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Lagerleben

 

 

   Erinnerungen   

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1986 — Dieses Jahr hat von Anbeginn tiefe Runen in meine Seele gegraben. Die Trauer um den Tod meines Sohnes wird von dem wunderbaren Verständnis, das das letzte Beisammensein so vertraut und liebevoll machte, eingehüllt und sanft gemildert. Das allerletzte Wort, das ich von meinem Sohn hörte war, als wir letztmals miteinander telefonierten: »Mutti, ich danke dir für alles. Noch mal vielen Dank für alles.«

All die Jahre hindurch hatte ich darauf gewartet. Alles, was danach kam, war sekundär. Der Tod, die Unannehmlichkeiten der Regelung der Hinterlassenschaft, die Verschleuderung meines Elternhauses, ohne daß ich dem Einhalt gebieten konnte, die Aufteilung des Erbes. Ich bin nun heimatlos geworden — aber ich habe meinen Sohn gewonnen. Für immer. Keine Staatsgrenze, keine politische Gesinnung Andersdenkender, keine Angst trennt uns mehr.

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Es ist schon Frühling. Der April schickte mit dem Regen auch die ersten linden Lüfte. — Franzi und ich waren eine Woche lang in Hamburg. Verwandte trafen wir, Freunde, Bekannte. Und doch ist alles ein wenig wesenlos an mir vorübergeglitten, als wäre es unwirklich. Wir sind nun tief im Herbst. Allenthalben trifft der Blick auf die bunte Palette der Wälder. Dazwischen dehnen sich die erdfarbenen Stoppelfelder im willkürlichen Muster wechselnd mit den riesigen Ackerflächen, die schon mit der Wintersaat bestellt wurden und nun smaragdfarben leuchten.

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Auch die Tundra schenkte uns Farbenreichtum. — Brachte der Mai-Frühling Buschwindröschen, dünne Gräser, das gelbgrüne Laub der Weiden, das Grünen der Moose; der Sommer Beerensträucher, Enzian und Almrausch im Juni und Juli, so hatte der Herbst im August alle Hände voll zu tun, die Vollkommenheit der Natur aufzuzeigen.

Vielleicht waren wir oft zu müde, zu erschöpft und vielleicht auch zu verbittert, um ein Loblied anzustimmen. Aber ich denke, gefühlt haben wird es jeder irgendwann: die Natur ist so schön, die Welt, und ganz besonders schön im Übergang von Vollendung zum Vergehen.

Wenn wir heimkamen vom Straßenbau, vom Häuserbau, dem Bau einer Fabrik — immer in Fünfer-Reihen, der Zug der Müden, immer wie eine lange, graublaue Schlange, die sich träge dahinzog, die Tundra teilend, sahen wir hinter uns die versinkende Sonne, die alles verzauberte. Der Himmel leuchtete orangerot, goldgelb, sanfter schimmernd übergehend in türkis, hellblau, blau; am Horizent erhob sich die unregelmäßige Kette der Berggipfel des Ural schneeweiß schimmernd vor dem Hintergrund des Nacht kündenden tiefblauen Himmelsstreifens.

Wir stapften dahin mitten durch die weglose Tundra. Die roten Moosbeeren schimmerten zwischen den auf der Erdoberfläche dahinkriechenden Zweigen des Nordlandmooses; an den Weiden, die selten höher als einen halben Meter wuchsen, schimmerten die schmalen Blätter in unendlich vielen Nuancen — wißt ihr noch, wie schön ein solcher Anblick war? Man konnte sich niemals ganz dem Gefühl innerer Freude, dem großen Erleben der Natur hingeben. Denn immer wieder mahnten uns schmutzige Pfützen in der Tundra daran, daß das Erdreich — zumeist Lehm — nur bis zu vierzig Zentimetern tief auftaute. Das Schnee- und Eiswasser staute sich brackig in jeder kleinen Vertiefung. Trotz aller Vorsicht waren unsere Fußlappen und die Batinkis zum Auswringen naß.

Das ist es: So kleine Unannehmlichkeiten wie nasse Füße, Hunger, fehlender Komfort halten uns oft davon ab, das wirklich Schöne zu erkennen, zu bekennen, zu bewundern. Wir lassen uns zumeist schwächen von dem Negativen, das nun einmal auch zu unserer Welt gehört.

Es reihte sich Jahr an Jahr.

Der Mai war vorüber mit seinen kleinen gelb blühenden Buschwindröschen, die Frühling waren, trotz der tauenden Schneemassen, die man hier überall noch sah. Frühling nannten wir darum den Mai. — Juni und Juli brachten Hitze bis zu 35 Grad. Und mit der Hitze kamen auch die kleinen Moschkis, in Schwärmen auftretende, winzige Fliegen. Sie krabbelten in jede Öffnung, labten sich an jedem Stückchen lebendigen Fleisches, das sie erwischten, und erzeugten bei den Menschen, die nicht genug Widerstand aufbrachten, Fieber, Sumpffieber. Unangenehm, wie so vieles, das wir in Workuta kennenlernten.

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 — Fast alle Deutschen hatten eines der beiden Kleider, die uns pro Jahr zur Verfügung standen, zerschnitten, um Hosen daraus zu nähen; denn die schwarzen Makostrümpfe (auch davon empfingen wir pro Jahr zwei Paar, reichten nicht aus zum Schutz gegen die Moschkis. — August: Herbst. Stürme, Regen, ja, mitunter die ersten Schneeschauer. — Vorüber war das Atemholen.

September brachte wechselweise Schnee und Regen, Stürme. — Selten, daß sonnige Tage hineinreichten in den September. Die acht Monate Winter begannen. — Man wurde wieder wortkarger. Die Menschen verkrochen sich in sich selbst, wie die Natur. Doch der Alltag fand in seinem Trott keine Unterbrechung.

Pünktlich jeden Morgen schlug der diensthabende Deschurni mit einem Hammer an ein Stück aufgehängter Eisenbahnschiene, daß es uns aus dem unruhigen Schlaf schreckte.

Oft weckte mich Tjotje Pola, eine ältere Ukrainerin. Lange vor dem Wecken rüttelte sie mich am Zeh und rief leise: »Annalisa, staweitje«, stehen Sie auf und holen Sie Ihre Sachen aus der Trockenkammer. Sie war Aufseherin in der Trockenkammer in unserer Baracke und hatte die nassen Sachen der Frauen über Nacht zu trocknen, so gut es ging. — Mitunter dampften die Wattesachen am Morgen noch vor Feuchtigkeit, wenn wir sie wieder anziehen mußten.

Sie hatte einmal miterlebt, daß man mir meine Fußlappen — den Rock meines schönen Kleides, das ich bei der Verschleppung trug, hatte ich längst umfunktioniert in Fußlappen — gestohlen hatte. Ständig wurde irgend jemandem irgend etwas von dem wenigen, das man hatte, gestohlen. 

Tjotje Pola gab bei mir oft Karten in Auftrag: Vögelchen, die sich schnäbelten, waren ihr am liebsten, oder Rosen voller Tau. Die schickte sie dann ihrer Familie in die Ukraine. Verschleppt und zu 25 Jahren wegen Landesverrat verurteilt hatte man sie, weil sie während der Besatzungszeit für deutsche Soldaten Hemdkragen und Socken gewaschen und dafür Lebensmittel empfangen hatte!

