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Gorki 

 

  Ein Heer von Wanzen  

21-58

Das also ist Gorki, das Gorki der Gefangenen. Uraltes Backsteingebäude das Gefängnis, starke, dicke Mauern, umgeben von hohen alten Bäumen. Ich erinnere mich daran, daß auch Trauerweiden darunter waren, weil ich diese Bäume seit meiner Kindheit sehr liebe. Ich empfand sie so tröstlich. Das dichte Laub des Blattwerkes wehrte jedem Sonnenstrahl den Zugang zu den vergitterten Fenstern, hinter denen wir uns in Gewahrsam befanden. 

Vom Güterbahnhof aus waren wir geordnet in Marsch gesetzt worden. Wie Vieh trieb man uns durch die Stadt. — Die Scham, als Gefangene durch die Öffentlichkeit geführt zu werden, senkte uns die Köpfe. Und doch nahmen wir wahr, daß kein Mensch auf der Straße stehen blieb, um uns anzuschauen. War es ein gewohnter Anblick für die Leute von Gorki, Gefangene in solchen Gruppen zum Gefängnis pilgern zu sehen? Verstohlen streifte uns der Blick mancher Passanten, verstohlen und mitleidig. Wenige spien aus vor uns. Die Breite der Außenmauern des Gefängnisses, in dem unsere Zelle lag, maß ungefähr zwei Meter. Vielleicht war dies früher einmal die Festung des Ortes gewesen?

Wir waren, nachdem wir das Bad, Entlausung etc. hinter uns hatten, zu zwölf Frauen in die Zelle eingeteilt worden, hatten Strohsäcke gefaßt, jede eine rauhe Decke, ein mit Sägespänen gefülltes Kopfpolster, eine Schüssel, einen Becher, einen Löffel, ein Handtuch und ein Stück schäbiger Seife. Inzwischen war es Abend geworden, und es gab Brot und Tee. — Hatten wir die Vorstellung, in einem Hotel zu sein? Wir klopften mit den Fäusten gegen die Tür und verlangten lautstark »richtigen Tee«, dies könne doch nur warmes Wasser sein! Grinsend zog der Posten die Blechkanne (eine ausrangierte fünfundzwanzigliter Milchkanne) mit der Flüssigkeit aus der Zelle. Es tat sich nichts. Als wir nach ungefähr einer halben Stunde erneut klopften und nach Tee riefen, öffnete der Posten die Tür, schob die Kanne mit einem Ruck wieder in die Zelle hinein und klappte unter brüllendem Gelächter die Tür wieder zu.

Wir hatten begriffen. Es gab für uns nur dieses lauwarme, gelbliche Wasser, das sie Tee nannten, oder nichts. Und damit basta!

Nun, wir hatten keine Wahl, also tranken wir diesen Tee. Nach dem kargen Mahl wurde es ruhiger in der Zelle. Endlich löschte man von draußen das Licht bis auf eine einzige Birne, die in der Mitte der Zelle brannte. Ob man wohl des öfteren in diesem uralten Gefängnis solche Unruhe erlebt hatte wie mit uns?

Kaum war das Licht verlöscht, krabbelte es entsetzlich auf uns herum: »Hilfe«, schrie ich, »Hilfe, hier sind Viecher. Was ist das? Sind das Wanzen?« Und nun schrien und riefen wir alle durcheinander: »Hilfe, hier sind Wanzen! Es wimmelt geradezu!« Bei dem spärlichen Licht sahen wir, wie sich über die gekalkten Wände große schwarze Flächen hin und her bewegten, dicht bei dicht, Heerscharen von Wanzen. Die Ströme zogen über uns hinweg. Großangriff der Wanzen auf unser leckeres Blut. Uns packte das Grausen. 

Wir sprangen auf von den Schlafstätten und drängten uns vor der Tür zusammen, hämmerten dagegen und wollten nur eines: weg von den Wanzen. Die Posten öffneten, grinsten über das ganze Gesicht und drängten uns, nachdem sie erfaßt hatten, worüber wir uns erregten, grölend zurück: »Eh, nitschewo!« und verschlossen schnell wieder die schwere Eisentür. Vor Entsetzen konnte keine von uns schlafen in dieser Nacht. Wir versuchten, so viele Wanzen wie möglich zu zerdrücken, aber unser Bemühen war kläglich, erfolglos. Am Morgen, als gegen sechs Uhr das Licht eingeschaltet wurde, begutachteten wir uns gegenseitig. Alle waren übersät von dicken, roten Quaddeln. Jemand gab das Rezept zur Abhilfe bekannt: mit dem eigenen Urin einreiben, das hemmt die Entzündung und nimmt den Juckreiz. 

Am ärgsten hatte es Dita K. erwischt. Sie konnte kaum noch aus den Augen schauen, so verquollen war sie im Gesicht und auch am ganzen Körper. Wir verlangten sofort einen Arzt. Als er endlich kam, ordnete er für alle eine gründliche Entwanzung an. Die Bretter der Pritschen, die Wände, Decken mußten wir mit einer stinkenden dunkelbraunen Flüssigkeit desinfizieren. Dita K. kam in das Gefangenenspital. Für uns andere hieß es: Nitschewo. Dita stieß erst später in Workuta wieder zu unserer Gruppe. — Wir wurden vorübergehend in einer anderen Zelle untergebracht, wurden nochmals in die Banja gesteckt, entwanzt, mußten erneut Decken fassen, Kopfpolster, Handtuch etc. 

Ich erinnere mich aber auch daran, daß wir in Gorki Tränen lachten. Als die Trostlosigkeit überhand nehmen wollte und Feindseligkeit Raum ergriff, beschlossen wir, ein Unterhaltungsprogramm aufzustellen. Mein Auftritt als Affe erntete besonders viel Beifall. Nackt, mit einem alten braunen Fellmantel behängt, den ich mir von einer Russin ausgeliehen hatte, die Fellseite nach außen gekehrt, tanzte ich den eben erfundenen Affentanz, und die Kameradinnen sangen dazu im Chor: Negeraufstand ist in Cuba ... umba umba ata, umba umba ata.

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Brüllend war das Gelächter — und für Stunden hatten wir die Ausweglosigkeit unserer Situation vergessen. Kein Gelächter ist so ehrlich und groß wie das der Schadenfreude und keines so bitter wie das des Galgenhumors. Hier war beides vereint. — Aber es hatte geholfen, die Gemüter wieder zu beruhigen und von der Misere, in der wir uns alle befanden, abzulenken. Und nur das zählte.

 

    Klaudia Obodowas Geschichte  

 

Eines Morgens gab es einen Neuzugang in unserer Zelle. Eine Russin. Man hatte sie ohne weiteren Kommentar zu uns in den Raum geschoben. Sie fügte sich ein, als gäbe es keine Sprachschwierigkeiten. Sie sprach einige Brocken deutsch. Außerdem hatten wir ja Waltraud P. bei uns, die immer dann einsprang, wenn Gesten nicht mehr genügten zur Verständigung. Wir waren nun dreizehn.

Klaudia Petrowna Obodowa — das war der Name der Neuen, konnte aus den Handlinien lesen. Es war für uns eine Abwechslung, und wenn wir auch nicht daran glaubten, es machte Spaß. Und wir waren dankbar für jedes hoffnungsvolle Wort in ihren Prophezeiungen.

Draußen hatte es Wachablösung gegeben. Der Deckel des Guckloches in der Tür wurde von außen beiseite geschoben, und wie so oft — ein Auge starrte uns an. Plötzlich unterbrach vorsichtiges Klopfen unsere leise geführten Gespräche, und jemand rief draußen mit verhaltener Stimme: »Klaudia, eh, Klaudia Obodowa, komm her!«

Alle schauten wir zu ihr hin. Sie war nun seit zwei Tagen in unserer Mitte, und wir wußten eigentlich nichts von ihr. Sie war ein sehr verschlossener Mensch.

Langsam kletterte sie von der Pritsche, ging zur Tür und fragte: »Wer ist da?« Der Posten draußen sagte: »Komm näher. Schau durchs Guckloch, du wirst mich erkennen.«

Klaudia ging näher zur Tür, schaute durch das winzige Guckloch hinaus und schrie leise: »Fedja!« Sie hatte einen alten Schulkameraden erkannt. Lange sprachen sie miteinander in ihrer Landessprache. Klaudia versuchte, mit den Händen die Tränen aufzuhalten, die ihr über die Wangen strömten.

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Sie ging zurück auf ihren Platz an der Wand, den wir ihr eingeräumt hatten. Die Tränen flossen immer gewaltiger, daß es sie schüttelte vor Schluchzen. Sie barg den Kopf auf ihren Knien, die sie fest umschlungen hielt. Allmählich wurde sie ruhiger. Es war wie nach einem Sturm.

Wir alle waren verstummt. — Klaudias Kummer war unser Kummer geworden.

Sie mußte dieses stille Mitleiden gespürt haben, denn sie hob das blasse Gesicht von den Knien auf, schaute uns an und sagte: 

»Ich will euch erzählen, was eben war. Fedja ist aus demselben Ort, aus dem ich stamme. Wir gingen zusammen zur Schule und waren als Kinder Freunde. Um dieser alten Freundschaft willen bat ich Fedja, meinen Eltern zu berichten, daß ich hier bin und was später mit mir geschieht. Das hat er mir versprochen, obgleich er es eigentlich nicht darf. Fedja«, setzte sie leiser hinzu, »wird auch Erkundigungen nach meinem Sohn einziehen und meinen Eltern weitergeben, was er in Erfahrung bringt.« 

Dann brach ein lange zurückgehaltenes Mitteilungsbedürfnis aus ihr heraus, daß wir alle erschüttert schwiegen bei ihrer Erzählung. »Ich war«, begann Klaudia ihre Schilderung, »Schwester beim Russischen Roten Halbmond und arbeitete schon zwei Jahre in Moskau in einem großen Krankenhaus. Wir pflegten nicht nur unsere Verwundeten gesund, sondern wir behandelten und pflegten auch die verletzten Kriegsgefangenen.

Fast jede Schwester hat unter den von ihr zu betreuenden Patienten einen, den sie besonders gern mag. Der von mir Bevorzugte war ein armer deutscher Soldat. Arm deswegen, weil seine Verletzungen schlimm waren. Lange lag Walter H. im Delirium. Immer wieder wechselte ich sorgfältig die kühlenden Umschläge, um das Fieber zu senken, und betete, daß die Operation gelungen sein und er alles überstehen möge. — Er wurde nochmals operiert. Und langsam, ganz langsam wurde aus meinem Lieblingspatienten wieder ein Mensch, ein Mann. Ein gut aussehender, fröhlicher junger Mann. Er konnte schon wieder aufrecht im Bett sitzen und Scherze machen. Scherze, die ich nicht verstand, weil diese Gespräche in deutscher Sprache geführt wurden. Eine Sprache, von der ich durch meine Patienten Inzwischen nur >Bitte< und >Danke< gelernt hatte, jedoch keineswegs mehr verstand. —Aber ich sah ihn lachen und freute mich mit ihm über die fortschreitende Besserung in seinem Befinden und lachte zurück.

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Als es ihm besser ging, wurde er unternehmungslustiger. Er lernte zusammen mit einigen anderen Deutschen einzelne Worte unserer Sprache. Und bald dankte und antwortete Walter H. russisch, wenn ich ihm Medikamente reichte, ihn wusch oder den Verband wechseln mußte. Immer mehr vertiefte sich meine Aufmerksamkeit für ihn. Heimlich brachte ich ihm Obst mit, das ich erstanden, Speck, den ich organisiert hatte, und bereitete für ihn nachts in der Hospitalküche Bratkartoffeln zu und Obstbrei, Kartoffelbrei und anderes mehr. Es war für mich die größte Genugtuung zu sehen, wie er sich erholte.

Dabei hatte ich gar nicht bemerkt, daß aus der Bevorzugung längst ein tieferes Gefühl geworden war und — wie es sich bald zeigte — auf beiden Seiten. Als Walter H. gehen konnte, kam er, gestützt auf eine Krücke, heimlich zu mir in die Ambulanz, wenn ich Nachtdienst hatte. Wir liebten uns. — Kein Krieg, kein Sieg oder Verlust hätte beeinträchtigen können, was da wuchs. Als wiederum eine Liste aufgestellt wurde für den Rücktransport verwundeter deutscher Kriegsgefangener in die Heimat wagte ich es, Walters Namen hinzuzufügen. Niemand wußte, daß ich es eigenmächtig getan hatte. Wir verabredeten, daß ich, sobald der Krieg vorüber war und sich für mich eine Gelegenheit ergeben würde, in seine Heimat kommen sollte. >Und du, Klaudi, wirst dann meinen Namen tragen<, hatte Walter zu mir gesagt, als er sich in der letzten Nacht von mir verabschiedete.« Klaudia wischte sich die still rinnenden Tränen ab. Die Erinnerung an ihre Liebe zu Walter H. hatte ihr herbes Gesicht seltsam verschönt. Es leuchtete von innen heraus. Keine von uns wagte den Redestrom mit einer Frage zu unterbrechen. Wir warteten schweigend.

