. Denn der Mensch als Denker und Entschließer ist unsichtbar. Darum eben ist das Kommende verborgen, wie Aristoteles bemerkte. 

Die Gleichzeitigkeit des Zusammenwirkens dieser Unsichtbaren hat sich in geistige Raumdimensionen gegliedert gezeigt: die Miturheber «von oben, von unten her» wirkend, die Ereignisse selbst wie von vornher entgegen-kommend. Die Alternativen aber scheinen sich zwischen «Rechts und Links» zu bewegen, im inneren «Abwägen, Erwägen, Hin-und-her-Überlegen». Diese in einem geistigen Sinne räumlichgleichzeitige Urheberschaft des Lebens und Geschehens ist dessen geistige Außenseite. Seine geistige Innenseite, die viel tiefer verborgen ist, hat in einem geistigen Sinne zeitliche Natur.

Zeit im äußeren Sinne fließt kontinuierlich, als Ursache nur unmittelbar wirkend, Wirkung nur in Kontakt mit dem, was bewirkt werden soll. Beim Denken und Handeln des Menschen aber verhalten sich Ursachen und Wirkungen zeitlich anders. Das Auftreten eines bestimmten Gedankens ist durchaus nicht nur von unmittelbar gegenwärtigen Anlässen bestimmt. Ein Anlaß kann den Gedanken äußerlich auslösen, aber die wahre Urheberschaft der meisten Gedanken liegt weit zurück.

So bereits bei der einfachsten Art der Gedankenbildung, bei der direkten Problemlösung, nach dem Schema: «Problem, das sich zeigte, wird bedacht. Dann löst man sich davon, läßt es eine Weile liegen. Schließlich taucht es wieder auf und bringt die Lösung mit.» In der Zwischenzeit geschah nichts, aber das Bewußtsein faßt nicht, was geschah. — Dieses einfache Schema kennt jeder Denker.

Es ist jedoch das Grundphänomen für alles Gedankenleben, und nur wer sich vom Oberflächlichen täuschen läßt, glaubt an wurzellos aufschießende Ideen. Solche plötzlichen Aufleuchtungen können bei lange vergangenen Erlebnissen, in der Schule, in der Kinderstube, Urständen. Das Erlebnis kann längst vergessen sein, in Regionen des Unterbewußten versunken, in denen Zeitablauf nicht ist - um schließlich in der überraschenden Metamorphose des klärenden Gedankens aufzutauchen. Hierbei besteht dann zwar ein deutliches «Früher» und «Später», aber nicht der geringste Zeitablauf, keine zeitliche Verbindung dazwischen.

Ein Beispiel. Der Pfarrerssohn Jean Paul sollte in Leipzig Theologie studieren, um Pfarrer zu werden, doch er kümmerte sich bald nur noch um Literatur und fing selbst an zu schreiben. Seiner Mutter, die ihn mahnte, schrieb er (3.4. 1783):

«Fast mußte ich lachen, da Sie mir den erbaulichen Antrag tun, mich in Hof in der Spitalkirche z. B. vor alten Weibern und armen Schülern mit einer erbaulichen Predigt hören zu lassen. Denken Sie denn, es ist soviel Ehre, zu predigen? ... Ein Buch zu machen, ist doch wohl zehnmal schwerer...»

Diese entschiedene Stellungnahme steht in klarer Beziehung zu jenem berühmten autobiographischen Bericht Jean Pauls aus seiner Kindheit: 

«Nie vergesse ich die noch keinem Menschen erzählte Erscheinung in mir, wo ich bei der Geburt meines Selbst­bewußtseins stand, von der ich Ort und Zeit anzugeben weiß. An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustür und sah links nach der Holzlage, als auf einmal das innere Gesicht, ich bin ein Ich, wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend stehenblieb. Da hatte mein Ich zum ersten Male sich selbst gesehen und auf ewig.»

Jedem wird irgendwann das Selbstbewußtsein geboren. Einer, der so mit Bewußtsein dabeigestanden hat, als es geschah, kennt später seinen Weg, allen noch so gut gemeinten Ratschlägen von außen zum Trotz. — Dies ist ein evidentes und leicht über­schaubares Beispiel. Offensichtlich gibt es nun aber Gedanken und Entschlüsse, die aus Tiefen des Unterbewußten aufsteigen, ohne daß eine Urheberschaft in der persönlichen Vergangen­heit greifbar wird.

