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12. Die Ahnungslosigkeit und der Sinn für die Vernunft anderer

 

 

 

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Im 19. Jahrhundert und im Banne der im 20. Jahrhundert weiterrollenden Denkweise des 19. Jahrhunderts zeichnete sich das Verhältnis zur Zukunft durch ungeheure Ahnungslosigkeit aus, die in dem Unbegriff «Fortschritt» den Namen ihres Götzen und in Jules Vernes «Zukunftsromanen» ihre Apokalypse gefunden hatte. Ausdruck des einst fröhlichen Wunder-Glaubens an «die Wissenschaft», der heute zu der zwar fast unwidersprochenen, aber nur noch mürrisch akzeptierten Allgemeinreligionen der «modernen» Zeit geworden ist, in der Art eines übermächtigen, autoritären Kirchenregiments, repräsentiert von der Universität und den Forschungsinstituten der Industrie und geschützt vom «Staat».

Einen fanatischen Propheten fand diese öde Religion einst in Karl Marx und seinem ahnungslosen Optimismus, der darin wurzelte, daß Marx mit einer Art von monotheistischer Sturheit «nur eine» Antriebskraft der Geschichte — also nur ein menschliches Interesse — imaginierte: die Wirtschafts­notwendigkeit. Er verkündete: Da dieses Interesse einst dem Adel, später dem Bürgertum Vorteile brachte, werde es — dies sei logisch — im weiteren «Fortschritt» allen gleiche Vorteile bringen. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieses utopische Denken des Marxismus von den kapitalistisch arbeitenden Optimisten des «Konsumismus» übernommen: Alle sollten beständig viel verdienen, ebensoviel verschwenden, dadurch sich in Illusionen von Überfluß und Reichtum wiegen, sich im Paradies auf Erden wähnen und an ewige Dauer solchen «Glücks» glauben. Zugleich sollten übrigens durch Verschwenden alle reicher werden. Die von diesem Widersinn heraufbeschworene Krisis hat inzwischen begonnen.

Diese Krisis unterscheidet sich zutiefst von allen wirtschaftlichen und politischen Krisen näherer und fernerer Vergangenheit.

Denn die letzteren waren bloße Plagen der damaligen Gegenwart, und jedermann wußte instinktiv, daß die Plage, auch wenn sie lange dauerte, schließlich vorübergehen müsse, um den von der Plage nur überdeckten, unversehrten Grundlagen des Lebens wieder Raum zu geben: «Und neues Leben blühte aus den Ruinen...»

Diese beruhigte Zukunftsgewißheit ist uns heute zerstört. Seither gibt es «Futurologie», und zwar in dreifacher Ausfertigung. Die eine Art ist Fortsetzung des Jules-Verne-Optimismus, man nennt dies in Amerika «science fiction», in anderen Ländern aber nicht selten «Neomarxismus, Maoismus» und dergleichen. Es ist eine Art von Nichtwissenwollen oder Vogelstraußpolitik der Zukunft gegenüber. Man redet sich unbeirrbar ein: Wenn man immer noch und immer wieder den bisherigen «Fortschritts»-Weg weiter­verfolgen werde, so werde dieser trotz all der immer intensiveren Umweltzerstörung und dem immer dichteren Terroristen-Querkrieg am Ende doch nicht beim allgemeinen Ruin, sondern beim technologischen wie sozialen Paradies auf Erden enden.

Die andere Art Futurologie bestimmt sich vom Erlebnis der Zukunftsgefahren, die sowohl durch unverantwortliche Technokratie als auch durch das soziale Experimentieren, zum Beispiel mit den wehrlosen Schulkindern, heraufbeschworen werden. Diese Art Futurologie sieht schwarz, und sie hat damit zweifellos mehr recht als jene blauäugig-optimistische Art, die zur Zeit noch in den Staatsverwaltungen, den politischen Parteien und fast in der gesamten Wissenschaft herrscht. Die pessimistische Art Futurologie dagegen herrscht im Unterbewußtsein aller.

