Frank Ewald

 Spreu und Weizen

Erzählung

 

2000    349 Seiten

*1963

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detopia: 

Aschebuch  

E.htm

Rezensionen 

Klaus.Möller 

 

Frank Ewald, 1963 in Greifswald geboren, wuchs in der Altmark auf, kam 1982 nach Berlin und studierte Gartenbau an der Humboldt Universität und ist heute Geschäftsführer einer Grundstücksgesellschaft in Prenzlauer Berg 

(d-2009:)  Durch die Gorbatschow-Erwähnung kann man die Dienstzeit des Autors auf nach 1985 datieren. 

Ich danke Frank Ewald für sein freundliches Einverständnis! - Sein Buch gibt uns einen neuen Insider-Einblick und ist wahrlich ein starkes Stück Vergangenheitsbewältigung. 

 


Auszug aus einer frühen Fassung von 1996

 

Und plötzlich geschah doch etwas. Etwas, das einschlug wie ein Unwetter und binnen Minuten meine innere Ruhe mit einem Orkan des Entsetzens davonjagte. Dabei schien alles so friedlich. Es war ein lauer Sommerabend und ich schwamm einige Runden im Swimmingpool. Vater hackte die Rosenbeete und unterbrach alle zwei Minuten seine Arbeit, um die Hacke zu schärfen oder um den Sohn beim Schwimmen im neuen Pool zu bewundern, wer weiß, die Hacke jedenfalls mußte schon scharf wie ein Rasiermesser sein.

Mit einem Mal heulte das Motorengeräusch eines Autos durch die Stille. Immer näher quälte es sich aus der Ferne über den holprigen Gartenweg bis zu uns herüber. Schließlich stoppte das Auto vorm Gartentor. Zwei Herren in Anzügen ließen sich beim Aussteigen behilflich sein. Ein junger Mann in Uniform wirbelte zwischen öffnenden und schließenden Türen hin und her. Vater stellte die Hacke zur Seite, wischte die Hände am Kittel ab und ging zögerlich in Richtung Gartentor. Die feinen Herren jedoch wirkten nicht zögerlich. Sie standen schon mitten im Garten, bevor der Vater bei ihnen ankam. Sie streckten ihm die Hände entgegen und stellten sich mit Genosse, Dienstgrad und Name vor. Mir dröhnte das Wort "Genosse" derartig in die Ohren, daß ich die Dienstgrade und Namen gar nicht mehr verstand. Sofort bekam ich weiche Knie, denn ich wußte, daß dieser Besuch mir galt. Mit einem Satz tauchte ich bis auf den Grund des Pools und hielt dort solange aus, bis die Atemnot mich zurück an die Oberfläche zwang. 

Und tatsächlich. Als ich auftauchte, standen die Herren und Vater schon am Beckenrand. Vaters Blick verriet gespielte Höflichkeit, er wandte sich gerade dem Jungen in Uniform zu und fragte: "Und wer sind sie?" Doch der Soldat kam nicht zu Wort. "Ach - der. Das ist nur unser Fahrer", antwortete einer der Herren. "Und", wollte Vater wissen, "hat er keinen Namen?" "Das spielt hier nun wirklich nicht zur Sache, Herr Doktor. Bitte holen Sie jetzt Ihren Sohn aus dem Wasser!" Vater nickte mir nur kurz zu und ich krabbelte über die Leiter aus dem Becken heraus. "Ach - da ist ja unser junger Genosse", feixte der eine Herr mir entgegen und beide verzogen sogleich ihr Gesicht mit hämischer Freundlichkeit. "Und diese langen Haare, junger Mann", unterbrach er sein Grinsen. "Diesem Alter sind Sie doch längst entwachsen. Oder?" Verunsichert, wie ich mich fühlte, sagte ich nichts dazu und schnappte das Handtuch, das Vater mit entgegenstreckte.

Wir gingen ins Gartenhaus. Nur der Soldat bekam den Befehl, vor dem Häuschen Posten zu beziehen und zu warten. Vater bat uns, am Tisch Platz zu nehmen. Die beiden Männer waren groß und schlank. Irgendwie wirkten sie noch recht jung und sportlich. Die Anzüge ließen sie zudem sehr gepflegt erscheinen. Und dennoch. Etwas paßte nicht ins Bild. Die Gesichter wirkten gestreßt und gefaltet. So, als hätten sie die ganze Nacht durchgemacht. "Ja - Genosse Steinert. Nun wird es ernst für Sie. Daß wir im Auftrag der Armee kommen, werden Sie unschwer bemerkt haben." Und nun kam es doch aus mir heraus, obwohl ich mich eigentlich zusammenreißen wollte. "Ich bin kein Genosse. Sie müssen sich irren, denn ich bin nicht Mitglied der Partei." Aber die beiden nahmen das gelassen. Im Gegenteil. Diesmal war ihr Lachen sogar echt. Der eine kramte Unterlagen aus dem Aktenkoffer und breitete sie auf dem Tisch aus, der andere begann in Ruhe zu erzählen. "Beim Militär sind wir alle Genossen. Egal, ob Partei oder nicht. Aber daran werden sie sich am ehesten gewöhnen, junger Mann. Mit Sicherheit, das können Sie mir glauben." 

Der Mann bat den Vater um einen Aschenbecher und zündete sich eine Zigarette an. "Nun aber zur Sache, Genosse Steinert. Bei der Überprüfung ihrer Musterungsunterlagen sind uns Dinge aufgefallen, die noch einer genauen Klärung bedürfen." Er nahm einen kräftigen Zug von seiner Zigarette, blies den Rauch über den Tisch und schaute mir in die Augen. "Sie wollen drei Jahre zur Armee gehen?" Ich nickte. "Sie wollen in Berlin studieren?" Ich nickte wieder. "Humboldt-Uni?" Wieder mein Nicken. "Bis dahin sollten Sie wenigstens Sprechen gelernt haben, Genosse!" Ich sah erschrocken auf und mußte sofort an die Qualen der Musterung denken. "Ja - natürlich. Bitte entschuldigen Sie!" kam es automatisch, laut und deutlich aus mir heraus. "Sie wollen zu den Panzereinheiten?" "Ja - gerne." "Gerne - Mensch Steinert! Nur Idioten lassen sich gerne in Panzern verfeuern. Das ist Knochenarbeit. Oder sind Sie Tarzan. Haben Sie schon einmal eine Granate angehoben?" "Nein - habe ich nicht." Der Mann grinste. "Na sehen Sie. Dann verzichten Sie lieber drauf. Ein guter Rat meinerseits." 

Sein Grinsen verzog sich in ein spöttisches Lächeln. "Aber das ist auch nicht unser Problem. Das Problem ist, daß es keine Panzer in Berlin gibt, Genosse Steinert. Haben Sie daran wirklich nicht gedacht, oder wollten Sie uns auf die Probe stellen?" Jetzt verging ihm das Spotten und sein Blick wurde seltsam kalt. - "Nein, nein - niemanden wollte ich auf die Probe stellen. Ich habe es einfach nicht bedacht." Sofort wandte der Mann seinen Blick von mir ab und nickte dem anderen Herrn zu, der daraufhin eifrig eine Bemerkung in die Unterlagen kritzelte. "Na gut, Genosse", begann er wieder mit gutmütiger Stimme, "ich will Ihnen glauben, daß Sie hier kein Spiel mit uns spielen." 