Die sogenannte Tiefenpsychologie des 20. Jahrhunderts meinte alle inneren Phänomene auf Urheberschaft in der Person zurückführen zu können, indem sie mit absolut verdrängten Früherlebnissen und solchen der unbewußten Frühkindheit, sowie mit erblicher Übertragung von Erlebnissen der Vorfahren, also einer Art von Generationengedächtnis, rechnet.  

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Dergleichen Einwirkungen braucht man nicht zu bestreiten, um doch der Meinung zu sein, daß es abwegig ist, wichtige, mit voller Abwägung gefaßte Entscheidungen und weittragende Gedanken auf solche atavistischen und infantilen «Verursachungen» zurück­zuführen. 

Jeder gewichtige Gedanke und jede individuelle Handlung zeigt ein unverkennbares, unwiederholbares Gepräge, das sich aus der veranlassenden Situation oder Aufgabe nicht erklärt — denn jeder löst ein und dieselbe Aufgabe auf andere, auf seine Weise - und das auch vom Charakter nicht wirklich bedingt ist, der nur mehr oder weniger typisch die Art und Weise und das Ziel bestimmt, nicht aber das letztlich entscheidende individuelle Denken und Handeln selbst. Festzustellen zugleich, daß die Individualität der Handelnde, der Denkende als solcher, das stärkste und alles bestimmende Wesen in der Welt ist, der wirkliche Mensch. Ohne ihn kommt nichts und geht nichts. Vor dieser menschlichen Individualität als solcher kann man nur entweder achselzuckend behaupten, sie sei Zufalls-Urphänomen, oder man muß versuchen, sie selbst, die Individualität selbst, in die Tiefen des Unterbewußten hinein zu verfolgen, um zu sehen, ob ihr eigentümliches Wesen auch dort vorhanden ist, wo fürs erste nur infantile und atavistische Nebeneinflüsse feststellbar scheinen.

Hierbei zeigt sich, daß in den Eltern oder Voreltern die Individualität des Nachkommen auf alle Fälle nicht ist, denn alle Vorfahren zeigen ihrerseits Individualität prägnant anders als die Nachkommen. Und es stellt sich heraus, daß eben auf dem Felde der atavistisch-vererbten und den infantilen Veranlagungen die Individualität unverkennbar wirksam ist, denn schon jedes Kind geht mit diesen Veranlagungen individuell um, nicht anders, als später der Erwachsene.

Die sogenannten erblichen Veranlagungen aber sind im Grunde auch nur Umweltseinflüsse, gleicher Art wie die im vorigen behandelten, die den Charakter bilden, permanent-kontinuierliche, gegenwärtig-gleichzeitige und gleichsam räumliche Einflüsse.

Eigenart der Individualität aber ist jene zeitliche Diskontinuität, wodurch sie zum Urheber ihrer selbst wird. Keineswegs bestimmte z.B. jenes Erlebnis der Geburt des eigenen Selbstbewußtseins jede Handlung Jean Pauls, wohl aber jede entscheidend-wichtige.

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Wenn jemand einen bestimmten Beruf wählt, eine Ehe schließt, ein Werk beginnt und vollführt, so läßt sich die Urheberschaft solcher Handlungen immer nur im Handelnden selbst finden. Manchmal in einem zurückliegenden Ereignis, das er längst vergaß, meistens aber auf weiter nicht definierbare Weise nur in ihm, ohne greifbaren Bezug oder Grund.

Im 21. Jahrhundert wird nun eine merkwürdige Erscheinung auftauchen. Die Bezugs- und Grundlosigkeit der individuellen Entscheidungen wird für viele Menschen und in vielen Fällen durch ganz bestimmte, irrational auftauchende Bezüge und Begründungen aufgehoben werden. Es wird geschehen, daß manche Menschen angesichts wichtiger Entscheidungen etwas wie eine «Erinnerung» vor sich auftauchen sehen, zu der die Entscheidung in ähnlichem Verhältnis steht wie mancher Entschluß zu einem einstigen Ereignis. Zum Beispiel wie der Berufsantritt mit einstiger Wahl dieses oder jenes Studiums oder wie die innere Unbeirrbarkeit Jean Pauls mit jenem frühen Gewahrwerden seiner selbst zusammenhängt.

