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Begegnung mit Franzl 

 

 

       Kassiber vom Krankenhaus im Sechsten Schacht     

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Weitab von dieser wunderbar ausgewogenen Dichtung in dem Männerlager des sechsten Schachtes stand ich mit der Sammlung vieler aus der Erinnerung hervor­geholter Gedichte — da Lyrik schon immer mein Steckenpferd war — im Frauenlager der Zweiten Ziegelei in Workuta.

Hier wie dort füllte die mühselig notierte und aus dem Erinnerungsvermögen hervorgeholte Dichtung den Kulturhunger unserer freien Tage; denn wir lechzten — neben Schlaf und Essen — am meisten nach Geist, nach Kultur. So erfand ich unzählige Romane, von denen ich heute nicht einmal mehr die Titelhelden und das Geschehen weiß, notierte auf jedem Fetzen Papier, was sich ergab, heftete mit Zwirn und Nadel (Kammzinken waren Nadeln und ein Faden der aufgetrennten Mako-Unterhosen der Zwirn!) das Ganze zu einer Broschüre und rezitierte daraus oder verlieh sie an jene, die sich dafür interessierten. 

Aus dem Männerlager wurden mir durch Franzi auf ebensolche Weise zusammengestellte Gedichtbände geschickt, geschenkt. Und so hatte ich allmählich eine richtige kleine wertvolle Bibliothek beisammen. Unsere Freunde wissen, daß ich in Workuta 1950 meinem heutigen Mann erstmals begegnete. Nach der kurzen Zeit von drei Monaten, in der wir uns dreimal sahen und sprachen, verloren wir für zwei Jahre den Kontakt, blieben jedoch immer auf der Suche nacheinander durch kleine Kassiberbriefchen, die von Lager zu Lager gingen.

Endlich konnten mir einige Männer, die rund um unser Lager herum mit dem Ausbessern des äußeren Zaunes beschäftigt waren, mitteilen, daß Winnetou — diesen Decknamen hatte ich ihm gegeben und noch heute rufen ihn viele Kameraden so — im Erholungsheim war und jetzt im Hospital des sechsten Schachtes wegen einer starken Lähmung behandelt wurde. Nicht mir gelang es, Schriftgut hinaus zu schmuggeln, als wir im Oktober 1955 gemeinsam repatriiert wurden, sondern ihm. Und da viele unserer Briefe auch Allgemeingut waren, will ich hier mit einigem damals Geschriebenen fortsetzen.

 

 

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Unsere Briefe 

Brief an Franzl 1. Dezember 1952:

Die Welt ist so weit
und es schneit und schneit.

Vor Kälte ist beinah das Herz erstarrt.

Der ängstliche Schritt verharrt,
wenn wir morgens den Tag beginnen
und will sich verstecken. —

Ein jämmerliches kleines Trauern
ist in uns,
das Wünsche keimen läßt
nach diesem oder jenem
und Angst hat, vorm Verrecken.

Nur manchmal, wenn der Schrecken
Arbeit uns nicht so schwer beschattet,
wenn dann der Mut — so sehr ermattet
sich in das Heimwärtsdenken hetzt,
dann ist es da, das große Trauern,
ist ins uns, ist ganz nah.

Es spricht nicht mehr von diesem oder jenem.

Tief ringt in uns das Sehnen nach den Menschen,
die im Leben unser waren, die uns, die wir gebaren:
die Mutter und das Kind.

Und soviel ungeweinter Schmerz verrinnt
und endet in einem Fluch:
Genug! Gott! — Gib ein Ende!
Verdammt, siehst du nicht unsere Qual!?
Schicksal!?

Und wird ein schluchzendes Gebet:
Gott, gib uns frei.
Gott, laß uns heim.
Gott, gib uns Sein.
Gott, gib uns Leben, Segen.
Gott! — hörst du mich?
Ich, — wir bitten dich.

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Brief an Franzl, April 1953

Mein Gott!
Wie lang wird es noch so sein,
niemals allein?

Wenn du nicht schweigst,
dann glauben sie alle, es sei gut.

Immer singen und sprechen und frohen Mut.

Wenn du zeigst, daß du ein Individuum bist
meinen gleich alle,
du seist ein verlorener Christ.

Wenn du es wagst
mitten im Kreise zu weinen,
beginnen sie alle zu greinen.

Stumm begegnet sich in der Runde der Blick.

Nichts nimmt er — nichts gibt er zurück.

Ich habe so mancher Auge geschaut
und fand keinen Grund.

Zuviel haben sie vor sich aufgebaut.

Sie lösen sich nicht.

Alles hängt, wie mit engen Fasern verbunden
an Stunden, die lange vorüber sind:
Kind und Mutter und Mann.

Ich höre voll Grauen Erinnerungen an.

Warum bin ich so sonderbar?

So anders als alle?

Ich schneide mir vorn in der Mitte das Haar
und weiß, daß ich keinem gefalle.

Ich tue es, um zu betonen,
daß ich nicht eins mit Millionen bin.

Und dennoch drängt mich dann und wann
die gleiche Sehnsucht
zu den andern heran.

Erschreckend offenbart sich mir dann,
wie weit mich die Zeit von der Masse entfernt,
als hätten wir nie
gemeinsame Sprache erlernt

Und krieche wieder in mich hinein,
verberge alles ganz hinten, ganz tief.

Und spreche und lache und singe
mit ihnen die Lieder. 
Und alle denken und eine sagt: 
Heut verstehn wir uns wieder!

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Briefe 

So, meine lieben Rothäute. Das war alles, Franzl, was zwischen den Jahren liegt. Längst liegt auch diese Zeit hinter mir. Ganz dumpf denke ich auch heute noch an jenen Schmerz. Ich teilte die kleine Trauer mit ihnen, den Verlust der mitteleuropäischen Speisekarte, der Kultur, des Luxus des täglichen Lebens, den Verlust der Freiheit, jetzt nicht tun zu können, was man möchte. — Aber zu stumpf, zu uninteressiert empfand ich auch oft alles, um dafür noch Gefühl zu verschwenden. Es war schade um die Zeit. Auch die Minuten der großen Trauer — der Verlust der uns so lieben Menschen — wurden seltener. 

Es ist im Grunde genommen so, daß alles, was an psychischer und physischer Kraft noch in uns wirkt, sich sammeln muß. Wir sind alle so Figürchen zum Umblasen. Da fällt es schwer, für sich selbst die Energie und Kraft aufzubringen, die das »Muß« in »Wollen« verwandelt. Ach nein, ich will nicht darüber sprechen mit euch. So wichtig ist mir alles das auch wieder nicht, daß es eine stundenlange Diskussion auslöst.

Noch immer ist es draußen warm. Noch immer glubscht die Sonne ganz verträglich (sie scheint nämlich nicht, viel zu edel das Wort für die verstaubte, vertrocknete rote Himmelsbirne hier in Workuta), wenn sie gleich nach dem Sinken das Laboratorium hinten in der Fabrik erklettert. Dann küßt sie wirklich freizügig alles, schmückt und vorschwendet rotes Gold, so daß eine Lok — derartig überstrahlt — aussehen kann, wie ein seltsames kostbar vergoldetes Spielzeug.

Weißer Nebel, weiße Dämpfe, weiße Wolken — alles färbt sich und wird zu lustigen Bällen, Schiffchen, die in diesem goldenen Meer dahinsegeln. 16.00 Uhr. — Die Musik entspricht nicht meiner Stimmung. Oder — Eventuell bis morgen. Tschüs! Eure Nodsi.

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Brief an Franzl und Rainer, am 24. Juli 1954, 17.45 Uhr

Einen fröhlichen Samstagabend, meine Lieben. — Für mich bedeutet es einen Arbeitsmorgen, der — Ende gut, alles gut — mir einen freien Tag bringt. Heut war ich seit langer Zeit wieder bei der Ärztin. Erfolg: Auffüllung geschieht mit Lebertran und Traubenzucker. Nun werde ich aber stark und kräftig.

Heute erzählte mir Gerda Z., daß am Montag Eure Männer unter Umständen in der Sandgrube arbeiten werden. Also noch Zeit, lange Episteln zu schreiben. Ob Ihr wohl die anderen Briefe erhalten habt? Bitte: Wie ist bei Euch der Wortlaut der Friedensverhandlungen bekannt? Hier spricht man davon, daß England, Frankreich und Rußland gemeinsame Verträge unterzeichneten, Amerika jedoch ohne Erklärung in diesem Moment den Saal verließ!?