Zum Dank dafür, daß ich ihr die schönen Karten malte, schenkte sie mir Machorka und Zeitungspapier. Darüber hinaus hatte sie mich dann auch sehr ins Herz geschlossen und sorgte dafür, daß mir nächtens nichts mehr gestohlen wurde, indem sie mich fast immer gegen vier Uhr früh weckte, wie gesagt, am Zeh rüttelte und flüsternd murrte: »Steh auf und hol deine Sachen.«

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Ich kletterte dann schlaftrunken hinunter von der Pritsche, schlich leise, um die Schlafenden nicht zu stören, in die Trockenkammer, die jeder Baracke angegliedert war, schnappte meinen Buschlag, die Wattehose, das Kleid, die Schuhe oder Walenkijs, die Fußlappen. Alles legte ich dann unter meinen Kopf und schlief noch einmal ein.

Die Rauferei und Drängelei in der Suschilka, wenn alle auf einmal geweckt wurden und aufstanden, ihre Sachen fassen wollten, blieben mir auf diese Weise erspart.

Vera B. lehrte mich, daß man sich morgens immer sowohl mit heißem als auch mit kalten Wasser das Gesicht waschen müsse. In einem Becher erwärmten wir auf dem Herd, der von der Starosta, der Barackenältesten, betreut wurde (zwei Herde gab es in jeder Baracke) das Wasser zum Zähneputzen und für die Gesichtswäsche. Die Zähne putzten wir mit der Asche, die wir dem Ofen entnahmen. Der Zeigefinger ersetzte die Zahnbürste, bis wir nach Stalins Tod die ersten Rubel verdienten und uns eine Zahnbürste leisten konnten. Dann nahm man den Mund voll Wasser und spendete es wie eine Wasserleitung in dünnem Strahl in die aufgehaltenen hohlen Hände. Immer nur gerade genug, daß man das Gesicht reinigend netzte. Dann kam die kalte Dusche hinterher: oberhalb in einer Ecke des Waschraumes stand ein großes Faß, das die Starosta schon abends mit frischem Wasser füllte. Das Faß war verbunden mit einem zehn Zentimeter dicken waagerechten Rohr, aus dem ragten Stöpsel, die wie sehr lange Nägel aussahen. Wenn man so einen Stöpsel hineindrückte, konnte man mit der anderen Hand das kalte i/Vasser auffangen und sich ins Gesicht klatschen.

L/on den Russinnen und Ukrainerinnen wurden wir oft als schamlos bezeichnet, weil wir auch den Unterkörper wuschen. Es gab vieles, das für uns selbstverständlich, für sie jedoch unverständlich war. 

So verging Jahr um Jahr.

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Weihnachtstorte und Heiligabend   

 

Es weihnachtete nicht nur, wir hatten auch aus allem Nichts immer wieder winzige Kleinigkeiten gezaubert, um uns gegenseitig zu erfreuen. Ein Stück meines waffelartig gewebten Handtuches wurde zu einem Kulturbeutel, liebevoll mit Kammzinken, die durchlöchert als Nadel dienten, zusammengenäht. Die vielen farbenprächtigen Makounterhosen und -shirts dienten wieder als Näh- und Stickgarn.

Wir schenkten einander Freude. — Lange Tage vorher begannen wir Brot und Zucker zu sparen von unserer täglichen Zuteilung. Jeden Tag in der Früh empfingen wir in der Lagerbäckerei 750 g Brot und einen Eßlöffel voll Zucker oder, wenn der Zucker nicht raffiniert war, einen Brocken Zucker. Dann stellten wir uns in der Kantine an um die Sauerkraut- oder Graupensuppe, zur Schüssel Kascha gab es den üblichen Fingerhut voll Sonnenblumenöl. Das Brot mußte den ganzen Tag über reichen.

Nach der Arbeit gab es wieder Suppe und Kascha, zusätzlich noch ca. 50 g Fleisch oder Fisch: gebacken, gekocht, gebraten, den Fisch manchmal auch roh. Mitunter bekamen wir auch wunderbaren Lachs. — Hatten wir unsere tägliche Norm erfüllt, gab es noch ein 50 g schweres Brötchen aus lockerem weißem Mehl. — Wenn nicht, wurden Fleisch und Bulka gestrichen.

Aber leider hing oft die Normerfüllung von der Zustimmung oder Verneinung der Brigadiere ab. Immer standen den Brigadieren — es waren ausnahmslos Russinnen — die Landsleute näher.

Wir hatten unser Weihnachtsfest schon hinter uns in jenem Jahr. Tschorni Udschest war gekommen und hatte entsetzt festgestellt, daß wir Kerzen in der Baracke angezündet hatten und dazu sangen. Das glich doch fast einer Brandlegung, zumindest war es eine Zusammenrottung von Ausländern. Das war verboten! Ab in den Karzer! Auch das ging vorüber.

Vierzehn Tage nach uns feierten die Russen ihr Weihnachtsfest. — Mascha, mit der ich neben Paraskitza unter Tage in der Lehmkarriere arbeitete, bat mich, für sie eine Torte zu machen. — Meine Verwunderung, warum sie es nicht selbst tue, wehrte sie ab mit dem Hinweis darauf, sie sei so jung gewesen, als man sie aus der Ukraine in die Vordere Polarzone verschleppte, daß sie noch nicht von der Mutter das Kochen und Backen erlernt hatte. Außerdem gebe es doch hier so gut wie nichts. Aber man hatte beobachtet, wie

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ich für uns zum Fest aus dem gesparten Brot, dem Zucker und dem Butterschmalz eine Torte gezaubert hatte.

Mascha bot mir an, sie würde für mich heute arbeiten gehen, Paraskitza morgen. So hatte ich zwei Tage Zeit, alles zu arrangieren. Sie würden schon mit der Brigadiere alles in Ordnung bringen. — Nun, gesagt, getan. Ich war nur zu gern einverstanden mit dem Tausch.

Als erstes trocknete ich auf dem Herd das Brot. Dünne, gegeneinandergelehnte Scheiben des nassen Kornmissbrotes, das wir täglich empfingen. Jede von ihnen hatte etwas geopfert dafür. — Dann zerbröselte ich dieses getrocknete Brot, löste etwas von dem Zucker in Wasser auf, gab dazu etwas von dem zerlassenen Kombidschier, vermischte alles und richtete die Masse, die sich daraus ergab, zu der runden Form einer Torte. Das Ganze zog schön durch bis zum nächsten Tag. Dann vermischte ich ausgelassenes Kombidschier mit Zucker, rührte alles mit einem Löffel zur Creme und mittels zweier Teelöffel setzte ich der Torte die Glanzlichter auf, ich garnierte sie weihnachtlich.

Es war für mich ein einmaliges Erlebnis. Die vielen Ukrainerinnen in unserer Baracke, die sich natürlich auch zeitweilig gar nicht gut verstanden, waren zu diesem Fest alle an einem Tisch vereint. Sie hatten die Pritschenbretter auf die wenigen Stühle gelegt, die beiden Tische der Baracke dazwischen, Bettlaken darüber gebreitet — und eine schöne Tafel war bereit. Jede der Ukrainerinnen hatte von ihren Schätzen mitgebracht, was sie zu geben gedachte, getrocknetes Brot, getrocknete Zwiebel und gedörrtes Obst, wie sie es aus den Paketen von zu Hause bekamen. Einige brachten sogar etwas Speck dazu.

Dann teilten sie alles gleichmäßig auf, vor jedem Platz lag das gleiche Häufchen. Kerzen waren aufgestellt, und sie nahmen Platz. Ihr Angebot, mich zu ihnen zu setzen, hatte ich abgelehnt. So saß ich oben auf meiner Pritsche und schaute ihnen verstohlen zu. Weil nur zwei Kerzen brannten, war es dunkel genug, daß man die Tränen nicht sah, die hier und dort — und auch bei mir — flössen.