Sie fuhr fort: »Einige Monate später wußte ich, daß ich schwanger war. Um meinen Eltern die Schande zu ersparen, meldete ich mich zur Front. Als mein Sohn geboren wurde, arbeitete ich bei der russischen Besatzungstruppe in Weimar im Russischen Lazarett.

Es war inzwischen September geworden und der Krieg lag hinter uns. Ich war verzweifelt, daß es noch immer keine postalische Verbindung mit dem Westen Deutschlands gab. Im Laufe der Zeit hatte ich mich mit Deutschen angefreundet, die im Spital arbeiteten. So gut angefreundet, daß ich ihnen gestand, was keiner meiner Landsleute wußte, daß ein Deutscher der Vater meines Sohnes war. Meine Geschichte rührte sie. Und eines Tages machten sie mir den Vorschlag: Fahr doch hin, geh über die Grenze nach Westdeutschland, wir bringen dich.

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Was gab es da für mich noch zu überlegen? Etwas Schmuck und Geld, einige Lebensmittel versteckte ich im Kinderwagen. Walterchen hatte sichtlich Freude an der Spazierfahrt. Die Gefahr an der Grenze belastete nur mich. Die Flucht gelang. Ich jubelte!« 

Bitter wiederholte Klaudia: »Ich jubelte!« Wir saßen stumm und warteten darauf, daß sie fortfuhr mit ihrem Bericht. »Was versprach ich meinem Walterchen nicht alles: seinen Vater, ein schönes Leben, ein Zuhause. Viele nette Menschen halfen uns weiter. Etwas Schmuck tauschte ich ein für Essen und Geld. Immer nahm uns jemand auf und ein Fahrzeug ein Stück Weges mit. Wir kamen unserem ersehnten Ziel jeden Tag ein Stück näher. Endlich hatten wir Westfalen erreicht. Ich brauchte keinen Notizzettel. Immer und immer wieder hatte mir Walter die kleine Stadt geschildert, das Haus, in dem seine Eltern lebten. Immer wieder hatte ich seinen Namen vor mir hergesagt.

Trotz aller Freude war mir beklommen zumute, als ich davorstand und läutete. Eine nette junge Frau öffnete die Tür und fragte mich, was ich wünsche? Als ich ihr sagte, daß ich Herrn Walter H. sprechen wollte, antwortete sie: <Mein Mann kommt erst am Abend vom Dienst heim, kann ich ihm etwas ausrichten?>

Sie bat mich ins Haus, als sie mein Baby bemerkte, oder war es, weil ich auf einmal schwankte? Sie fragte, woher ich komme, wer ich sei? Ich antwortete ihr. Ich dankte ihr für ihre Güte, sie hatte dem Baby Milch gegeben und mir eine Schale Kaffee angeboten. Ich dankte ihr, nahm Walterchen und verabschiedete mich, indem ich ihr Grüße auftrug für ihren Mann. Plötzlich hatte ich keine Zeit mehr zu verlieren, dünkte mich. Ich mußte so schnell wie möglich zurück ins Lazarett, sonst würde auffallen, daß ich nicht da war. Und mir war klar, was das heißen würde. Als ich mich der Grenze nach Ostdeutschland näherte und diese nachts heimlich überschreiten wollte, nahmen mich meine Landsleute, die diese Grenze bewachten, fest.

Man nahm mir Walterchen ab und brachte mich bis zu meiner Verurteilung ins Gefängnis.

Ich werde Walterchen vielleicht nie wiedersehen. Meine Verurteilung lautet: Wegen Landesverrat fünfundzwanzig Jahre Arbeitslager im Norden der UdSSR.«

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Wir saßen stumm und weinten zusammen mit Klaudia. Sie raffte sich dann auf, ruhiger geworden, und tröstete uns: »Es ist wohl mein Schicksal, daß ich immer mit Deutschen zusammenkomme. Und ich bin froh darüber.« Da hockten wir wieder einmal beisammen, mutlose, hoffnungslose Häufchen Elend, Frauen so verschiedener Nationen — und doch im Erleben und Miterleben voller Verständnis füreinander. 

 

Workuta

 

Wann gab es je eine so einsame Stadt

irgendwo in der Welt wie dich?

Wann hat ein Himmel, einsame Stadt,

je die Welt so erhellt

wie dich?

Der doch jeder Prächtigkeit Glanz

fehlt,

die nur die grenzenlose Einsamkeit hat

— diese — und einsame Menschen.

Dein goldener Schimmer, das sind wohl die Tränen —

sie bergen den stärksten Glanz;

orange, rotglühend sind Wünsche

heißester Tanz.

Das zärtliche Gelbgrün und nun schon Türkis,

das sind Hoffnung und Mut

schon für morgen.

Doch drohend darüber das dunkle Blau,

das die Wünsche im Keime erstickt.

Noch über das ganze — Sterne ich schau —

hat Gott uns das Heimweh gestickt.

ähnlich dem unsern, nur dunkler,

smaragd und saphir schimmert die Himmelshülle.

Und Stern auf Stern leuchtet Antwort

auf unser Gebet:

ER schützt dich auch hier.

Er ist bei dir!

Hier bei uns, in der einsamen Stadt.

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Workuta

 

Die Kulturabteilung 

 

Workuta — noch ein unbeschriebenes Blatt für uns im Buch unseres Lebens. Als wir das Lager Periodschachtny erreicht hatten, wies man uns an, uns wieder in Fünferreihen aufzustellen. Die Befehle gingen jedoch unter in den Zurufen, die von diesseits und jenseits des Zaunes erklangen. Hinter dem Zaun drängten sich Frauen am Tor.

»Sind Deutsche dabei? Von wo kommt ihr?« fragte man in deutscher Sprache. O Wunder! Hier gab es Deutsche! »Ja«, sagte ich, weil ich vorn in der ersten Fünferreihe stand, und schaute aufmerksam zu der gut aussehenden Frau hinüber, die sich so vorteilhaft von dem Gesamtbild abhob. Sie trug eine rehbraune, sehr gut sitzende Hose, ein kornblumenblaues Flanellhemd, eine rehbraune Lederweste, und hatte ihre halblangen, silbergrauen Haare mit einem roten Stoffstreifen zusammengebunden.

»Sind Sie Annelise Fleck?«, fragte sie mich, nachdem auch sie mich still gemustert hatte. Ich nickte und fragte, weil ich es zu wissen glaubte: »Und Sie sind Vera B.?«

Wieviel hatte ich doch in den einzelnen Zellen, auf dem ganzen Weg von Potsdam über Brest, Orscha, Gorki, im Durchgangslager von Workuta, immer wieder von dieser Frau gehört, überall. — Die müssen Sie unbedingt kennenlernen, hieß es jeweils, Sie werden sich gut verstehen. Sie haben so viel gemeinsam. Das war sie also, die Modeschöpferin, die in Potsdam so ein großes Geschäft gehabt haben soll. — Sie gefiel mir sofort. »Haben Sie Sachen bei sich, die nicht durch die Kontrolle gehen sollen? Die man Ihnen wegnehmen würde? Sie werden jetzt gründlich durchsucht von der Wachmannschaft des Lagers. Den Mantel ziehen Sie besser aus. Werfen Sie ihn über den Zaun, wenn Sie wollen. Auch Ihre Handtasche. Wir verstecken das inzwischen.«

Es war warm genug, Anfang Juni. Also folgte ich ihrem Rat und warf vertrauensvoll die Sachen zu ihr hinüber. Sie verschwand damit. Es folgte die gleiche Prozedur wie bei jeder Ankunft in einem neuen Lager in Rußland. Registrieren der Personalien, Einweisung in die Baracken, die man Quarantänestation nannte, die dies aber nur dem Namen nach waren.

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Lolla Dobrschanskaja, ehemals Primaballerina des Bolschoi Balletts in Moskau, die ich in dem Durchgangslager von Workuta kennengelernt hatte, hatte mir zum Dank für meine modischen Entwürfe etc. ein Empfehlungsschreiben an die Leiterin der Kulturabteilung mitgegeben. So fragte ich mich nach jener Dame durch, nachdem wir uns etwas von dem »Viehtransport« auf offenem Lastwagen erholt und umgeschaut hatten in dem neuen Lager. Margareta Nobocka war eine Gefangene wie wir. Sie leitete zusammen mit Anneliese Genkina-Eisen die Kulturabteilung. Margareta sei die Gattin des berühmten Moskauer Filmregisseurs Nobocko, erzählte mir Anneliese Genkina-Eisen. Beide waren Jüdinnen und sprachen etwas deutsch. Kein Mithäftling fragte je nach der Ursache der Verhaftung. Es ist dies eines der ungeschriebenen Gefängnisgebote. So fragte man mich ebensowenig, wie ich niemanden fragte.

Für eine Woche arbeitete ich in der Kulturabteilung. Nachdem sich dann ergab, daß immer mehr Deutsche zu mir hereinkamen zum Plaudern, um sich aufzuwärmen, um Kontakt zu finden — Gott weiß, welche Gründe dafür eine Rolle spielten, befand man, das nehme überhand.

 

  Schwerstarbeiter-Brigade 

 

Ich wurde auf Obschi geschickt, das heißt, einer schweren Arbeitsbrigade zugeteilt. Wir hatten Ballast von Eisenbahnplattformen abzuladen. Hier erlebte ich den zweiten Nullpunkt meines Lebens. Zu zweit standen Frauen bei dieser Arbeit auf einer Plattform. Mittels einer großen Schaufel mußte man — die eine rechts, die andere links — den Kies hinunterschieben von der Ladefläche, bis er ordentlich zu beiden Seiten der Gleise lag. Es stellte sich heraus, daß ich eine Niete war. Nicht nur, daß ich eine leere große Schaufel nicht zu handhaben vermochte, daß ich sie nicht einmal ohne Last anzuheben vermochte. Ich brachte sie einfach voll Kies nicht von der Stelle. Es erschöpfte mich derart, daß ich immer wieder erbrechen mußte, wahrscheinlich, weil ich einfach überfordert war. So mußte Jatja, eine junge Litauerin, die mit mir zusammen für jenen Waggon eingeteilt war, die Arbeit allein bewältigen. Die anderen Frauen der Brigade kamen, um ihr zu helfen, nachdem sie das eigene Pensum geschafft hatten. Mich jagte man von der Plattform und stellte mich kalt, nicht ohne mir Dutzende von Flüchen nachzuzischen und mit drohenden Gesten Vergeltung anzudeuten.

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Wie konnte Jatja das nur schaffen? Sie war jung, schlank, blond wie ich, dachte ich. Wieso hat sie die Kraft, eine solche volle Schaufel zu heben und dies noch mit einer Geschwindigkeit, daß ich es nicht fassen konnte. Ich schämte mich und saß heulend auf dem Gleis, an ein Wagenrad gelehnt, ausgeschlossen aus der Gemeinschaft.

So ging es den ganzen Tag hindurch. Zwölf Stunden. Sie ließen mich erst gar nicht auf eine Plattform. Die anderen arbeiteten für mich. Schura, die Brigadiere, griff an meiner Stelle zu. Sie alle konnten schuften und machten mir klar, daß die Lebensmittelzuteilung von der Leistung der 18 Personen abhing, die die Brigade erbrachte. So etwas wie mich brauchte man nicht. Sie hatten genug damit zu tun, die ihnen auferlegte Norm zu schaffen. Ich haßte sie in dem Augenblick alle dafür. — Als wäre schon mal ein Mensch mit einer Schaufel in der Hand geboren worden.

Schura schickte mich am nächsten Tag zur Ärztin. Die kniff in meine Brust, nachdem sie mich aufgefordert hatte, die Kleidung abzulegen, zog die Haut etwas ab und diktierte dann ihrer Assistentin: »Leichte Kraft.« Daraufhin wurde ich einer leichteren Brigade zugeteilt. Diese Brigade kam scheinbar nicht zum Einsatz, denn niemand holte mich oder drängte mich zu einer Arbeit. So konnte ich endlich ein wenig das Lager kennenlernen. Ich ging gern in die Artistenbaracke. Es waren interessante Menschen darunter, zu denen ich mich sehr hingezogen fühlte. 