Oh, es muß toll aussehen in diesem Hexenkessel »Welt«. Daß wir so abgeschlossen sind, so ausgeschlossen von allem Geschehen. Wenn uns wenigstens noch im letzten Augenblick die Ereignisse beteiligen. Rainer, welche Neuerungen gibt es eigentlich auf dem Gebiet der Technik? Was Luft anbetrifft, bin ich nur bis 43 klar unterrichtet, denn bis zu diesem Zeitpunkt habe ich bei Junkers in der Prop. u. Presse in Dessau und in Berlin gearbeitet. Damals waren die Enteisungsanlagen unter den Tragflächen aktuell. Außerdem die verschiedenen Höhenrekorde. 7000 m, glaube ich, war unsere Höchstleistung.

Wann wurden Sie eigentlich verhaftet? Erlebten Sie noch die Neuigkeiten auf dem Gebiet der Chemie? In Amerika kochte man 1949 Probe mit Atomenergie. Längste Kochdauer 2-3 Minuten. Man zählt dabei nach Sekunden. Toll, nicht wahr?

Unsere Enkel können sich gar nicht mehr nach unseren Rezepten richten, sondern müssen neue Regeln und Vorschritten herausgeben. Perlon ist z.Zt. der große Schlager. Leider konnten mir unsere »neuen« Damen nichts sagen über die Produktion usw. Aber ich nehme an, daß es sich um ein IG-Farben-Erzeugnis handelt.

Was denkt Ihr? Man hat Kämme von einer unwahrscheinlichen Biegsamkeit aus Perlon, Strümpfe, Wäsche, Stoffe, Zahnbürsten daraus hergestellt, also unendlich die Variation der Verwendungsmöglichkeiten. Neue Stoffarten, die alle die Endung plex haben. Es ist nicht nötig, diese Dinge zu bügeln. Schuhe trägt man aus einem »Boxin«, Ersatz für Lackleder.

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Ach, wenn ich doch so mit wachen Augen, fühlenden Händen, lauschenden, erstaunten Ohren wieder einmal durch Berlin laufen könnte. Alles aufnehmen, was mir noch fremd ist. Ich glaube, dann bekommt wieder alles Schwung in mir. — Daß es nur bald sei!

Noch eine Frage, Rainer: Ist Ihnen Dr. St. von der TH Berlin bekannt? Er vertritt dort ideell die Interessen der Amerikaner.

Franzi, gewiß habt Ihr viel Zeit, im Spital zu hören und zu lesen. Bitte, teilt mir doch mit, was Ihr Euch so im Laufe der Zeit zu eigen macht, daß ich daran etwas teilnehmen kann.

Leider ist der Grad meiner Erschöpfung nach der Arbeit so groß, daß ich moralisch und körperlich nicht mehr aufnahmefähig genug bin. Es quält mich, dann in Büchern oder Zeitschriften zu lesen, deren Sprache ich nur dem Klang nach beherrsche. Leider sind mir nicht alle Wörter verständlich, die ich ohne weiteres lesen kann.

Zwar begann man jetzt mit einem Sonderunterricht für Ausländer, aber seht Ihr, das Schwert gefällt mir auch nicht mit seinen zwei Schneiden: Entweder lernen oder schlafen. —

Vormittags um 11.00 Uhr ist der Unterricht angesetzt. Um 7.00 Uhr ca. kommen wir heim nach der Nachtschicht. Vor 8.30 Uhr ist nicht an Schlaf zu denken. So ist mir die Wahl überlassen. Entweder oder. Ich schließe für heute, Winnetou und Rainer — ja bitte, sag mir doch den richtigen roten Namen, ja? Oder bist Du ein weißer Bruder? Euch wünsche ich viel, viel Sonne zum Sonntag von ganzem Herzen — Eure Nodsi.

 

Brief an Franzl und Rainer, Workuta, am 24. Juli 1954

Ganz aufgeregt bin ich noch. Stellt Euch nur vor, meine beiden Rothäute, bei der zuletzt angekommenen Etappe befindet sich eine Tänzerin (Lieselotte Seh. aus Potsdam, Schülerin der Mary Wigman). Heute — sie kam von der Arbeit, holte man das arme Mädchen zum Vortanzen. Nach Grammophon tanzte sie Boston usw. Improvisierte; wunderbar gekonnt, hingebungsvoll! Tanzt sie diese Musik so, wie mag sie dann erst Schubert, Brahms, Beethoven, Mozart tanzen.

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Und diese Frauenzimmer, diese dummen, ach, mir fehlen die Worte: »Sehr schön, natürlich, man sieht die gute Schule. Aber es geht nicht an, hier so etwas zu bringen.« Ausdruckstanz — weil es zu kapitalistisch, westlich, kabarettistisch ist!!! Diese Irren! Verlangt man nun von ihr orts- bzw. landesübliche Tänze. Weinen möchte man oder mindestens Zorn haben dürfen. Ach, daß sie immer diese Kompromisse fordern.

So mit allem. Glaub nicht, Franzi, daß ihnen meine Zeichnungen gefallen. Süße kleine Geburtstagskarten, sei es Löwenzahn, Gräser, ein Elf oder Gnom, wie ich sie liebe, oder Kinder — so grinsen sie und fragen nach kitschigen Landschaften mit viel Sonne oder Mond, aber in Gold und Blau bitte! Am liebsten mögen sie Rosen mit Tautropfen. — Ach, diese Armen. So male ich nur mehr sehr selten zu deutschen Festen und Geburtstagen. — Selten, daß eine Russin Verständnis dafür hat, die Masse der Ukrainerinnen überhaupt nicht. — Modelle, die ich entwerfe, entzücken unsere Frauen und lösen Ablehnung und Verachtung aus bei ihnen. Ich kann nicht diese Kompromisse schließen. Wenn jemand etwas von mir will, so muß er mit dem vorlieb nehmen, was ich biete.

Ob Lilo es kann? Ich rate ihr dazu, weil es vielleicht eine moralische, materielle und körperliche Hilfe für sie ist. Aber ich mag sie nochmal so gern, wenn sie ihren eigenen Stil durchsetzt. Als ich sie kennenlernte, glaubte ich, daß sie Maigeborene sein müßte. Und siehe da, sie ist es, am 13., einen Tag vor mir. Wenn ihr nur die Arbeit nicht so schwerfallen würde. Ab morgen werde ich wieder arbeiten. Man sagt, dort, wo die Männer des 6. Schachtes arbeiten. Daß ich dann viel Post erwarte, wißt Ihr doch hoffentlich? Eben habe ich den Kameradinnen noch ein Buch erzählt, »Green Light« von Douglas. Kennt Ihr es zufällig

Liebe Freunde. Nun warte ich auf Post von Euch. Übrigens, ich wollte einen kleinen Gedichtband für Dich zusammenstellen, Franzi, habe aber Hemmungen, denn was ich schön finde, mag Dir nichts bedeuten. Du hast so einen starken Rainer bei Dir. Bitte, vielleicht kann ich erfahren, was zu Deinen Lieblingsdingen gehört?

Für mich ist es Rilke, Binding, Storm, Goethe, Claudius, Heine, Schiller. Na, es wäre zuviel, wollte ich alles aufzählen, besonders eben lyrische Literatur. Rainers Sachen warfen alle Feuer in mein Herz — und kaum besessen, habe ich diesen Brief verloren. Bitte nicht meinen diesbezüglichen Wunsch vergessen. Vielleicht werden Eure Briefe bewirken, daß ich eines Tages wieder ruhiger werde und das Bild meiner Handschrift wird wieder normal erscheinen. ...

Dem Brief fehlt die Fortsetzung. — Nun, wenn Sie sich vorstellen, daß dies einige der Sammelbriefe waren, die das Männerlager, in diesem Fall den 6. Schacht erreichten, dann verstehen Sie auch, wie normal das Leben dort in der Vorderen Polarzone, am 65. Breitengrad, in Workuta verlief, wenn die Muße uns gestattete, Mensch zu sein.

Irgendwann werde ich auch die noch vorhandenen Briefe zusammenfassen. Rainer war der Deckname des Pflegers von Franzl. Sein wirklicher Name war, wie mir Franzl später sagte, Wolfgang Mäusezahl. Ich habe ihn nie kennengelernt, nur einen Teil seines Geistes. Er sah die Heimat nicht wieder. »Auf dem Transport verstorben«, so lautete die offizielle Meldung. 

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Gefangene aus aller Herren Länder in Workuta

 

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Die ersten Grüße 

Briefe aus der Heimat 

 

Wir dürfen schreiben!