"Moment mal", schaltete sich Vater ein, "mein Sohn treibt keine Spiele mit der Armee." - "Aber, aber - Herr Doktor - das will ich damit nicht sagen. Doch wir haben schon viele Dinge erlebt, und deshalb müssen wir auf Nummer sicher gehen, das ist unsere Pflicht. Schließlich sind wir hier im Auftrag des Staates. Und auch ihr Sohn hat jetzt seinen Staatsdienst zu leisten. Bitte vergessen Sie das nicht." Der Mann drückte langsam seine Zigarettenkippe im Aschenbecher aus und wandte sich mir zu. "Also - was ist nun, Genosse? Wollen sie nach Berlin oder zu den Panzern? Beides zusammen geht nicht." - "Natürlich will ich nach Berlin", meinte ich prompt." "Max!" zischte mich Vater von der Seite an. "Stell Dich nicht dumm! Du hast doch gehört, daß das nicht geht." "Nein, nein - Herr Doktor - so dumm ist das gar nicht. Wir unterhalten auch in Berlin eine militärische Einheit. Sicher - laut Berlin-Status darf sie keine direkten militärischen Operationen ausführen, aber wir brauchen sie zur Bewachung von Staatsobjekten. Und wenn ihr Sohn ohnehin in Berlin studiert, wären drei Jahre Berlin-Erfahrung nicht schlecht. Ich meine, wenn er denn wirklich an der Humboldt-Universität studieren sollte. Das soll ja bekanntlich nicht jedem gelingen. Aber im Falle, daß er nun schon in Berlin ist - ich denke - - ja, ich denke, da ließe sich was machen." 

Schlagartig wurde Vater böse und meinte mit verärgertem Ton: "Was soll das alles heißen. Mein Sohn geht zu den Panzereinheiten und anschließend bekommt er einen Platz an der Humboldt-Uni. So wurde es von ihren Kollegen bei der Musterung zugesichert, deshalb hat mein Junge für den dreijährigen Dienst eingewilligt und so wird's auch gemacht. Basta!"

"Das ist vollkommen korrekt, Herr Doktor", verteidigten sich die beiden Männer im Chor. "Aber was unsere Kollegen bei der Musterungsbehörde sagen, hat leider nicht viel mit der Realität zu tun." begann der Redner der zwei in ruhigem Ton. "Und was soll das heißen?" wollte Vater wissen. "Das soll heißen, daß es viel mehr Freiwillige gibt, die drei Jahre Militär aus Karrieregründen dem Grundwehrdienst vorziehen, als daß es zum Beispiel Studienplätze an der Humboldt-Uni Berlin gibt, Herr Doktor. Also sollte der Max ganz genau darüber nachdenken, bevor er eine Entscheidung trifft. Wir lassen ihm zwei Tage Zeit dazu, denn wir müssen erst prüfen, ob wir ihn überhaupt wollen. "Überprüfen", staunte ich laut. "Ja überprüfen, Genosse, schließlich verläuft die Staatsgrenze mitten durch Berlin. Und da können wir nicht jeden gebrauchen." Ich sah verunsichert zum Vater hinüber. "Haben Sie Westverwandte in der Familie?" wollte der Mann wissen. "Nein - nicht das ich wüßte", antwortete Vater. "Naja dann - damit haben Sie die wichtigste Hürde schon genommen, Genosse. Sollte alles andere auch so positiv verlaufen, gehtís bereits in gut einer Woche los." 

"Halt, halt - nicht so schnell", protestierte ich heftig. Die Einberufung ist doch erst im Herbst, Anfang November - oder so." "Ja, das stimmt, junger Mann - trifft aber nur für die DDR zu und nicht für die Hauptstadt Berlin. Da geht es schon zwei Monate eher zur Sache. Und das fanden bisher all unsere Soldaten gut. Denn im November ist es kalt und die Grundausbildung ist hart. Da werden Sie noch einmal dankbar sein, daß Sie zwei Monate früher beginnen durften und wenn alles vorbei ist, werden sie dankbar sein, daß Sie zwei Monate eher zu Hause sind als die anderen Soldaten. Übrigens - wenn Sie schon beim Vergleichen sind, vergessen Sie Ihre Brieftasche nicht. Mit Sicherheit kommt Ihnen dann das Wort "Panzer" nie wieder über die Lippen." Die Herren standen vom Tisch auf und reichten Vater und mir die Hände. Sie gingen durch die Tür zum Soldaten, der auf sie wartete. Der Redner drehte sich noch einmal um und meinte: "Aber, aber - Genosse - eine Woche wird doch wohl reichen, um sich von Mami zu verabschieden. Stellen Sie sich nicht so an und denken Sie an Ihre Haare!" Eilig schritten die Männer dem Gartentor entgegen. Wieder flogen die Autotüren und der Soldat wirbelte dazwischen hin und her. Dann ein kurzes Aufheulen des Motors und der Wagen verschwand.

 

Ich strich mit den Hände über den Kopf und befühlte mein Haar. "Was der bloß immer mit meinen Haaren hatte", meinte ich zum Vater. "Schulterlanges Haar bei Männern ist absolut in. Fast jeder in der Schule trägt es so." Vater sprang mit einem Satz aus dem Sessel hoch und schrie derart heftig auf mich ein, daß ihm die Brille von der Nase rutschte: "Andere Probleme hast Du wohl nicht, Du Traumtänzer?" -- "Ist Dir überhaupt klar, wen Du mir da ins Haus geschleppt hast?" Vater kam auf mich zu, packte meine Schultern und schüttelte wie von Sinnen drauflos. "Hast Du nicht gehört, was ich gefragt habe?" schrie er. Schlagartig wurde ich aus der Verwunderung über mein Haar gerissen und stürzte sogleich in eine neue hinein. "Eh - was soll denn das?" schrie ich zurück und machte mich frei. "Das war die Stasi, Freundchen. -- Mein eigener Sohn holt mir die Stasi ins Haus." Vater begann aufgeregt im Zimmer herumzulaufen. "Blödsinn. Wie kommst Du denn auf die Stasi. Was sollten die ausgerechnet von mir wollen. Keiner von uns hatte je etwas mit denen zu tun. Der Soldat trug eine ganz normale Armeeuniform. Und die Männer sagten selbst, daß sie im Auftrag der Armee kämen." "So, so, - Du Schlaumeier. Du kennst Dich ja in Sachen Stasi auch bestens aus. Wenn ich Dir sage, daß das die Stasi war, dann denke ich mir was dabei. Du hast sie mit Deinem dämlichen Berlin-Tick angelockt. Hast Du das verstanden?" schrie er aus voller Kehle. "Und eines merke Dir gleich! Du wirst ganz einfach zur Armee gehen. Zu den Panzern. Verstanden! Die Berlin-Geschichte wird vergessen -- und jetzt kein Wort mehr darüber!" "Nun beruhige Dich endlich! Wir können doch..." Vater stürmte wütend und mit lautem Türknall aus dem Haus.

Wieder bekam ich ein solch merkwürdiges Gefühl in den Beinen, das mich niederzusetzen zwang. Ich konnte das alles nicht fassen. Die frühe Einberufung und die Stasi und der brüllende Vater. Was sollte das bedeuten. Ich fand auch nicht die Zeit, um in Ruhe darüber nachzudenken. Denn zu allem Übel kam Mutter gerade vom Spätdienst aus der Klinik zurück und nervte mich ununterbrochen damit, was vorgefallen sei und warum die Stimmung im Hause so gereizt war. Und was um Gottes Willen hätte ich ihr sagen können, wußte ich doch selbst nicht, wie mir geschah. Kurzerhand beschloß ich, mich auf die Wiese zum "Großen Moritz" zu verdrücken. Ich stahl Vater zwei Flaschen Bier aus dem Kasten und verschwand, ohne jemandem etwas zu sagen.