Da war Lala Majewskaja, keineswegs jung, ich schätzte sie ungefähr auf sechzig Jahre. Sie war einmal ein großer Star des Bolschoi Theaters in Moskau gewesen, erzählten mir die anderen Schauspieler. Und ich habe sie in Workuta in mancher wunderbar gespielten Rolle bewundert. Man nahm ihr die elegante Frau genau so ab, wie den schlurfenden Greis.

Am besten von allen gefiel mir Tatjana Palagina. Sie war von einer strahlenden, stillen Schönheit, so ungefähr Mitte Zwanzig, und hatte am Bolschoi Theater in Moskau die Rolle der naiven Jugendlichen gespielt. Sie erzählte mir, daß ihr Verlöbnis mit einem amerikanischen Botschaftsmitglied in Moskau ihre Karriere abrupt beendet hätte und sie sich eines Tages in Workuta wiederfand, ohne Einspruch erheben zu können, denn alle Urteile ergehen ohne Bekanntgabe an die Öffentlichkeit und ohne daß eine Gefangene die Möglichkeit hat, sich zu verteidigen.

Tanja war der Typ einer Grace Kelly, groß, schlank, elegant und sehr reserviert anderen gegenüber. Ich fühlte mich schon sehr ausgezeichnet, daß auch sie sichtlich gern mit mir zusammen war. 

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Durch sie lernte ich Rima Romanowa kennen. Ein wunderschönes Bündel Temperament, Tochter des ehemaligen russischen Botschafters in London. Sie war stolz, der Familie Romanow anzugehören. Auch für ihre Verhaftung und Verurteilung galten als Grund: Umtriebe mit ausländischen Botschaftsmitgliedern. Walla Ross gehörte dazu, denin russischen Mädchennamen ich nicht weiß, da sie mir als Frau eines amerikanischen Botschaftsangestellten vorgestellt wurde. Er hatte sie in Moskau geheiratet und war in die Vereinigten Staaten zurückgegangen, um Wallas Übersiedlung möglich zu machen. Für Walla war es zu spät. Man legte ihr Landesverrat zur Last. So einfach war das. Liebe? — Nur unter Russen, bitte sehr! Vielleicht gehörte zu dieser Gruppe, die alle einander recht nahestanden, auch Anneliese Genkina-Eisen, denn sie war in der gleichen Baracke und hockte, so oft es ging, mit ihnen beisammen.

Viele von den Artisten — Künstler der Bühne nennt man in Rußland insgesamt Artisten — kannte ich natürlich mit der Zeit, wenn auch manche nur dem Namen nach. Man grüßte sich. Auch hier hatte ich einigen Modelle für ihre Stoffe — Kleider, Blusen, Röcke, Kalate etc. entworfen. Ich fühlte mich fast zu ihnen gehörig.

Von Tanja bekam ich hin und wieder eine Schüssel Kascha geschenkt. Sie arbeitete tagsüber in der Buchhaltung des Lagers und hatte — wie jede Bevorzugte — ihre Verbindungen.

Ich erzählte den Künstlerinnen dafür von Berlin. Von unseren Theatern und von unseren Künstlern. Wir sangen uns Lieder vor, wir sangen miteinander. Es war eine kurze, schöne Zeit. — Oft, wenn ich in meine Baracke zurückkehrte zu den anderen Deutschen, fühlte ich mich fremder als unter jenen russischen Künstlerinnen, um so mehr, als auch der Kontakt zu Vera B. nicht enger war, denn auch sie wohnte in einer anderen Baracke und war in einer anderen Brigade. Trotzdem fanden auch wir sehr viel gemeinsamen Gesprächsstoff.

Vera machte mich auch auf eine Kameradin aufmerksam, die zwar ein bisserl komisch wäre, die mir aber wahrscheinlich sehr zusagen würde. So machte mich Vera eines Tages mit Hildegard M. bekannt, als sie mit ihrer Brigade vom Außendienst heimkehrten ins Lager. Ich begrüßte sie und fragte erfreut: »Sie kennen Rilke?«

Verblüfft genug hat sie geschaut. Vielleicht fragt man derartiges nicht in solcher Situation. — Aber mein Literaturhunger war unwahrscheinlich. Und Wunder über Wunder: Hildegard M. kannte wirklich Rilke und andere Literaten und erinnerte sich auch einiger wunderschöner Gedichte.

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Dazu kam Reni D., die sofort die Situation erfaßte und Rilke rezitierte:

»Mir fällt ein junger Ritter ein, / fast wie ein alter Spruch. / Der kam, so kommt manchmal im Hain / der große Sturm und hüllt dich ein. / Der ging. So läßt das Benedein / der großen Glocken dich allein / oft mitten im Gebet... / Dann willst du in die Stille schrein / und weinst doch nur ganz leis hinein / tief in dein kühles Tuch.

Mir fällt ein junger Ritter ein, / der weit in Waffen geht. / Sein Lächeln war so weich, so fein: / wie Glanz auf altem Elfenbein, / wie Heimweh, wie ein Weihnachtsschnein / im dunkeln Dorf, / wie Türkisstein / um den sich lauter Perlen reihn, / wie Mondenschein / auf einem lieben Buch«.

Es rührt mich heute genauso an wie damals, als ich es zum ersten Mal hörte. Diese wundervolle Schilderung Rilkes erhob uns aus dem Dreck. Verzauberte. Das Leben, die Freiheit ist nicht der Augenblick. Es ist immer unser Geist und unser Gemüt, die uns die Dinge erfassen und erleben, empfinden lassen. Das allein zählt. Das ist letztendlich die Freiheit.

Was ist tröstlicher als Mondenschein auf einem lieben Buch? Tröstlicher als Weihnachtsschnein? Und einsamer als die Einsamkeit unter vielen? Unter dem Getöse großer Kirchenglocken, die so viele zum Gottesdienst rufen, die dich dennoch allein lassen? —

Rilke war und ist bis heute für mich der Ausdruck alles tiefen seelischen Erlebens. Es macht nichts, daß immer wieder Menschen lachend auf mich zeigten, weil ihnen Rilkes Dichtung fremd blieb oder unbekannt ist. Er bleibt der Grund für mich, der Lyrik immer zutiefst verbunden zu sein, tiefer als jeder anderen Sparte der Literatur.

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  Zweiter Kirpitschni  

 

Man hatte uns zur Verlegung aufgerufen. Die Namen wurden bekanntgegeben, und es hieß: Halt' dich mit deinem Bündel bereit. Also suchten wir unsere Schätze zusammen, machten ein Bündel daraus, indem wir die kleineren Stücke in den größten Gegenstand einwickelten. Dann fanden wir uns am Lagertor ein.

Tatjana Palagina war zum Tor gekommen und hatte mir ein Packerl grusinischen Tee erster Sorte und ein Stückerl Seife gebracht als Abschiedsgeschenk. — Es waren unvorstellbare Schätze, und die Rührung würgte mir die Kehle zu. Meinen Dank schob sie weg und sagte: »Ihr kommt in die zweite Ziegelei.« Es klang, als sagte sie, ihr Armen, ihr kommt in die Hölle. Ich verlor damals eine Freundin, die ich gern heute in Wien hätte, um all die wunderschönen Gedanken noch einmal zu denken und auszutauschen. Schicksal!

Der Treck der gefangenen Frauen dehnte sich. Wenn man sich umschaute, sah man eine endlose, dunkelgraue Schlange, die sich träge durch die Tundra wand. Die Sonne schien heiß. Wir wußten nicht, in welche Richtung wir geführt wurden, auch nicht, wie lange wir so würden dahinschleichen müssen, bis wir unser Ziel erreicht hätten. Die Bewachungsmannschaft trieb uns voran wie eine Herde von Schafen: Vorwärts! Vorwärts! 

All meine Habe trug ich in einem zum Bündel geknüpften Taschentuch in der Hand, streifte damit hin und wieder dürres Heidekraut. Von Zeit zu Zeit leuchtete der Farbtupfer einer Blüte auf. Es gab Enzian, rote Moosbeeren im dichten Gestrüpp, krüppeliges Weidengesträuch — und den fernen, weiten Horizont. Doch von all dem nahmen wir kaum Notiz. Auch die trotz der wiederholten Verbote leise geführten Gespräche waren inzwischen verstummt. Die Hitze dörrte uns die Kehle aus.

Später erst wußte ich — daß in den zwei Sommermonaten Juli und August dort im Vorderen Polarkreis Temperaturen bis zu 35° Celsius gemessen werden.

Nun, zu diesem Zeitpunkt war das Gerücht über unser Ziel schon zu uns gedrungen. Tanja hatte recht gehabt: Zweiter Kirpitschni, das hieß: Zweite Ziegelei.

Der Boden der Tundra schwankte unter jedem Schritt. Morastartiges Brackwasser stand in winzigen Mulden in dem ganzen Gelände, und Moschkis, die kleinsten und teuflischsten Fliegen, die ich je sah, tanzten um uns herum, stachen und bissen boshaft mal hier, mal dort, hielten sich hartnäckig in unserer Nähe und führten wahre Freudentänze auf. Immer wieder unterbrach eine schwarze Pyramide den eintönigen Blick in die Weite. Kohlenbergwerke, mutmaßten wir richtig. Es war ein eigenartiges Bild.

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Dankbar gedachte ich der Freunde im Durchgangslager, die dafür gesorgt hatten, daß ich passende Batinki bekam, Schnürschuhe, wie Männer sie bei der Arbeit tragen und wie man sie hier brauchte. In Gedanken lächelte ich. Als Lolla Dobrschanskaja meinen Lippenstift haben wollte und mir dafür Zucker und Butter bot, glaubte ich, das Angebot nicht akzeptieren zu können. — Eine Frau ohne Lippenstift ist doch nur halb angezogen, dachte ich damals entsetzt. — Als wir uns dann verabschieden mußten, hatte ich ihr den Lippenstift geschenkt, weil sie mir so viel Freundlichkeit erwiesen hatte. Was ist dagegen schon ein Lippenstift. — Zwischen diesen beiden Ansichten lagen nicht mehr als vier Wochen.

O Gott. Durst, Hunger, Hitze. Weiter schleppten wir uns, den Sandstaub auf den Lippen.

Endlich. Die Kolonne stoppte. Wir hatten das neue Lager erreicht. Die Tore waren weit geöffnet. Wieder formiert zu fünft in je vier Gliedern passierten wir das Tor und wurden dabei gezählt. Der Begleitposten übergab die Papiere. Wir mußten unsere Personalien ansagen. Nach den endlosen Formalitäten kamen wir in eine Quarantänebaracke.

Nein, nicht. Hier war niemand. Wir sind die ersten hier! Also keine Quarantäne! Schaut doch mal, da steht ein Schild auf dem Pfahl, ein Wegweiser? — Nein, ich werd' verrückt. Da steht: Pinkeln verboten! Hier müssen Deutsche sein. Gewesen sein? — Hier waren Deutsche, deutsche Männer, Kriegsgefangene. Das müßt ihr gesehen haben. Schaut euch die Baracken an. Alle riefen durcheinander. Die Müdigkeit war verflogen. Wir liefen in die einzelnen Baracken, um sie uns anzuschauen — und niemand hinderte uns daran.

Die schönste Baracke erwählten wir uns zum Wohnsitz. Der Eingang führte in einen kleinen Vorraum, der als Windfang gedacht war.

 

Die Wände aber — wir waren überwältigt von der künstlerischen Schönheit — die Wände schmückten fast lebensgroße Malereien. Da gab es Elefanten, Giraffen in afrikanischer Landschaft. Ein traumhaft schönes Wandgemälde grüßte uns, an dem wir uns nicht satt sehen konnten.

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Die schönen Glastüren, die rechts und links zu den Schlafstätten führten, zeigten in Glas gebeizte zarte Blumenmotive. Und in der Mitte der Räume standen, wie wir es noch in keiner Baracke Rußlands gesehen hatten, komfortable, edel geschnitzte hölzerne Stühle und Lehnsessel um die Tische herum gruppiert.

Überwältigend schön, diese kultivierte Umgebung in aller Primitivität. — Natürlich wollte jeder am liebsten in dieser Baracke bleiben, weil sie die schönste war.