Man sang gemeinsam Lieder und dies — was mich so oft und immer wieder verblüffte, fünfstimmig, ungemein melodisch. Verblüffend darum, weil es sich bei ca. 45 Prozent der Ukrainerinnen und Russinnen, die ich im Lager getroffen habe, um Analphabeten handelte, wenige hatten eine kurze Schulbildung, einige eine normale Grundschulbildung, ein geringer Teil nur hatte eine Weiterbildung erfahren im Gymnasium. — Und dann dieser wogende, melodiöse

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Gesang der Ostkirche! — Zur (sehr gelobten) Torte hatte man Tee gereicht, aß vom Zucker und von dem getrockneten Obst. — Nach einer Stunde löste man die Tafel auf und stellte die alte Ordnung in der Baracke wieder her. Und doch blieb ein Hauch von Fest und Feier, von Weihnacht, hängen. Sie trennten sich mit Küssen auf beide Wangen. Dann hockten sie noch lange in kleinen Gruppen beieinander. Meistens hatten sich die Freundinnen nebeneinander das Bettrecht eingeräumt. Ich will damit sagen, meine drei Bretter, zum Beispiel, lagen neben Hillas oder eine Zeit lang neben Vera B., die ja schon 1953 auf Transport Richtung Heimat gegangen war. — So hatte man wenigstens in diesem Punkt einen winzigen Einfluß auf die Privatsphäre, auf die Wahl der Bettnachbarin, der Schlafgenossin. Mit der teilte man zumeist Freud und Leid.

Und noch ein Weihnachtsfest hängt mir in der Erinnerung nach, das so ganz anders festlich war, als es Geschenke oder üppiges Essen auszudrücken vermögen. 

 

Deutsche Weihnachtslieder in der Polarzone 

Es war Heiligabend. — 37 Grad Kälte, 16 Ball Wind. Nichts unterschied diesen Tag von anderen. — Um 5.00 Uhr wecken, waschen, anziehen, Essen fassen. Seit einiger Zeit waren wir zur Arbeit in der Kieskarriere eingeteilt. Durch die Dunkelheit und Kälte stapften wir dahin, zu müde, um ein Wort zu sagen. Zum anderen war es zu kalt, um zu sprechen. Wortkarg wurden die Geräte verteilt, Schaufeln, Eispickel, Stemmeisen und die für die Sprenglöcher nötigen ungefähr zwei Meter langen Löffel. Wir arbeiteten in kleinen Gruppen. Endlos zog sich der Tag hin. — Gerda Z. und ich waren der Wasserbeschaffung für die Exkuvatoren zugeteilt. Wir schlugen mit der Spitzhacke Löcher in den gefrorenen Fluß und schöpften mit den Holzeimern, die eine dicke Eiskruste bedeckte, Wasser, das wir in vier auf dem Schlitten stehende Fässer schütteten. — Acht Eimer pro Faß. Unsere Wattehose, die Handschuhe, die Filzstiefel, die Wattejacke am Bauch, die Ärmel, alles starrte vor Eiszapfen, weil wir immer wieder Wasser verschütteten, wenn wir die schweren, vereisten Holzeimer voll Wasser hinaufhievten, und weil auch während des Transportes das Wasser ständig aus dem Faß überschwappte trotz des aufliegenden Holzdeckels.

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Wer hatte es ausgesprochen? — Weihnacht ist heute, Heiligabend! War es, weil der Wind nachgelassen hatte, uns seinen Frost ins Gesicht zu blasen? War es der sternenübersäte, tiefdunkelblaue Himmel der nachmittäglichen Stunde? Es war erst 14.00 Uhr — und doch — wie später Abend. Es war eine wundervolle, mitteilsame Heiligabendstimmung. Zu dunkel, um noch zu arbeiten; zu früh, um schon ins Lager heimzukehren. Und die Welt so friedlich. — Und wir waren so froh, das Werk getan zu haben. Wir schauten nach Westen, wo wir unsere Heimat wußten. Einen halben Kreis bildend, sangen wir das Lied von Christi Geburt: »Es ist ein Ros entsprungen ...« Worte und Töne, Melodien, klingen so anders, wenn Heimweh, Sehnsucht, Erinnerung und Herzeleid mitsingen.

Die Exkuvatoren hatten den Motor abgestellt — und die Stille war angefüllt von unserem Gesang: »0, du fröhliche, gnadenbringende Weihnachtszeit...« — Plötzlich war tiefer Friede unter uns. Die Sehnsucht war zur Ruhe gesungen, und die Worte des Friedens hatten sich uns mitgeteilt. Die beiden russischen Männer, die sich so oft manch groben Scherz mit uns geleistet hatten, traten zur Tür des Exkuvators und sagten: »He, Frauen, singt ihr Lieder von eurem Gott? Von eurer Heimat? Ist es so?« — Wir nickten.

Es war, als hätten diese gemeinsamen Lieder uns in einen Bannkreis geschlossen, der uns Schutz war. Wir hörten an diesem Tag kein hartes Wort mehr. Wir hatten keine Kerze, kein anderes Licht als das der wunderbaren Sterne des Polarhimmels in dieser samtdunklen Stunde.

Es war eines der schönsten Weihnachtsfeste, die wir je erlebt haben. — Weil wir uns Gott so nah fühlten, weil Gott unter uns war.

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Auf der Strecke beim Gleisbau

Brot und Brechstange 

 

Liebling! Ich habe Karten besorgt für das Bolschoi Ballett. Es kommt direkt aus Moskau und gastiert im Theater an der Wien.

Heimkommend von der Arbeit, fand ich diesen Zettel und die zwei Eintrittskarten vor. Parkett, siebente Reihe. Ach, wie sehr hatte ich mir gewünscht, dieses Ballett zu erleben. Schwanensee von Tschaikowski, vom Bolschoi Ballett getanzt. In unserer Kleinstadt, in der ich aufwuchs, gab es kaum kulturelle Angebote. So beschränkten sich die Menschen aufs Lesen; denn auch Radio war noch selten zu der Zeit.

Vielleicht ist dies der Grund, daß ich auch heute noch so gern — in eine weiche Ecke gekuschelt — lese. Ich las wahllos, was mir in die Hände fiel. Unverständlich wird es vielen jungen Menschen sein, daß ich mich sehr genau an meine beiden ersten eigenen Bücher erinnere: »Jane Eyre« und »Der Kindergarten«. Die Zeiten damals, nach dem Ersten Weltkrieg, waren nicht so nobel, daß man den Kindern Wünsche erfüllen konnte.

Um den geistigen Hunger zu stillen, hatte die Gemeinde unserer Kirche eine »Lesehalle« eingerichtet. Meine Lesetage waren Dienstag und Freitag von 14.00 bis 16.00 Uhr. Dem Alter entsprechend wählte die Bibliothekarin, Babette Henning, ein Buch aus. Still setzte man sich dann — nach einem leise geflüsterten »danke« an den Tisch und las.

Irgendwann war darunter auch ein Erlebnisbericht, der in der Tundra spielte. Es rührte mich ungemein an, und ich erinnere mich, daß ich zu Haus den Atlas zur Hand nahm, das Gebiet der Tundra heraussuchte und mittels eines Blattes Seidenpapier das Ganze abzupausen versuchte. Damals glaubte ich auch, es hieße Sibirien, so wie ich alle Kälte einfach in Sibirien ansiedelte.