Nach dem ersten Bier, begann sich das Durcheinander abzusetzen und ich durchschaute, daß mein Leiden nicht von der Stasi, Berlin oder der Einberufung herkam. Nein. Das war mir im Grunde genommen alles egal. Allein die Tatsache, daß jetzt das zur Wirklichkeit wird, was ich immer nur als bösen Traum verdrängte, nur das brachte mich fast um den Verstand. Ich saß wie gelähmt auf dem "Großen Moritz" und merkte nichts. Keinen Sonnenuntergang, keinen Wind. Nicht das Stechen der Mücken auf der Haut, nicht das Bier auf den Lippen. Einfach nichts.

Die Sonne war bereits untergegangen und Dunkelheit stieg über die Wiesen auf und zog in das Städtchen hinein. Der Wind führte die Kälte der sternklaren Nacht mit sich, die mir überall in den Körper drang und meine Wärme nahm. Ich kauerte mich auf dem "Großen Moritz" zusammen und fröstelte. Doch reichte die gespeicherte Tageshitze des Steines nicht aus, um mich zu wärmen. So mußte ich mich schließlich geschlagen geben und wanderte unserem Stadthaus entgegen.

Auch nachdem Vater und Mutter das neuerrichtete Gartenhäuschen bezugsfertig hatten und somit während des ganzen Sommers auf dem Grundstück wohnten, machte ich mir die Mühe und ging jeden Abend zurück in die Stadtwohnung. Im Gartenhaus nämlich hätte ich mit meinen Eltern den Schlafraum teilen müssen. Und ich empfand es mit meinen nunmehr 18 Jahren unmöglich, mit Vati und Mutti noch in einem Zimmer zu schlafen. Das ging absolut nicht. Ja, wahrscheinlich wäre mir keine Mühe der Welt zu groß gewesen, um dem aus den Weg zu gehen.

Endlich zu Hause angekommen, ging ich sofort ins Bett. Noch immer fühlte ich mich leer und ausgebrannt. Ich starrte die Beethoven-Büste auf meinem Bücherschrank an. Hoch oben stand sie im Raum und schien über alles erhaben. Dabei wirkte Beethovens Blick so seltsam traurig auf mich ein und trotzdem schien es, als könne kein Leid dieser Welt eine solche Größe annehmen, um seinen leidenschaftlichen Willen zu erschüttern. Schlagartig warf ich mich auf die Seite und sah zum Fenster hinaus. Das Licht der Straßenlaterne blinzelte zwischen den Blättern des Lindenbaumes hindurch. Ich konnte die Erhabenheit der Beethoven-Büste nicht mehr ertragen, fühlte mich so schwach und hilflos in diesem Raum, in diesem Bett, auf dieser Welt. Ich spürte eine Ohnmacht auf mich hereinbrechen. Die Ohnmacht des Zwanges, die meinen freien Willen zerbrach und gegen die ich mich nicht wehren konnte. Mein Willen wurde zur Schwäche, weil er nicht mehr mein Willen war und Beethoven stand hoch über den Dingen und kündete von Stärke. Die Lichtstreifen eines vorüberfahrenden Autos zogen die Zimmerdecke entlang und ich dachte plötzlich, ob es einen Sinn hätte, wenn ich mir jetzt ein Bein brechen würde oder irgendwie anders schwer erkrankte. 

Aber im selben Moment erkannte ich, daß es keinen Zweck erfüllen würde, außer vielleicht eine Verzögerung des Ganzen. Wütend wühlte ich mich aus dem Bett, stellte einen Stuhl an den Schrank und nahm die Büste herunter. Ich beschloß sie ins Wohnzimmer zu verbannen und ihr in meinem Zimmer nie wieder Einlaß zu gewähren. Allerdings brachte mir diese Aktion auch keinen Schlaf. Und draußen drängte sich schon ein erstes Aufhellen in die Nacht, als es plötzlich wieder vor mir auftauchte. Ich glaubte schon, es sei mir verlorengegangen, doch schlagartig stand es deutlich vor meinen Augen. Das Bild Hellena's. Es war mir so deutlich, als stünde sie wahrhaftig im Raum. "Da bist du ja endlich", murmelte ich schläfrig vor mich hin. "Immer kommst du, wenn es schon fast zu spät ist." Ich lag wie versteinert auf meinem Bett und merkte, daß ich mich nicht mehr bewegen konnte. Hellena reichte mir ihre Hand. Es fehlten nur einige Zentimeter und sie hätte mich berührt. Ich mußte sofort an die Nacht im Schloß denken, nachdem mich der Gerhard Läster verprügelt hatte. Auch damals stand Hellena mir gegenüber, als ich keinen Schlaf fand, da die Wunden schmerzten und ich nicht wußte, ob alles echt oder nur ein Traum sei. Wie damals - so auch jetzt - ich wollte Hellena meine Hand entgegenstrecken, doch ich konnte mich nicht bewegen. Hellena lächelte. Ich blickte an die Wand und sah das Bett von Hermann Lipp. Plötzlich schien es mir, daß ich in meinem Zimmer auf dem Schloß läge. Ja - bestimmt - alle Dinge hatte ich deutlich vor Augen. Angst durchzuckte meinen Körper. Ich wußte nicht mehr, wo ich bin. Dazu die Bewegungslosigkeit. Grausam. Ich konzentrierte mich wieder auf Hellena und auf ihr Lächeln. Das tat gut. Es wurde mir egal, wo ich war - zu Haus, im Schloß, im Himmel oder sonstwo.

 

* * *

 

Mit der Dämmerung kam die Kühle einher, die uns automatisch zum Weitergang zwang. Allerdings reichte die neu geschöpfte Kraft gerade mal einige hundert Meter. Sogleich war auch wieder der Schweiß zur Stelle und die Marschgeschwindigkeit verringerte sich deutlich. Buhler blieb an der Spitze, so wie es scheinbar sein mußte, doch auch er verfiel mehr und mehr in ein monotones Stapfen. Dieses kraftlose Trotten zog sich aber über eine Ewigkeit hin. Der Wald wurde mehr und mehr mit Dunkelheit geflutet. Mit ihr zog die Stille übers Land. Der Gesang der Vögel verstummte. Das Zirpen der Insekten schlief ein. Die Kühle holte Feuchtigkeit herbei und die Feuchtigkeit verwandelte sich in Kälte. Das Schwitzen unserer Körper legte sich, der Durst jedoch blieb. Was ist grausamer, als halb verdurstet durch feuchte Waldluft zu laufen, wo man das Wasser auf den Lippen förmlich schmeckt, es aber nicht trinken kann. 

Auch in unsere Gruppe zog bereits vor Stunden das Schweigen ein. Die einzigen Geräusche bestanden aus dem monotonen Gestapfe der Stiefel und dem Rasseln des Marschgepäcks. Plötzlich machte Buhler Halt. Wir standen vor einer Weggabelung. Für Karte und Kompaß war es zu dunkel. Taschenlampen hatten wir keine dabei - nur Streichhölzer. Soldat Sinnhaber verfiel in ein Klagelied. Er jammerte, daß wir vor lauter Rennerei die wichtigsten Dinge vergessen hätten. Wie sollte in finsterer Nacht nun ein geeigneter Lagerplatz gefunden werden. Buhler maulte erregt zurück, daß andere auch mitdenken könnten, so daß nicht alle Entscheidungen an ihm kleben bleiben. Aber die Streiterei brachte uns keinen Schritt weiter. Wir schlugen uns im wahrsten Sinne des Wortes in die Büsche am Waldesrand. Leider konnten wir dabei nichts sehen. Im Wald schien es nämlich noch dunkler, als auf dem Weg zu sein. Nachdem wir gegen einige Bäume gerammelt und über eine Vielzahl von Sträuchern gestrauchelt waren, tat sich vor uns ein freies Fleckchen Waldboden auf. Das Gepäck wurde zu einem Kreis zusammengelegt, in dessen Mitte ein Lagerfeuer entstehen sollte. Jedoch gestaltete sich das Sammeln von Holz schwierig. Wir konnten die trockenen Äste und Zweige nur fühlen, statt sie zu sehen. Schließlich blieb die Ausbeute so gering, daß wir uns dazu entschlossen, die wenigen Reiser zu zerbrechen und unter die Zeltbahnen zu legen. Zum Verbrennen waren sie in diesem Moment zu wertvoll. Also spendete jeder aus der Gruppe einen Krümel vom Feueranzünder, der in Größe einer Spielkarte zur Marschverpflegung gehörte und trotz seiner Silberfolienverpackung nach Spiritus roch. Wir legten die Stückchen an der Stelle zu einem Häufchen zusammen, an der das Lagerfeuer brennen sollte. Mit dem ersten Aufflackern der Flammen stand das Ziel fest. 