So werden «Erinnerungen» auftreten, die indes nicht Erinnerungen sein können, weil physisch nicht möglich. «Erinnerungen» an Orte, die man nie betrat und an Zeiten, als man noch nicht geboren war. — Dergleichen gibt es bereits heute in seltenen, umstrittenen Fällen. Es wird häufig, fast alltäglich werden, aber umstritten bleiben. Das Phänomen wird sich auch bei manchen Angehörigen jener gesunkenen Menschheit zeigen, die seit der entscheidenden Krisis des Jahrhunderts-Endes nicht mehr im vollen Sinne Mensch zu sein vermag und epigonisch-degenerativ die Kultur des 20. Jahrhunderts weiterschlingern läßt. Es wird dort speziell bei den unruhigen und unzufriedenen Elementen auftreten. Nicht selten wird eben dieses Phänomen die davon Betroffenen dahin bringen, daß sie sich den Unzufriedenen zugesellen.

Viele werden nicht recht wissen, was sie daraus machen sollen. Manche werden sich davon geängstigt empfinden. Andere werden bemerken, daß diese inneren Phänomene in einiger Hinsicht gar nicht irrational sind, denn sie steigen gewöhnlich dann auf, wenn Menschen vor wichtigen Entscheidungen stehen, und sie pflegen die Entscheidungen in Richtungen zu drängen, die sich hinterher als gut gewählt herausstellen.

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Hierbei kann es leicht vorkommen, daß einer, dem die irrationalen Erinnerungen nicht gegeben sind, sich zunächst nicht darauf einläßt und seine Entscheidungen rein nach den ihm vorliegenden Erkenntnissen fällt, ohne auf den zu hören, der von der irrationalen Erinnerung her anders rät, obwohl er den Rat nicht begründen kann. Dann stellt sich etwa nach einer gewissen Zeit heraus, daß die Entscheidung fehlging, die irrationale Erinnerung aber und der daraus gewonnene Ratschlag hätten die Sache zum Guten gelenkt. Diese Erfahrung gibt im Lauf der Zeit denen, die über irrationale Erinnerung verfügen, innerhalb der Degenerationskulturen bei den dort nichtkonformistischen Elementen ein moralisches Gewicht, so daß sie um Rat gefragt werden. Dergleichen werden dort aber die konformistischen und orthodoxen Vertreter dieser Kulturen als illegitimes Hinein­pfuschen in die seelsorgerischen Privilegien der zukünftigen Psychologen ansehen, man wird dagegen ankämpfen und versuchen, der Sache medikamentös beizukommen, mit Erfolgen, wie sie das zu Recht berühmte Schauspiel The Caretaker von Harold Pinter erschütternd vorführt:

«Ein Mensch, der bei sich eine Hellsichtigkeit entdeckte, wird vom Arzt mißhandelt, um ihm dies zu nehmen. Es gelingt dem Arzt, aber die Folge ist, daß der Mann alle Initiative verliert und unter das intellektuelle und Willens-Niveau eines Landstreichers sinkt.»

Nachdem sich solche «Erfolge» medizinischer Behandlung des Phänomens herumsprechen, werden zwar gewisse «Ärzte» keineswegs von dem Unfug und von ihrer «wissenschaftlichen Überzeugung» ablassen, wohl aber werden die Betroffenen, die keineswegs krank sind, aber von solchen «Ärzten» krank gemacht werden, sich zur Wehr setzen. Es entsteht bittere Feindschaft zwischen denen, die irrationale Erinnerungen haben, und denen, die sie ihnen nehmen wollen. An diesem Phänomen vollzieht sich eine zweite Scheidung der Geister innerhalb der Degenerationskultur, die dadurch vollends ins Nichtmehrmenschliche sinkt und schließlich eher ein zweites Tierreich als ein Reich von Menschen bildet.

Diejenigen aber, die bei sich die irrationalen Erinnerungen entdeckten und sie sich nicht nehmen lassen, greifen schließlich zu der bereits beschriebenen individuellen Zufluchtssuche in den Gebieten der Kultur des 21. Jahrhunderts, in den Wüsteneien. Diese Fluchtbewegungen von medizinisch Verfolgten werden schließlich den Charakter von Massenemigrationen annehmen, etwa der Art, wie sie das 20. Jahrhundert aus rassischer und politischer Verfolgung zahlreich gekannt hat und kennt.