Beiden Arten aber ist gemeinsam, daß sie von der Voraussetzung ausgehen, die zur Zeit gültigen Zeittendenzen seien die einzigen, die es gebe oder geben könne, und beide Zukunftsbilder unterscheiden sich nur dadurch, daß die einen sich einreden, die jetzigen Tendenzen «müßten» ein erfreuliches Schlußergebnis zeitigen, während die anderen denselben Tendenzen den evidenten Katastrophen­ausgang ablesen. 

Neben beiden gibt es noch eine dritte Art von Futurologie, die Umweltschutzkunde (Ökologie). Sie vertritt in mehreren Varianten die Hoffnung, es müsse möglich sein, auf dem Boden der herrschenden materialistischen Weltanschauung dennoch eine Technologie zu entwickeln, welche die Lebensgrundlagen nicht zerstört, und soziale Verhältnisse zu schaffen, welche die Menschen nicht zu entsetztem Widerspruch veranlassen.

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Diese Art Futurologie baut bei diesen Hoffnungen auf die menschliche Vernunft und meint, diese werde vielleicht doch noch Macht gewinnen, um spätestens am Rande des Abgrundes uns doch noch zurückzureißen. Die Aussichten dafür sind leider gering. So große Taten zwar die Vernunft immer wieder in dieser oder jener bedeutenden Persönlichkeit vollbracht hat, so selten sind die Fälle, wo das Völkerleben sich hat von der Vernunft der Völker bestimmen lassen. Aller Vernunft zuwider und ihr trotzend zeigen sich insbesondere jene Kräfte, die sich uns seit bald 200 Jahren als «Fortschritt ins Bessere» repräsentierten, jüngst aber sich als heimtückische Verführung herausgestellt haben, deren «teuflischer Regelkreis» nunmehr die Menschheit und alles Leben, ja den Wohnplaneten selbst zu zerstören droht.

Gegründete Zukunfts­hoffnung gibt es für uns alle in der Tat nur, wenn es außer unserer Vernunft auch andere geschichtliche starke Kräfte gibt, die vernunftsgemäß wirken und der Bedrohung gewachsen, ihr überlegen sind. Gibt es solche Kräfte?

Wir haben in diesen Darstellungen auf sie und insbesondere darauf hinzuweisen versucht, wo und wie sie zu beobachten sind. Sie lassen sich als «der Sinn für das Kommende und Sinn für das Lebende» zusammenfassen, von dem durchwegs die Rede war. Er ist Sinn für die Vernunft oder Unvernunft anderer: Sinn für das Vernunftgemäße; gesunder Menschenverstand.

Es bleibt, auf den historischen Ort oder Moment hinzuweisen, wo dieser «Sinn» zum erstenmal beobachtet und beschrieben worden ist. Es ist zugleich der Moment, als zum ersten Male in diesem Jahrhundert die Gefahren des materialistisch orientierten technokratischen, sozial zerstörerischen «Fortschritts» identifiziert und beschrieben wurden. Der dies als Aufgabe übernahm, ist Rudolf Steiner, und der historische Moment seines Auftretens war das erste Viertel dieses Jahrhunderts.

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  Rudolf Steiner — der Vorverkünder  

Rudolf Steiner hat damals jenen «Sinn für das Lebendige und Kommende» als erster betätigt, eben indem er die Auswirkungen der materialistischen Weltanschauung kommen sah, als noch niemand sonst sie sah, aber auch, indem er die Alternative, die sich erhebt, verkündete. Die Alternative besteht in dem Sinn für das Kommende und Lebendige selbst, dessen erstes Auftreten er als anthropologisches Neuphänomen «für eine kleine Anzahl von Menschen» voraussagte, «die Vorläufer sein werden» (20. Februar 1910) im zweiten Viertel unseres Jahrhunderts — genauer zwischen den Jahren «1930» und «1945-1950». 

Rudolf Steiner beschrieb dieses neuauftretende Phänomen ersichtlich als «Sinn für das Lebende und Kommende», wenn auch mit anderen Worten, die in Vortrags­nachschriften ab Januar 1910 zahlreich nachzulesen sind. Als die wichtigste Wahrnehmung dieses kommenden Sinns nannte Rudolf Steiner die Begegnung mit dem Kommenden, mit dem «Menschensohn in den Wolken» nach dem biblischen Ausdruck. Durch die Verwolkungen aus Irrtumstrieb und Wahrheitsangst hindurch und trotz derselben erfolgt das Aufleuchten eines Bewußtseins dessen, was der Mensch selbst ist, obgleich er sich nicht erschuf. Er nennt sich «ich», aber auch dieses schuf er nicht. Es ist somit das Erstaunliche, daß das, was der Mensch als Mensch ist, jedermanns eigenes Innerstes und als solches zugleich das geheimnisvoll Unbekannteste ist, das jedermann nicht zu nennen weiß, bis es ihm aufgeht.