Man erlaubt uns, einmal im Monat eine Karte zu schreiben an unsere Familie in der Heimat. Nach fünfjährigem Schweigen werden die Karten in manchen Alltag reinplatzen wie eine Bombe. Plötzlich werden wir wieder lebendig sein für Menschen, die uns kannten, zu denen wir gehörten. — Es war das Tagesgespräch im ganzen Lager.

»Und«, so stellte Sazula, unsere Badefrau in Aussicht, »ihr werdet auch Pakete bekommen.« Ihre Stimme, so leise sie auch sprach, röhrte immer in den tiefsten Tönen. Ständig hing ihr eine Papyrossi im Mundwinkel. — Wir hatten so manches gemeinsam erlebt, sie gehörte zu den Künstlerinnen unseres Lagers. Einmal in der Woche konnten wir um einen Termin nachfragen, um »Wäsche« zu waschen. Man stellte uns einen hölzernen Zuber, 50 x 50 cm groß, zur Verfügung und eine begrenzte Menge heißes Wasser. Für all diese Belange sorgte Sazula. Die Wäsche wurde in einem Nebenraum der Banja getrocknet, und nach ein bis zwei Stunden konnte man die Sachen abholen. 

Es waren so viele kleine Tragödien am Rande des trostlosen Lebens, das wir führten, die uns zusetzten bis zur Belastungsgrenze. Schuld war sicher auch — jedenfalls zu Beginn unserer Haftzeit — daß wir nicht russisch sprachen und so schon die Verständigung schwierig war. Außerdem erfaßten wir erst später, daß ein großer Teil der russischen und ukrainischen Mitgefangenen Kriminelle waren, die wegen irgendwelcher kriminellen Delikte verhaftet und verurteilt worden waren.

Von den zwei Hemden, die jede von uns bekommen hatte, stahl man mir beim ersten Waschtag eines von der Leine, auf die ich die Wäsche zum Trocknen gehängt hatte. Naiv, wie ich war, nahm ich ein anderes Hemd, das da hing, weil ich glaubte, es läge eine Verwechslung vor. Aber diese Annahme, jemand habe sich geirrt und mir seines dafür dagelassen, war grundfalsch, und das bläute mir Hanka ein. Sie prügelte mich — noch im Trockenraum — fürchterlich. Fortan ging ich nie mehr Wäsche waschen.

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Später wurde die Wäscheabgabe eingeführt. Barackenweise gab man von den zwei Nesselhemden, zwei Trikotunterhosen, zwei Kleidern, zwei Leintüchern, zwei Handtüchern je ein Stück zur Wäsche ab. Da wir unsere Sachen immer gekennzeichnet hatten, tauchte sogar eines Tages das Hemd wieder auf, das man mir seinerzeit gestohlen hatte. — Dita K. brachte es mir und sagte: »Das sind doch deine Initialen und die von dir gestickten Blümchen!?« — Ich war selig, wieder über zwei Hemden zu verfügen.

Nun, Sazula war fortan zu mir immer besonders freundlich. »Und wenn ihr dann erst Pakete bekommt, Annelisotschka, dann können wir tauschen. Du kriegst von meinen getrockneten Äpfeln, Zwiebeln, dem gedörrten Brot, und ich kriege etwas von deinen Sachen. Einverstanden?« Hm. Sieh an. Das waren Angebote der Freundlichkeit, die wir bislang von Russinnen nicht zu spüren bekommen hatten.

Russen und Ukrainer genossen schon immer das Privileg, regelmäßig schreiben zu dürfen und sowohl Post als auch Geld und Pakete zu empfangen. Ja, seit Stalins Tod sogar Besuche der Familienangehörigen, wenn diese sich der Mühe unterzogen, Zeit und Geld aufwenden konnten, um die Inhaftierte in Workuta zu besuchen.

Neben dem Wachhaus am Tor hatte man einen Besucherraum eingerichtet, wo die Familienzusammenführungen stattfanden. Vier Nächte durften die Russinnen mit ihren Angehörigen dort verbringen, mit dem Mann, dem Vater, der Mutter, Bruder oder Schwester.

Es geschah jedoch selten genug, daß jemand in diese Einöde der Polarzone kam.

Für uns Ausländer aber war es neu, daß wir schreiben durften. Im Oktober 1953 empfing ich, wie wir alle, eine Doppelkarte (in der Art der ehemaligen Feldpostkarten). Man schrieb uns vor, welche Anschrift, welchen Absender wir zu wählen hatten. Ich versuchte, meinen Eltern mitzuteilen, wo ich war. 

Mein einziger, vier Jahre älterer Bruder ging als »Moses« zur HAPAG, später diente er bei der Handelsmarine. Er wurde im achtzehnten Lebensjahr bei hohem Seegang über Bord gespült. Und dies war, wie das Seefahrtsamt meinen Eltern mitgeteilt hatte — ich war damals gerade 14 Jahre alt — in der Nähe von Archangelsk geschehen, im Weißen Meer. 

Und eben das versuchte ich meinen Eltern verständlich zu machen: ich bin im russischen Norden, in der Nähe, wo Benno zuletzt war. Dann das große Ereignis: die ersten Antworten trafen ein.

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Brigitte Sp. wurde blaß, als sie las, was man ihr mitteilte: ihr Mann — er war Chefredakteur einer Potsdamer Tageszeitung — hatte sich scheiden lassen, weil es nicht tragbar war für seinen Beruf, mit einem »politischen Häftling« verheiratet zu sein. Und die Kinder? »Denen geht es gut«, lautete die lakonische Antwort.

Ähnliches hörte Elfriede K. Auch ihr Mann hatte sich scheiden lassen. Manche bekamen überhaupt keine Antwort, weil es keine Angehörigen mehr gab.

Es gab viele Tränen nach dem ersten Postempfang. Auch die Glücklichen weinten, vor Freude. — Mir schrieb meine Mutter, alle seien wohlauf, meinem Sohn gehe es gut.

Jeder brauchte damals einen Winkel, in den er sich verkriechen konnte. Alte Wunden rissen wieder auf. Alle angestaute Sehnsucht drängte in »die große Trauer« um das Nichtmiteinandersein mit der Familie. Die große Trauer, die fast zu einem Tabu geworden war, wuchs plötzlich ins Überdimensionale und überschattete unsere Tage. 

So wenig, wie man jemanden nach dem Anlaß seiner Verschleppung fragte, nach seiner Vergangenheit, so wenig sprach man über die Menschen, die daheim zu unserem Leben gehörten. Viel häufiger kreisten unsere Gespräche um die »kleine Trauer«, das Essen zu Haus. Es wurde nie wieder so viel und so verschieden gekocht wie bei uns im Geist in der Gefangenschaft.

Da gab es den tollsten Rezeptaustausch, von Lungenbraten bis zu dem feinsten Konfekt. Wir haben über solche kleinen Nichtigkeiten gesprochen, was wir anzuziehen pflegten zu welchem Anlaß, welche Farbe, welches Material wir bevorzugten, wohin wir gingen, was unser Alltag an Annehmlichkeiten aufzuweisen hatte.

Immer waren es Themen, die lachen ließen, schmunzeln. — Man konnte ohne diesen ganzen Krempel leben. Man weinte dem jetzt keine Träne mehr nach. Nur halt ein Seufzer — vielleicht — der den Gedanken nachhing. Tränen brachten nur die Gespräche um die große Trauer, um die Menschen, die man verloren zu haben glaubte.

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Februar 1954  

Im Lager trafen die ersten Pakete ein.

Wir versammelten uns wie befohlen bei der Lagerverwaltung. Namen wurden aufgerufen — Und da war es: Habt ihr gehört!? Ein deutscher Name war dabei! Uschi! Uschi M.

Soviele Winkel hat keine Baracke, daß man hätte ganz allein sein können in dem Raum. — Wir schauten zu, wie Uschi das von der Lagerleitung aufgebrochene und kontrollierte Paket auspackte.

Allein schon der Absender irritierte Uschi. Blässe verriet ihre ungeheure Spannung, unter der sie stand, als sie stammelte: »Kinder, ich kann es nicht glauben. Meine Mutti schickt mir ein Paket!? Meine Mutter und mein Vater wurden mit mir zusammen verschleppt, verurteilt. Erst in Rußland trennte man uns.«

Uschis Eltern besaßen in Mecklenburg ein Gut. Als ehemaliger Offizier stand Uschis Vater in Kontakt mit alten Kameraden. Auch mit solchen in West-Berlin, wo Uschi bis zu ihrer Verschleppung im Auslandsreferat beim Fernamt arbeitete. Auf diese bequeme Weise über die Tochter pflegte der Vater manches Mal einen Brief mitzugeben zur Aufgabe in West-Berlin. Dies war der Anlaß für die Russen, eine halbe Familie auszurotten. Das einheitliche Urteil: Wegen Landesverrat (!) und nicht nachgewiesener Spionage ... Das Urteil lautete für uns alle immer gleich, es variierte nur in den Jahren 10, 15, 20 oder 25 Jahre KZ, Zwangsarbeitslager in Rußland.