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Das Phänomen der «Erinnerungen» 

Im Bannkreis der geistigen Hochkultur des 21. Jahrhunderts, in jenen abgelegenen Gegenden, herrscht die simple Meinung, daß die wie Erinnerungen auftretenden Phänomene in der Tat Erinnerungen sind. Man beobachtet einen paradoxalen Zusammenhang der Erinnerungsphänomene und des Sinns für das Kommende dergestalt, daß sich zeigt, daß jene «Erinnerungen» impressiv «auf einen zukommen» — aus der Zukunftsrichtung her —, denn sie bestimmen die Reifung der individuellen Entschlüsse. Dadurch bilden diese «Erinnerungen» für die kommende Menschheit ein wesentliches Moment zum Glück des Lebens und zum Frieden mit sich und der Welt. Denn diese zwei, Glück und Frieden, hängen von der rechten Reifung der Entschlüsse ab. Die irrationalen Erinnerungen wirken dabei als geheimnisvolle Führung.

Etwa mag es vorkommen, daß ein Mensch einen anderen kennenlernt, und es steigt dem ersteren als irrationale Erinnerung auf: «Dem bin ich etwas schuldig, ich muß es ihm vergelten.» Doch die beiden begegnen sich soeben zum ersten Male. Oder die Impression sagt umgekehrt: «Der ist mir etwas schuldig, aber er will es nicht vergelten.» Diejenigen, die solche Impressionen haben, werden dadurch lebenskundig. Sie wissen die Situationen zu meistern, wenn sie erkennen, daß die Impressionen Wahrheit enthalten, die sich im Verlauf bewähren wird.

Die irrationalen Erinnerungen sind nicht identisch mit dem Sinn für das Kommende, aber sie bilden etwas wie ein Fundament dieses Sinnes. Manche, die den eigentlichen Sinn für das Kommende nicht haben, entdecken bei sich die irrationalen Erinnerungen, denen sie, auf eine weniger durchsichtige, dennoch sichere Weise, eine innere Führung abgewinnen, während der voll erwachte Sinn für das Kommende Überschau und Einsicht gewährt.

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Indem die irrationalen Erinnerungen als Erinnerungen bewertet werden — bei allem Bewußtsein, daß sie in diesem Leben nicht begründet, somit nicht rechtsanspruchbildend sind —, entstehen und entwickeln sich daraus die menschlichen Verhältnisse, aus denen dann Entschlüsse reifen, deren äußere Gestalt von den Bedingungen des Lebens, deren innere Qualität aber von den nicht rational begründeten «Erinnerungen» bestimmt ward.

Die Bewertung der irrationalen Erinnerungen als echter Erinnerungen in der Kultur des 21. Jahrhunderts ist Ausdruck einer Überzeugung, die dort Wurzel geschlagen haben und so unerschütterlich sein wird, wie einst im Mittelalter die Überzeugung, daß «Gott ist». Im 21. Jahrhundert wird ebenso unerschütterlich die Überzeugung Platz gegriffen haben, daß jeder Mensch bereits viele Male auf der Erde körperlich gelebt hat, daß in der Aufeinanderfolge dieser verschiedenen Erdenleben jedes Menschen ein sinnvoller Entwicklungszusammenhang ist, und ferner, daß in Zukunft alle diejenigen, die nicht in das Dasein eines «intelligenten Tieres» übertreten mögen, noch viele Male auf der Erde in körperliche Existenz treten werden, nämlich so oft die Erde neue Aufgaben und Entwicklungsmöglichkeiten bietet.

Die auftretenden irrationalen Erinnerungen sind Erinnerungen an einst wirklich durchlebte irdische Verkörperungen sowie Erinnerungen an überirdische, unkörperliche Existenz zwischen den Verkörperungen: So wird man in der Kultur des 21. Jahrhunderts diese Phänomene ansehen und behandeln.

Das Auftreten der irrationalen Erinnerungen bei Menschen in den Gebieten der Degenerationskultur wird man als Wahrzeichen dafür nehmen, daß in dem betreffenden Menschen, der das Phänomen bei sich entdeckt, die Entwicklungsmöglichkeit nicht völlig ausgebrannt ist, so daß er, wenn er sie meditativ pflegt, noch in diesem Leben einen gewissen Anschluß an den Sinn für das Kommende, und dadurch an das Kommende selbst — an die geistige Zusammenarbeit mit den höheren Geistern im eigenen Denken —, zu finden vermag. So, daß solche Menschen sich aus der Gefahr des Herabsinkens vom vollen Menschentum aus eigener Kraft und mit Hilfe von Kundigen in den Gebieten der Kultur des 21. Jahrhunderts zu retten vermögen.

Bei manchen wird die volle Wiedererhebung sich in der einen Verkörperung nur vorbereiten und erst in der nächsten Verkörperung vollenden lassen.