Rudolf Steiner beschrieb diese Begegnung als Aufgang des Sinnes dafür, was die Stiftung des Christentums welthistorisch in Wahrheit bedeutete, wofür «der Sinn inmitten der Wolken der Unwahrhaftigkeit» erwacht, sobald man sich von ihr befreit. Dann zeigt sich das Wesen des Menschseins im Sinn dafür, daß das Lebendige und Kommende dort ist, wo jeder zu sich «ich» sagt, obwohl wir es ohne diesen Sinn überall, keinesfalls aber gerade dort vermuten.

Die anthropologische Veränderung im Gefüge der Menschennatur, um die es geht, wird, so behauptete Rudolf Steiner, sich in den kommenden «2500 Jahren» zur vollen Kraft und Blüte entwickeln, insofern ihr die Entwicklung gegönnt und nicht gehemmt oder zerstört wird. Auch vor den letzteren Gefahren warnte Rudolf Steiner, besonders eindringlich am 30. Januar 1917, wo er von den «keimenden Kräften der menschlichen Seele» sagt:

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«Diese noch unentwickelten Kräfte der menschlichen Seele, sie tendieren ja darauf hin, daß im Laufe des 20. Jahrhunderts noch bei einer größeren Anzahl von Menschen — das ist oft betont worden — wirklich ein Hineinsehen in die ätherischen Vorgänge stattfindet. Und man kann den Ablauf des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts geradezu als die kritische Zeit bezeichnen, wo eine größere Anzahl von Menschen aufmerksam darauf werden muß, wie im Äther, der ebenso wie die Luft in unserer Umgebung lebt, die Ereignisse geschaut werden müssen.

Wir haben ja insbesondere scharf auf ein Ereignis hingewiesen, das im Äther zu schauen sein muß, wenn die Menschheit nicht in die Dekadenz verfallen will: Wir haben auf das Schauen des ätherischen Christus hingewiesen. Diese Notwendigkeit muß eintreten. Und die Menschheit muß sich darauf vorbereiten, diese Kräfte, die schon keimen, wirklich nicht abdorren zu lassen. Die Kräfte dürfen nicht abdorren. Denn setzen wir einmal den Fall, die Kräfte sollten abdorren, was würde denn dann geschehen? Dann würde in den vierziger, fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts das menschliche Gemüt in weitesten Kreisen ganz absonderliche Formen annehmen. Es würden im Gemüte Begriffe aufsteigen, die wie beklemmend wirken würden. Würde nur der Materialismus sich fortpflanzen, so würden solche Begriffe aufsteigen, die zwar da wären im menschlichen Gemüt, die aber durchaus aus dem Unterbewußtsein heraufsteigen und bei denen man den Grund nicht kennt, warum man sie eigentlich hat. Ein Alpdrücken während des Wachens würde als eine allgemeine neurasthenische Erscheinung bei einer großen Anzahl von Menschen auftreten. Die Menschen würden sich sagen: Ja, da muß ich das denken, aber ich weiß nicht warum; da muß ich jenes denken, ich weiß nicht warum.

Dem kann nur entgegengearbeitet werden dadurch, daß in den menschlichen Gemütern Begriffe eingepflanzt werden, die aus der geistigen Wissenschaft kommen. Sonst werden die Kräfte der Einsicht in die Begriffe, die aufsteigen, in die Ideen, die kommen, erlahmen. Und nicht nur der Christus, sondern auch andere Erscheinungen des ätherischen Geschehens, die der Mensch sehen müßte, werden sich dem Menschen entziehen, werden an ihm vorbeigehen. Er wird aber nicht nur einen Verlust dadurch haben, sondern er wird die Kräfte entwickeln müssen, welche krankhafte Ersatzkräfte für diejenigen sind, die sich als gesunde entwickeln sollten.»