Uschi und ihre Mutter waren getrennt in Frauenlager nach Workuta gekommen. Der Vater, so hörten sie, in ein Schweigelager. Es war rätselhaft, das alles. Der Inhalt von Uschis Paket war köstlich. Unter anderen Dingen gab es da auch Makkaroni. Etwas löste sich die große Frage — wieso ein Paket von der Mutter aus Deutschland kam — als Uschi daran ging, die Makkaroni an einem der nächsten Abende zu kochen. Als sie die Stangen brach, um sie ins kochende Wasser zu geben, entdeckte sie klein beschriftetes Seidenpapier in den Röhrchen. Winzig klein zusammengerollt. Es war unheimlich still plötzlich. Uschi brach fast zusammen. Sie konnte vor Tränen kaum lesen, was da stand. — Und wer weinte nicht mit ihr.

Die Zeilen kamen von der Mutter! Sie war 1953 — zusammen mit anderen repatriiert worden. Auch aus unserem Lager hatte man damals Deutsche geholt, die, wie es hieß, heimfahren sollten, nur geglaubt haben wir es nicht. 

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Ich erlebe diesen Augenblick noch einmal vor meinem geistigen Auge, als wäre es gestern geschehen. Und es läuft mir ein Schauer über den Rücken. — Zu hören, daß jemand, der dort im hohen Norden Rußlands gefangen war wie wir, heimgekommen war. Oh Gott. Ich weine auch jetzt.

»Seid getröstet«, schrieb Uschis Mutter: »habt keine Angst mehr. Ihr kommt alle heim. Ihr werdet in Friedland ankommen. Bis zu diesem Zeitpunkt, der sicher nicht mehr fern ist, seid tapfer. Haltet aus!

Das war die Botschaft für uns alle. Es wirkte, wie ein neues Evangelium: »FRIEDLAND«. Und wir werden dorthin heimkehren!? FRIEDLAND klang nun von vieler Munde als Frage? als Antwort, als ungewisse Verheißung: FRIEDLAND.

Ich muß ein wenig pausieren. In den Wiener Alltag zurückkehren. Die Sonne spüren und den Frühling und glauben können, daß alles vorbei ist. Leben ist da, wo Hoffnung ist! — Ach — wir hofften. Wir hofften inbrünstig. Habt ihr schon gehört? Waltraud P. hat Post bekommen aus Brasilien. — Ja. Ihre Eltern sind ausgewandert. —

Waltraud war vier Wochen meine einzige Zellengefährtin in Potsdam, in dem Keller-Gefängnis in der Lindenstraße. Sie war gezeichnet von Nachkriegsgeschehnissen.

Ihr neunjähriger Vetter brachte 1945 eines Tages als Fund eine Handgranate heim. Er rief Waltraud ins Stiegenhaus, um ihr das Ding zu zeigen. Dabei zog er an dem Stift — das Ding explodierte.

»Obgleich der Junge auf der Stelle tot war, werde ich ihm nie verzeihen, was er mir angetan hat. Ich werde ihn immer hassen«, sagte Waltraud damals zu mir. Sie hatte bei dem Unfall ein Auge verloren, das man durch ein Glasauge ersetzt hatte. Hände, Arme und Beine waren von den Splittern getroffen worden und hatten überall blauschwarze, unansehnliche Narben hinterlassen. Sie kam damals in ein Russenspital. Man legte die Beine in Gips. — Sie war versucht, sich den Gips mit den bloßen Händen herunterzureißen, so schilderte sie mir die Qual jener Tage. — Als dann wirklich ein Arzt Erbarmen zeigte und nachsah, warum sie sich so verrückt anstellte, entdeckte man, daß sich unter dem Gipsverband, in der Kniekehle, ein ganzes Wanzennest gebildet hatte. Die Ärzte lachten, zuckten die Achseln: »Nitschewo!«. Dann erneuerten sie den Verband, taten das Ganze noch einmal mit einer lachenden Handbewegung ab: »Nitschewo!«.

Hier lernte sie die ersten russischen Worte. Später, nach einem fast dreimonatigem Aufenthalt, entließ man sie.

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Es reizte sie, die russische Sprache vollends zu erlernen. Man protegierte sie und sie wurde nach dem Empfang ihres Diploms in Potsdam für das russische Kaufhaus als Dolmetscherin engagiert.

Traudls Vater, ein Vierteljude, hatte eine Schwester, die als Tänzerin in der Welt erfolgreich war und in den zwanziger Jahren einen reichen Brasilianer geheiratet hatte.

Diese Schwester des Vaters, also Onkel und Tante, luden die ganze Familie ein — Traudls Eltern, Großmutter, Traudl und ihre Tochter — nach Brasilien auszuwandern.

Sie wollten alle nur zu gern. Die Eltern hatten das Friseurgeschäft verkauft, Traudl hatte bereits ihren Job als Dolmetscherin gekündigt. Die Schiffskarten waren eingetroffen.

Waltraud wollte noch einmal mit ihrer großen Liebe, Ari, einem Esten, der in der Roten Armee als Offizier diente, sprechen. Versuchen, ihn zu überreden, mit- oder wenigstens nachzukommen. Sie redeten und schmiedeten Pläne.

Längst verdächtigt, verhaftete man beide und verurteilte sie wegen Landesverrat und nicht nachgewiesener Spionage. Großer Gott! Liebe! Nun, Waltrauds Eltern waren mit der Oma und Traudls Tochter damals ausgewandert nach Brasilien. Die Oma jedoch war zurückgekehrt. Sie wollte die Heimkehr ihrer Enkeltochter in Berlin-Schöneberg erwarten. Sie wollte warten, bis das Kind kam.

Das schrieb Traudls Mutter auf dieser Karte. Und weiter: »Macht euch keine Sorgen mehr. Das Rote Kreuz verfolgt alles, was mit euch geschieht. Ihr werdet wieder nach Haus kommen. Man erwartet euch in Friedland. Die Welt interveniert.«

Ach, diese herrlichen Worte. Wieder: »Friedland«, und: »die Welt interveniert!« So tröstlich.

Es wuchs eine Fröhlichkeit, die durch nichts begründet war als durch die Hoffnung, die eben solche Mitteilungen auslösten. Und wir begannen, Pläne zu schmieden: Wenn wir wieder zu Haus sind ... 

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Lagerbekanntschaften 

 

Tanja Palagina

Im Mai 1964 wohnten wir schon sieben Jahre in Wien. In der Nähe des Schweizer Gartens hatten wir eine kleine Wohnung gemietet, und nicht weit davon entfernt hatte sich mein Mann einen großen, schönen Gassenladen, der zufällig frei wurde und um einen erschwinglichen Betrag zu mieten war, als Büro eingerichtet.

Mein Mann — der gottlob wieder von der Lähmung genesen war — hatte viel im Ausland zu tun. So war ich oft allein.

Dies war auch der Anlaß, daß ein Hund ins Haus kam. Ich wünschte mir einen Dackel. Mein Mann hatte sich zwar einen Boxer gewünscht, aber ich muß gestehen: wir bekamen einen lieben kleinen Langhaardackel, Poppel Knickohr. Sie ist inzwischen zehn Jahre alt geworden, war siebenfache Mutter, und eine lange Strecke Wegs — sechs Jahre — legten wir zusammen mit ihrer Tochter Ambra zurück, die in unserem Haus verblieb, weil wir unsere »Dicke« innig liebten und ihr ein gutes Hundeleben zu bereiten wünschten. Sie bekam also ihre Tochter als Gefährtin, und ich hoffe, sie wird später im Hundehimmel von einem erfüllten Hundeleben zu berichten haben. Kurz nachdem Poppel zu uns gekommen war — sie stammte von hohem Hundeadel, und ihr Name war eigentlich Bonnie von der Tann — bemühte ich mich um eine Halbtagsbeschäftigung. Mein Wunsch, auf diesem Wege nette Menschen kennenzulernen, hat sich erfüllt. Und ich war fast des Lebens zufrieden, um nicht zu sagen, wunschlos glücklich. Sie wissen selbst, dieser Zustand ist immer nur von kurzer Dauer. 