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Das Wesen dieser Vollendung ist die spätere zukünftige Erwerbung einer aus der Kultur der Wüsteneien im 21. Jahrhundert ererbten Körperlichkeit mit unzerstörten Organen für den Sinn für das Kommende, für nichtabgetötete Intelligenz und Selbstdenken. Solche Körperlichkeit ist in dieser Kultur bewahrt und durch sorgfältige Pflege dieser Geisteskräfte auf höhere Stufe gehoben worden, und sie wird in den weiter folgenden Jahrhunderten von den Nachkommen dieser Kultur des 21. Jahrhunderts vermehrt, vervielfacht. Es hängt das zukünftige Heil der Menschheit davon ab, daß diese Körperlichkeit eines erhöhten Menschseins, nunmehr die einzige wirklich menschliche, sich vermehre.

Die Menschheit der Degenerationskulturen wird numerisch zurückgehen, keineswegs aussterben, sondern sich schließlich bei einer gewissen Bevölkerungszahl stationär halten.

Diejenigen, die Sinn für das Kommende haben, sind auch diejenigen, die die irrationalen Erinnerungen richtig interpretieren. Ihnen sind diese Erinnerungen ebenfalls geläufig, dazu aber haben sie Einsicht in ihre Natur. Für viele, die bei sich die irrationalen Erinnerungen jenseits der Kultur des 21. Jahrhunderts entdeckten, bleiben sie bedrückende Rätsel, bis sie von solchen Menschen, die Sinn für das Kommende haben, die Interpretation erhielten.

Unter den irrationalen Erinnerungen hebt sich eine bestimmte Art heraus, die beunruhigend wirkt, drängend, bedrängend, entweder wie schlechtes Gewissen oder wie Glückshoffnung, um die man bangt. Alle die irrationalen «Erinnerungen» gehören zu jenen paradoxerweise «kommenden», auf einen zu-kommenden Zukunfts-Dingen. Die herandrängendsten unter ihnen sind es, welche wesentlich als Hoffnung oder Furchtgebilde erscheinen.

Diese drängende Art unter den irrationalen Erinnerungen erweist sich insbesondere schicksalsbildend, gleich wie aktuelle Verhältnisse wirken, die im Leben zwischen Menschen entstehen. Nur mit dem Unterschied, daß ganz klar ist, daß das augenblicklich ablaufende Leben die betreffenden Verhältnisse nicht erzeugt hat, daß aber die irrationalen Erinnerungen sie in früheren Verkörperungen sinnvoll begründen. Das «Drängen» stammt daher, daß in vergangenen Verkörperungen die betreffenden Verhältnisse gewissermaßen offengeblieben sind und wichtige Lebensinteressen daran hängenblieben, die nach weiterer Austragung drängen.

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Der geistige Hintergrund im 20. Jahrhundert 

 

Unter den «drängenden» in der Zahl der irrationalen Erinnerungen im 21. Jahrhundert wird nun eine bestimmte Sonderart sich durch das gesamte Milieu als Erinnerung an das 20. Jahrhundert aufdrängen und zutiefst erregend nach verschiedenen Richtungen hin wirken. Diese Sonderart konzentriert sich um ein Ereignis, von welchem wir, die wir jetzt im 20. Jahrhundert leben, nicht wissen oder kaum wissen.

Obwohl in den Übergangskrisen um die kommende Jahrhundertwende viele Geschichtskenntnisse und manche Dokumente zugrunde­gegangen sein werden, wird man im 21. Jahrhundert von der Geschichte des 20. Jahrhunderts immerhin so viel wissen, daß man wird sagen können: «Von diesem Ereignis, das in so vieler Zeitgenossen irrationaler Erinnerung uns jetzt im 21. Jahrhundert in Staunen und Bewunderung setzt, wußte das 20. Jahrhundert nichts oder beinahe nichts.»

Das Ereignis stellt sich wie eine im 20. Jahrhundert geschehene Wiederholung der in den Evangelien beschriebenen Ereignisse von vor 1900 Jahren dar — wie ein Wiederauftreten jener außerordentlichen Persönlichkeit, die einst «Jesus» hieß, mit den verschiedenen Ereignissen dieses Lebens bis hin zu der «Passion, Kreuzigung und Auferstehung». — Dennoch zeigt dieses typische Geschehen sich den Erinnerungsbildern auch wiederum so sehr anders, daß manche die Parallelität leugnen und sagen werden, dieses Ereignis im 20. Jahrhundert habe mit den Ereignissen von Palästina vor 2000 Jahren nichts zu tun.