Was wußte man schon von dem Land Sibirien. In der Übersetzung heißt es »Norden«. Also ganz so falsch lag ich nicht mit meiner kindlichen Annahme. Viel später erst, als ich das Land kennenlernte — unter welch elenden Umständen immer — wußte ich, daß Sibirien erst hinter dem Ural beginnt, also erst in 80 km Entfernung Richtung Osten von Workuta aus gesehen, während wir Richtung Norden 180 km bis zum Eismeer rechneten.

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Imposant ragt die schneebedeckte Gebirgskette des Ural in den aquamarinblauen Himmel der KOMI-ASSR. — Es war zur Zeit, als wir eingesetzt waren, um die Petschorra-Eisenbahnstrecke zu reparieren. — Gerda Z. und ich gingen die Strecke mit Brechstange, Hammer und Spaten ab. Die Geräte hatten wir geschultert und gingen der Brigade weit voraus. Eisenbahnschwellen, die morsch waren, wurden durch neue ersetzt. Mit der zweifingerigen Hand der Brechstange hoben wir die rostigen, riesigen Nägel heraus und lockerten mit dem Vorschlaghammer die entsprechende Schwelle. Die uns nachfolgende Gruppe wechselte die Schwellen aus, die nächste befestigte die neuen Schwellen.

Wenn wir uns zu einer kurzen Rast niederhockten, um ein Stück Brot, das wir möglichst nah am Körper trugen, weil es sonst sofort tief gefroren wäre, zu essen, geschah es mit aller Vorsicht. Man mußte einzelne Stücke abbrechen und lange darauf herumkauen, bis es genießbar war. Mitunter traf man eine fremde Brigade aus anderen Lagern, wie an diesem Tag die Brigade aus Periodschachtni.

»Susanne?« rief ich fragend, »ist bei euch Susanne D.?« Fast konnte man nicht mehr unterscheiden zwischen Russinnen und unseren Frauen. Nur verzichteten die Deutschen zumeist auf das Kleid, wenn sie die Wattehose trugen. Und eben eine solche Frau hatte ich angesprochen. Sie schaute mich an und sagte: »Ich bin es! Und du — du bist — bist du vielleicht Anneli F.?« Ihr Gesicht war mitleidig erschrocken. Vielleicht auch meines? Wir hatten uns bei meinem ersten Aufenthalt in Periodschachtny kennengelernt und ein bisserl angefreundet; war Susanne doch aus Rostock und kannte meine große Liebe, die Ostsee, nein, sie teilte diese Liebe. Und das verband. Wir sprachen platt miteinander und — hätte die Zeit es zugelassen, wir wären gern Freundinnen geworden. Da stand nun dieses Menschenkind mir gegenüber — vier Jahre später, und wir hatten uns nicht wiedererkannt. — Nicht nur die Vermummung durch die Wattesachen trug dazu bei. Die Gesichtszüge hatten sich verändert, verhärtet.

Sie teilte ihr Brot mit mir. Wir hockten uns auf eine Schwelle im Schutz eines Stapels solcher Schwellen und kauten schweigend. Das beiderseitige Nichtwiedererkennen hatte uns erschüttert. Wenige Worte wurden gewechselt. Als die Brigaden — jede in eine andere Richtung — weiterzogen und wir uns trennten, weinten wir. Wußten wir, warum?

Später traf ich Susanne wieder, als man uns sammelte und gemeinsam auf den Weg brachte. Es reichte zu freundlichen Worten.

Viel später dann, Sänne, als wir heimgekehrt waren, besuchtest du mich manchmal in Berlin. Weißt du noch? Es war eine schöne Zeit, dieses »Danach«. Geblieben sind Fotos.

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Im Lager Friedland

Franzi war in Herleshausen vorsichtig aus dem Viehwaggon ausgeladen, in ein Auto des Roten Kreuzes verbracht und auf eine Bahre gebettet worden. Ich setzte mich zu ihm. Das Auto fuhr ab, und der Schock der schreienden wartenden Menge lag hinter uns. Man hatte einen weiteren Heimkehrer-Patienten aufgenommen. Unterwegs hielt man an, um diesen »Tobenden« in eine Zwangsjacke zu stecken. Ein armer Mensch, der die Haftjahre — oder das Heimkommen? — nicht verkraftet hatte.

Man setzte mich im Lager Friedland ab und brachte Franzi in die Universitätsklinik in Göttingen.

Gebadet, mit einem frischen Nachthemd bekleidet, gestärkt durch ein herrliches Essen, sank ich in das mir zugewiesene Bett und verschlief zwölf Stunden allen Trubel.

Ach, und Hilla suchte mich. Und alte Freunde hatten Telegramme geschickt, im Rundfunk waren die Namen der Heimkehrer durchgesagt worden — und ich fühlte mich plötzlich wie eine kleine, verglühte Sonne im Weltall.

Wo waren die Kameraden?

So allein war ich lange nicht gewesen. Plötzlich mußte ich selbst entscheiden, was ich tun wollte.

Man schenkte mir ein Hemd, ein Höschen, Strümpfe, ein Unterkleid, ein Kleid, das ich mir aussuchen durfte, ebenso einen Mantel, den ich wählte, eine Handtasche. Ich weiß nicht, welcher Dame die braune, schlichte Lederhandtasche gehört hatte. Ich suchte mir dieses Exemplar aus den Spenden aus, weil sie genau so war wie jene, die mich nach Rußland begleitet hatte. Schlicht und unauffällig und doch schön.

Verkaufsstände gab es da auf dem Lagergelände. — Von den DM 150-, die man mir geschenkt hatte, erstand ich eine Armbanduhr um DM 35-, und so, mit dem tickenden Zeitraffer am Handgelenk, fühlte ich mich der Zivilisation wieder eingegliedert.

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Äußerlich unterschied ich mich nicht mehr von den anderen.

Schwester Marietta war reizend. Sie führte mich in den Raum einer Baracke, der als Bibliothek funktionierte. Ich durfte mir ein Buch auswählen. — Ich wünschte mir Ina Seidels »Gedichte«, und für Franzi erbat ich ein Buch über Afrika. Beides gab sie mir gern, signierte die Bücher mit guten Wünschen für die Zukunft; und als ich wieder ins Freie trat, da hub ein Singen an: »Nun danket alle Gott ...«

So unvorbereitet traf es mich. So anders als hunderttausend Flüche. — Und plötzlich war da nur der Wunsch: gut zu sein; der Schwur: gut zu sein. — Lieber Gott, so gut es eben geht. Laß mich immer ein bisserl besser sein, als ich bin. 

Waren meine letzten Worte in der Freiheit vor der Verschleppung: »Ich glaube nicht...«, meine ersten bewußten starken Wortgedanken waren: »Ich glaube! Und ich will dich einschließen in meinen Alltag und dein Lied singen, Gott. Ich bin da, und bleib du bei mir.«

Das bittere Schluchzen, die salzigen Tränenfluten — ihr glaubtet, weil ich zu Haus war, weinte ich!? — Aber ich hatte mehr heimgefunden, als ihr es je wissen werdet. Gott senkte Ruhe in mein Herz.

Wieviele schwere Prüfungen hatte das Leben noch für mich bereit! — Einen leichten Weg gab es nie.

Als ich Franzi endlich in Göttingen in der Universitätsklinik gefunden und ihm das Afrika-Buch überreicht hatte, konfrontierte er mich mit der neuen Situation. Das hieß: »Ich liebe dich (Dr. Sch. stand drohend auf der anderen Seite seines Bettes und wollte nachher mit mir sprechen!), aber — meine Frau ist hier. Sie hat die Scheidung aufheben lassen«.