Ach, es dauerte nicht lange mit der Schönheit. Frauen sind scheinbar eine besondere Sorte Menschen, wenn sie in Rudeln leben müssen, glaube ich mitunter.

Die ausgestochenen Sod-Platten grünen Rasens, den wir säuberlich um die Baracke gelegt vorfanden, waren bald vertrocknet, verdorrt. Die Schilder mit den lustig eingebrannten Aufschriften »Pinkeln verboten« etc. wurden verheizt. Und Wind und Wetter, Kälte, Regen und Schnee ließen die Frauen die nächste Ecke nahe der Baracke aufsuchen, um dort ihre Notdurft zu verrichten. Der Weg bis zum Klosett war zu weit, man war zu müde nach der Arbeit, zu wenig bekleidet, was immer es für Gründe gab, die man als Entschuldigung vor sich und anderen anführte. — Nur erwischen lassen durfte man sich nicht. Das Glas der Türen war bald zerbrochen, die Wandmalereien wurden grau und unansehnlich.

Wir waren in die Kleiderkammer geführt worden, um pro Person zwei schwarze baumwollene Kleider, zwei Achselhemden aus grobem Nessel, zwei Unterhosen aus Trikot (gelb, rot, grün, orange, lila oder blau), zwei Paar schwarze Makostrümpfe, ein Paar Batinki, eine Wattesteppjacke, eine Matratze, ein Kopfpolster, eine graue Decke, zwei Handtücher, eine Schüssel und einen Löffel in Empfang zu nehmen. Damit waren wir für das Jahr ausgerüstet.

Wie wir später merkten, wurden die Sachen jährlich geputzt und gegen saubere Kleider etc. ausgewechselt.

Wer Glück hatte, erwischte eine mit Hobelspänen gefüllte Matratze. Die anderen mußten sich in der Tischlerei um Späne anstellen, um sich die Matratze selber zu füllen.

In der Tischlerei arbeiteten russische Männer, Gefangene. Sie erzählten uns, daß vor uns deutsche Männer in dem Lager gewesen seien, die man jetzt in den sechsten Schacht abtransportiert hatte bis auf die Invaliden. Die seien noch oben auf Besimenka verblieben.

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Kinder, es sind hier noch deutsche Männer in der Nähe!

Mit dieser tröstlichen, jedoch unbegründeten Hoffnung, sie jemals zu sehen, legten wir uns endlich ermüdet nieder nach diesem langen Fußmarsch. Die eine auf eine gefüllte Matratze, die andere legte sich auf den Mantel oder die übrige Kleidung, wie es sich halt ergab.

Die hungrigen Mägen hatten wir in der Kantine mit Sauerkrautsuppe, Kascha und Brot gefüllt.

Es kehrte Ruhe ein in den Baracken. Und die Nacht wehrte dem einen und schenkte dem anderen Schlaf und Träume.

 

    Artisten schuften halb soviel   

 

Kurz nach unserer Ankunft in der Zweiten Ziegelei wurde unter anderen auch eine Artistenbrigade zusammengestellt. Tamara Galetzkaja, eine rassige Tatarin, Berufstänzerin, wurde zur Brigadiere bestellt. Sie suchte sich die Mitglieder der Artistenbrigade aus.

Tamara war mit uns aus Periodschachtny gekommen und kannte mich aus der kurzen Zeit, da ich dort Kontakt zu Tatjana Palagina und anderen Künstlerinnen hatte.

Zu dieser Artisten-Brigade gehörten Berufsschauspielerinnen, Berufstänzerinnen genauso wie talentierte Laien.

Im allgemeinen kann man von den Russinnen sagen: es geniert sich niemand von ihnen, in der Öffentlichkeit, also vor Publikum, vor Fremden, aufzutreten, zu singen und zu tanzen, zu deklamieren. Jene — zum Teil sogar unaufrichtige — Scham, wie wir sie zur Schau tragen, kennen sie nicht. Niemand ziert sich. Sagt jemand: sing uns was, tanz uns was, so tut es halt derjenige, und er oder sie tut es zumeist ohnedies gern.

Wir waren also ein bunt zusammengewürfeltes Völkchen. Ich war darunter die einzige Deutsche.

Die Aufgaben, die wir neben der Bühnenarbeit, den Proben, Aufführungen etc. zu verrichten hatten, waren leicht. Dazu gehörte das Schneeschaufeln bei den Geleisen, die um das Lager herumführten. Im Lager hatten wir die Hauptwege frei zu halten von Schnee. Einige von den Artisten waren in die Küche zum Kochen für die Lagergemeinschaft abgestellt. Und so gab es viele Arbeiten, die zu schwer für Invaliden und somit für die Artisten geeignet waren.

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Nebenher studierten die Schauspielerinnen ihre Rollen für ein neues Stück ein, das sie aufzuführen gedachten. Natürlich geschah dies immer mit dem Einverständnis der Lagerleitung.

Volkstänze, Ballett, Vorträge, Soli, Chor, Schauspiele, alles das, was für das nächste Konzert anfiel, wurde einstudiert, geprobt. Man traf sich in jeder freien Minute hinter und auf der Bühne, um zu üben. Meine Aufgabe war die Erstellung der Kulissen, das Bühnenbild, das Bemalen der Wände, Seitenkulissen etc., das Anfertigen von Kostümen, Ballettschuhen und sonstigen Utensilien.

Eines unserer ersten Konzerte unter der Leitung von Tamara Galetzkaja war »Der Doppelgänger« von Jack London: »Dwoinik«.

 

Zu dieser Zeit arbeiteten wir draußen, außerhalb des Lagers. Wir wurden aus dem rückwärtigen Tor des Lagers zur Bäckerei geführt, die das Lager und auch die freie Bevölkerung mit Brot versorgte.

Zur freien Bevölkerung zählten alle jene Menschen, die sich freiwillig nach Workuta zum Einsatz gemeldet hatten — zumeist jüngere Russinnen und Russen — die nach dem Studium schnell Geld verdienen wollten; denn es gab das doppelte Gehalt für jene, die sich freiwillig für fünf oder zehn Jahre in den Norden der UdSSR zum Dienst meldeten. Dazu gehörten aber auch die Djesjatniki, die nach Beendigung ihrer Strafzeit dort blieben, »in Freiheit« und als Vorarbeiter, Beobachter, eingesetzt waren, ebenso die aus dem Donezbecken ausgesiedelten Menschen — und last not least — Soldaten, die in großer Anzahl hier in Workuta ihren Dienst verrichteten, übrigens auch weibliche Soldaten, wenn auch die Männer in der Überzahl waren; außerdem (meistens strafversetzte) Offiziere, die sich vielleicht in den von Rußland okkupierten Gebieten zu wohl gefühlt hatten, nicht mehr ganz linientreu waren oder was sonst immer der Grund gewesen sein mochte, sie hierher zu verbannen. Es war also auch außerhalb des Zaunes eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft.

Unser Auftrag lautete: Baumstämme zersägen, Holz hacken für die Bäckerei. Dies waren, zum Beispiel, leichtere Arbeiten, wie sie von Artisten verrichtet wurden!

Innerlich erschrocken stand ich vor dem ersten Baum meines Lebens, dem ich mit einer Säge zu Leibe rücken sollte.

Galina, eine hübsche Ukrainerin von ungefähr vierzig Jahren, deren ursprünglicher Beruf der einer Opernsängerin in Kiew war — sie hatte eine schöne Alt-

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stimme und es war ein Vergnügen, sie singen zu hören — hatte eine passende Säge ausgewählt und hielt mir das andere Ende der Säge mit dem Griff hin: »Dawei, Annelisotschka, was mi drugoi storno!«

Ich nahm mutig und kräftig den Griff, bereit, mein Bestes zu geben, stellte mich vis-a-vis von Gala auf, zwischen uns den Baumstamm, der von den anderen Stämmen gehalten wurde, und zog und schob — und zog und schob, daß mir schon bald der Schweiß in Strömen herunterlief. Nach zehn Minuten war ich so erschöpft, daß ich verschnaufen mußte. Aber auch Galina war fertig. Nur anders, als ich annahm. Sie protestierte einfach dagegen, mit mir weiter arbeiten zu müssen. Ihre Handgelenke seien schon auf das dreifache angeschwollen (ha ha, und meine?). Sie sagte zu mir: »Setz dich auf die Stämme da und warte!« Das war's.

Sina Drbeschewskaja nahm meine Stelle ein, nickte mir zu und sagte: »Du kucken, wie man macht sägen.«

Tränenblind saß ich beschämt in der windstillen Ecke, meiner schmerzenden Gelenke nicht achtend. — Sie schimpften nicht mit mir. Aber sie hatten auch nicht den Wunsch, mit mir zusammenzuarbeiten.

Wieder einmal hatte ich versagt. Verdammt noch mal. Ich wollte doch mit ihnen arbeiten. Angestrengt hatte ich mich bis zum geht-nicht-mehr. Meine Handgelenke wurden genauso zusehends dicker wie Galas. Warum wollte sie nicht?

Ich stapelte schweigend die zersägten Stücke, aber selbst das will gelernt sein. Die meterlangen Stammtorsos zum Zaun schleppen, rollen, kanten, hochwuchten und dafür sorgen, daß die Stapelwand nicht wieder zerfiel, wenn man sie einmal errichtet hatte.

Als dann von der Bäckerei frisches, wunderbar duftendes Weißbrot als Extra-Belohnung verteilt wurde und man auch mir davon gab, als hätte ich meinen normalen Anteil an der Arbeit geleistet, heulte ich schon wieder los, einfach darum, weil sie gut zu mir waren, obgleich sie keinen Grund dazu hatten, heute.

Sina hockte sich in dieser Pause zu mir. Und während wir das lockere, einmalig gute Brot verzehrten, erzählte sie mir — wahrscheinlich um mich von meinem Kummer abzulenken — von ihrem Leben. Ich würgte schluchzend an meinem Brot, doch dann interessierte mich, was sie erzählte. Wie lange es gebraucht hatte, bis sie so wurde, wie sie jetzt war. —

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Ihr Vater war abgeholt und hingerichtet worden von der Tscheka. Warum? — Die Familie hatte man von Kiew nach Omsk in Sibirien ausgesiedelt. Eine notdürftige Unterkunft hatte man ihnen als Lebensraum zugewiesen. Die Mutter kränkelte seither und war zu schwach, um die Kinderschar zu versorgen. Sina, mit acht Jahren das älteste von fünf Kindern, übernahm es, sich um das Ergehen der Familie zu kümmern. Sie stahl, wo sich die Gelegenheit dazu ergab und was immer man stehlen konnte.

Trotz, Hunger und Elend waren ihr Lehrmeister. Ihre Fertigkeit im Stehlen hatte sie bald so gut entwickelt, daß man sie, gerade eben zehnjährig, in die Jugendbande der Diebe von Omsk als Mitglied aufnahm. Sina wurde bald die Braut des Anführers. Sie arbeitete mit Hirn, und das prädestinierte sie geradezu, in die Führungsspitze der Diebe aufzurücken. Von Stund an war das Leben für Sina und ihre Familie leichter zu ertragen. Sie hielten alle zusammen wie Pech und Schwefel. Inzwischen war sie fünfzehn geworden. Leider hatte man sie hin und wieder bei ihren Diebeszügen ertappt. Sie war auch mitunter bestraft worden, verstand es aber meistens, sich herauszureden. So war sie der Obrigkeit in Omsk hinlänglich bekannt als genial und gerissen.

Als der Staat an sie herantrat mit dem Vorschlag, sie als Agentin auszubilden —zum Wohle Rußlands — begann für Sina eine neue Aera. — Man nutzte ihr natürliches Talent, ihre Intelligenz, ihre Schönheit und schulte sie in Moskau bei der Spionageabteilung des Militärs für die geplanten Einsätze als Agentin. Zwei Jahre später, sie zählte nun schon siebzehn Jahre, beorderte man Sina zu ihrem ersten Einsatz. Fallschirmabsprung hinter den eigenen Linien beim Feind, bei den Deutschen, zwecks Zersetzung der Truppe. Sie hatte ihre Aufgabe gut gelernt, denn sie landete vorschriftsmäßig hinter der Front, wie es vorgesehen war, inmitten einer deutschen Kompanie. Von jenem ersten Einsatz kehrte sie nie zurück. — Oh, nicht etwa, weil man sie nicht ließ oder sonst irgendwie daran gehindert hätte. Beileibe nicht. Einfach, weil sie es noch nie so gut getroffen hatte in ihrem ganzen jungen Leben wie hier bei »den Feinden«.