Der Erdulder der «Passion», die sich im 20. Jahrhundert abspielte, ist nicht ein einzelner verkörperter Mensch, sondern eine übersinnliche «Persönlichkeit», die im Kreise der irdisch Verkörperten nur ihren Widerschein aufleuchten läßt, in Gestalt einer geistigen Bewegung, die innerhalb des 20. Jahrhunderts nicht mehr bedeutete, als die von Jesus während seines Lebens angefachte Bewegung innerhalb des Römerreiches. Doch dadurch ist jene «übersinnliche Persönlichkeit» immerhin ein Zeitgenosse im vollen Sinn des Wortes, als Seele und Geist dieser Bewegung. Diese wurde von einigen, sehr wenigen physischen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts repräsentiert, die an der «Passion» dieser Bewegung selbst teilnahmen, so daß diese sich als gemeinsames Durchstehen und Durchstoßen darstellt, vollbracht von einem Kollegium, das teils aus physischen, teils aus übersinnlichen, später zum Teil aus verstorbenen Persönlichkeiten besteht.

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Die «Passion» der übersinnlichen Persönlichkeit erscheint den irrationalen, bildhaft-imaginierten Erinnerungen als Umfälschung ihrer Worte und Intentionen, bis sie zum Spott auf sich selber wird. «Gekreuzigt» wird diese übersinnliche Persönlichkeit dadurch, daß man ihr den Boden der Wahrheit unter den Füßen raubt und sie an eine ganz bestimmte Unwahrheit, die man ihr unterschiebt, festnagelt. Diese Kreuzigung währt rund 20 Jahre. Danach erbarmt die Vorsehung sich ihrer und gewährt ihr eine «Grablegung». Diese zeigt sich als Stillstand der geistigen Bewegung auf der Erdoberfläche und unsichtbare rege Tätigkeit hinter den Kulissen des Daseins, woran viele Verstorbene, aber beinahe keine Lebenden teilnehmen. Dann, nach Jahrzehnten, erfolgt «Auferstehung». — Alle näheren Zeitangaben sind hier mit Vorbehalt zu nehmen, denn übersinnliche Vorgänge verlaufen in komplexer Zeit, mit mehrfachem Eintritt eines und desselben Ereignisses zwischen Ziel und Auswirkung.

Bewirkt wurde die «Passion» — so erscheint sie im 21. Jahrhundert den Erinnerungen — von hochangesehenen Personen, Professoren und anderen «Autoritäten» der Wissenschaft und Kunst des 20. Jahrhunderts, obzwar nur die wenigsten unter ihnen wußten, was sie taten. — Anstelle des «Verräters Judas» wirkten Geheimbündler, die sich einer Anzahl geschickter Betrüger als Handlanger bedienten. Die Rolle des ahnungslosen Volkes, das einst in Jerusalem «Kreuziget ihn!» schrie, fiel einem gleich den Juden in aller Welt verstreuten Volke — die aber nicht Juden waren! — zu. Statt der «Kriegsknechte» wirkten Techniker aller Arten, besonders dann die Atomtechniker. Sichtbare Vollendung der «Passion» waren der Triumph der Wissen-schafts-Autorität und die Verspottung der Kunst durch Künstler seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts. — Vollendet wurde «die Auferstehung» durch Brechung dieser Fesselungen des Menschengeistes, die seit 1956 geschieht, aber erst nach 1980 und ab 1990 sich auswirkt.

Die Auswirkung besteht in dem menschheitlichen Aufgehen des Sinns für das Kommende und Lebende, der zugleich ein Sinn für immaterielle oder übersinnliche Substanz ist.

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Äußerlich zeigt sich die allenthalben gepflanzte Keimung dieses Sinnes als der bereits eingangs dieses Buches erwähnte «Unglaube gegen jeden Materialismus». Innerlich zeigt sich diese Keimung mit der ebenfalls früher erwähnten Freude am Willen als solchem, die dem Sinn für das Kommende den Nährboden bietet. Ein erster Vorläufer der Freude am Willen ist das sich ausbreitende Interesse an der Meditation, das jedoch bisher zumeist mit ungeeigneter Nahrung abgespeist zu werden pflegt.

Diese umstürzenden Entwicklungen erheben sich sachte in den jüngeren Generationen des späten 20. Jahrhunderts, anfangs bei einzelnen initiativen Gruppen, um später als breite Jugendbewegung Platz zu greifen, die z.B. eine geistige Entlarvung der materialistischen Lebens-«Ideale», die man besser Idole nennen sollte, unaufhaltsam herbeiführen wird. Gut fundierte Kunstbewegungen werden diese Entlarvung bewirken.