Es galt, im faden Schein der Funzel sein Nachtlager so zu bauen, daß man darauf schlafen konnte. Ich hatte die Kürze der Zeit voll begriffen, schnallte mit flinken Fingern meine Zeltbahn vom Teil, breitete eine Lage als Unterboden aus, unter die ich soviel Reisig stopfte, wie ich eben finden konnte. Die andere Lage sollte mir als Zudecke dienen, so daß am Ende eine Art von Schlafsack entstehen müßte. Die Kulisse wirkte gespenstisch. Die Soldaten sahen alle gleich aus und waren in den einheitlichen Uniformen von der Dunkelheit des Waldes kaum abzusetzen. Ihre Schatten im Licht der Funzel warfen riesige Ungeheuer zwischen die Kronen der Bäume. Plötzlich fing die Flamme des Feueranzünders zu flackern an. Ein deutliches Zeichen, daß das Licht bald erlöschen würde. Jetzt wirkte der Spuk noch unheimlicher. Ich nahm meinen Stahlhelm vom Kopf, der mir vorhin im Unterholz so manche Schramme am Kopf erspart hatte, zog das Käppi bis über die Ohren und verschwand in meiner Zeltbahn. Die Kalaschnikow legte ich in Griffweite auf den Boden. Sicherheitshalber. Auch wenn nur Platzpatronen im Magazin waren, so blieb sie immerhin eine Waffe und vermittelte ein Gefühl von Sicherheit. Ich lag und blickte in die kleinerwerdende Flamme des Feueranzünders. Alle lagen wir und blickten in die kleinerwerdende Flamme des Feueranzünders. Sie wirkte wie ein Stückchen Heimat, ein Licht der Hoffnung, von dem man wollte, daß es nie erlöschen werde. Und dann kam der Hunger. Mit einem Male hatte ich das Gefühl, mir hinge der Magen in den Kniekehlen und ich müßte verhungern. Kurz bevor das Licht zur Neige ging, sprang Soldat Buhler noch einmal auf und meinte, daß wir alle noch einen Bissen vom Dauerkeks nehmen müßten, da sonst der Magen keine Ruhe fände und uns nicht schlafen ließe. Also krochen wir in Windes Eile aus den Zeltbahnen und fingerten in den Teilen nach den Dauerkeksen. Die waren hart wie Stein und jeder Biß wurde von einem lauten Knacken begleitet, das zwischen den Bäumen verhallte. Ich rollte mich wieder in die Zeltbahn ein und kaute auf dem Bissen herum. Der aber schien im Mund immer mehr zu werden. Damit er das aber konnte, brauchte er Speichel und mein Mund war vollkommen ausgetrocknet. Zudem schmeckte er ekelhaft nach Chemie. 

Ich fauchte wütend in die Runde, daß mich dieses Spiel langsam ankotzt und ich am Morgen als erstes auf Nahrungssuche gehen werde, egal ob die anderen mitkommen oder nicht. Eine Antwort der anderen blieb allerdings aus. Soldat Sinnhaber hatte etwas Knacken gehört, und das könne nur ein Wildschwein sein. Schlagartig herrschte Totenstille im Lager. Dann wieder ein Knacken - ganz deutlich. Nun kam Schauspieler Kindel in sein Element, und wußte von grausigen Geschichten zu berichten, in denen Wildschweine die Lagerstätten des Waldes plünderten und alle Menschen auffraßen. Jetzt hörte ich es plötzlich überall Knacken und hätte mir vor Angst bald in die Hosen gemacht. Soldat Sinnhaber schlug vor, ob es nicht besser wäre, daß Nachtlager auf die Bäume zu verlegen. Dann aber schrie der Buhler laut auf und sprach ein Machtwort. Er opferte freiwillig noch einen Krümel Feueranzünder und steckte ihn in Brand. Soldat Kindel verbot er den Mund, ansonsten bekomme er was auf die Fresse. Soldat Sinnhaber solle gefälligst am Boden liegen bleiben. 

Und wir alle mußten im Schein der Funzel nach unseren Bajonetten suchen, sie aus den Scheiden ziehen und auf die Läufe unserer Waffen pflanzen. Buhler meinte, daß jetzt die Wildschweine nur kommen sollen, wir werden sie einfach aufspießen und damit Nachtruhe. Er beugte sich in die Lagermitte und pustete das Licht aus. Das Knacken in der Ferne blieb jedoch. Es wurde sich darauf geeinigt, daß das der Wind sei und kein anderer und wer das nicht glaubt, mache sich lächerlich wie ein Feigling. Also glaubte auch ich an den Wind und fand sogar, daß es beruhigend wirkte. In meinem Mund schmeckte ich immer noch die Chemie. Und mein Magen meldete immer noch den Hunger. Ich dachte daran, wie schön es wäre, wenn jetzt der Feldwebel hier wäre. Er wirkte in allen Dingen souverän und kannte auch keine Angst. Solange ein Mensch seinen Kopf zum Denken benutzt, solange findet er auf Probleme eine Antwort und die Angst entsteht nur durch das selbstzerstörende Denken, daß man seine Probleme nicht lösen könne. Mit anderen Worten, wer nicht wisse, wohin er soll, nur der hat Angst sich zu verlaufen. Aber was nützten mir in diesem Moment die klugen Sprüche des Feldwebels. Ich hatte trotzdem Angst. Angst vor den blöden Wildschweinen und dem Knacken des Geästs in der Ferne. Und erst die traumhafte Vorstellung, daß die Geräusche sicherlich vom Leutnant und dem Feldwebel selbst stammten, weil sie sich überzeugen wollten, daß wir wohlauf sind, ließ mich wieder zur Ruhe finden. Der Feldwebel war bestimmt in der Nähe. Ganz bestimmt...

Geweckt wurde ich nicht von einem Wildschein, dem Hunger und Durst oder den Sonnenstrahlen. Nein, ich lag noch im Halbschlaf, als immer mehr die Kälte unter meine Zeltbahn kroch. Ich rollte mich zusammen, so fest ich nur konnte, wollte den Schlaf um keinen Preis hergeben. Doch nach einer Weile siegte die Kälte und mein Bibbern vertrieb alle Müdigkeit. Viel Licht drang noch nicht zwischen die Bäume, aber ich erkannte eine glitzernde Reifschicht auf dem schwarzen Metall meiner Maschinenpistole. Plötzlich schien ich hellwach zu sein, denn ich sah im Reif sofort das Wasser. Also schnappte ich nach der Kalaschnikow. Die blieb jedoch fest am Boden kleben, so daß ich sie erst mit einem Ruck losreißen konnte. Zur Belohnung für meine Ungeduld klebte an ihrer Unterseite gleich ein Klumpen von Walderde. Mir schien, als hätte meine Zungenspitze das überreifte Metall noch gar nicht berührt, als schon der nächste Ärger über mich her fiel. Die Zunge klebte fest. Sie klebte ganz fest an diesem ollen Waffenmetall. Ich bekam sie nicht einen Millimeter weiter. Oh - so ein Ärger. 