Sie gehörte allen Offizieren. Niemand schlug sie. Niemand brüllte sie an oder stieß sie herum. Alle waren freundlich zu Sina. Der eine schenkte ihr Geld, der andere Seidenstrümpfe, der dritte Seife, ein vierter Zigaretten, Stoff. —Das war das Faszinierendste am ganzen Krieg. Diese Freundlichkeit der Menschen, die ihre Feinde hätten sein müssen und die doch so gut zu ihr waren, wie es noch kein Landsmann gewesen war, die nicht gewalttätig wurden ihr gegenüber. Sie faßte es kaum.

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So zog sie, als es zum Rückzug kam, mit der deutschen Truppe gen Westen, bis sie in Deutschland waren, wo Sina als »Ostarbeiterin« zum Einsatz kommen sollte. Es ließ sich aber einrichten, daß immer irgendein Mann sie brauchte. Sina war auch auf dem Gebiet des Beischlafes Spitze. Sie lachte in diesem Augenblick, als amüsiere sie im nachhinein noch, daß es ihr gelungen war, so einfach über die Runden zu kommen. Man konnte sicher sein: Sina würde es immer schaffen im Leben. Nach dem Zusammenbruch Deutschlands sicherten die Russen als Sieger ihr die Freiheit zu, wenn sie zurückkehren würde, zu Mütterchen Rußland. —Nun, arme russische Seele. Sie wollte! Wie so viele andere Russinnen und Ukrainerinnen, die wir in Workuta trafen.

Ob ihrer dummen Gefühlsduselei geriet sie in Rage und wurde lauter: »Was war ich für ein Dummkopf! Ich Durak! Wie konnte ich deren Worten Glauben schenken! — Nun, du siehst, wo ich gelandet bin. In Workuta. Ich lernte hier«, fuhr sie fort, »einen Russen kennen, Gener. Natürlich war auch er Gefangener. Wir lebten in Workuta zusammen, früher war das möglich, mußt du wissen. Ich wurde schwanger. So kam ich in das Mütterlager. Zwei Jahre haben sie mich mit Gener, meinem Söhnchen, den ich nach seinem Vater benannt habe, zusammen gelassen. Nach diesen zwei Jahren trennt man die gefangenen Mütter von den Kindern. Die Mütter kommen wieder in ein Straflager. Die Kinder erzieht man zu beispielhaften sowjetischen Staatsbürgern.« Tief seufzend schloß sie ihre Erzählung: »Ob ich wohl je mein Söhnchen wiedersehen werde?«

Eine Weile saßen wir beide in Gedanken versunken. — Ich hatte über Sinas tragisches Geschick mein eigenes kleines Leid vergessen. Und das war wohl auch der Sinn ihrer Erzählung.

»Daweitje, pokurim«, knurrte sie dann, Burschikosität oder Hartherzigkeit vortäuschend. Sie drehte eine Machorka-Zigarette, die wir zusammen rauchten. Sie, erneut sägend mit Galina, ich, indem ich die abgesägten Enden seitlich stapelte. Im Wechsel zog mal sie, mal ich an der Machorka-Zigarette. (Ich bedankte mich später bei Sina für ihren Trost, indem ich für ihr Söhnchen Gener einen Spielanzug nähte.)

Ich denke noch oft an diesen ersten Säge-Einsatz. Ein halbes Jahr später, als wir wieder einmal zur Bäckerei geführt wurden und für Brennholz zu sorgen hatten, machte es mir auf einmal keine Schwierigkeiten mehr, das Sägeblatt zu führen. Ich hatte wohl erfaßt, daß das ruhige, leichte Ziehen des Sägeblattes der Effekt war. Und so kam es, daß es ganz gleich war, mit wem ich

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eingeteilt wurde. Keiner weigerte sich mehr, mit mir zusammenzuarbeiten. Und irgendwie machte mich das stolz und zufrieden. Ich hatte das Gefühl, etwas erreicht zu haben im Leben.

»Stell dir vor«, mit diesen Worten kam abends eine Kameradin zu mir in die Baracke, »was wir beim Ausschütten der alten Hobelspäne aus den Matratzenbezügen gefunden haben, als wir sie neu füllen wollten. Das ist sicher von den deutschen Männern. Wer weiß, wem die Matratze vor mir gehört hat.« Dabei hielt sie mir ein winziges Büchlein hin. — 

Es war wohl die kleinste Bibel, die ich bis zu diesem Zeitpunkt gesehen hatte. Handgeschrieben in gotischer Schrift, die einzelnen Blätter mit wunderbaren Malereien, die biblische Szenen darstellten, verziert. Man mußte schon genauer hinsehen, um Einzelheiten zu erkennen und zu erfassen, wie wunderschön dieses kleine Kunstwerk war. Nicht größer schien das Format zu sein als drei Zentimeter in der Breite und fünf Zentimeter in der Höhe. Zusammengenähte Blätter, richtig eingebunden in Stoff. Und auf der Titelseite stand. Das Heilige Wort. (Heute weiß ich, daß es dem Pfarrer Aurel v. J. gehörte, der mit uns heimkehrte und bis zu seinem Tod in Berlin Pfarrer für Gefangene war.) 

Immer öfter kam jemand, der ähnliches in einem Strohsack, versteckt zwischen den Hobelspänen, gefunden hatte. Es landete zumeist bei mir, weil man inzwischen wußte, daß ich einen Tick für Literatur hatte. Und manche Kameradinnen frozzelten mich, indem sich mich »Frau Rilke« nannten. Aber vielleicht war es gar nicht so häßlich gemeint, wie es oft klang. So hatte ich bald eine kleine Sammlung angelegt. Gedichte von Rainer Maria Rilke, Balladen von Börries Frh. v. Münchhausen, von Johann Wolfgang v. Goethe den Faust und anderes, von Friedrich Schiller die Glocke, die Bürgschaft. — 

Man muß meine Bewunderung verstehen. Denn was man da vorfand, war zumeist aus der Erinnerung hervorgekramt und irgendwann aufgeschrieben worden. Oft fehlerhaft, mehrfach durch eigene Gedanken falsch ergänzt — aber immer mit sehr viel Liebe festgehalten. Und mit sehr viel Liebe wurde es gelesen. — Doch das Schönste von allem, das ich dort kennen lernte, war ein Gedicht, das sicher irgendwo in der Gefangenschaft entstanden ist.

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Wart auf mich, und ich kehr heim. / Aber warte sehr, / Warte, tragen Sehnsuchtspein / Gelb die Schleier her. / Warte, wenn der Schneesturm fetzt, / Warte, wenn es sengt, / Warte, wenn kein andrer jetzt / Mehr ans Gestern denkt. / Wart, wenn aus der Ferne auch / Gar kein Brief mehr schwirrt, / Warte, wenn des Wartens Brauch / Allen über wird. / 

Wart auf mich, und ich kehr heim, / und wünsch denen nicht / Gutes, die nur prophezein, / das Vergessen Pflicht. / Mögen Sohn und Mutter gar / Glauben, ich sei tot, / Mag sogar der Freunde Schar, / Wenn der Ofen loht, / Trinken Weines Bitterkeit / Meiner eingedenk. / 

Wart, und sei nicht gleich bereit, / trink nicht ihr Getränk. / Wart auf mich, und ich kehr heim — / Kehr trotz Tod zurück. / Mag, wer nicht mehr harrte mein, Sagen: Pures Glück. / Wer, der nicht geharrt, verstehts, / Wie im Fieber fast / Du nur durch dein Warten stets / Mich gerettet hast. / Daß ich heimkam, — in der Brust / Bergens heimlich wir — / Weil zu warten du gewußt / Wie kein andrer hier.

Konstantin Simonow (aus Neue russ. Lyrik S. 180) (übersetzt von Johannes v. Guenther / Fischer-Bücherei)

Sonja Hadschejewa hatte dieses mir bis dahin unbekannte Gedicht gefunden und eines Tages mit hinter die Bühne gebracht und mir dann geschenkt. Leider ist die damalige Übersetzung verlorengegangen. So gut die heutige ist, die ich hier wiedergegeben habe, die andere war besser in der Nachdichtung.

Ich war damals gerade mit der Anfertigung von Ballettschuhen für Sonja beschäftigt. Sie war nun unsere Primaballerina, seit Tamara Galetzkaja in ein anderes Lager verlegt worden war.

Den klassischen Spitzentanz hatte Sonja bei Tamara Seis in Berlin erlernt. Zu gleicher Zeit wie Sonja Ziemann, die heute so bekannte und berühmte Schauspielerin in Deutschland, hatte mir Sonja nicht ohne Stolz anvertraut. Sonja Hadschejewas Vater war Tatare, der nach dem Ersten Weltkrieg Deutschland als Wahlheimat, Berlin zum Wohnsitz und eine Berlinerin zur Ehefrau erkoren hatte. Sonja blieb das einzige Kind ihrer Eltern. — 

Sie war eine waschechte Berlinerin. Man merkte es besonders, wenn sie sprach. Ich hörte von ihr so herrliche Kraftausdrücke, wie nie vor- oder nachher von anderen Berlinern. So konnte sie zum Beispiel, wenn sie auf jemanden wütend war, zischen: »Mensch, ick knall dir 'n paar vor'n Latz, det de den Jeist aushauchst.« Oder: »Mensch, ick hau dir jleich den Pickel vonne Omme.« Und vieles mehr. Sie war halt ein Original. Obschon ich sagen muß, so richtig wütend habe ich sie nie gesehen oder erlebt. Dazu war Sonja viel zu träge, zu phlegmatisch. Wahrscheinlich brodelte in ihr nur manchmal das tatarische Blut ihres Vaters, aber es kam nie zum Überkochen.

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Sonja war zu diesem Zeitpunkt eingesetzt als Aufseherin der Trockenkammer. Sie arbeitete in der Baracke der Invaliden, die der Kantine zunächst lag.

Kascha und die wenige körperliche Bewegung hatten sie fett werden lassen. Sie betreute nachts den Trockenraum der Baracke und hatte dafür zu sorgen, daß die feuchten, oft durchnäßten Kleidungsstücke der Invaliden, angefangen von den Filzstiefeln bis hin zu den Wattejacken, am Morgen trocken waren, wenn es um sechs Uhr früh wieder zur Arbeit ging. Am liebsten tat sie allerdings gar nichts. Und diesem Nichtstun konnte sie sich dann mit Wonne ergeben. Nicht einmal das Tanzen lockte sie dann, das ihr doch so manche Vergünstigung einbrachte.

Ich erinnere mich, als wir einmal eingesetzt waren, um die Geleise der Eisenbahnlinie Moskau—Kirow—Petschorra vom Schnee freizuschaufeln. — Nach einem lang anhaltenden Schneesturm lag unendlich viel Schnee, und mehrere Lager hatten Arbeitsbrigaden zum Schneeschaufeln hinausgeschickt, um dem Übel abzuhelfen.

Sonja stand, gestützt auf ihre Schaufel, die ganze Zeit still und weinte bitterlich, weil ihr kalt war.

Uns allen war kalt. Wir schaufelten wie die Besessenen, um die Kälte weniger zu spüren. Am Abend, als wir heimkamen und Sonja die Füße aus den Filzstiefeln zog, nicht ohne zu jammern und zu wehklagen, sahen wir, daß ihre Zehen blauschwarz waren. — Um ein Haar hätte man ihr die Zehen amputieren müssen. Sie hatte gerade noch einmal Glück gehabt, daß sie nicht total abgefroren waren. — Aber kein Schaden ohne Nutzen: dies verschaffte ihr damals den Job als Aufseherin in der Trockenkammer, die sie fortan blieb. Um Sonja, der Linie wegen, zum Training anzuspornen, übte ich mit ihr nach ihrem Kommando die einzelnen Schritte des klassischen Tanzes: »Et un, deux, trois, quatre, Attitüde, Fatigue; et un, deux, trois, quatre, Attitüde, Fatigue.« Mir machte es Spaß, und Sonja beflügelte es, wenn sie sah, wie kläglich meine Figuren mißlangen.

Unsere nächste Vorstellung hieß »Herbst«. Die Musik ist von Tschaikowski.

Ich weiß nicht mehr, wieviel Papierfetzen ich herbstlich bemalte, rot, grün, gelb, braun, blau, zu Blättern zerschnitt, um sie dann auf dem weitmaschigen Netz, das ich aus Bindfaden geknüpft hatte, zu befestigen. Vom Handgelenk bis zum Nacken und auf beiden Seiten über den Rücken bis zur Taille spannte sich der Herbst an Sonja.