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Die hier beschriebenen Gefahren und Fehlentwicklungen sind in den «vierziger, fünfziger Jahren» pünktlich eingetreten, zum Beispiel in Gestalt des damaligen und seitherigen «epidemischen Irrsinns» (auch dieser Begriff ist eine Warnungsprophetie Rudolf Steiners), der in den vierziger Jahren als blutrünstiger und total sinnloser Massen-Verfolgungswahn gegen riesige Menschen­gruppen, bis hin zum Millionen-Massenmord, auftrat, in den fünfziger Jahren aber als der Beginn der zur Stunde anhaltenden Kampagne zur systematischen Zerstörung der eigenen Lebensgrundlagen, welche die Menschheit offenen Auges sich selbst und ihren Kindern und Kindeskindern seither progressiv antut. «Wir müssen in den Widersinns-Kategorien unbegrenzten materiellen Wachstums denken, wir wissen nicht warum. Es lastet über uns der Fluch eines sinnwidrigen teuflischen Regelkreises.» Derlei — zum Beispiel — ist nun allbekannte, tägliche harte Speise. Rudolf Steiner hat bereits 1917 die Dinge kommen sehen und gewarnt.

Die sämtlichen heutigen Ausweglosigkeiten sind in Wahrheit die Zeugen sowohl des Auftretens der von Rudolf Steiner verkündeten «keimenden Kräfte» als auch des «Abdorrens», das weit und breit diesen Kräften zugefügt worden ist und wird. Die von Rudolf Steiner warnend aufgezeigte Folge ist, daß zugleich «die Menschheit in die Dekadenz verfällt», was wir nunmehr an allen Ecken und Enden zu spüren bekommen.

Wäre dieses evidente und breite Fehlentwicklungsphänomen alles, was die Mitte des Jahrhunderts und die Zeit seither uns bescherte oder bescheren wird, so würde gar kein «21. Jahrhundert» mehr kommen. Dies sieht heute bereits fast der Naivste. Die in den sechziger Jahren aufgehäuften Atomwaffen «genügten bereits, um die gesamte Menschheit siebenmal auszurotten». Heute ist die Masse dieser Waffen noch viel stärker. 

Rudolf Steiner sprach am 1. Oktober 1911 über die kommende, heute so benannte «Atomkraft». Auf eine Frage hin sagte er über diese: Man müsse «wünschen, daß, bevor diese Kraft der Menschheit durch einen Erfinder gegeben wird, die Menschen nichts Unmoralisches mehr an sich haben werden».

Dieser Wunsch Rudolf Steiners ist nicht in Erfüllung gegangen. Die seit den Jahrzehnten von 1930 bis 1950 aufgetretenen «neuen Kräfte» könnten die Kräfte der für die jetzt lebende Menschheit angemessenen Moralität sein, die eben in dem «Sinn für das Lebendige und Kommende» besteht.

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Da sie durch vielfaches «Verdorren» sich aus Segenshoffnungen in einen Fluch, der auf der Zeit liegt, verwandelte, erleidet der gesunde Menschenverstand heute einen enormen Mangel an Moralität. Die Freisetzung der Atomkraft und des kosmischen Zerstörungspotentials, das sie bedeutet, fiel in eine Zeit evidenter und grober «Dekadenz», die sich ungehemmt unmoralisch gebärdet.

Hieraus fließen unausweichliche Konsequenzen. Diese habe ich versucht darzustellen. Eine der wichtigsten derselben ist die Entstehung zweier Menschheiten, aus Reaktion des Selbsterhaltungswillens «des Menschen und der Menschheit».

Dieses Ereignis entspricht der in der Apokalypse des Johannes vorausgesagten «Krisis» oder «Scheidung der Geister» (die in den älteren Übersetzungen unter dem Ausdruck «Jüngstes Gericht» verborgen worden war), deren Aktualisierung im späten 20. Jahrhundert ebenfalls Rudolf Steiner verkündigte.

Leser dieser Darstellungen haben unbeirrbar gefragt, «woher der Verfasser weiß oder wissen will», was er das «über das Schicksal unserer Zivilisation und die kommende Kultur des 21. Jahrhunderts» schreibt, ehe dieses Schicksal sich erfüllt und ehe das Kommende eintritt. Manche fragen «nach den Quellen».