Ich kochte vor Wut. Was denn nun? Ich hauchte aus vollen Lungen auf das Metall. Wieder und wieder. Irgendwann mußte es sich ja erwärmen und meine Zunge wieder freigeben. Soldat Kindel jedenfalls war von diesem Schauspiel überwältigt und konnte sich kaum halten vor Lachen. Rotrein und Sinnhaber schüttelten nur die Köpfe. Und Mustersoldat Buhler fragte, was der Unsinn soll, schimpfte mich einen Schönwettersoldaten. Als ich schließlich mein Ziel erreicht hatte, glühte meine Zunge vor Taubheit, gleich so, als würde sie gerade mit heißem Kaffee verbrannt. Ich folgerte für die Zukunft, daß die Kalaschnikow wenig Erfrischendes an sich hatte und wohl einzig und allein dem Töten dienlich ist. Die Gruppe jedenfalls war bei guter Laune und gönnte sich ihre Freude über die Zunge eines anderen. Scheinbar fröhlich bei Sinnen sprang Soldat Buhler auf und forderte, daß wir schnell zusammenpacken sollten, um in Bewegung zu kommen. Das sei das beste Mittel gegen die Kälte. Einwände dagegen gab es keine. Und erst als ich meine Zeltbahn zusammenwickelte, konnte ich sehen, was für ein Nachtlager ich mir in der Dunkelheit gebaut hatte. Überall lagen spitze Stöckchen herum, die als "Polster" dienten. Der Waldboden war hartgefroren und überdeckt mit Nadeln und Zapfen der Kiefern. Wenn mir früher so etwas von jemandem gesagt worden wäre, um zu behaupten, daß man darauf schlafen könne, den hätte ich glatt für irre erklärt.

Nachdem wir einige Kilometer weitermarschiert waren, meldeten sich Hunger und Durst. Ich erinnerte Soldat Buhler an meinen nächtlichen Ausruf, daß wir uns als erstes um Nahrung kümmern müssen. Aber Buhler wollte mich wieder mit einem Bissen vom Dauerkeks vertrösten. Und erst als auch Rotrein und Sinnhaber zu maulen anfingen, gab er nach und wir durchstöberten den Wald nach etwas Eßbarem. Nie hätte ich geglaubt, daß ich mich einmal derart um Nahrung kümmern werde. Auch war es mir bislang fremd, wie nervend, ja zermürbend, Hunger und Durst sein können. Aber meine naiven Hoffnungen zerschlugen sich schnell. Demnach gab es im militärischen Sperrgebiet Pilze in Hülle und Fülle. Auch waren sie wunderschön anzusehen, als sie so dastanden, mit einer Reifschicht überzogen, die in den ersten Strahlen der Sonne glitzerte. Aber die Pilze selbst waren zu dieser Jahreszeit allesamt verfault und ungenießbar. Und sollte es an den vereinzelten Sträuchern des Waldes tatsächlich einmal Beeren gegeben haben, so lagen die schon längst in den Bäuchen der Tiere. Also kehrten wir letztlich wieder auf unseren Weg zurück. Dabei war ich nicht der einzige, der seinen Kopf vor arger Enttäuschung hängen ließ und sich nun doch mit einem Bissen vom Dauerkeks begnügen mußte. 

Wieder vergingen die Kilometer. Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel und es dürfte bereits um die Mittagszeit gewesen sein. Niemand sprach mit niemandem. Die Schritte allein polterten ihr Lied in die Luft. Es klang monoton und müde. Rotrein hatte Probleme mit den Füßen. Er hinkte hinter den anderen her und sein Abstand zur Gruppe wurde größer. Und dann ein Wunder. Mitten auf dem Weg befand sich eine Radspur von einem LKW oder Traktor, der dort lang gefahren sein mußte, als der Weg im Matsch lag. In ihr stand Regenwasser. Echtes Wasser. Wir pirschten uns zügig aber vorsichtig an die Pfütze heran, als könnte es passieren, daß sie uns entweicht. Je dichter wir kamen, desto vorsichtiger sollten wir sein, denn Sinnhaber meinte, wir könnten sie aufwühlen und müßten dann den Schlamm mittrinken. Das hört sich leichter an, als es in Wirklichkeit ist, denn ich hätte am liebsten sofort meinen ganzen Kopf in die Pfütze gesteckt. Ich rang noch mit meiner Beherrschung, als Sinnhaber uns aufforderte, die Stahlhelme abzusetzen und die Eingeweide rauszuknöpfen. Wir hielten die blanke Stahlhelmschale in den Händen, mit der wir behutsam die oberste Schicht des Wassers von der Pfütze abschöpften. Jetzt endlich fand die Gier ihre Erlösung. Das war vielleicht ein Gefühl! Ich hätte nie gedacht, daß Pfützenwasser so herrlich schmeckt. Ich konnte gar nicht so schnell schlucken, wie ich es in mich hineinstürzen ließ. Doch schon als die ersten Tropfen am Stahlhelmrand vorbeiliefen und kühlend auf den Hals tropften, schaltete sich die Vernunft wieder ein, da Verschwendung gefährlich sein konnte. Und natürlich blieb das Wasser in der Radspur keinesfalls sauber, nachdem die Helme in ihr rumwühlten. Aber egal. Auch die trübe Schlammbrühe war ein Hochgenuß, von der sich jeder noch ein paar Schluck in die Wasserflasche füllen konnte. Schließlich setzten wir uns zu einem Kreis um die Radspur und bewunderten noch ein Weilchen diese Segnung Gottes, die ein höllisches Knurren und Glucksen in den Bäuchen ausgelöst hatte, daß wir alle freudig bejubelten. 

Nur bei einem schien keine Freude aufkommen zu wollen. Soldat Rotrein. Sein schmerzverzerrtes Gesicht verriet uns, daß ihm seine Füße ernsthaft zu schaffen machten. Sinnhaber schlug deshalb vor, die Stiefel besser auszuziehen und auf Socken weiterzulaufen, solange der Weg einigermaßen fest ist. Doch die Fußsohlen des Rotrein waren schon mit offenen Wasserblasen übersät und man konnte das blanke Fleisch erkennen. Mustersoldat Buhler wollte daraufhin gleich eine rote Leuchtkugel in die Luft schießen, damit uns der Rotrein nicht den Marsch versaut. Aber Rotrein reagierte auf diesen Vorschlag mit einer so jämmerlichen Miene, daß selbst Buhler von dem Vorhaben abließ. Denn der Rotrein wollte auf keinen Fall aufgeben, sein Vater würde ihm das nie verzeihen, wie er uns unter Tränen anvertraute. Also teilten wir sein Marschgepäck auf die Gruppe auf, um ihm das Laufen etwas zu erleichtern. Ich mußte seine Kalaschnikow tragen und fand, daß ich damit noch gut weggekommen sei. Denn das Gewicht einer zweiten Waffe traute ich mir durchaus zu. 