Wieder einmal geschäftlich in Afrika, schrieb mir mein Mann eine erbarmungsvolle Geschichte: Einen Papagei habe er vor dem sicheren Tode im Kochtopf bewahrt. »Errettet!«, hieß es. »Eingewickelt in große grüne Blätter lag er auf dem Bazar in Leopoldville, nur der rote Schwanz und der Schnabel schauten hervor.« Und wiiie dankbar der Papagei sei. »Und nun«, schrieb mein Göttergatte weiter, »bitte ich Dich, Liebes, sei mir nicht böse, nimm ihn auf in unsere Hausgemeinschaft. Wir kommen am Samstag um 15.00 Uhr in Wien an ...« Ach Gott, war mein erster Gedanke, na was denn nun tun? ...

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Aber kommt Zeit, kommt Rat. — Nachdem die erste Aufregung verebbt war, sah ich schon recht froh der Rückkehr des alten und der Ankunft des neuen Hausgenossen entgegen.

Die Zeit verstrich. — Ich wartete.

Endlich! — Das Telefon klingelte: »... Ich bin in Rom, Liebling, das Flugzeug hat Maschinenschaden, wir fliegen weiter mit der Maschine aus Neapel und sind erst um 18.00 Uhr in Wien. Sorge dich also nicht!«

Es wurde schon 19.00 Uhr. — Meine Geduld war erschöpft. Panik wollte mich erfassen.

Kleinlaut rief ich den Flughafen in Schwechat an, um mich zu erkundigen, ob die Maschine aus Neapel angekommen sei?

»O ja«, hieß es, »die Maschine kam pünktlich an.«

Der Auskuntsbeamte war so liebenswürdig, daß ich ihn zu bitten wagte, er möge zum Zoll hinüberschauen, ob mein Mann dort aufgehalten werde wegen des Papageis?

Er war sehr freundlich, entschuldigte sich für einen Moment.

Sie werden nie erraten, was ich dann erfuhr.

Es vergingen nur Sekunden — und der überaus freundliche Auskunftsbeamte nahm das Gespräch wieder auf: »Gnädige Frau? Der Herr Gemahl wird noch etwas vom Zoll aufgehalten wegen der Quarantänebestimmungen. Beim Papagei ist alles erledigt. A bisserl dauert es noch mit dem Affen. !!! ??? !!!«

Wie es dann war? Aus dem süßen kleinen Affenbaby wurde ein Affe von wunderhübschem Aussehen, hellblau die Haut, am Bauch hellgraue, auf dem Rücken bräunliche Haare mit gelben Spitzen, der Schwanz rothaarig, und auf dem Kopf hatte er einen Schopf. Aus dem Gesicht leuchteten zwei kluge große braune Augen, darunter das weiße Nasen-Herz, das der Rasse den Namen gibt, Schmidts-Weißnasen-Meerkatze. Lange war ich ihm Mutter — oder — Oberaffe. Nun ist Kecki — so haben wir ihn wegen seiner Keckheit getauft — schon lang Europäer, Wiener geworden. Und in dem Maße, da er vor allem Fremden die Angst verliert, gewinnen wir Respekt vor ihm. Nur — wir beißen nie!

So normal war inzwischen unser Alltag geworden. Nur hin und wieder, wenn man Kameraden traf oder wenn wir über kleine Szenen im KZ sprachen — unsere Erinnerung ist fast durchweg positiv, alles Dunkle haben wir hinter uns gelassen — ja, dann war wieder manches gegenwärtig. Aber die Gedanken daran waren längst leiser geworden.

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Eines Tages besuchte uns unverhofft in Wien die österreichische Staatspolizei. Mir geht es nicht anders als jedem anderen Menschen auch, wenn so etwas geschieht. Man ist zuerst perplex. Blendet zurück, denkt nach — aber nicht mal einen Strafzettel für falsches Parken oder ähnliches gab es. Also?

Man fragte nach diesem und jenem. Es verwirrte mich. Denn ich wähnte mich hier in Sicherheit. — Aber wer ist schon anonym, wenn er Jahre seines Lebens in russischer Gefangenschaft verbracht hat. Man fragte mich, warum ich — zwar unregelmäßig, aber doch immer wieder an eine bestimmte Anschrift in Moskau Karten schriebe. Welchen Anlaß es dazu gebe!?

Ich war erschüttert. Darum ging es?

Es gab in Workuta einen Menschen, dem ich mich noch heute zu Dank verpflichtet fühle: Tatjana Palagina. Sie war wegen ihrer Verlobung mit einem Mitglied der Amerikanischen Botschaft in Moskau verhaftet, verurteilt und in die Polarzone verbannt worden.

In Periodschachtny lernte ich sie kennen, als ich eine kurze Zeit in der Kulturabteilung arbeitete. Sie gehörte zu der Schauspielertruppe des Lagers. Der Typ einer Grace Kelly, schlank, blond, stolz und selbst im schlichten Lagerkleid elegant anzuschauen.

Tatjana hatte einen Job in der Lagerbuchhaltung. Hin und wieder schenkte sie mir eine Schüssel Kascha. Plaudern konnten wir wenig genug, denn mein Englisch war dürftig und an Russisch gar nicht zu denken. Als wir dann nach einigen Monaten abgestellt wurden in die Zweite Ziegelei, kam sie zum Tor des Lagers, um sich zu verabschieden. Sie schenkte mir ein Packerl Grusinischen Tee und ein Stückerl duftende Seife. — Unwahrscheinliche Schätze im Lager. Es hing mir nach. Oft dachte ich an sie. Und immer wieder versuchte ich, wo immer wir uns in Europa oder in Afrika aufhielten, an die Anschrift ihrer Mutter in Moskau, die sie mir gegeben hatte, einen Gruß zu schicken.

Ich hätte ihr so gern irgendwann ein Packerl mit Schminkutensilien, Stoff oder irgend etwas Hübsches geschickt als Dank für ihre Liebenswürdigkeit, damals, in Workuta. — Als sie mich lehrte, daß Menschsein und Gutsein unabhängig von Sprache und Nation ist.

Sieh mal an, blitzte es in meinem Hirn auf. Chruschtschow kommt nach Wien, um sich mit Kennedy, dem amerikanischen Präsidenten, zu treffen.

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Er fürchtet sieh doch nicht etwa vor mir, vor meiner einseitigen Bemühung, meinen tief empfundenen ehrlichen Dank einem Menschen abzustatten, den ich bis zum letzten Atemzug noch schätzen werde, der ein Russe ist, aber in erster Linie doch Mensch!

Man empfahl mir, diese Kontaktversuche aufzugeben. Nun, der Besuch der Staatspolizei bewirkte, daß ich meine Versuche, Tanja zu kontaktieren um ihr eines Tages zu danken, einstellte. — Denn ich sagte mir aus Erfahrung, die Schwierigkeiten für Tanja und ihre Mutter könnten unter Umständen in Rußland größer sein, als mir dieser Besuch unangenehm war.

Daß ein Mensch gut ist — wir nehmen es oft als selbstverständlich hin. Aber daß ein Mensch unter den elendsten Bedingungen gut ist, ohne Gegenbedingungen zu stellen, grenzt an eines der Wunder, von denen man nicht oft genug sprechen kann.

Wir waren damals, im August 1954, wieder nach Periodschachtny zurückgeführt worden um, wie es hieß, von dort als Sammeltransport heimzufahren. Wir kamen aber auch dort gleich wieder zum Arbeitseinsatz nach Junjaga. Ein Objekt, das einen Eisenbahnweg Richtung Südosten erschloß. Wie so viele Pionierarbeiten, über die man in der UdSSR spricht und die man öffentlich den Komsomolzen zuschreibt, war auch diese hier wieder einmal von den Gefangenen zu leisten.

Es hatte den ganzen Tag über stark geregnet, und wir waren bis auf die Haut durchnäßt von der Arbeit ins Lager zurückgekommen. So schälten wir uns aus der Bekleidung, nachdem wir in der Kantine gegessen hatten, hängten, als wir in die Baracke kamen, die dürftigen nassen Sachen auf eine Schnur und krochen nackt und zähneklappernd unter die Decke. Tatjana Palagina kam in die Baracke und rief meinen Namen. Sie suchte mich, weil sie gehört hatte, auch ich sei mit dem Transport eingetroffen. Sie fragte Herumstehende, ob man wisse, wo ich sei.

Als sie mich dann nackt unter der Decke liegen sah, winkte sie mir zu, kam nach 10 Minuten mit einem schwarzen Lagerkleid und einem Hemd zurück und schenkte mir die Sachen.