Ich fühlte mich ärmer. Trotzdem schien mir der Weg vorgezeichnet. Ich ging nach Berlin, fort von Franzi, einfach weg. Am dritten Tag meines freien Lebens erwartete mich meine Mutter mit meinem Sohn in Berlin.

Man brachte mich mit meinen beiden Lieben im DRK-Lager in Wilmersdorf unter. Hier traf ich einige andere Heimkehrer, die ich kannte, und einige, von denen ich gar nicht wußte, daß sie auch verschleppt und heimgekehrt waren. Reporter der Tageszeitungen erschienen und suchten Menschen, die bereit waren, über die Zeit der Gefangenschaft zu reden.

Dann traf ich Vera B. wieder. — Was war sie für ein Kumpel. »Ich werde mit meinen Vermietern sprechen. Du kannst meine Wohnung haben, ich ziehe gerade um.«

So viel Neues: Eigene vier Wände. Allein. Sogar ein Federbett hatte mir Vera dagelassen, geliehen. Von der Entschädigungszahlung, die ich bekam, kaufte ich eine Bettcouch, zwei Sessel, eine elektrische Kochplatte, Wäsche und Geschirr. Einen Tisch hatte ich vorgefunden.

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Für Mutti, Heiner und meinen Vater hatte ich Geschenke gekauft, und sie waren heimgefahren nach Tangermünde.

Zwischen aller Einsamkeit, den Behördengängen, Kino, neuen Menschen — Franzls Briefe. — Beschwörend und drängend.

Ein November, davon vier Tage, die GÖTTINGEN und WIR hießen, zeitigte alle Bereitschaft zum »Sich-fügen, wie immer es kommt«. Oft kamen Kameraden, die wie ich plötzlich allein waren nach diesem jahrelangen Massenleben. Da war auf einmal so viel vergessen — und nur das »Weißt du noch« erstand vor unserem geistigen Auge. — Um 9.30 Uhr morgens kamen die ersten, um 22.00 abends die letzten, und es war noch immer Platz in diesen zwei winzigen Mansardenzimmern. Aller Wege gingen dann in verschiedene Richtungen. Der April 1956 hatte meinem Leben endgültig den Wegweiser gesetzt. Ich übersiedelte für einige Monate nach Göttingen — in eine Stadt, in der man gern wohnt. Sie bietet hungrigem Geist viel Nährstoff. Dann verabschiedeten wir uns von Europa. Mein Vater kam noch einmal mit meinem Sohn. Fast nur ein Stundenabschied war es. Auf uns wartete die Welt, die Sonne, Afrika.

Hatte man unsere Verbindung auf Grund der bestehenden Ehe Franzis für ungültig erklärt — es war beschlossene Sache, daß unser Weg fortan trotzdem ein gemeinsamer sein würde.

 

Der Weg nach Afrika

Das Leben wirft lange Schatten auf unseren Weg. Aber wieviel Freude bringt es auch. Das Leben zusammen ist doppelt lebenswert. Die zielstrebende Gewalt, mit der Franzi alles angeht, ist seine Stärke. — Mit Hilfe der Ärzte in der Universitätsklinik Göttingen hatte er die Lähmung überwunden. — Hatte ich je einen Invaliden im Rollstuhl fahren wollen? Ihn ernähren und hegen und pflegen wollen? — Kein Gedanke daran. Zusehends wuchs, formte und vollendete sich der Mann, den ihr heute an meiner Seite seht, siebzigjährig, aber noch immer bereit, Wälder zu roden, Flüsse zu dämmen; ein Bündel zielstrebiger Energie mit schützenden Armen und zärtlichen Händen.

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Auf der Straße unserer Liebe mußten wir manchen Stein aufheben und durch Neues ersetzen. Die Zeit streute Sand in die Fugen, und die Geschehnisse walzten alles zu einer glatten Fläche, die Lasten trägt. Noch immer geht unser Weg, wie eine Autobahn — von vielen anderen befahren — wohin?

Ägypten, Sollum. Grenzstation.

Immer wieder begegnet man in der Wüste Relikten des Zweiten Weltkrieges. Liegengebliebene Autowracks, ausgeschlachtet, leere Benzinfässer; ein Witzbold hatte einen Wegweiser errichtet: nach Köln 4000 km. Niemanden störte dieser zeigende Weiser, er war ein Teil der Wüste geworden, wie du selbst es wirst, nachts, wenn nichts mehr dem Blick Grenzen setzt und dich die Wärme umfängt wie der Anfang des Seins.

Vierzehn Tage waren wir schon unterwegs. Österreich, Italien, Sizilien. In Catania mußten wir drei Tage warten, bis das Schiff in See stach, auf dem wir die Passage gebucht hatten. Die Zeit genügte dem Garagenbesitzer, bei dem wir das Auto eingestellt hatten, um an unserem Wagen zu manipulieren.

Eifrige Helfer fanden sich ein, als unser Motor auf dem Marktplatz — wir hatten dort zu Mittag gegessen — nicht ansprang.

Das gleiche erlebten wir vor dem Schiffahrtsbüro, und siehe da, bei genauer Betrachtung waren es auch die gleichen Helfer. Ein Fuhrwerk, das des Weges daherkam, von Mauleseln gezogen, wurde vor unseren Wagen gespannt, drei Runden gedreht, und endlich sprang der Motor wieder an, so daß wir bis zum Schiff vorfahren konnten. Wie hätten wir — beide voller technischen Unverständnisses für ein Auto, wir konnten gerade fahren — es verhindern können? Nach unserer Ankunft in Afrika, in Benghasi, stellte man in der Werkstätte fest, daß die Sizilianer eine total schrottreife Batterie als Tauschobjekt für unsere tadellose Batterie eingebaut hatten! Die Überfahrt von Catania nach Benghasi war traumhaft. Stopover in Malta, kurze Besichtigung der Insel. Gewöhnung an Wasser und Himmel und diese wunderbare Wärme. Von Benghasi ab begleiteten uns zwei ägyptische Studenten, deren Bekanntschaft wir auf dem Schiff gemacht hatten. Es wurde eine kurzweilige Fahrt bis Alexandria. Wir lernten dort die reizende Familie des einen Studenten kennen, der sich mit einer Einladung zum Essen für die Fahrt bedankte, und fuhren zu dritt weiter bis Kairo.

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Leider machten wir von dem Angebot des Studenten Hassan Ibrahim Allam, dem wir Mitfahrt gewährt hatten, unser Auto bei ihm gegenüber einzustellen, Gebrauch.

Später hörten wir, dieser Mensch habe in seinem tollen amerikanischen Wagen zwei arme Europäer mitgenommen. Gott sei Dank hörten wir es nicht zu spät. Trotzdem, er hatte uns bestohlen, ohne daß wir es merkten. Bis Franzi ihn davonjagte.

Andere Ägypter — und natürlich auch die Familie aus Alexandria, bewiesen uns, daß Ausnahmen auch hier die Regel bestätigten. Menschen sind gut. Das beweist schon die Tatsache, daß wir, als Franzi 30 km entfernt von Tobruk den Verlust seiner Jacke mit Pässen, Kamera und Geld bemerkte, wendeten und nach Tobruk zurückfuhren, uns der Inhaber des Hotels mit dem Sakko in der Hand entgegen kam. Und es fehlte nichts! Wir waren in Kairo beide als Auslandskorrespondenten akkreditiert. In den zwei Jahren unseres Aufenthaltes lernten wir viel kennen, was dieses Land so anziehend macht. Es ist überwältigend, jenen Monumentalbauten der Pharaonen gegenüberzustehen. Der Mund des Sphinx, den man eigentlich nur aus respektvoller Entfernung ganz sieht, mißt 2 x 4 m, ist also größer als viele Zellen eines russischen Gefängnisses.