Wieder liefen wir Kilometer um Kilometer. Obwohl die Marschgeschwindigkeit der Gruppe sich mitleidend verlangsamte, wurde der Rückstand des Rotreins immer größer. Und gerade als wir seinetwegen eine Aufholpause einlegten, ereilte uns das zweite Wunder. Wie aus dem Nichts kam der Feldwebel auf uns zustolziert, sichtlich ausgeruht und guter Dinge. Eine Absicht des Rotreins wegen konnte ich aber nicht erkennen. Eigentlich wollte er uns nur darauf hinweisen, daß während der nächsten Kilometer die Offiziere auftauchen werden und einen Gasalarm inszenieren. Und die Geschichte mit unserem Hinkemann bekam er zunächst gar nicht mit. Als er den Rotrein jedoch heranhinken sah, war die Sache gelaufen. Dem Feldwebel die Angst vor dem Vater zu erklären, konnte sich Rotrein sparen, was er sicherlich auch wußte. Wir anderen stellten sein Gepäck auf einen Haufen zusammen und liefen weiter. Es dauerte dann nicht lange, bis ein Militärkrankenwagen an uns vorbeisauste, ohne daß wir eine rote Leuchtkugel gesehen hatten. Aber dafür gab es einen einfachen Grund, denn der Feldwebel besaß ein Funkgerät. Für ein paar Sekunden, in denen ich dem Krankenwagen nachsah, mußte ich noch einmal an Rotrein denken. Doch schon einen Augenblick später verschwand er aus all meinen Sinnen. Es war ein seltsames Gefühl, als mir auffiel, wie sehr ich mich auf mein Weiterkommen konzentrierte. 

Es schien da kaum noch Platz zu sein für die Anteilnahme am Schicksal anderer Menschen. Wir rechneten jede Minute mit dem Aufsteigen der Qualmwolken. Die Aufmerksamkeit in der Gruppe war aufs Äußerte gespannt. Alle Handlungen funktionierten automatisch - ohne Absprache. Die Marschgeschwindigkeit glich eher einem Schleichen, da jeder wußte, wie unangenehm ein zu tiefes Luftholen unter der Gasmaske ist. Außerdem drängten wir uns zu einem Pulk zusammen, blieben auf Tuchfühlung, um eine spätere Orientierung im Qualm abzusichern. Hunger, Müdigkeit und Erschöpfung waren für diese Momente verschwunden. Aber es passierte lange Zeit nichts. Erst als der Weg aus dem Hochwald der Kiefern in eine Schonung mit mannshohen Jungbäumen führte, die uns von beiden Seiten her wie eine Schlucht umgaben, blieben wir plötzlich stehen und sahen uns schweigend an. Wenn Gasalarm - dann hier. Denn nur hier bliebe das Gas in der Luft, ohne sofort vom Wind vertrieben zu werden. Soldat Buhler wollte, daß wir die Masken schon jetzt aufsetzen. Ich aber mahnte, daß die Offiziere keine Spielverderber leiden mögen. Also öffneten wir nur die Tragetaschen der Masken und liefen weiter. Zu meiner Verwunderung war vom Gas weder etwas zu riechen noch zu sehen. Immerhin hatten wir bereits die Hälfte des Weges hinter uns und konnten schon das Ende der Schlucht erkennen. 

Aber dann. Das dumpfe Explodieren der Nebeltöpfe überraschte uns von hinten und überholte die Gruppe im schnellen Lauf, um sich bis zum Ende der Schonung hinzuziehen. So war uns die Flucht zurück abgeschnitten, das Ausweichen in den Dschungel aus Jungbäumen unmöglich und wir standen mitten im Nebel. Doch wieder kam uns das antrainierte Funktionieren zur Hilfe. Die Gruppe ging gemeinsam in die Hocke, die Augen wurden geschlossen, die Stahlhelme knallten vor die Knie auf den Boden, der beißende Gestank des Qualms mußte ertragen werden, bis das Eintauchen in die Gummimaske sicherstellte, daß die Gefahr vorüber war. Also die Stahlhelme wieder auf die Köpfe, Augen auf und wir sahen nur dichten Nebel um uns herum, der einem nicht gestattete, die eigenen Füße zu erkennen. Die Luft unter der Maske wurde beängstigend knapp und forderte ein ruhiges Atmen. Wie von allein befühlten die Hände die Uniformen des Nebenmannes, um sich in dessen Koppel festzukrallen. Dann ging es weiter. Schritt für Schritt. Da, wo der Nebel am hellsten leuchtete, mußte der Ausgang sein. Zu beiden Seiten und am Boden erschien er dunkler. Der Nebel in der Ferne leuchtete heller und heller und noch heller. Die Ungeduld wuchs mit jedem Meter. Nun mußte es doch geschafft sein. 

Und plötzlich das Ende. Schlagartig tauchte vor meinen Bullaugen eine wunderschöne Landschaft auf. Eine Waldlichtung lag mit ihren grünen Wiesen im Schein der Herbstsonne, die am blauen Himmel stand. Wir eilten ungeduldig einige Meter weiter, damit sich der Qualm von den Uniformen löst, bevor wir die Masken absetzen. Ich erkannte, wie Nebelschleier von der Gruppe abrissen und hinter uns zurückblieben. Erst jetzt ließen wir uns auf den Weg fallen. Die Helme und Gasmasken wurden von den Köpfen gezerrt und die frische Waldluft hauchte wieder Leben in unsere Körper. Und trotzdem. Die Uniformen stanken nach Qualm. Mir war kotzübel und ich verhungerte zugleich. Ich sah zurück in die Hölle. Der Nebel hatte sich inzwischen in die Schonung verkrochen und stand in dicken Schwaden vorm Himmelsblau. Nun endlich schien auch Mustersoldat Buhler die Schnauze voll zu haben. Er ordnete Nahrungssuche an - um jeden Preis. Selbst wenn wir die schlechteste Gruppe der Kompanie werden. Hauptsache, wir kriegen etwas in den Bauch und überleben diese Scheiße. Und mir wurde dabei klar, daß die Ausbildung ihren Namen "Überlebenstraining" tatsächlich verdiente und sie keine von den militärtypischen Übertreibungen darstellte. Denn schließlich schaffte sie es, unseren Buhler zu Ausdrücken und Handlungen zu verleiten, die sonst gar nicht seine Art waren.

Leider jedoch blieb das Unterfangen am Nachmittag genauso erfolglos wie am Vormittag. Wieder gedachte ich der Tiere und konnte nachempfinden, wie schwer es ist, im Herbst und Winter Nahrung im Wald zu finden. Erneut begnügten wir uns mit einem Bissen Dauerkeks und krönten ihn mit einem Schlückchen Schlammbrühe aus der Feldflasche. Dabei kam Soldat Sinnhaber auf die zweifelhafte Idee, daß sich jeder einen Strauß Brennessel vom Wegesrand sammeln sollte. Die Brennesseln standen zwar auch nicht mehr im besten Saft, aber sie würden ausreichen, um sich daraus ein gutes Süppchen zu kochen. Zunächst konnte ich mich mit diesem Gedanken nicht anfreunden. Doch je mehr der Tag zur Neige ging, desto sicherer erschien es mir, daß ich bereit gewesen wäre, alles zu essen, was man nur irgendwie in den Bauch hinunterschlingen kann. Zudem uns Sinnhaber versicherte, daß das Brennen der Pflanzenblätter durch Stoffe ausgelöst werde, die beim Kochen absterben. Und während des Sammelns bräuchte man nur darauf zu achten, die Pflanze am Stiel anzufassen, um sich vor Verbrennungen zu schützen. Das zumindest mußte stimmen, denn keiner in der Gruppe hatte einen Grund zur Klage. Ich hingegen blieb bei meiner Vorsicht und wickelte trotz aller Theorie ein Taschentuch um die Hand. Das soll nicht heißen, daß ich Sinnhabers Wissen in Frage stellte. Aber es schien mir keinesfalls sicher, ob es sich um echtes Wissen handelte oder ob es nackte Verzweiflung war, die aus dem leeren Bauch geboren wurde. Im übrigen gab ich Sinnhaber zu bedenken, daß zu seinem Süppchen außer der Brennesseln auch Wasser nötig sei. Die paar Tropfen flüssiger Pfützenschlamm, die wir in unseren Feldflaschen trugen, dürften dafür kaum reichen. Aber er klopfte mir siegessicher auf die Schulter und meinte, daß ich mal gründlich die Landkarte studieren sollte. Bloß - was gab es da zu studieren. Es handelte sich ja gar nicht um eine Landkarte im herkömmlichen Sinne. Es war nur eine Marschskizze, die mit ein paar Handstrichen unseren Weg beschrieb. Hin und wieder fanden sich Zeichen darauf, die den Wald andeuten sollten oder andere, die auf Freiflächen hinwiesen. Abgesehen vom Richtungspfeil, der den Norden auswies, konnte ich auf der Karte nichts Auffälliges finden. 