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Die Kulissen waren gut geworden. Eine großzügige Parklandschaft mit vielen bunten Blumenbeeten, dazwischen einige Marmorfiguren, ein römischer Brunnen.

Die Kostüme des Balletts waren ähnlich wie bei Sonja gefärbt. Viel Mull war mittels Haferbrei-Stärke steif wie Gaze geworden. Dicht gerüscht entstanden zauberhafte Ballettröcke. Man merkte gar nicht, daß der Stoff nur übereinander gelegt und nicht genäht war. Denn gleich nachdem das Stück jeweils abgesetzt wurde, lösten wir die Kostüme in ihre ursprüngliche Form auf, färbten den Stoff um oder beließen es so, wie es war. So konnte Sonjas Ballett-Röckchen vielleicht beim nächsten Mal der Schleier werden, den man brauchte oder irgendetwas anderes. Alles war beendet und harrte der Generalprobe, die gleichzeitig unsere Premiere war.

Für das Höschen, das Sonja unter dem Ballettrock als Dessou trug, stand mir ebenfalls nur ein Stück Mull zur Verfügung. Ich faltete ihn wie eine Windel und nähte mit vorsichtigen Stichen — im letzten Augenblick vor dem Auftritt — dieses Höschen an ihrem Körper zu. Der letzte Handschlag war nun getan. Fertig.

Wir Handwerker sa szenu gingen nun eilends vor die Bühne, nach hinten in den Zuschauerraum, um alles während der Generalprobe auf etwaige Fehler und Wirkung hin zu inspizieren.

Die ersten Töne erklangen: Taam taam taam, taraam taam taam ... Der Vorhang ging auf — und Sonja trippelte auf Spitzen zu der wundervollen Musik Tschaikowskis, von Natascha Lawrowskaja auf ihrem Akkordeon meisterhaft interpretiert, heraus auf die Bühne. Das Ballett folgte. Sie bewegten sich mit der graziösen Anmut klassischer Tänzerinnen. Die Figuren saßen, es war ein Genuß, ihnen zuzuschauen.

Und da schwebte wieder Sonja auf den Spitzen über die Bühne. Sonja mit ihrem Soloauftritt. — Wie Musik und Bewegung ineinander überflossen, aufgingen in Ton und Geste, das war — das war — aber — ich schaute entsetzt. Als Sonja sich, auf einem Bein stehend, neigte, das andere Bein gestreckt in der Attitüde — da war es wieder. In der Mitte des Höschens, genau im Schritt, prangte ein dunkler Fleck.

Fassungslos überlegte ich: Was kann das sein? Was habe ich falsch gemacht? Sonja eilte symbolisch zur Sonne — ich sah nur den dunklen Fleck. — Sonja starb als raschelndes Herbstlaub — ich dachte nur an den Fleck, der da nicht zu sein hatte.

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Gott sei Dank. Vom Publikum schien niemand etwas bemerkt zu haben. Applaus brandete auf. Dankbar spendeten sowohl die Freien als auch die deutschen Männer, die mit ihren Bewachern inzwischen aus Besimenka heruntergekommen waren, Beifall. Wir hatten ein wunderbares Premierenpublikum.

Dann drängten wir uns hindurch zwischen die Hinauseilenden, hinter die Bühne, zu Sonja.

Wir brauchten Sonja nicht mehr zu fragen. — Jämmerlich heulend saß sie auf der Bank, umringt von Natascha und den anderen Künstlerinnen, die gleich mir entrüstet waren, und schluchzte herzerweichend: »Die ... die Hose war doch angenääääht, und ich muuuußte doch maaal ...!« Ach, Sonja, wie leid es mir tut, daß wir nie mehr Gelegenheit haben, über diese oder andere komische Augenblicke zu lachen.

 

Sonja H. wurde als russische Staatsbürgerin (weil ihr Vater Tatare war) zurückgehalten in Workuta, als wir bereits abtransportiert wurden. Sie lebte noch einige Jahre dort als Freie, nachdem wir schon längst daheim waren. Von einem Russen, den sie in Workuta geheiratet hatte, bekam sie ein Kind. Es war Ende der fünfziger Jahre, als sie endlich heimkam nach Berlin, zu der so sehnsüchtig auf sie wartenden Mutter.

Nach meiner Heimkehr war ich 1955, wie ich es Sonja in die Hand versprochen hatte, mit einem Blumenstrauß zu ihrer Mutter gegangen. Von Sonja hatte ich ihr erzählt, ohne ihr sagen zu können, ob und wann Sonja kommen würde. Aber die Gewißheit konnte ich ihr geben, daß Sonja lebte, und die Hoffnung stärken, daß sie vielleicht doch bald nach Haus kommen würde.

Später hörte ich, Sonja habe die Heimkehr nach Berlin nicht lange überlebt. Nicht einmal zehn Jahre. — Aber Sonjas Sohn, mit dem zusammen sie heim­gekommen war, füllt wohl nun die Lücke aus, die Sonjas Tod bei der Mutter hinterlassen hat. 

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 Brief an Rosl  

 

  Als Klofrau im Einsatz  

 

Liebstes Rosalchen, wie freue ich mich auf dich. Oft und oft haben wir uns damals ausgedacht, wie es sein wird, wenn wir einander jemals privat begegnen werden. Immer mit dem leisen Zweifel im Hintergrund: das wird nie sein — wir sehen Deutschland nie wieder. Nach Hilla stehst du mir von allen am nächsten. Uns verbinden die vielen bitteren Jahre.

Es ist ein eigenes Gefühl, das entsteht, wenn man miteinander hungert, miteinander friert, Befehle empfängt, bangt, schläft, ißt, ja, miteinander die Notdurft verrichtet. Jahrelang.

Diese riesigen Klo-Anlagen des Lagers, erinnerst du dich? Wir nannten unsere Ubornaja voller Galgenhumor, mit dem wir vielleicht den Stolz der russischen Nation auf die Metro in Moskau verletzen wollten, U-Bahn. Kann sich ein Mensch, der es nicht gesehen hat, vorstellen, wie das ausschaut, — stinkt? In Abständen von cirka fünfzig Zentimetern Loch an Loch, zwölfmal nebeneinander auf einer kleinen Erhöhung von zehn Zentimetern! Im Rücken eine ungefähr siebzig Zentimeter hohe hölzerne Trennwand — und auf der anderen Seite noch einmal: zwölf Löcher in Abständen von ungefähr fünfzig Zentimetern nebeneinander auf einem kleinen Podest. — Und natürlich war diese »U-Bahn« zeitweilig voll besetzt. Da gab es kein Papier. Ich frage mich heute noch: Wo hatten wir die vielen Fetzen her, um uns den Po zu säubern? Selbst diese winzigen Stoffetzen galt es zu organisieren, einzutauschen, von wo immer es möglich war. Gab dir jemand aus der Schneiderei eine Handvoll Fetzen, so hattest du dafür eine andere Leistung zu erbringen. Für nichts gab es nichts. Alles hatte seinen Preis. Wohl dem, der eine Verbindung zur Schneiderei oder anderen Bevorzugten hatte.

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Manchmal wurden diese »U-Bahnen« gereinigt. Es war Aufgabe der Invaliden; denn Kräfteaufwand für Scheiße wäre ja reine Verschwendung gewesen. So plagten sich diese invaliden Frauen mit dem Karren mit jeweils ein oder zwei Fässern, die sie im Sommer am Rand des Lagers entleerten ohne Rücksicht darauf, daß die ganze Jauche den Fluß erreichte, aus dem wir das Trinkwasser schöpften. — Im Winter jedoch — und das waren die Monate von September bis Mai, mußte der Karren in die Tundra hinausgefahren werden. Dort wurde der Unrat dann einfach auf den vereisten Schnee gekippt. Unvorstellbar für Menschen, die es nicht erlebt haben, nachzuempfinden, wie das bei Tauwetter stinkt.

Mit einer zwei Meter langen Brechstange ging man den Scheiß-Eisbergen zuleibe und brach systematisch Stück für Stück, Zacke um Zacke der stinkenden Masse ab von den kleinen Bergen, die sich aus den Löchern erhoben. Winter war die bevorzugte Zeit. Denn in der kurzen Zeit der Frühling-Sommer-Herbst-Periode, wenn die Jauche flüssig war, schwappte die an einem langen Stiel befestigte Dose, die ehemals fünf Kilo Fisch oder Butterschmalz zum Inhalt gehabt hatte, oft über, und die Jauche ergoß sich über die Batinkis, spritzte über die Kleidung. Im Winter konnte man die tiefgefrorenen Kotsplitter mitunter abschütteln, ihnen eher ausweichen. 

Wie es auch immer war, kam die Kleidung nach getaner Arbeit zum Trocknen in die Trockenkammer, so wollte niemand, der nicht zu dieser »Scheiß-Brigade« gehörte, der Kleider-Nachbar sein. Denn natürlich nahm die benachbarte Kleidung leicht den Gestank an. So kam es, daß diese »Salon-Arbeiter« zumeist unter sich blieben. Sie bildeten sogar eine gewisse geistige Elite. Der größte Vorteil dieser Brigade bestand darin, daß die Frauen nach Verrichtung der Aufgabe, die Ubornaja zu entleeren, ihre Zeit mit eigenen Ideen ausfüllen konnten. So führte es dazu, daß die Intellektuellen nachgerade zu dieser Brigade drängten. Und wenn man dann noch durch körperliche oder altersmäßige Invalidität bevorzugt wurde, hatte man einen guten, wenn auch sehr isolierenden — weil stinkenden — Job.

Weißt du noch, Rosl, als man den Versuch machte, eine deutsche Brigade aufzustellen, und sie zum Einsatz brachte unter Lissy V. als Brigadiere? — Wir bauten untertage Lehm ab für die Formowka der Ziegelei, in der andere Mitgefangene die Ziegel formten, trockneten, im Hochofen brannten, stapelten und verluden.

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  Was der Glaube vermag  

 

Wenige Ukrainer gehörten zu unserer Arbeitseinheit. Zwei davon waren mit mir für einen Stollen eingeteilt, Mascha und Paraskitza. Ich erinnere mich besonders an einen Tag, da ich wieder einmal ganz stark spürte, was Wunschdenken heißt — wir nennen es Glaube.

»Bog na pomotsch — Gott zur Hilfe«, so rief uns leise die ukrainische Brigade zu, die wir ablösten. Wir begegneten uns am Eingang zum Stollen. Die Frauen waren erschöpft nach der zehnstündigen Arbeit unter Tage, und sie wünschten uns ehrlich: »Bog na pomotsch — Gott zur Hilfe!« Wir kamen direkt aus dem Lager. Die feuchte Kälte hatte sich in die Wattekleidung gehängt und das Quentchen Mut, das man zum Überleben braucht, auf ein Minimum gedämpft.

Eine winzige Birne beleuchtete mehr schlecht als recht den Stollen. Jeweils wurden wir zu dritt eingeteilt. Eine Frau, die Lehm schnitt, zwei Frauen, die aufluden und abtransportierten. Geräte faßten wir in der Werkstatt der Fabrik. — So schaufelten wir, bis die Lore mit Lehm gefüllt war. Die beiden Ukrainerinnen, Mascha und Paraskitza, rollten sie dann über das Gleis zur Drehscheibe und sorgten dafür, daß wieder eine leere Lore in den Stollen kam.

Währenddessen stand ich wieder einmal verzweifelt vor der Wand. Drei Meter hoch fetter, blauer Lehm, von dem man mit dem speerartigen Messer, ungefähr ein zwanzig Zentimeter langes Blatt an einem zwei Meter langen Stiel befestigt, nur winzige Schollen abschneiden konnte, weil er zu stark gefroren war.

Von meiner Geschicklichkeit hing es ab, ob wir die Norm schaffen würden oder ob — entsprechend der minderen Leistung — unsere Essensration am Abend gekürzt werden würde um Semmel, Fleisch oder Fisch. Ich kniete nieder und betete voll Inbrunst; redete tonlos, verzweifelt bittend: »Lieber Gott, hilf uns, hilf mir! Meine körperlichen Kräfte reichen nicht aus. Schärfe meinen Verstand, daß ich das Messer richtig ansetze. Hilf uns, daß wir es schaffen und unser Essen ausreichend sein wird.«

Es mag ein armseliger Wunsch gewesen sein, den ich ringend betete, Tag für Tag — um Essen. — Nur — Gott mag er nie zu armselig erschienen sein. Immer wieder erfuhr ich den Augenblick der Tröstung.