Vielleicht kommt und geht man als Tourist, fotografiert auf einem Kamel, im Hintergrund die Pyramiden, der Sphinx.

Mich fesselt heute noch der Nachklang des Gesehenen, und Hieroglyphen sprechen mich an, als wollten sie mich auffordern, zu enträtseln und auszusagen. Worüber? Über die Größe der Vergangenheit jenes Landes? Über das Nichtfinden der Größe in der Gegenwart? —

Da lebte ein neunjähriges Mädchen namens Malaka (Königin) in der Familie eines hohen Staatsbeamten, deren Söhne Arzt, Philosoph, Offizier, deren Töchter nach abgeschlossenen Studien (!) Lehrerinnen sind, als Sklavin. - Nachts schlafend auf einem Fell unter dem Eßtisch, tagsüber hierhin, dorthin befohlen: bring die Schuhe, Malaka, bring dies, bring jenes - und mit zornigen Fußtritten in die Ecke befördert für falsche Dienstleistung — winziger »königlicher« unglücklicher Sklavenhaufen Mensch. Fortschritt? Wo? — Der Starke entwickelt sich, wird stärker. Der Schwache ist der Staub in den Fugen der großen Straße der Starken. Es gab viele Gründe, die uns hinderten, dort zu bleiben. Einer der wichtigsten war, daß die Einkünfte nicht den Ausgaben entsprachen und wir die Heimkehrerentschädigungen aufgebraucht hatten.

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Da meine Familie in der DDR für uns nicht erreichbar war, wählten wir als Standort Wien, die Stadt, in der Franzis Familie, Mutter, Schwester, Bruder, wohnte.

Alle Bemühungen, die Scheidung zu erreichen, um endlich unsere Verbindung zu legalisieren, scheiterten. 1964 endete der letzte Versuch mit einer Pfändung von Franzis Übergangsgehalt durch die Anwälte der Gegenseite, und wir waren froh, daß Franzls Mutter uns Weihnachten und zum Neujahr verköstigte.

Wir beschlossen, nie wieder einen Anwalt zu bemühen. — Sollten eben manche staunen, daß wir »in wilder Ehe« lebten. Ich nahm einen Halbtagsjob an beim Verband der Wissenschaftlichen Gesellschaften, der monatlich bezahlt wurde und auch noch sehr interessant war.

1965 war ein fündiges Jahr. Zu uns kam Bonny, ein zehn Wochen alter Langhaardackel, wir fanden eine kleine Wohnung, und so glitt unser Lebensboot in ruhigere Fahrwasser.

Welch ein schöner Tag!

Frieden vermittelt der junge Sonntag. Wir wollen heute mit Freunden nach Oberlaa mit der U-Bahn fahren, um das neue Erholungszentrum nahe Wien zu erlaufen, kennenzulernen, um reine Luft zu tanken und für die kommenden Wochen fit zu sein.

Es gibt keinen Vergleich zwischen beiden Ländern: Rußland — Österreich; zwischen den Städten Wien und Workuta, dem Alltag und seinen Menschen. Und doch gibt es immer wieder den Augenblick, wo Erinnerung eingefangen ist und die Rückschau bringt.

 

Mai in Workuta

Ein Apriltag wie heute. Vielleicht könnte man ihn übertragen auf die glasklare, kühle Zeit des Monats Mai in Workuta.

Die Sonne stand hoch in dieser Zeit und täuschte uns mit ihrem wärmenden Schein südliche Luft vor.

Leichtsinnig öffneten wir unsere Oberbekleidung, um Luft zu atmen durch alle Poren, den Suschilkamief, der ständig in den Wattesachen hing, zu lüften. Die Tschapka ab — und auch das Haar der heilenden Sonne (vergleichbar der Hochgebirgssonne) dargeboten.

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An einem solchen Tag hatten wir wieder einmal gegen 6.00 Uhr in der Früh das Lager verlassen und uns mit unserer Bewachung in Richtung Kieskarriere in Bewegung gesetzt. Die Dunkelheit, die Kälte, unser vor uns herdampfender Atem, die frierenden, zusammengekrümmten Gestalten, all das bildete eine erbarmungswürdige Einheit, der selbst die Bewachungssoldaten zugehörten. Sie trugen über der Flanelluniform die gleichen Wattejacken wie wir. Nur die Farbe machte den Unterschied ersichtlich.

Wir hatten leer stehende Waggons mit Kies zu beladen, jeweils waren zwei Personen einer Waggonfläche zugeteilt.

Im Laufe des Tages erwärmte sich die Luft derart, daß von den mit gefrorenem Kies beladenen Waggons das Wasser in Rinnsalen herunterfloß. — Die beladenen Waggons holte dann die Lokomotive ab und fuhr den Kies zu dem Ort, wo er gebraucht wurde. Leere Waggons wurden zurückgebracht. — Bis zu dem Zeitpunkt, da die leeren Waggons eintrafen, hatten wir eine Verschnaufpause. Wenn du auf einer Anhöhe stehst in der Tundra und hinaussiehst ins Land, so ist es ein lang hingestrecktes, leicht hügeliges Gelände. Jungfräulich, unberührt, solange der Schnee es bedeckt; herb von Moosen, Flechten und Weiden bedeckt im Sommer. Das Grün ist dunkel und traurig, als hätte es nie junge Triebe. —

Aber Ende Mai, so, wie an diesem Tag, dann siehst du, wie der Frühling die Säfte in die Halme und Zweige treibt. Dann blühen Anemonen, Trollröschen, das Grün wird von einem Tag zum anderen saftig. Die Rentierherden gehen zurück. Das Blut pulst fordernd — und doch bleibt jedes Gefühl ohne Echo. — Es macht fast krank, das Erleben der Mitsommernächte. Bis hinein in den Hochsommer Juli, ungefähr 40 Tage hindurch anhaltend Sonne, die den Horizont nächtens nur verläßt, um in Kürze aufzugehen; nur lichte Dämmerung für zwei Stunden, dann wieder Gleißen.

Es ist das gleiche Geschenk der Natur wie das Wunder der Nordlichter, die unvergleichlich farbenreich, bizarr, verweht, aufflammend und vergehend am Polarhimmel aufleuchten in den dunklen Frostnächten; wie das Wunderbild zweier senkrechter Farbsäulen rechts und links von der Sonne, hinten, am Horizont, wenn du auf gleißendem Schneefeld stehst tagsüber und offenen Auges die Welt, die Schöpfung erkennst und fühlst, wie du selbst ein Teil der Schöpfung bist.

In einer solchen Pause zwischen dem Beladen der Waggons kauten Nina Odinskaja — sie stammte aus Odessa — und ich jeder an einem Stück getrockneten Brotes, das ihre Mutter in einem Paket geschickt hatte.

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Weißt du, wie gut, wie süß getrocknetes Brot schmeckt, das du mit deinem Speichel aufweichst, das du kaust, Bissen für Bissen, wie es dich sättigt!? Süßer als jedes Konfekt. Der materielle und idelle Wert ist mehr als alles andere: du bist satt; nicht mit einem Klumpen Eis im Magen, satt von süßem, trockenem Brot.

Aber noch bevor die Pause zu Ende war, wurden wir alle zusammengerufen und auf einen anderen Platz befohlen.