Es überwältigt mich noch heute, wenn ich an jenen Augenblick denke. So kämmte ich mir dann die feuchten Haare, drehte sie zu einem Knödel auf dem Kopf zusammen, zog mich fix an und nahm Tanjas Einladung zum Tee an. Das Bild hatte sich nach den sechs Jahren, die wir uns nicht mehr gesehen hatten, auch dort in der Schauspielerbaracke verändert.

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Anneliese Genkina-Eisen und Margareta Noboka, die beiden Jüdinnen, waren zum gleichen Zeitpunkt kurz nach Stalins Tod entlassen worden, als man auch bei uns, im Zweiten Kirpitsch die Jüdinnen repatriierte. Lala Majewskaja, die berühmte große Actrice vom Bolschoi Theater war im Alter von 72 Jahren verstorben.

Wir hatten einander viel zu erzählen, Tanja und ich. Denn sechs Jahre lagen zwischen unserem Kennenlernen und dem Wiedersehen. Sie wußte, daß ich in der Zweiten Ziegelei für die Vorstellungen gearbeitet hatte. Sie fragte nach ihren Freunden, Rima Romanowa, Tamara Galetzkaja. — Aber Tamara G., die Tatarin, hatte uns schon vor Jahren verlassen, ohne daß wir wußten, wohin sie verlegt worden war. Rima hingegen hatten wir in dem alten Lager zurückgelassen. Jung, schön und irgendwie trotz allem unbeschwert fröhlich. Sie genoß so ein bisserl Narrenfreiheit sowohl bei den Gefangenen als auch bei den Vorgesetzten. Rimas Vater war zehn Jahre hindurch Botschafter für die UdSSR in England gewesen. Die Familie gehört zu einem Zweig der zaristischen Romanows.

Rima kannte sehr viele englische Schlager, und wir hatten unendlichen Spaß daran gehabt, miteinander Blues zu singen. — Ich mochte Rima gern, wie alle sie gern hatten. Man bekam bei ihr immer das Gefühl, sie stehe auf der Sonnenseite des Lebens, auch mitten im Lagerleben.

Tatjana schmunzelte, als ich so viel zu erzählen wußte und sie meinen russischen Redefluß vernahm. Sie fand, ich spräche ein lustiges Russisch, aber dieses fließend.

Ich erzählte von den Plakaten, die ich zu malen hatte, von den Karten mit Zeichnungen, die auf der einen Seite russisch, auf der anderen Seite deutsch beschriftet waren (von den deutschen Männern angefertigt), die meine Lehrmeister waren.

Es war, als hätten wir eine lange schon bestehende Freundschaft fortgesetzt.

Dann ging ich, gesättigt und gewärmt, seelisch sowohl wie auch körperlich, hinüber in meine Baracke.

Es goß noch immer in Strömen und man mußte auf den Holzstegen gehen, um nicht im lehmigen Morast zu versinken. Diese Art der Gehsteige waren von Baracke zu Baracke durch die Lager gelegt, ebenso zu den Verwaltungsgebäuden usw. In jedem Lager, ja, auch in den Siedlungen der freien Bevölkerung, mehr noch, durch ganz Rußland lief neben der Eisenbahn solch ein »Trab«, wie wir es bei der Heimfahrt bemerkten.

Diese Trabs sind ca. 80 cm breit. Jederzeit konnte die Länge der Stege verändert oder erneuert werden, weil die einzelnen Teile eine Norm hatten. Ja, sogar unsere Pritschen hatten diese gegebene Breite. Diese drei Bretter, die jahrelang Heim und Wohnung und Bett für uns bedeuteten.

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Kassiberbrief von Winnetou

Am nächsten Tag ging es wieder hinaus nach Junjaga. Wir waren jeweils ein Team von vier bis sechs Frauen. Zusammen hatten wir die Schlacke zu Stoppern, die die Männerbrigaden vorher in die Zwischenräume der Schwellen des projektierten Gleisweges gekippt hatten. Männer- und Frauenbrigaden der Gefangenen bauten im Großaufgebot die Eisenbahn Richtung Süd-Ost und erschlossen damit weitere Gebiete in der Polarzone der Zivilisation. Wir arbeiteten mit hölzernen Stoppern, auf die wir mit dem Fuß stampften, während wir den sich verjüngenden Schaft mit den Händen fest umklammerten und dabei steuerten.

Eisenharte Schlacke aus den umliegenden Lagern (wie wir sie auch zerschlagen und verfrachtet hatten) wurde angeliefert.

Mitunter schafften wir es einfach nicht, weil die Schlacke nicht nur hart wie Eisen war, sondern oft auch noch tief gefroren. Dann wuchteten wir die Brocken unter die Schwellen und füllten die Zwischenräume aus. Natürlich mit dem riskanten Ergebnis, daß dieser Schlackenbrocken unter Umständen taute und der nächste Zug, der darüberfuhr, entgleiste. Manchmal saßen wir selbst am folgenden Morgen in diesem nächsten Zug, der entgleiste. Eines Abends, als wir heimkamen, lachten mir einige Frauen zu und riefen: »Gratuliere, Anneli!«

Was solls, dachte ich erstaunt. — Wenig später brachte man mir einen zerlesenen Kassiberbrief von Franzi aus dem 6. Schacht. Seit vier Jahren korrespondierten wir nun schon heimlich und rege miteinander. Immer sah ich ihn vor mir, wie er da saß 1950 im Konzert. Er war mit den anderen Invaliden von Besimenka heruntergekommen. Man hatte sie in der abgesonderten Baracke untergebracht.

Ich hatte eine Liste mit den Namen und Wohnorten aller deutschen Frauen, die bei uns waren, erstellt und mit einer leeren Lehm-Lore nach Besimenka hinüber geschickt zu den Invaliden. Drei Zuschriften hatte ich seinerzeit auf meine Liste bekommen.

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Eine Zuschrift kam von Werner Seh., der heute in Hamburg lebt, die zweite von Dr. Otto G., der leider schon verstarb, kurz nach unserer Heimkehr, — und die dritte von Franz W.-L — Letzterer redete mich mit »Liebe Rucksackberlinerin« an. Den schied ich erst einmal aus, weil ich das taktlos fand, so angeredet zu werden, da wir mit unseren Bündeln von Ort zu Ort zogen und uns oft genug schämten, so leben zu müssen.

Nach kurzer Zeit schied auch Dr. Otto G. aus. Er war Diplomat und schilderte unverständliche Ansprüche ans Leben, angefangen von der Kleidung bis zum Essen. Ich schenkte ihm Vera B. als Briefpartnerin, war doch auch sie ein kleines bisserl Snob. Allerdings ein liebenswerter und ein guter Kumpel zudem. Bei Werner Seh. fragte ich an, wie ich Farbe binden könnte, denn ich brauchte immer reichlich viel Farbe für die Bühnendekorationen. Die Antwort »mit Eiweiß« ließ mich erst staunen, dann lauthals lachen. Hat er vergessen, daß wir hier keine Hühner züchten, weil ihnen der Hintern einfrieren würde? Ha ha.

Nun, es blieb bei den ersten losen Briefkontakten. Zu Weihnachten gab es dann Überraschungen. Und dies auf beiden Seiten. Werner und Franzi beschämten mich mit einem Paar wunderschöner Lammfellfäustlinge mit Stulpen. Herrlich warme Handschuhe. Luxus in Workuta. Kurz entschlossen schnitt ich von meinem schwarzen Kattunkleid 25 cm ab, teilte den Stoff auf. Aus Kammzinken hatten wir uns Nähnadeln gebastelt. Und die farbenfrohe Trikotunterwäche lieferte uns das Stickgarn. Man brauchte bloß den Anfangsfaden zu finden, dann räufelte das Gewirk ganz schnell auf, jeweils soviel, wie man brauchte. Wir tauschten untereinander Fäden aus, denn einer hatte grüne, die andere rote, lila, blaue, orangefarbene oder gelbe Unterhosen. Anfangs reichten diese »Liebestöter« bis über die Knie, später blieben nur noch Slips zurück. — Aber auf diese Weise fertigte ich für meine beiden Briefpartner schöne Weihnachtsgeschenke. Sie bekamen jeder eine mit Blütenranken und Monogramm bestickte Serviette, Serviettentasche und einen Tabaksbeutel.

Nitschewo, das Kleid reichte jetzt nur noch bis zum Knie. Es war ein Stück verschenkte Freude, das da fehlte.