Soldat Sinnhaber lachte. Er blieb stehen und forderte, daß wir uns in einem Kreis um ihn herum stellen sollten. Sein Augenmerk galt einem Kreis auf der Marschskizze. Mitten in einem Waldstück, das wir durchqueren mußten, war ein runder Flecken eingezeichnet. Ich hielt ihn für eine Freifläche oder Waldlichtung. Sinnhaber versicherte jedoch, daß meine Einschätzung falsch sei. Alle anderen Freiflächen oder Lichtungen auf der Karte waren vieleckig. Nicht eine einzige bildete einen Kreis. Sofort fiel mir ein, daß ich es mit einem künftigen Mathestudenten zu tun hatte. Immerhin stand ich mit der Mathematik seit je her auf Kriegsfuß und hielt Sinnhabers Erklärungen spätestens ab jetzt für völlig absurd. Doch meine Skepsis half nichts. Sinnhaber schaffte es, alle anderen in der Gruppe von seiner Meinung zu überzeugen. Der Kreis mußte ein See sein. Und diese Feststellung löste mit einem Male eine unvorstellbare Euphorie unter den Soldaten aus. Denn ein See bedeutet Wasser. Und Wasser stand für Sattsein und Ausruhen. Keine Macht der Welt hätte jetzt die Gruppe von ihrem Vorhaben abhalten können. Schließlich müßten wir den vermeintlichen See jede Minute erreichen. So jedenfalls wies es die Karte aus. Also wurde losmarschiert - auf Teufel komm raus. Die Mannen konnten plötzlich laufen, als säße ihnen der Teufel wahrhaftig im Nacken. Vorneweg sprintete Buhler, dichtgefolgt vom Sinnhaber, der sich selten so ins militärische Zeug legte, wie in diesen Minuten. Ich bekam Mühe, mich während des Endspurtes auf den Beinen zu halten. 

Meine Füße meldeten sich zu Wort, schrien mich um Pause an. Die Fußsohlen wurden kochendheiß und brannten wie Feuer. Ich fiel binnen kurzer Zeit weit hinter die Gruppe zurück. Zumal es sich keineswegs um Minuten handelte. Die Minuten fädelten sich inzwischen zu einer ganzen Stunde zusammen. Letztlich bestand sogar die Gefahr, den Blickkontakt zu den anderen zu verlieren. Es braute sich ein flaues Gefühl in mir zusammen, daß sich als Angst in meine Beine legte und mich etwas schneller humpeln ließ. Aber es waren nur Momente, dann siegte wieder der Schmerz in den Füßen und ließ mich langsamer werden. Ich wankelte stetig zwischen Hoffnung und Resignation. Dazu kam die Stille. Diese erdrückende Stille, die mich schier wahnsinnig machte. Nicht einmal das Stapfen der Stiefel oder das Klappern der Kalaschnikows konnte ich von der Gruppe hören. Nur ab und zu drang ein Wortfetzen aus der Ferne des Waldes an mein Ohr und erinnerte mich daran, daß ich nicht allein in dieser Einöde war. Minute um Minute faßte ich den erneuten Beschluß, mich einfach auf den Weg zu werfen und aufzugeben. Minute für Minute verwarf ich meinen Beschluß aus Neue. Und irgendwann holte ich den Rückstand auf. Die Gruppe hielt trotz aller Euphorie inne und wartete auf mich. 

All meine Resignation verschwand und ich humpelte artig weiter. Genau wie beim Soldaten Rotrein wurde auch mein Marschgepäck auf die Gruppenmitglieder verteilt. Einen Vorwurf machte mir niemand. Eigentlich sprach überhaupt keiner. Alle Euphorie hatte ihr Ende gefunden. Und da meine Füße noch nicht so blasenüberzogen waren, wie die des Rotrein, half mir die Marscherleichterung deutlich. Ich konnte gut mithalten. Vielleicht lag es auch einfach nur daran, daß die Gruppe wieder zu einem normalen Tempo überging. Soldat Sinnhaber gab sich geschlagen. Mathematik und Militärlogik gingen nicht so zusammen, wie er es sich vorgestellt hatte. Worauf aber niemand in der Gruppe mit Schadenfreude reagierte. Immerhin brachte uns der Irrtum ein Stück des Weges schneller voran, als wenn es ihn nicht gegeben hätte. Und ich war heilfroh, daß ich mein Marschgepäck ein Weilchen nicht selber schleppen mußte. Ganz abgesehen von der Gewißheit, daß mich die anderen nicht im Stich lassen werden, wenn ich keine Kraft mehr haben sollte, um unser Ziel zu erreichen. Es tat mir gut, wieder das Stiefeltrampeln und das Klappern des Gepäcks in den Ohren zu haben. Es wirkte wie ein Hauch von Geborgenheit auf mich. Und schließlich würden wir auch den Rest der Übung bei Dauerkeks und Pfützenschlamm überleben.

Anders als in der ersten Nacht, wollten wir jetzt nicht bis zum Dunkelwerden weitermarschieren. Denn das Prinzip der Vernunft aus Erfahrung wirkt selbst unter diesen extremen Bedingungen. Wenn es dabei nicht sogar am besten funktioniert. Buhler schlug vor, daß wir uns beim Verlassen des Waldes auf der nächsten Lichtung nach einem Nachtlager umsehen sollten. Einwände gab es nicht, und einer guten Marschzeit schienen wir uns alle sicher zu sein. Kaum, daß wir uns darüber einig waren, lichteten sich auch die Kiefern. In der Ferne flackerte der Abendhimmel zwischen ihren Kronen. Jeder wußte, daß das Tagesziel vor uns lag. Schlagartig zog die Müdigkeit in unsere Körper und auf den letzten Metern schien es mir, als würden wir nicht mehr von der Stelle kommen. Doch dann war es da - das Ende. Das Ende des scheinbar unendlichen Weges. Das Ende der scheinbar unendlichen Kiefern. Vor uns lag eine Wiese im Abendrot des Himmels eingetaucht und in ihrer Mitte ein See, kreisrund, voller kristallklarem Wasser. Wir umringten den Sinnhaber wie einen Fußballstar, der ein Tor geschossen hatte, klopften ihm die Schultern und trommelten auf seinem Stahlhelm herum. Sinnhaber standen Tränen in den Augen.

Von da an lief alles leichter, ja zu weilen sogar heiter. Die Sprache erhielt wieder Einzug und formte sich zu Witzen, Ironie und Freundlichkeiten. Es durfte getrunken werden, aus vollen Zügen und soviel man konnte. Auch wenn Sinnhaber anordnete, in jeder Feldflasche eine Desinfektionstablette aufzulösen. Das Wasser schmeckte dadurch etwas chemisch, aber was machte das schon. Nach dem Durstlöschen wurde Holz gesammelt und ein Lagerfeuer entfacht. Wir pellten uns aus den Uniformen und Stiefeln. Die dabei freigesetzten Gerüche schafft wohl niemand in einem Buch festzuhalten, da jeder den Rat des Feldwebels befolgt hatte und die schmutzigsten Socken trug, die er nur finden konnte. So verbreiteten meine Füße zwar einen entsetzlichen Gestank, der sie aber nicht davor bewahren konnte, feuerrot anzulaufen, so als hätte ich rote Strümpfe an. 