Das wärmliche Wetter hatte die dicke Eisschicht des Flusses auftauen lassen. Ein Exkuvator war eingebrochen und in das Flußbett gesunken. Wir hatten ihn rauszuholen. Bis man riesige Baumstämme herbeigeschafft hatte, standen wir herum, begrüßten Kameraden der anderen Brigaden, die ebenfalls abgestellt worden waren.

Dann stemmte man zwei kräftige lange Baumstämme unter den Exkuvator, und eine Traube von Frauen hängte sich an die Enden der Stämme, immer wieder, im Wechsel mit anderen, immer noch einmal. Die Walenkijs waren längst voll von eiskaltem Wasser. Nitschewo. — So ging es tagelang. — Abwechselnd kamen andere Frauenbrigaden und lüpften Zentimeter um Zentimeter diesen wuchtigen Brocken aus dem Fluß, bis die Stangen fast waagerecht lagen und wir uns mit dem Leib quer darüber legten wie damals, als die Lokomotive entgleist war.

Nach dem gleichen Prinzip hatten wir die Lok wieder auf das Gleis gestellt, in vierzehntägiger Bauchlage auf zwei Baumstämmen immer im Wechsel miteinander und im Wechsel mit ablösenden Brigaden. 14 Tage und Nächte wippten wir Babas so herum, auf dem Baumstamm liegend, die ganze Kraft in den Bauch legend, bis wir es geschafft hatten.

Den Exkuvator hatten wir in vier Tagen und Nächten geschafft. Es wurde aber auch höchste Zeit, denn der Fluß war inzwischen zu einem reißenden Strom geworden, dessen anderes Ufer wir nicht mehr erreichten. Es gab keine Brücke hinüber, den Dienst einer Brücke ersetzte immer das Eis, die gefrorene Fläche.

 

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Zement, Kascha und Kino

Ein Arm weg? Nitschewo!

 

Wir kommen von der Nachtschicht aus der Fabrik und beeilen uns, in der Kantine das Essen zu fassen. Die Brigadiere ruft uns zum Ausgabeschalter. Wir stellen uns an und empfangen das Essen.

Der heiße Kascha dampft um die Wette mit der kalten Feuchtigkeit, die wir mit uns hereintragen in den Raum. Wieder gibt es: einen Schöpfer Kascha, einen Fingerhut voll Sonnenblumenöl, ein Stückerl gebratenen Lachs und ein weißes Brötchen. Alles schmeckt köstlich. Unsere Köchinnen sind zumeist Lettinnen und Litauerinnen.

Schon werden die leergegessenen Schüsseln abgeräumt. Invaliden versehen diesen Dienst.

Es ist unwahrscheinlich, und ich glaube, meinen Augen nicht trauen zu können: Gertrud Löwe. Wirklich Gertrud.

Sie wartet auf keine Frage, sie nimmt die Schüsseln mit einer Selbstverständlichkeit, wenn auch noch ungeschickt.

Es ist doch erst vier Wochen her, seit — sie sieht meinen Blick. »Es muß gehen«, sagt sie und geht vorüber mit dem schmutzigen Geschirr. Öfen heizen, Geschirr zusammentragen, aber auch Schneeschaufeln gehört zu den leichteren Pflichten im Lager, die man den Invaliden zumutet. Vor vier Wochen war Gertrud Löwe mit der Invalidenbrigade bei Schneesturm im Einsatz. Rund ums Lager herum hatten sie die Schienen freizuschaufeln. — Ob sie sich manches Mal seither gewünscht hat, es hätte sie besser ganz erfaßt, wie Asja Skrinik vor einigen Jahren? Die Lok war unhörbar herangekommen und hatte mit ihren seitlich ausgestellten Schneeschaufeln Gertrud Löwe den linken Arm abgetrennt. — Weg!

Das Erschrecken über solche Unfälle wurde hintangehalten durch die Tatsache, daß es immer wieder passierte. Der Schneesturm ist mörderisch in vieler Hinsicht.

Es gibt keinen Schutz dagegen, wenn man unterwegs ist und — wie in diesem Fall — keine Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden; denn der Schnee dämpft und das Jaulen des Schneesturms deckt alle anderen Geräusche der Umgebung zu.

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Wir waren eben Menschenmaterial, das eingesetzt wurde. Vier Wochen war es her. Und sie schaffte es, trotz der Tatsache, nur eine Hand, einen Arm zu haben, Seele und Herz sicherlich noch voller Schrecken und Schock, 71 Jahre alt — sie schaffte es, einen Stapel schmutziger Schüsseln, die wir ineinander und ihr auf den Arm stellten, zur Küche zu tragen. Sie nickte herüber und sagte: »Es gibt nachher Kino.« — »Was sehen wir denn?«

»Marika Rökk in >Donaukinder< und einen Kulturfilm: >Meisterkonzerte<«, entgegnete sie. Natürlich freuten wir uns.

Es war inzwischen nachts, 02.30 Uhr geworden. Wir legten unsere Wattesachen ab. Die Müdigkeit der Spätschicht war verflogen, die Fütterung und die Wärme hatten uns verträglich gestimmt.

Pola — eine Ukrainerin von ungefähr 32 Jahren — hatte keinen Platz mehr abgekriegt. — »Klar, komm doch her, Pola, setz dich auf unsere Knie!« Gerda Z. und ich rückten zusammen, preßten, sie das rechte, ich das linke Knie gegeneinander, und so saß Pola und genoß wie wir die Filmvorführung. Gebannt starrte sie auf die Leinwand wie wir alle. Mucksmäuschenstill war es zwei Stunden lang.

Dann war dieser Traum zu Ende. Die Wirklichkeit drängte uns, in die Baracke zu gehen und die Pritsche aufzusuchen, um endlich zu schlafen. So richteten wir »unser Bett«, geduscht hatten wir bereits in der Fabrik. — Kaum hatte ich meine drei Bretter erklommen, stand Pola unten und fragte: »Annalisotschka, erzählst du mir den Film?«

»Das darf doch nicht wahr sein, Pola, du hast ihn doch gesehen, mit uns! Und beide Filme waren in russischer Sprache!«

»Ja«, seufzte Pola glücklich, »aber es war so schön! Die Farben und die vielen schönen Menschen, die Häuser, der Fluß. Ich mußte immerzu schauen. — Ich kann doch nicht gleichzeitig hören und sehen. Wenn ich doch alles anschauen muß, damit ich mich dann noch daran erinnern kann. Beides zusammen geht nicht. Versteh das doch, Annalisotschka, erzähl mir doch den Film.« »Nun gut«, versprach ich ihr, »aber bitte nicht heute nacht. Morgen, ja!?« und drehte mich auf die Seite.

Wie gut, dachte ich, daß wir in der Fabrik die zwei Duschen haben und uns dort gleich nach der Arbeit reinigen können. Nach der Dusche schlüpften wir

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dann in unsere saubere Kleidung, legten die Arbeitssachen fein säuberlich zusammen auf den dafür bestimmten Platz und bereiteten uns auf den Rückweg vor.

Mitunter stahlen wir uns schon etwas früher weg vom Arbeitsplatz. Denn alle beendeten die Schicht zu gleicher Zeit und wurden von der nächsten Schicht abgelöst.

Und wenn dann erst die »Schwarzen« kamen (so nannten wir die Frauen, die in der Formowka, den Trockenkammern der Fabrik arbeiteten), dann war für uns kein Platz mehr; denn sie genossen als Schwerstarbeiterbrigade immer Vorrang.