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Eine Sandader, die ich vorher nicht gesehen hatte. Ich nützte sie, um die Lehmwand zu untergraben. Über die ganze Wand zog sie sich hin in einer Höhe von zwanzig Zentimetern über dem Boden. So unterhöhlte ich die Wand, und noch bevor die beiden Kameradinnen zurück waren mit der leeren Lore, stürzte die schwere Lehmwand mit Getöse herab —, und wir hatten damit zu tun, den Lehm zu verladen und abzufahren. Es war uns zwar streng untersagt worden, so zu arbeiten, weil die Gefahr, darunter begraben zu werden, sehr groß war und es auch schon mehrere Unfälle dieser Art gegeben hatte. Aber was soll's?!

Wenn Mascha und Paraskitza mein glückliches Gesicht und den riesigen Lehmhaufen sahen, pflegten sie wohl zu bemerken: »Aha, Annalisotschka hat wieder gebetet!«

Auch wenn es vielleicht ironisch gemeint war, die Spitze der Worte erreichte mich nicht. Mir war nach einem solchen »Erhörtwerden« oft zumute wie nach einem trostvollen Kirchgang. — Und das ist es wohl auch, was ich allen Menschen mit auf den Weg geben möchte: In einem Augenblick der Angst, der Verwirrung, Verzweiflung oder Panik übersieht man leicht die Möglichkeiten, die sich bieten. — Erst die Besinnung auf das Göttliche in uns, auf Gott, zeigt uns den Ausweg, macht unseren Blick klar, schärft den Geist und läßt uns das Richtige tun.

Paraskitza war keine Ukrainerin, sondern eine Bessarabierin. (Wenn ich das Wort richtig übersetze aus der russischen Sprache, dann heißt es »ohne Arabien«. Das hat vielleicht damit zu tun, daß diese Leute dem islamischen Glauben angehören.) Paraskitza war die jüngste der Muslime in unserem Lager. Sie waren wegen ihrer Glaubenszugehörigkeit verschleppt und von den Sowjets als Verbrecher deklariert worden. Sie nannten diese Bessarabierinnen auch Pjatnitzi — die Freitägigen —, weil sie den Freitag als ihren Feiertag heilig halten, oder man hänselte sie Monaschkies, weil sie gar so fromm zu sein schienen.

Sie waren sehr zurückhaltend, sprachen selten über sich selbst. Ständig — im Wachen wie im Schlafen — sah man sie mit nonnenartig umwickeltem Kopf. Mir war damals nicht bekannt, ob ihre Haar geschoren waren oder was immer sie veranlaßte, das Haupt derart zu verhüllen. Heute weiß ich, daß die Araberinnen strengen Glaubens ja auch ihr Haar verhüllen! — Nun, ich habe es auch nie darauf angelegt, sie genauer zu beobachten. Ich ließ jeden nach seiner Fasson selig werden und beanspruchte dieses Recht auch für mich. Und wenn sie aus allem, was ihr Leben anging, ein Geheimnis machen wollten — mich ging es nichts an. Sie weigerten sich jedoch mutig, freitags mit zur Arbeit hinaus zu gehen.

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So erlebte ich einmal — ich hatte an dem Tag arbeitsfrei — wie man Tamara von der Pritsche zerrte und sie barfuß, wie sie war, sie durfte nur die Batinki überziehen, im leichten Baumwollkleid hinaustrieb in die verschneite Tundra, wo ihre Brigade arbeitete. Jemand warf ihr noch eine Wattejacke über. Wir waren empört. Konnten oder wollten jedoch nicht helfen. Denn wir ließen uns ja alle zur Arbeit antreiben, ohne uns zu wehren. Auch dort war das Recht auf der Seite des Stärkeren, und das waren nun einmal unsere Sklavenhalter, die Sowjetrussen.

Kameraden erzählten später, Tamara habe allein in der weiten Tundra gestanden, abseits von den Arbeitenden, und habe fromme Lieder zur Erbauung gesungen. Der Atem habe gefroren in der Luft gestanden — und trotzdem: als man sie am Abend mit den anderen ins Lager zurückbrachte, tat sie, als wäre nichts geschehen. Damals begann ich zu ahnen, was es heißt: Der Glaube versetzt Berge.

Nun, Paraskitza, diese kleine Monaschka, war ein schlimmer Irrwisch. Siebzehn Jahre alt und frech genug, wenn sie jemanden nicht verstand, die Zunge herauszustrecken.

 

Addi W. fällt mir ein. — Erinnerst du dich an sie? Sie stand am Bremshebel und zog unsere vollen Lehm-Loren nach oben. — Wie oft rissen ihr die zurückrollenden Lullkas fast die Arme aus den Kugeln, wenn sie sich heftig gegen den Bremshebel stemmte mit aller Körperkraft, um ein Unglück zu verhindern. Denn wenn diese Loren entgleisten, das Gewicht der Ladung auch noch den Rücklauf beschleunigte, konnten leicht Menschen verletzt werden.

Ich traf Addi zufällig 1958 in Wien wieder. In der Tramway. Weißt du noch, Rosl, wie unterhaltsam es war, wenn Addi uns von ihrem Beruf als Schauspielerin erzählte? Wie großartig sie dramatische Rollen deklamierte, die sie einmal gespielt hatte? Wie begeistert wir waren. Wir bewunderten sie. Sie rezitierte einmalig mit ihrer so modulationsfähigen tiefen Stimme. 

Franzi und ich besuchten sie dann einmal in ihrem Untermietzimmer. Sie lebte ärmlich und kärglich. Eine Entschädigung für die Zeit ihrer Verschleppung zu beantragen hatte sie abgelehnt, wie sie uns sagte. — Einen Job als Schauspielerin hatte sie nie mehr gefunden, es gab jüngere Kräfte. Sie arbeitete als Animierdame in der »Roten Laterne«, einem Etablissement in einem Wiener Gemeindebezirk Fünfhaus. — War es wirklich die einzige Möglichkeit für sie, zu existieren?

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Eines Tages kam sie zu uns und bat mich, für die Lichtreklamekästen jenes Hauses, in dem sie arbeitete, Scherenschnitte anzufertigen. Sie hatte sich meiner Bühnentätigkeit in Workuta erinnert und meinte: »Das kannst du doch!« —

Nun, ich tat es. Auf schwarzem, dünnem Karton zeichnete ich Japanerinnen beim Striptease. Die »Rote Laterne« hatte mich dazu inspiriert. Meine Arbeit gefiel den Leuten, man war begeistert, Addi freute sich. Na, und ich hatte plötzlich zweitausend Schilling verdient. Das war 1958 für mich sehr viel Geld.

Hin und wieder besuchten wir einander. Ein-, zweimal im Jahr. Eines Tages fanden wir Addi nicht zu Hause vor, und der Professor, bei dem sie das Zimmer zur Untermiete bewohnte, sagte uns, sie sei ins Spital gekommen.

Es überraschte uns nicht; denn sie hatte sich immer wieder geweigert, etwas anderes als Alkohol zu sich zu nehmen, wenn sie zu uns kam oder wir sie besuchten.

Manchmal wollte uns der innere Schweinehund überreden, daß wir uns ihrer schämen müßten. Dann aber sagten wir uns: Was soll's. Wer weiß, wie wir einmal verfallen? Vielleicht erbarmt sich dann unser auch ein Mensch und besucht uns.

Zum Teil fehlten ihr die Zähne. Die Haare waren rötlich getönt, doch auch das und die Schminke vermochten nichts von dem Häufchen Elend zu verhüllen.

Im Spital erfuhren wir, daß Addi an Knochenkrebs erkrankt war. Die rechte Armkugel, die vor allen Dingen in Workuta immer die Kraft hatte aufbringen müssen, den Bremshebel zu halten, war total zerfressen und ausgefranst. Das Röntgenbild hatte dies eindeutig als Folgeerscheinung der Gefangenschaft aufgezeigt. Aber — wo kein Kläger, da kein Richter. Wieder einmal wollten wir sie im Spital besuchen. Wir erfuhren, daß man sie in das Siechenheim des Versorgungskrankenhauses Lainz überführt hatte. Als wir uns dann endlich dorthin auf den Weg machten — es waren Tage vergangen — war Addi einige Tage zuvor für immer eingeschlafen. Unsere Blumen schenkten wir der Bettnachbarin.

Es tut mir heute noch leid, daß wir sie nicht regelmäßiger besucht haben, denn ich glaube, sie hatte keine Angehörigen mehr. Ihr Sohn war während ihrer Verschleppung von fremden Menschen adoptiert worden und wußte nichts von ihrer Existenz.

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Wir können sie nur mehr in unser Gebet einschließen. Einige Kameradinnen aus jener Brigade traf ich wieder nach unserer Heimkehr. Hergard W. in Göttingen. Aus dem Pummelchen, das in ihrer schußligen Art nach der schweren Arbeit — sie fuhr mit Mariana K. den Lehm ab — intellektuelle Gespräche führte, war eine schlanke, hübsche junge Frau geworden. Die Zeit der Gefangenschaft hatte sie allerdings zu einem Nervenbündel gemacht. Oder war es die Zeit danach?

Auch Mary — Madame — traf ich eines Tages. Sie besuchte uns zusammen mit ihrem Mann und einem riesigen Schäferhund namens Pjoss für einen Tag in Wien. Sie waren auf der Durchreise. Sagtest du mir, Rosalchen, daß sie seit ihrer Scheidung in den Staaten lebt?

 

 Lehmabbau und Suschilka-Brigade  

 

Unserer deutschen Brigade war kein langes Leben beschieden gewesen. Lissy trieb uns an zu Leistungen, die wir wirklich nur mit äußerster Kraft vollbringen konnten oder daran verzweifelten.

Man hatte Lissy geködert mit dem Versprechen, wenn wir gut arbeiten würden, könnten wir Kontakt aufnehmen zur Heimat. — Man verteilte immer wieder Karten an uns, die wir mit all unserer Sehnsucht beschrifteten, adressierten. Man sammelte sie ein, versprach, sie abzusenden, wenn wir nur tüchtig arbeiten würden. — Doch nichts geschah.

Vielleicht stellen diese Karten heute ein Archiv dar in der UdSSR: Gedanken und Wünsche weiblicher gefangener Ausländer. Wer weiß? Nicht nur die Unzufriedenheit in den eigenen Reihen, die Auflehnung gegen die hochgepeitschte, unerreichbare Norm ohne Erfüllung der Versprechungen, sondern auch die ukrainische Brigade, die uns ablöste trug dazu bei, daß wir als deutsche Arbeitsgruppe nicht existieren konnten und endlich aufgelöst wurden.

Liegt es letztendlich daran, daß jeder von uns Deutschen ein Individualist sein will und sich um nichts in der Welt in eine Gemeinschaft fügen mag, um einer für den anderen da zu sein?

Es kam so weit, daß Lissy V. mit Prügel Leistung zu erzwingen versuchte. Das war dann das Ende. Wahrscheinlich erbarmte sich der Lagerleiter (den wir Tschorni Udschest, schwarzes Ungeheuer nannten) unser mehr, als es unsere deutsche Brigadiere tat. Man verteilte uns nach der Auflösung der Brigade auf Brigaden, die in der Ziegelei, in der Formowka, in der Trockenkammer und im Roten Ofen eingesetzt waren.

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Noch heute sehe ich vor meinem geistigen Auge Reni D., die ich Orje getauft hatte, mit zwölf übereinander gestapelten Stellagen auf der Schulter — das war absoluter Spitzenrekord! — davonziehen.

Wir standen danach in der Trockenkammer-Brigade, du und ich, Rosl. Es war eine grauenhafte Arbeit.

Nach dem Beschicker, wo der gelieferte Lehm gemischt wurde, kam die Masse zur Ziegelei. Mary arbeitete dort. Zu Ziegeln bestimmter Größe geformt, gelangten diese von dort auf Stellagen, die im Gabelstapler lagen, in die Trockenkammer. Zum Trocknen wurden die beladenen Stellagen dort in Trockenkammern abgestellt. Nach einer Zeit von vierundzwanzig Stunden — ungefähr — hatten wir die Stellagen mit den getrockneten Ziegeln herauszuholen, ab- und umzuladen, damit die Steine zur Brennerei in den Roten Ofen kamen. 