Man wird in der Kultur des 21. Jahrhunderts genau wissen, daß im 20. Jahrhundert kein Wiederauftreten eines «Christus» historisch stattgefunden hat, und man wird dort trotzdem die nun auftretenden irrationalen «Erinnerungen» daran, die ein solches Ereignis mit Bestimmtheit in das 20. Jahrhundert versetzen, im höchsten Maße ernstnehmen. Man wird sagen: «Es ist klar, daß es sich um ein teilweise übersinnliches Ereignis handelt, aber es geschah dennoch so, daß es in das 20. Jahrhundert zeitgenössisch fiel.» Vor allem diejenigen, denen diese Art «Erinnerung» selbst zuteil wird, werden sie mit allem Schwergewicht als «Erinnerung» empfinden, und es wird ihnen das Glück des Lebens und oft das Leben selbst daran hängen.

Viele werden sagen: «Ich habe selbst im 20. Jahrhundert gelebt, und ich bin im 21. Jahrhundert rasch wiedergekommen, weil ich mit dem wichtigen Ereignis des 20. Jahrhunderts damals in irgendwelche Berührung getreten bin. Dadurch habe ich einen Keim des zukünftigen Menschseins aufgenommen, der während der Entfaltungszeit des 21. Jahrhunderts auf der Erde weitergepflegt werden muß, darum bin ich rasch wiedergekommen. — Damals im 20. Jahrhundert habe ich das Ereignis, das mich anrührte, mich am Ärmel streifte, nur verschlafen, etwa sogar mich ahnungslos dagegengestellt. Dennoch, daß es mich anrührte, wurde mir zur Wohltat.»

Nur für diejenigen, die die Bibel studiert haben, stellt sich das verborgene Ereignis des 20. Jahrhunderts wie eine Wiederholung der Evangelien-Ereignisse dar.

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Da im 21. Jahrhundert die christlichen Kirchen mit ihren Religionsunterweisungen nur noch einen geringen Teil der einst christlichen Bevölkerungen erreichen, ist der Fall häufig, daß jene irrationale «Erinnerung» in solchen Menschen auftaucht, die von der Kreuzigung auf Golgatha nichts oder fast nichts wissen. Zudem tritt diese «Erinnerung» zahlreich auch bei Nichteuropäern in den nie vom Christentum berührten Kulturkreisen auf. Die «Erinnerung» wird dann naturgemäß anders bezogen und anders benannt. Die Beschreibungen weichen dann im Detail voneinander ab, zeigen aber in den wesentlichen Zügen Identität.

Allen wird derjenige, der den leidenden und handelnden Mittelpunkt des Ereignisses bildet, «der Kommende» und «der Wohlmeinende» heißen. Beide Worte in den Sprachen und Denkweisen abgewandelt, im Wesen überall gleichbedeutend.

Die Kundigen des 21. Jahrhunderts werden sagen, daß es sich um reale Erinnerung an ein im 20. Jahrhundert in der Sphäre der Wissenschaften und Künste stattgehabtes Ereignis handelt, welches wesentlich religiöser Natur ist, vom Sinn für das Höhere aufzufassen und eben darum im 20. Jahrhundert fast nicht wahrnehmbar. Denn dieses Jahrhundert schämt sich des Höheren. Hinzu kommt, daß die gleichzeitigen politischen Ereignisse durch bestimmte Einwirker inszeniert waren, um die Gemüter von dem Ereignis abzulenken, damit es unbemerkt bleibe. Daher wurde das Ereignis in der Tat während des 20. Jahrhunderts zur Zeit, als es geschah, nur von sehr wenigen, fast nur von unmittelbar Beteiligten, wahrgenommen und begriffen. Seit den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts von einigen wenigen, und erst gegen den Ausgang des Jahrhunderts von einigen mehr. Im 21. Jahrhundert aber verbreitert sich Bewußtsein davon auf dem Wege der «irrationalen Erinnerungen».

In einem deutlichen Gegensatz zum historischen Christentum wird im 21. Jahrhundert dieser «Wohlmeinende», der «Kommende», nicht als «Herr» aufgefaßt werden, sondern als Freund und Bruder, und man redet mit ihm ohne Scheu als mit einem Freund und Bruder, empfindet sich auch von ihm so angeredet. Das historische Christentum nannte den Auferstandenen gern «Erlöser», das ist: «Befreier». - «Der Kommende» wird vor allem als Retter des Lebens der Erde und des Lebens auf der Erde angesprochen werden, wie auch als derjenige, der die angerichteten Schäden heilt.