An jenem Tag hatten wir Zement ausgeladen. Zu zweit war die Norm: ein Waggon voll Zement in acht Stunden entladen.

Früher hatten wir, wenn wir uns beeilten, anderen helfen müssen. Das vermieden wir seither. In solch einer Situation ist man sich selbst der Nächste. —Man spricht nicht bei der Arbeit, weil der Zement in den Rachen hineinstauben würde. Zum Schutz hatten wir uns irgendeinen Lappen vor Mund und Nase gebunden. Die Augen konnten wir nicht schützen. Der Zement haftete auch in der Arbeitskleidung, auf der Haut, denn von der Überbekleidung bekamen wir nur hin und wieder, alle zwei, drei Jahre, ein gereinigtes Exemplar. Ebenso verdreckt waren die Walenkijs. Aber man gewöhnt sich an so vieles im Leben, wenn man als Strafgefangene geführt wird in Workuta, der Stadt der Gefangenen in der Vorderen Polarzone der UdSSR. Wir hatten uns nach Beendigung unserer Arbeit beide heimlich aus dem Staub gemacht (im wahrsten Sinne des Wortes), bald geduscht und ruhten dann, sauber umgezogen, aus in der Halle und warteten auf die anderen. Zeitweise huschten wie Schatten Ratten über die nackte Erde, die nur insofern eine Halle war, als sie vier Wände und ein Dach hatte und groß war. Wir hockten dann mit angezogenen Beinen und redeten weiter. Mitunter zogen Lemminge durch diese Halle. Den Scharen wichen wir aus, gingen dann lieber hinaus und hockten uns irgendwo anders hin, bis es Zeit zum »Heimweg« war.

Ratten, Lemminge, ein blindes Pferd, mal ein Hund — das waren unsere Erlebnisse mit Tieren.

Riesige Herden von Rentieren gibt es in der KOMI ASSR, wie sich diese autonome Republik nannte, von der Workuta die Hauptstadt war. Sie werden von den Komi oder Nenzi (die zwei Volksstämme dieser Gegend) angetrieben. Jeweils steht ein Mann auf einem von 12 Rentieren gezogenen kleinen

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Schulten und dirigiert mit einem 3—5 m langen Stab, an dessen Ende ein Wide'haken befestigt ist, der fast wie ein Speer aussieht und wohl auch in diesen Sinne mitunter angewendet wird, die vordersten Zugtiere. Die Herde folgt diesen Führern, und in Windeseile geht es dahin. Ich hübe nie erfahren, wer von diesen Leuten Männlein und wer Weiblein ist. Beide Geschlechter trugen die gleiche Kleidung: sechs bis sieben gerüschte Röcke übereinander gebauscht, und darüber wie wir, Buschlag, Tschapka, Walenkijs. Sie waren »Freie«.

Genosse Aufseher

Frei war auch Genator Iwanowitsch. Er war unser Aufseher. Seine 10 Jahre Lagerhaft hatte er verbüßt, eine »Freie« geheiratet. Dann hatte er den Job als A jfsichtsbeamter angenommen.

Er ging mit uns hinauf nach Besimenka und teilte jeden Morgen die Arbeit ein. Wir mußten uns das Essen verdienen. Schafften wir die Norm nicht, wurd? die Ration gekürzt, das Brötchen gestrichen, der Fisch oder das Fleiscn, von dem wir täglich 50 g bekommen sollten. — Aber Gott allein weiß, nach welcher Waage zugeteilt wurde. Fleisch- oder Fischstücke waren immer würf( lig aufgeteilt, drei Zentimeter im Ouadrat. Es war sinnlos, »sein Recht« zu fordern. Welches Recht auch? Das der Gefangenen? — Ach, Gefangene! Das nußte wohl auch Genator Iwanowitsch oft hören von seiner Frau, die eine l:reie war und kein Verständnis dafür hatte, daß er den Gefangenen im Rahrren seiner Möglichkeiten half, so gut er konnte. Ohne Ansehen der Person, der Nation oder der Konfession.

Es gelang mir nie, die Norm zu erreichen beim Abtragen der oberen Erdsclicht, um den blauen Lehm freizulegen. Wie eine Irre schuftete ich und mit mir Olli K. — Allen Ukrainerinnen der Brigade bestätigte die Brigadiere Bodk na 120 bis 140 Prozent Arbeitsleistung. Entsprechend gab es einen Nach schlag beim Essen.

Sie kannten unmöglich mehr leisten als wir, hatten wir doch inzwischen längst gelernt, mit Schaufel und Spitzhacke umzugehen. Eines Tages bat ich dann Genator Iwanowitsch, er möge selbst unsere Arbeitsleistung vermessen, weil wir es angeblich nie schafften. — Er tat es. Er muß uns auch tagsüber beobachtet haben, wie wir schufteten, um die Norm zu erfüllen.

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Denn am nächsten Tag befahl er der Botkina: »Die beiden bekommen jeden Tag 120 Prozent angeschrieben. Ist das klar!?«

Er wußte, was wir wußten, daß die Ukrainer den abgesteckten Claim einfach zurücksteckten und die so gewonnene Fläche ohne Anstrengung schafften. Wir, die Deutschen, hatten keine Möglichkeit zu schwindeln. Da paßte die Brigadiere auf. Wir schufteten ehrlich.

Ich arbeitete gern mit Olli K., sie war ungefähr zwanzig; zehn Jahre jünger als ich. In den Pausen und beim Hin- und Rückweg bat sie: »Erzähl was, Anneli!« Ich war eine lebende Bibliothek. Und woran ich mich nicht erinnerte, das erfand ich. Die Zuhörer in Workuta waren immer dankbar. Mitunter träumten wir davon, den Goldstaub, der sich oft wie eine dünne Linie zwischen der Sand- und Kiesschicht dahinzog, zu sammeln, als Tauschobjekt oder so. Aber dann erhob sich die Frage: Wofür! Es gab ja nichts für uns.

Wie mühselig waren Aufstieg und Abstieg nach und von Besimenka im November, wenn es in Strömen goß. Unsere Wattesachen, die Walenkijs, soffen sich voll von Nässe.

Die schmalen Bretter, lehmverschmiert, ließen oft den beladenen Karren entgleisen. Umgeworfen. Wieder aufladen! Doppelte Arbeit! — Land der Flüche, dieses Rußland, der Trauer, der Einsamkeit. Land der Gottesfurcht, die geheime Zusammenkünfte der Gläubigen kennt, die sich in den Gesängen voll sanfter Dramatik äußert. Nicht Liebe! — Nicht Liebe lehrte man sie, sondern Furcht! Gottesfurcht!

Daß ich immer wieder mal für die eine, mal für die andere als »Bäckerin« tätig war, verschaffte mir in der Brigade die Vergünstigung, daß sie es beim Fluch bewenden ließen, als ich eines Abends vor der Baracke mit dem Abwaschwasser auch das Messer mit ins Schneeloch geschüttet hatte. — Welch ein Verlust. Ein Stück gestohlenes und zugefeiltes Sägeblatt. Eine Rarität.

Es hat mich oft erschüttert, wie stark diese »Analphabeten«, wie sie von uns geschimpft wurden, zusammenhielten, wenn es galt, sich gemeinsam gegen Außenstehende zu stellen, wenn es galt, die Nation zu verteidigen. Wir hielten uns für so gebildet, daß wir manchmal unsere Witze über sie machten. Aber wir waren selten in der Lage, mit mehr als einem einer Meinung zu sein. Und das besonders, wenn es um unser Vaterland ging. Wir sind halt alle Individualisten.

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