Ich habe indessen diese Frage von vornherein in den Text selbst einbezogen und an zahlreichen Stellen von immer anderen Gesichtspunkten her beantwortet, teils in den eingefügten theoretischen und methodischen Erörterungen, teils in den Darstellungen selbst: Offenbar ist für das Kommende und das Lebendige — das, weil es lebt, in die Zukunft geht — die einzige reale Quelle eben ein Sinn dafür. — Das Buch ist voll von alledem. Kann man es überlesen?

Diesen Sinn hat heutzutage, seit «1930-1950», potentiell jeder Mensch, und jeder, der sich darum bemüht, kann heute diesen Sinn betätigen. Heute noch! Denn die im Ablauf der Darstellung besprochenen Gegen­wirkungen, der unerbittliche Kampf gegen diesen Sinn hat begonnen, ist aber noch nicht durchgedrungen. Die Leser der Zeitschrift «Die Kommenden» haben in jeder Nummer Gelegenheit dazu, den genannten «Sinn» zu betätigen, denn fast alle Beiträge der Mitarbeiter beschäftigen sich mit den Fragen des Kommenden, direkt oder indirekt, und jeder solche Beitrag ist Bestätigung des Sinns für das Kommende und das Lebendige.

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Sinn für das Kommende betätigt sich mit dem Moment, wo der Mensch für das Kommende erwacht, nämlich, wo ihn dieses Phänomen, das Kommende, lebhaft zu interessieren oder zu beunruhigen anfängt: also zum Beispiel, wenn er über das Kommende lesen will und mit Interesse liest. Dieses Interesse samt Beunruhigung ist, wie jeder weiß, heute eine Allgemeinerscheinung, auch wenn man sie zu betäuben versucht. Der genaue historische Zeitpunkt des ersten Aufbrechens dieser Allgemeinerscheinung läßt sich angeben: Es ist der Augenblick, als jene zwei Atombomben auf zwei japanische Großstädte fielen, 1945, um beide in Sekundenschnelle zu zerstören und alles Leben darin auszulöschen. Dieses Ereignis fuhr allen in die Glieder. Alles, was seither geschah, steht im Zeichen der tiefen Beunruhigung, welche die gesamte Menschheit damals überkam.

Blindgeborene, die soeben erfolgreich operiert worden sind, pflegen anfangs das Gesehene nicht zu fassen, sehen auch oft «verkehrt», die Welt scheint ihnen auf den Kopf gestellt. Jede Sinnesbetätigung ist eine Kunst, die erlernt sein will. So auch die des Sinns für das Kommende. Ihn zu haben, bedeutet noch nicht sogleich, ihn richtig oder gültig betätigen zu können. Einzig die Betätigung selbst, in Verbindung mit methodischer Betrachtung derselben nach der Betätigung, ist die Lehrmeisterin, die den Sinn gebrauchen lehrt.

Ob der Sinn gültige Wahrnehmungen vermittelt, hängt davon ab, ob er mit wissenschaftlicher Moralität, das heißt mit unbeirrtem Wahrheitsinteresse und mit teilnehmendem Interesse für das Lebendige und Kommende selbst, oder ohne solches betätigt wird. Ob die Wahrnehmungen richtig und gültig sind, wird einerseits die kommende Zeit erweisen, andererseits aber ergibt sich eine Möglichkeit der vorläufigen Bestätigung oder Nichtbestätigung auch aus den Reaktionen der Mitmenschen, zum Beispiel der Leser, denn diese Reaktionen wirken wie Instrumente, die erklingen oder widerklingen, sobald man sie näher betrachtet.

Weniger dem Inhalt, sehr wohl aber dem Ton und der gesamten Art und Weise dieser Reaktionen ist abzulesen oder anzuhören, inwieweit eine Aussage über Zukünftiges auf Realität auftraf oder ins Leere stieß. — Die reaktive Realität, um die es bei alledem geht, ist der Gedanke, der wirkt, sobald er als solcher, als Gedanke, in die Betrachtung einbezogen wird: Betrachtung dieser Art ist die legitime Übung und Betätigung des Sinns für das Lebendige und Kommende selbst.

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E n d e  

 

 

 

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