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Die irrationalen Erinnerungen werden mit fortschreitender Zeit und Entwicklung mehr und mehr und immer reicher auftreten. Es werden irrationale Erinnerungen an weit zurückliegende Zeiten auftreten, die zumeist nichts Drängendes haben, aber den Blick erweitern. Die Kundigen des 21. Jahrhunderts werden sagen, daß alle die irrationalen Erinnerungen in der Tat Erinnerungen an frühere Zeiten, frühere Verkörperungen derer, die sich erinnern, und an frühere Weltperioden sind, und die Erinnernden selbst werden mehr und mehr sich selbst als unzerstörbare Wesen erkennen, deren irdisches und überirdisches Leben in Wahrheit beim Erdbeginn anfängt und sich fortsetzt bis zum Erdenende, durch Tode und Geburten nur gegliedert, wie das Erdenleben durch Einschlafen und Erwachen. In dem Maße, wie den Menschen dieser weite Blick über die eigene kosmische Existenz zuteil wird, fassen sie den Sinn des Ganzen und werden zu Genossen und Mitarbeitern jener «unsichtbaren höheren Wesen, die wir (- nur -) ahnen», und erfüllen den Sinn ihrer selbst, in die weiteren kommenden Jahrhunderte hinüber.

 Die Wahl, die uns noch blieb 

Gibt es Alternativen zu dem skizzierten Gemälde? — In den Einzelheiten gewiß und zahlreich. Jede Einzelheit kann sich auch anders vollziehen, so wie im Wetterablauf bald die Sonne, bald Regen, bald Sturm den Vortritt hat, bald eine andere Reihenfolge sich ergibt. Es macht für das Ganze nichts aus.

Gibt es Alternativen für das Ganze? — Es gibt theoretisch deren eine. Sie bestünde darin, daß es dem despotischen Materialismus gelänge, die Menschheit insgesamt bis zum letzten Individuum hin und jeden bis ins letzte zu verführen, die nicht Verführbaren aber zu töten, so daß ab dem 21. Jahrhundert die Erde nur noch intelligente Tiere trüge, die mit dem Tierdasein sich abgefunden haben, ohne unzufrieden oder unbefriedigt zu sein, lauter wandelnde kybernetische Systeme mit abgetöteter Intelligenz, manipulierte gehorsame Haushunde oder Werkzeuge jener Geister der Finsternis, die sie brauchen und mißbrauchen, um mit ihnen ihren kosmischen Krieg gegen die Natur und das Leben der Erde, den sie längst führen, bis zur Zerstörung des Planeten selbst zu steigern.

Käme es, daß sogar nicht ein einziges Paar sich der pädagogischen und medikamentösen Intelligenz­abtötung beizeiten und mit Erfolg entzog und überlebte, um die geistig bildsame Menschheit durch Sinn für das Lebendige und Kommende und Sinn für Geist fortzupflanzen und neu zu erbauen — käme es zu dieser wüsten Alternative, so wäre der Menschheit Zukunft die Hölle.

Denn, wie bereits früher bemerkt, es sind in Wahrheit nur wenige, die sich mit dem menschenunwürdigen Dasein des «intelligenten Tieres» wirklich abzufinden vermögen. Auch unter denen, die zunächst keine Unzufriedenheit äußern, schwelt das verletzte Ich, das unsterbliche. Diese Schweigenden im Lande sind in Wahrheit die übergroße Mehrheit, letztlich alle.

Dränge die böse Alternative so durch, daß der Sinn für das Lebendige und Kommende nirgends aufleben, in keiner «Kultur des 21. Jahrhunderts» sich eine Freistatt bauen dürfte - dann würden es alle sein, die dafür würden büßen müssen. Denn sie würden von Generation zu Generation und in die künftigen Jahrhunderte hinein sich nur immer friedloser in den Verhältnissen, die die Erde dann bieten würde, befinden, ohne die geringste Aussicht, daß diese Verhältnisse sich je zum Besseren wenden könnten. Das aber würde die Hölle sein.

Entweder der Sinn für das Lebendige und Kommende vermag die Kultur des 21. Jahrhunderts zu erzeugen, oder es kommt die Hölle. Nur diese zwei Alternativen gibt es, keine dritte. Es gibt nur diese Wahl, keine andere. So wählet.

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