Das Ganze wirkte eher lustig und die anderen konnten sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, aber in Wirklichkeit tat es weh. Jetzt folgte das Waschen. Ganz freiwillig und im kalten Wasser eines Waldsees in den letzten Tagen des Oktobers. Das war herrlich aber kurz. Schnell huschten wir zum Lagerfeuer zurück und kauerten uns zum Trocknen dicht aneinander. Die Stiefelsocken zwangen uns noch einmal zum Gang an den Waldrand, wo die Kiefern unschuldig warteten und uns zusahen, als hätten sie mit allem nichts zu tun. An ihren Ästen verbannten wir unsere Socken für die Nacht. Sollten die Kiefern doch zusehen, wie sie mit diesem Gestank fertig werden. Allerdings war das mit dem Verbannen so eine Sache. Denn zum Glück blieb mir ein Funken Respekt vor den Kontrollen unseres Marschgepäckes erhalten und ich hatte nicht sämtliche Wechselwäsche aus meinem Teil I im Lager zurückgelassen. So aber fanden sich noch ein paar frische Socken, die mir die Wahl ersparten, mit meinem eigenen Gestank oder barfüßig zu schlafen.

Nach unserer Rückkehr zum Rastplatz brannte das Lagerfeuer lichterloh. Wir kauerten uns wieder dicht zusammen und tankten die Wärme. Unterdessen verriet uns Sinnhaber sein Rezept für die Brennesselsuppe. Naja - natürlich nur in dem Sinne, daß man es als Rezept bezeichnen wollte. Doch inzwischen wollten es wohl alle. Mir hing der Magen schon in den Füßen, so daß ich mich gar nicht mehr daran erinnern konnte, was Sattsein heißt. Ein Zustand nämlich, in dem man den Hunger glatt vergessen kann. Also machten wir das, was der Sinnhaber uns sagte - gänzlich ohne Fragen. Mit den Bajonetten und viel Vorsicht wurden die Brennesseln kleingeschnitten. An den Schnittstellen quoll der grüne Pflanzensaft hervor und vereinigte sich schließlich mit soviel Sand und Schmutz, daß das Ergebnis etwas unappetitlich wirkte. Zumal uns Sinnhaber inständig bat, den entstandenen Pflanzenbrei nicht im See abzuwaschen, da ansonsten die ohnehin wenigen Nährstoffe verloren gingen. Außerdem werde der schwere Sand beim Kochen nach unten fallen und man brauche die Suppe bloß nicht bis zum bitteren Ende auszulöffeln. Eine Logik, die letztlich jeden von uns überzeugte und den aufkommenden Ekel im Keim erstickte. Eiligst kramten ich das metallene Kochgeschirr aus dem Teil, füllte es mit Seewasser und löste eine Desinfektionstablette darin auf. Rings um das Lagerfeuer gruben wir mit den Bajonetten Löcher in den Sand. Die Plättchen des Feueranzünders wurden zerbrochen und sorgfältig in die einzelnen Löcher gestapelt. Schließlich mußten die Bajonette auch noch als Roste dienen, auf denen unsere Kochgefäße jedoch nur einen wackligen Halt fanden. Eigentlich sollten wir warten, bis das Wasser zu kochen beginnt, um unsere Kunstwerke schließlich mit dem Brennesselpamps zu krönen. 

Doch das war der Geduld nun wirklich zu viel. Ich ließ unter mächtigem Plumpsen und bedrohlichem Wackeln des Kochgeschirrs meinen Brennesselbrei ins Wasser verschwinden, um mit kindlicher Freude festzustellen, daß sich der Topf plötzlich bis an den Rand füllte. Sinnhaber reagierte darauf ziemlich ärgerlich, mußte es aber so hinnehmen, da alle das Gleiche taten. Wenigstens jetzt müsse einige Zeit gewartet werden, damit alles gut durchkochen kann. Ansonsten würden wir uns Schnauzen, Hälse und Mägen an den ollen Brennesseln verbrennen. Diese Drohung des Sinnhaber verfehlte ihre Wirkung jedoch nicht. Eine dumme Sache, das mit den Verbrennungen. Also blieben wir brav vor unserem Kochgeschirr sitzen und starrten mit gierigen Augen auf die Pampe, die von den Flammen des Feueranzünders umgeben, langsam zu brodeln begann. Um dabei nicht völlig die Nerven zu verlieren, empfahl Sinnhaber, daß wir ein paar Bissen vom Dauerkeks nehmen sollten. Und diesmal aber reichlich. Schließlich hatten wir schon über die Hälfte der Übung hinter uns gebracht und die Marschverpflegung schien fast unverbraucht. Ich gönnte mir eine Tafel Vitaminschokolade. Kindel kochte unterdessen in seinem Stahlhelm Wasser, sammelte unsere Päckchen mit Teegranulat ein und braute daraus das Abendgesöff zusammen. Und selbst Soldat Buhler überraschte uns mit einer Geste der Liebenswürdigkeit, wie ich sie nie bei ihm erwartet hätte. Vor einigen Tagen konnte er beim Einsatz im Küchendienst ein Fläschchen Salz verschwinden lassen. Er schleppte es die ganze Marschzeit in seiner Gasmaskentasche mit sich, da er gehört hatte, daß Salz nach übermäßigem Schwitzen sehr wichtig sei. 

So machte das Fläschchen die Runde. Jeder kippte einen Schluck Salz in seinen Suppentopf, und dann noch einen, und noch einen - bis der Inhalt der Flasche brüderlich aufgeteilt war. Die Suppe brodelte inzwischen mehr, als es mir lieb sein konnte, denn die ersten Tropfen des wertvollen Mahls spritzten bereits über den Rand, liefen an der Blechschale hinunter und platschten unter lautem Zischen in die Flamme. Es verbreitete sich ein Geruch von getrocknetem Heu in der Luft, der angenehm schwer und schläfrig machte. Dann endlich gab Soldat Sinnhaber das Kommando. Mit einem Hauch blies ich die Flamme des Feueranzünders aus, schnappte mir den Löffel und legte los. Aber schon der erste Löffel machte mir an Lippen und Zunge unmißverständlich klar, daß ich mich gefälligst noch etwas zu gedulden habe. Also beschränkte sich meine Attacke vorerst aufs Pusten. Die Brühe spiegelte sich im Löffel kräftig grün. Die Brennesselstücke waren schlapprig und schwarz. Alles dampfte höllisch. 

Nach geduldigem Pusten folgte der erste volle Mund seit zwei Tagen. Der Geschmack schien schwer definierbar. Salz war auf jeden Fall dabei. Viel Salz. Das fanden auch alle anderen und Sinnhaber meinte, man solle kräftig Dauerkeks dazu essen. Der bildet die feste Nahrung für den Magen und an Flüssigkeit mangelt es jetzt wohl nicht. Auch konnte ich kein Brennen der Brennessel spüren, da hatte der Sinnhaber recht. Und eigentlich schmeckten die Blätter nach gar nichts. Es kam mir vor, als bestünde ihre ganze Aufgabe nur im Grünfärben der Brühe. Ab und zu knirschte es zwischen den Zähnen, so daß zumindest die Theorie vom schweren Sand nicht völlig aufging. Doch ich beschloß als Gegenmaßnahme, das Kauen einzustellen. Denn wenn ich nicht kaute, konnte auch nichts knirschen und das Kauen schien ohnehin völlig überflüssig zu sein. Letztlich waren ja nur der Dauerkeks und das Salz von Bedeutung. Und von Beidem gab es reichlich. Das Salz überschmeckte selbst die Chemie des Kekses und der Desinfektionstablette. Da aber am Salz bislang noch niemand sterben mußte, beschlossen wir einstimmig, daß die Suppe eine gute ist.

 

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