Damals, als ich Franzl das erste Mal sah, spielte man »Dwoinik«, ein Stück von Jack London, Der Doppelgänger. Zur Premiere waren wieder die Freien, die Soldaten, Offiziere und die Männer aus der Invalidenbaracke eingeladen. Ich saß mit Natascha im Hintergrund, um festzustellen, wo noch Mängel waren, ob Kulisse und Kostüme wirkungsvoll ausgefallen waren.

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Immer wieder irrte mein Blick zu dem Tisch an der Wand, auf dem Franz W.-L. saß. Mager, hoch aufgerichtet. Noch immer in Uniform, wenn sie auch zerschlissen war im Laufe der Jahre. Die alte Dienstmütze auf dem Kopf mit dem blassen, elenden Gesicht, in dem nur die Augen zu leben schienen. Unruhe: Er war kraftlos vom Tisch gesunken. Mit anderen, die es bemerkt hatten, eilte ich hinzu, brachte eine Decke. Er wehrte alles ab und sagte: »Bitte, lassen Sie mich allein. Es ist gleich vorbei.« Zögernd zogen wir uns zurück.

Das Spiel auf der Bühne ging weiter.

Am nächsten Tag brachte man mir aus der Bäckerei Brot mit schönen Grüßen von Franz W.-L, mit einem Fetzen Packpapier, auf dem geschrieben stand: »Entschuldigen Sie bitte den Zwischenfall«. Er erwähnte, daß er krank sei und aus diesem Grund invalid geschrieben, daß sie in den nächsten Tagen abtransportiert werden würden ins Erholungszentrum. Als die Männer dann wirklich am nächsten Tag zur Wache geführt wurden, riefen mich die Frauen zum Tor. Es waren zehn oder zwölf Männer, die sich da mühselig fortbewegten, einer schlechter beisammen als der andere. Ich ging nicht bis zum Tor. Ich wollte diesem W.-L. die Scham ersparen, sich so sehen zu lassen, in Lumpen, mit einem Bündel.

Von Ferne schaute ich, wie er sich hinkend, auf den Stock gestützt, mit den anderen zur Wache schleppte. Schlanke, gebeugte Mühsal. Ich winkte ihm zu, als er sich umdrehte und grüßend die Mütze abnahm. Dann wandte ich mich ab und heulte los. Mir war, als hätte ich gerade etwas eben Gewonnenes verloren.

Alle Bemühungen, heimlich in Erfahrung zu bringen, wohin sie gebracht wurden, blieben lange ergebnislos. Bis eines Tages der Zaun um unser Lager erneuert wurde und mir jemand sagte: »Du, die Männer da draußen kommen vom 6. Schacht.«

Als sie dann noch — es lag immerhin der Innenzaun zwischen uns, die verbotene Zone, dann der äußere Zaun mit den Wachtürmen an den Ecken, die mit Wachmannschaft bestückt waren — meine Frage mit »Ja, W.-L. ist bei uns im Lazarett« beantworteten und mir versprachen, ein Brieferl mitzunehmen, war ich selig. Dieser Briefkontakt wurde so innig, so gut, daß viele Kameradinnen, die Probleme, Fragen hatten, baten, frag Winnetou, was er dazu sagt. Mit den ersten Briefchen, damals in Besimenka, hatte ich Franzi als Winnetou und Werner als Old Shatterhand und alle anderen Deutschen, die mit uns

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korrespondierten, als Rothäute getauft, um Namen zu vermeiden, falls man einen Kassiber fand. Die Männer tauften mich Nodsi. Sie vermeinten, dies sei die Schwester Winnetous, Nchoci.

So fühlten wir uns als eine verschworene Gemeinschaft, die durch die Verlegung unterbrochen worden war, jedoch mit dem ersten Kassiber-Kontakt schöner denn je auflebte.

Es wurden heimatliche Eheprobleme der Kameradinnen und Kameraden in den Rundbriefen gemeinschaftlich erörtert. Es wurde getröstet, Lösungen gefunden oder verworfen. Strömten im Frauenlager alle Fragen der Männer zu mir, so war für uns Frauen Winnetou im Männerlager der entscheidende Vermittler.

Als wir wieder voneinander hörten, war Franzi gelähmt. Einer seiner Pfleger hatte es übernommen, für ihn die Antworten zu schreiben. Sein Deckname war Rainer. Er stellte für mich in Franzis Auftrag Gedichtbände zusammen (sein Beruf war Bibliothekar. Ich bekam den »Faust«, Rilkes »Stundenbuch«, Goethes »West-östlichen Diwan«, Münchhausens Balladen. Es waren wunderbare Schätze, die wie kaum sonst etwas innere Werte und Kraft vermittelten.

An den freien Tagen — jeder Gefangenen stand ein freier Tag pro Arbeitswoche zu, erbaten sich Kameradinnen Lesestoff. Und so war meine Bibliothek, ergänzt durch eigene Niederschriften, Erinnerungen an geliebte Balladen, Gedichte, Geschichten, sehr beliebt und gefragt. Ich denke oft: ob jemand von meinen Kameradinnen heute noch freiwillig Gedichte liest? Auch für Franzi fand ich meine feste Aussage bei Börries, Frh. v. Münchhausen: »Ich bin durchs Leben auf dich zugegangen ...« Tja. Und da erhielt ich nun am Abend jenes Tages die Antwort. Datiert am 6. Oktober 1954 teilte mir mein Obrist mit, daß für uns beide der gemeinsame Weg begonnen habe. Er habe um Registrierung nachgesucht, erbitte die Erlaubnis, dies meinen Eltern mitteilen zu dürfen, und fortan dürfe ich ihm als seine Frau offiziell — natürlich in russischer Sprache — schreiben. Dazu also hatten mir die Kameradinnen gratuliert. Viele hatten seinen Brief schon gelesen und wußten es längst vor mir. — Nitschewo. Ich war glücklich. Franzl schrieb in einem Brief: »Geh sparsam um mit deiner Kraft. Ich brauche Dich noch. Wir wollen bis zum Jahre 2004 miteinander durchhalten!« Plötzlich reagierte mein Körper auf diese Sprache. Ich schaffte es nicht mehr. Ich fühlte mich krank, wurde invalid geschrieben, aus dem Arbeitsprozeß abgezogen.

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Ein Glück, daß Hilla Sch. da war. Sie wurde energisch, als ich mich weigerte zu essen. Sie holte, bevor sie mit den anderen nach Junjaga hinausging, unser beider Essen aus der Kantine, hockte sich zu mir auf die Pritsche und aß mit mir zusammen und paßte auf, daß ich aß.

Auch Hilla Sch. hatte ich in Periodschachtny wiedergetroffen. Sie war nur vierzehn Tage in unserem Lager gewesen. Knapp, daß man sich kennengelernt hatte, wurde sie in ein anderes Lager verlegt. — Sie hatte ein so herrliches Lachen, ein so offenes Gesicht. Ich war froh, sie wiedergetroffen zu haben.

Hilla bekam gute Pakete, während meine Angehörigen in der DDR selbst kaum genug zum Leben hatten. Hilla ist der Mensch, der auf etwas verzichtet, einem anderen zuliebe. So reservierte sie fortan die Butter ihrer Pakete für mich, während sie sich selbst mit Margarine oder Schmalz begnügte. Wenn sie draußen auf der Strecke Junjaga werkte, malte ich »zu Hause« auf der Pritsche Postkarten, Geburtstagskarten oder ähnliches, was so gebraucht wurde, für Machorka und Rubel und sorgte damit für kleine Annehmlichkeiten, die wir teilten. So blieb es auf dem ganzen gemeinsamen Heimweg. Auf Junjaga gab es einige erwähnenswerte Ereignisse. Das schönste und größte war Ossi.

Ossi wurde als siebzehnjähriger Pimpf von den Sowjets aus Berlin verschleppt. Im Bergwerk hatte er seine Haftzeit abarbeiten müssen, 10 Jahre. Er war nunmehr 27 Jahre alt und lebte relativ frei in Workuta. Zwar wohnte er noch im Schacht, arbeitete im Bergwerk, konnte sich jedoch frei bewegen. Er hatte von uns gehört, ging die Strecke ab und fragte, was er für uns tun könne. — Ich weiß, daß er zumindest für Gerda Z. und für mich unsere Briefe mit seinem Absender versah, sie frankierte und nach Deutschland an unsere Angehörigen schickte. Ich beschriftete die Karte mit winzigen Buchstaben, bemalte sie mit Rentieren und Schneewüste, ich versuchte, darin so exakt wie möglich den Ort anzugeben, wo wir uns befanden. — Zum anderen erbot er sich, in seiner Freizeit zu den einzelnen Lagern zu laufen und die Beförderung der Kassiber zu übernehmen.