Erinnerst du dich an diese Trockenkammern? Ich weiß nicht mehr, wieviel Stellagen hineinpaßten. Es war furchtbar, wenn wir in die geöffneten Kammern klettern mußten, um bei enormem Hitzerückstand die Steine auszuladen. Wir mühten uns, es schnell voranzutreiben, weil man einfach kaum Luft holen konnte in diesen dick verrußten, überheizten Kammern. Eine Kammer maß ungefähr 1,20 Breite x 6 m Länge x 3 m Höhe. Und natürlich gab es keinen Luftabzug. Getrocknet wurden die Steine bei 120 bis 130 Grad Hitze. So kann man sich vorstellen, wie stark noch immer die Gluthitze war, die sich dort gestaut hatte, wenn man eine halbe Stunde nach dem Öffnen diese Trockenkammern betrat, um mit dem Ausladen zu beginnen. Damals trat ich in meinen kleinen Privatstreik. Ich wollte weg. Ich wollte an die Luft. Immer wieder bat ich den Aufseher: Nimm mich hier weg. Ich kann hier nicht arbeiten, ich kriege keine Luft. Ich kann hier nichts leisten. Laßt mich in der Karriere arbeiten. Besser im Dreck aber in der frischen Luft. Lieber Schneesturm, Regengüsse und Unwirtlichkeit, aber frische Luft. Eines Tages war ihm oder der Brigadiere wohl der Kragen geplatzt. Ich wurde tatsächlich in die Karriere versetzt. Damals atmete ich auf. Luft und freier Himmel. Sturm und schlechtes, nasses Schneewetter. — Aber allemal besser als die Trockenkammer.

Auch du, Rosl, hast bald darauf deinen Arbeitsplatz gewechselt. Ich glaube, den Ausschlag gab die aufsehenerregende Tatsache, daß wir plötzlich Ziegel, die mit Hakenkreuzen verziert waren, produzierten.

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Diese Aufregung, als man den Missetäter suchte! Natürlich glaubte man an eine politische Untergrundbewegung, an eine deutsche Zelle, die sich zur Aufgabe gemacht haben könnte, Unruhe zu stiften in Rußland. Ach, wie sehr haben wir eigentlich immer die Möglichkeiten verkannt, die uns auch gegeben waren. Uns drückte ständig die körperliche Überforderung, die unzulängliche und mangelhafte Ernährung, die immerwährende Müdigkeit nieder. Viel zu sehr, als daß wir uns irgendwann gegen irgendwas aufgelehnt hätten.

In einer der wenigen Mußestunden — die mitunter sogar 120 Minuten ausmachten, zum Beispiel, wenn Stromausfall war und wir nicht arbeiten konnten, weil die Ziegelei im Dunkel lag — hockten wir uns alle dicht zueinander, und ich erfand für euch Geschichten, die sich oft zu romanhaften Fortsetzungen entwickelten. Während einer solchen dunklen stillen Stunde hatte Inge K. rumgekritzelt mit einem Nagel oder mit ihrem Fingernagel, an den eben geformten, feuchten Steinen, ohne darüber nachzudenken. Ich glaube, sie selbst war am meisten überrascht, als sie uns gestand, daß sie die Hakenkreuze eingeritzt hatte. Viel zu jung (eben achtzehn Jahre alt), um je Nazi gewesen zu sein, und ohne irgendeinen anderen Gedanken als den, die Hand zu beschäftigen, hatte sie es getan. — Man riß uns alle auseinander. Denn wer weiß, flackerte das alte Mißtrauen auf; drei Deutsche auf einem Haufen, das gleicht einer Verschwörung.

Du kamst zum großen Ofen als Heizerin. Es war ein relativ sauberes, aber für eine Frau ganz gewiß ein schweres Arbeiten.

Wenn ich heute einen alten Film sehe, auf dem ein Lok- oder Schiffsheizer bei der Arbeit gezeigt wird, muß ich an dich denken. Unter ungeheurem Kräfteaufwand und mit viel Geschick warfst du den beiden Ofenmäulern die Steinkohle in den Rachen. Immer soviel, daß die lodernde Flamme nicht ausging.

 

Zur Zeit der großen Schneestürme arbeiteten wir herinnen in der Fabrik. Wir hatten die Schlacke, die in den Öfen anfiel, abzufahren und zu verladen. Schlacke, die hart war wie Eisen. Zudem noch tief gekühlt durch Haufenlagerung draußen im Freien.

Wir gingen den Schlackebergen mit Keilen und Vorschlaghämmern zu Leibe. Wieder und wieder sauste der Hammer auf den Keil, um doch nur Millimeter einzudringen in das eisenharte Material. Keil auf Keil verbrauchten wir auf diese Weise. Manches Mal zerbrach der Hammerstiel an der Wucht, mit der der Schlag geführt wurde oder wenn er falsch angesetzt aufschlug. Die Handgelenke waren längst gewohnheitsmäßig dick angeschwollen. — Aber wir hatten auch da eine tägliche Norm zu erreichen und schufteten still vor uns hin.

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So setzten wir weit mehr Kräfte ein, als uns zur Verfügung standen. Erst mit der Zeit kam die Erfahrung hinzu, die uns lehrte, wie ein solcher Schlag ausgeführt werden mußte, um Erfolg zu zeitigen, wo der Keil angesetzt werden mußte, um in die Hohlräume der eisenharten Schlacke zu dringen und dabei nicht zu zerbrechen. Um zu überleben, mußten wir lernen, mit unserer Körperkraft hauszuhalten.

Wir schlugen dann mächtige Brocken ab — Gewicht ca. 25 bis 30 kg und mehr — die zu zweit abgetragen und auf den bereitstehenden Eisenbahnwaggon verladen werden mußten. Zu dem Zweck hatten wir Bretter schräg als Steg angelegt, um die Bordhöhe der Waggons zu erreichen, die von den Rädern gemessen noch einmal ca. 1 m an Höhe maßen. Oft sanken wir danach, erschöpft und froh, den Brocken losgeworden zu sein, an Ort und Stelle im Schnee nieder, um uns auszuruhen, um den Atem wieder aufzufangen. Ich glaube mich zu erinnern, daß unsere Brigade eine Woche mit dem Abtragen eines solchen kleinen Schlackeberges zu tun hatte.

Und während dieser Zeit schlüpfte ich, wenn wir eine Pause machten, weil die Schlacke zum Waggon gewuchtet wurde, schnell einmal zu dir »in den Ofen«. Es war nicht nur die Tatsache, daß es ein sauber gehaltener Raum war. Der Fußboden aus nackter Erde, in einer Ecke lagerten die glänzenden Steinkohlenberge, mit denen du den Ofen bedientest. Ja, es war nicht nur die Tatsache, in eine trockene, warme Atmosphäre zu kommen. 

Du selbst warst es, Rosalchen, deren Nähe ich immer wieder suchte. Denn — ein paar Worte mit dir gewechselt machten froh. Du warst eine der wenigen, die nicht nur jammerten und ständig mit dem Schicksal haderten. Du wurdest eher mit einem kräftigen Fluch der Situation gerecht und nahmst allem dadurch den Stachel. Es war für mich dann leichter, selbst wieder für andere da zu sein. Und das bestätigt wohl die Erkenntnis, daß jeder Mensch irgendwann den anderen braucht.

 

Rosl, und so war es auch jetzt. Unser Treffen war für dich eine gelungene Überraschung, denn du wußtest ja nicht, daß ich nach Ulcinj kommen würde, um dich zu treffen.

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Es war wie immer. Näher als mancher Verwandte bist du mir, weil uns die Tragödie unseres Lebens verbindet.

Daß du von einer Tanzveranstaltung verschleppt worden warst, weil du keinen Ausweis bei dir hattest, war Grund genug, dich erst nach Bautzen und später — ein junges Mädchen von 17 Jahren! — nach Workuta zu verschleppen.

Immer wieder, wenn ich die einzelnen Belange höre, die zu einer Verschleppung an den Polarkreis geführt hatten, mußte ich feststellen, es waren dumme, banale Gründe. Niemand kann glauben, daß die Sowjets in diesen Weibsen, die sie sich da in Workuta angehäuft hatten und als Arbeitssklaven hielten, Spione gefürchtet hätten. Das hieße doch wirklich die Intelligenz der Sowjetrussen unterschätzen.

Ich glaube schon, daß wir uns einig sind in der Auffassung, sie brauchten billige Arbeitskräfte, um ihr Land zu erschließen. Und da nahmen sie, was sich bot. Wie hätte man sich auch wehren können gegen diese Besatzungsmacht, denen die Regierung der DDR mit Küßchen sonstwo hinkroch. Hinzu kommt wohl, daß die Untersuchungsrichter, die ständig trotz Widerspruch, trotz Richtigstellung der nächtlichen Vernehmungsprotokolle, Schuld feststellten und Urteile fällten zwischen fünf und fünfundzwanzig Jahren Konzentrationslager am Eismeer, daß diese Richter sicher Beförderungen und Auszeichnungen erfuhren je nach der Anzahl der Verurteilten. 

Anders kann man sich diesen Fleiß, Menschen wegen nicht nachgewiesener Spionage hinter Gitter beziehungsweise in unwirtliche Gegenden zur Kultivierung in die UdSSR zu verschleppen, nicht erklären. Meine letzte Aufgabe in der Fabrik war das Ausladen von Zement. Eine Aufgabe, die zu den leichteren Arbeiten einer mittelschweren Brigade zählte, wie wir es waren.

Aus irgendeinem anderen Schacht, in dem Männer arbeiteten, (man sagte, aus dem 41. Schacht) wurde der Zement in hochgeschlossenen Eisenbahnwaggons geliefert. Immer nur nachts kamen diese Waggon an, erinnerst du dich? Da saßen wir und warteten, bis es so weit war. Dann mußten wir zu zweit solch einen Waggon erklimmen und hatten die Nacht hindurch Zeit, um den Zement abzuladen.

Wir banden uns vor Mund und Nase ein Stück Stoff, das wir meistens vom Kleid unten abgerissen hatten, um nicht in den Zementwolken zu ersticken. Schaufel für Schaufel flog der Zement über Bord des Waggons. Anfangs bemühten wir uns, so schnell wie möglich fertig zu werden. Dann aber mußten wir erleben, daß man uns danach noch einsetzte, jenen zu helfen, die unlustig oder faul waren. — Fortan teilten wir uns die Zeit besser ein. Natürlich durfte schon gar nicht die Brigadiere dahinterkommen, daß wir haushielten mit unserer Kraft.

Ich staune noch heute, daß man all das überstanden hat, ohne mehr Schaden zu nehmen.

Wurdest du jemals auf Folgeschäden hin untersucht? Ich jedenfalls nie. Und vielleicht gilt auch hier das Prinzip: Was man nicht weiß, macht nicht heiß. Vielleicht weiß man nichts von den versteckten Krankheiten wie Lungen- oder Knochenkrebs, Unterleibserkrankungen usw. Und vielleicht gäbe es ja auch jemanden, der sagte: Ganz normale Abnützungserscheinungen. Tröstlich, gelt? 

Also bescheiden wir uns, verdammt noch mal, und stellen keine Ansprüche an den Staat als Spätheimkehrer.  

Überhaupt: Was heißt Spätheimkehrer? Ist es nicht ein längst vergangener Begriff? Ist es nicht für viele in der heutigen Zeit des Wohlstands eher eine lästige Angelegenheit, wenn jemand heute noch von damals spricht? Soll man endlich Ruhe geben? 

Vergeßt nicht, ihr anderen, die ihr es nicht erlebt habt: beim nächsten Mal verschleppt man vielleicht euch an die Grenzen Europas, ohne daß ihr die Möglichkeit habt, dagegen etwas zu unternehmen, weil ihr das Geschehen nie in eure Wirklichkeit übernommen habt. Es hat euch nicht betroffen. Es geht euch nichts an?

Es gibt in der Weite der UdSSR noch immer viel unerschlossenes Gebiet. Noch immer schuften Strafgefangene, Häftlinge — aus den Reihen der Russen sowohl als auch Fremde — alle, deren man habhaft werden konnte. 

Aber ich will euch nicht ängstigen. Nur: Vergeßt nie, daß so etwas möglich war. Vergeßt nicht, daß wir es heute waren. Seid wachsam und mißtrauisch gegen den Kommunismus und gegen jene Menschen, die ihn verherrlichen. Jeder >...ismus< verlangt Opfer. Und selten opfern Fanatiker sich selbst. Zumeist bedienen sie sich anderer Menschen, um ihre Ziele zu erreichen.

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