Er ging dann mit einem Kopfkissenbezug voller Kassiber die Strecke ab und fragte überall: Wo ist heute die ... oder jene ...? Er fand uns immer. So nahm er auch gleich unsere klein gefalteten Kassiberantworten mit, und wir konnten sicher sein, daß sie ihr Ziel erreichten.

Ossi riskierte viel für uns, und er fragte nie nach Bezahlung. Wir standen tief in seiner Schuld. — Jahrelang war es mir nicht gelungen zu erkun-

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den, wo er abgeblieben war. Wußte ich doch nicht mehr, als daß er Ossi hieß.

Endlich, vor ungefähr fünf Jahren, sagte mir ein Kamerad meines Mannes, das kann nur der Ossi H. gewesen sein. — Als ich dann noch die telefonische Bestätigung bekam — und er sich meiner als Annelise F. aus Tangermünde erinnerte — da waren mein Mann und ich selig. — Wir luden ihn zu uns nach Wien ein und statteten ihm unseren Dank ab, indem wir ihm zwei Wochen Urlaub bei uns bereiteten, die er, glaube ich, auch genoß.

Die zwei anderen Ereignisse: Zwei unserer Mithäftlinge wurden schwanger. Ingrid H. und Erika S. — Zunächst waren wir fassungslos. Dann aber fing ein allgemeines Bemuttern an. Ein Stück meiner Decke schnitt ich ab und verstrickte das aufgeräufelte Baumwollgarn zu einem Strampelsack.

 

Von der Tundra in die Taiga

Wenig später wurden wir aufgerufen und 500 km weiter transportiert, nach Abes. — Diese nagende Ungewißheit: Was geschieht mit uns? — Nie wurde eine derartige Frage beantwortet. Es vergingen auch dort wieder zwei Monate. Wir wurden weiter verbracht nach Ussa/Inta. Immer weiter rückten wir nach Westen vor. — Wieder Arbeitseinsatz.

Wälder der Taiga hatten die Tundraebene des Vorderen Polarkreises abgelöst. 

Riesige Birkenwälder säumten unsere Fahrt durch Rußland, die wir nun alle als Bürger in normalen Abteilen der Eisenbahn genossen.

Wir wurden immer jeweils an- oder abgehängt, hatten allerdings keinen Kontakt zu der Bevölkerung und landeten endlich in Potma, Moldawskaja Bezirk, südlich von Moskau.

Wieder ein größeres Lager.

In Abes hatte mich der Antwortbrief meiner Eltern erreicht, den mir Ossi nachgeschickt hatte (!!!). Darin lag ein Foto, es zeigte meine Eltern und meinen schmucken Sohn bei der Hochzeit meines Vetters. — Daß Ossi es auch noch geschafft hatte, uns die Post nachzusenden, ist einmalig, denn er mußte ja erst herausfinden, wo wir waren.

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In Potma trennte man wieder einige von uns. Staatenlose wurden separiert, so zum Beispiel Pisdanella H., ebenso die zauberhafte Mandschurin Valeria Lernet-Jana, die rumänische Juristin Valeria Barbulesku, die mit mir in der zweiten Ziegelei im KWTSCH gearbeitet hatte. Wlasta Kabelik, die Schusterin aus Böhmen, die Französinnen Uschi B. und Mary K., Yvonne. Unser Haufen war geschrumpft.

Und von Franzi kamen noch immer die Briefe aus Workuta! Auch Päckchen bekam ich von ihm. Seine Schokolade aus den Paketen aus der Heimat schickte er mir und — einen goldenen Trauring, den er — um was weiß ich — eingetauscht hatte. Später, als ich wußte, wie gern er Süßigkeiten mag, konnte ich sein Opfer-Geschenk erst recht werten.

Viele Briefe gingen hin und her. Er hatte in Moskau Gesuche eingereicht. Schon oft hatte man ihn bei Rücktransporten übergangen. Seit dem 31.5.1945, als man ihn aus Potsdam nach Workuta verschleppt hatte, harrte er nach seiner obskuren Verurteilung in Workuta aus. Und jeden Tag ging ich, wenn ein Zug ankam, an den Zaun, um zu schauen, ob er dabei war. — Ich wurde mutlos, müde des Schauens, obgleich ich ihm versprochen hatte: wenn einer von uns müde wird, der andere für ihn wacht ...

 

Wir fahren nach Hause

 

Die Leiterin des KWTSCH kam am 27. September 1955 ganz aufgeregt zu mir gelaufen: »Annelisotschka, schnell zur Wache, ans Tor, dein Mann ist da! So schlank, so schöne Hände, so lange Haare, so blaue Augen — und so krank. Du Arme.«

Das fuhr mir in die Glieder. Ich raste zum Tor.

Da standen sie. Mein Mann lag auf einer Bahre. Er gab mir durchs Gitter die Hand und sagte: »Beantrage heute noch, daß du mich morgen besuchen kannst. Ich tue es auch.« Meine Zweifel verdrängte er mit der Gewißheit: »Auf morgen!«

Sofort schrieb ich einen Antrag und gab ihn ab.

Ich wusch mich gründlich, richtete mein kariertes Hemd, das ich mit einem der beiden Pakete von der Evangelischen Kirche erhalten hatte, suchte meine alten Fischerhosen vor, die Dreiviertelschwenker, die Mutti mir geschickt 

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hatte und über die sich manche krank lachen wollten, richtete die blauen Kniestrümpfe. Haare waschen, um Stoffetzen Papier wickeln, Haare eindrehen — unruhige Nacht — und dann: um 7.30 Uhr die Gewißheit: OK, ich kann gehen.

Erstmals verließ ich allein das Lager. Frei. Auf dem Holzsteg entlang bis zum nachbarlichen Männerlager. Dort zeigte ich meinen Passierschein. — Dann führte man mich zu ihm.

Auf die Erde hatte man ihn gebettet, auf eine Matratze neben einem Schreibtisch. Wir waren allein. Ich kniete bei ihm nieder, küßte Franzi zum erstem Mal und fühlte und sagte: »Nun wird alles gut!« Dann kamen seine Kameraden, zwei Pfleger, der eine Frank Z., und ein Arzt, Dr. Herbert St. — Es gab viel zu erzählen, und der Tag war sehr schnell vorüber.

Hilla staunte, als ich abends heimkam und sofort zum Wirtschaftsoffizier rannte: »Ich brauche Karotten und Kartoffeln! Bitte, dringend! Ich werde es kaufen!«

Als ich dem Russen erklärte, daß mein Mann Bratkartoffeln essen möchte, grinste er gutmütig, schrie dann den Leuten seine Anweisung zu: »Gebt ihr eine Schüssel voll Kartoffeln und eine voll Karotten!« Dankend raste ich davon, um Hilla alles zu berichten.

Am nächsten Tag ging ich wieder hinüber zu Franzi ins Männerlager, während Hilla so lieb war, die Kartoffeln zu braten und aus den Karotten Salat zu machen. Zitronensäure hatten wir aus den Paketen, ebenso Zucker. Das Ganze schickte sie mir dann mit einem Pferdefuhrwerk hinüber ins Männerlager.

Ich teilte alles in fünf Portionen, für die vier Männer und für mich. — Es herrschte andächtiges Schweigen. — Als ich wieder aufschaute und merkte, daß Franzi mit seiner Portion schon fertig war, sagte ich, daß ich so etwas überhaupt nicht gern äße. — Und so schmauste er genüßlich die nächste Portion.

Es ist ein wundervolles Gefühl, Menschen Freude bereiten zu können.

Am 6. Oktober verließ uns der erste Transport Richtung Deutschland. Am 10. Oktober 1955 brachte man uns Frauen zum wartenden Zug. Der russische Arzt hatte mich aufgefordert, ein Abteil für mich und meinen Mann zu belegen. — Das war nicht möglich, denn es gab kein leeres Abteil mehr, als wir zum Zug kamen. Kurzerhand warf der Russe eine Gruppe Frauen aus einem Abteil und befahl uns, dort einzusteigen. Wir legten beide unsere Bündel ab, Hilla und ich. Dann gingen wir Richtung Männerlager. Da kamen sie uns schon entgegen in kleinen ungeordneten Gruppen mit ihren Bündeln. — Auf einem Fuhrwerk brachte man den kranken Franz W.-L, meinen Mann. Man trug ihn ins Abteil, bettete ihn vorsichtig auf der Sitzbank. 

Und als wir allein waren, rückten wir ganz nah zusammen. Es ging heim. Und wir waren beieinander. 

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